Category Archives: Über Recht

Justament Feb. 2005: Liebling Wohnzimmer

Wer das Risiko beim Start in die Selbständigkeit möglichst gering halten will, gründet eine Heim-Kanzlei

Thomas Claer

Die Situation auf dem Arbeitsmarkt für Juristen ist hinreichend bekannt. Achtzig Prozent der Absolventen drängt es derzeit – oft mangels Alternative – in den Anwaltsberuf. Doch nur ganze elf Prozent von ihnen finden eine feste Anstellung bei einer Kanzlei. So bleiben den meisten nur drei Alternativen: sich mit anderen zusammenzutun und ein Büro zu teilen, auf eigene Faust einen Geschäftsraum anzumieten oder die Kanzlei von der eigenen Wohnung aus zu betreiben.
Die beiden ersten Varianten sind schon deshalb aussichtsreicher, weil sie einen professionelleren Eindruck vermitteln, insbesondere dann, wenn die Lage stimmt. Aber hier beginnt schon das Dilemma: Wer sein Büro in einer Gegend mit zahlungskräftiger Klientel ansiedelt, muss zunächst kräftig investieren, denn die Mieten dort sind nicht billig. Und abgesehen von der gegenwärtig geradezu berüchtigten Zurückhaltung der Banken bei der Kreditvergabe, insbesondere an angehende Anwälte, ist eine Verschuldung auch nicht jedermanns Sache. Schließlich ist es angesichts der Dichte auf dem Rechtsberatungsmarkt keineswegs ausgemacht, dass die gepumpten Gelder auch eines Tages wieder eingefahren werden. Die jüngste alarmierende Zunahme von Anwalts-Insolvenzen spricht hier eine deutliche Sprache.

Was zu bedenken ist
Wer solche Risiken also scheut, dem bleibt als Kanzleisitz noch die eigene Wohnung, was die anstehenden Investitionskosten schon einmal drastisch senkt und den Nachtschlaf erheblich verbessern kann. Doch sind dazu einige kritische Vorüberlegungen unverzichtbar. Wer nicht bereits seine fachliche Spezialisierung gefunden hat und seine Tätigkeit nur auf diese beschränken will, muss als Generalist beginnen, da er es sich schlichtweg nicht leisten kann, die ersten versprengten Mandanten gleich wieder nach Hause zu schicken.
Da Anwälte ohne Spezialbereich aber bei “Otto Normalverbraucher” meist auf Misstrauen stoßen, empfiehlt sich auf Fragen nach dem Fachgebiet die Antwort “allgemeines Zivilrecht”, womit tatsächlich die meisten der zu erwartenden Fälle ungefähr umrissen sind. Doch sollte der Hinweis nicht fehlen, dass auch Fälle aus anderen Rechtsbereichen, sofern sie keine außergewöhnlichen Probleme beinhalten, übernommen werden können.
Die Mandanten-Klientel dürfte anfangs nahezu ausschließlich aus Bekannten und Nachbarn bestehen und auch bei gutem Gelingen erst allmählich durch Mund-zu-Mund-Propaganda spürbar wachsen. Probleme kann natürlich die mangelnde Zahlungsbereitschaft im Bekanntenkreis bringen, denn was als unentgeltliche Gefälligkeit gern in Anspruch genommen wird, ist plötzlich gar nicht mehr so dringlich, wenn es etwas kosten soll. Meist zahlt sich in der Anfangsphase aber eine gewisse Großzügigkeit des Kanzleigründers beim Honorar aus, vor allem gegenüber den “Multiplikatoren”, also den Zeitgenossen, die “Gott und die Welt kennen”.
Durch die in § 4 Abs. II S.1 RVG ausdrücklich eingeräumte Möglichkeit der Gebührenunterschreitung in außergerichtlichen Angelegenheiten lassen sich durchaus ein paar Mandanten zum “Schnäppchenpreis” ködern. Doch Vorsicht ist geboten: Nach einem Urteil des OLG Hamm vom 3.August 2004 müssen Pauschalvergütungen unterhalb der RVG-Sätze “in einem angemessenen Verhältnis zu Leistung, Verantwortung und Haftungsrisiko des Rechtsanwalts stehen” (4 U 94/04). Bei einem Gebührenrahmen zwischen 10 und 50 Euro – für außergerichtliche Tätigkeiten wie etwa das Verfassen eines Schriftsatzes oder ein Beratungsgespräch -, so die strengen Richter weiter, lasse sich ein solches angemessenes Verhältnis nicht mehr verwirklichen. Das müssen auch die Mandanten einsehen.

Raum und Ausstattung
Anders als es die landläufige Bezeichnung suggeriert, ist das Wohnzimmer – womöglich mit Fernseher und Sesselgarnitur – eher nicht die typische Räumlichkeit der Heim-Kanzlei. Empfehlenswert ist ein separates (also kein Durchgangs-) Zimmer, in welchem möglichst wenig auf Wohn- oder gar Schlafnutzung hindeutet. Hingegen sollten eine (auch mit nichtjuristischer Literatur bestückte) Bücherwand oder eine kleine Hausbar der Seriosität der Kanzlei keinen Abbruch tun.
In der Büroausstattung darf sich der Kanzleigründer zunächst auf Computer mit Internetanschluss, Telefon, Faxgerät, Kleinkopierer, Schreibtisch, Bürostühle, ein paar Stempel und die elementarste juristische Literatur, darunter ein Einführungsbuch zur Kanzleigründung,  beschränken. Unverzichtbar sind möglichst schicke eigene Anwalts-Visitenkarten, vorteilhaft ein individuell konzipiertes Anwalts-Briefpapier, was sich aber, um Kosten zu senken, notfalls auch am eigenen PC herstellen lässt.

Das Kanzleischild
Von großer Wichtigkeit ist fraglos das außen am Wohnhaus anzubringende Kanzleischild, an dem ausnahmsweise nicht gespart werden sollte, denn dieses entscheidet über die Frequentierung der Kanzlei durch die Bewohner der eigenen und umliegenden Straßen. Der Vermieter ist vor dessen Anbringung zu konsultieren, wird aber in der Regel nichts dagegen (und gegen die teilgewerbliche Nutzung der Wohnung) haben, wenn man ihm klarmacht, dass mit dem ganz großen Publikumsandrang vorläufig eher weniger zu rechnen ist.
Je nach individueller Planung wird der Kanzleigründer zum beschleunigten Anlaufen seiner Geschäfte den Einsatz gezielter Marketinginstrumente in Erwägung ziehen. Bis aber die Einnahmen aus der Kanzlei die Lebenshaltungskosten decken, geht es allerdings kaum ohne einen adäquaten Nebenjob, und auch in dieser Hinsicht sind der Kreativität – ob Taxi fahren oder Post austragen – keine Grenzen gesetzt. Schließlich wusste schon Martin Luther (1483-1546): “Der Jurist, der nicht mehr ist als ein Jurist, ist ein arm Ding.”

Justament Dez. 2004: Im letzten Gefecht*

Viele der in 150 Jahren erkämpften Arbeitnehmerrechte stehen auf dem Prüfstand

Thomas Claer

In diesen Tagen häufen sich wieder einmal die Vorschläge, wie Deutschland seine alte Attraktivität als Produktionsstandort zurückgewinnen könne: Kündigungsschutz einschränken, innerbetriebliche Mitbestimmung abschaffen, Feiertage streichen, Urlaub kürzen, Raucher- und Teepausen nicht mehr bezahlen, Löhne beschneiden, Flächentarif abschaffen, Wochenarbeitszeit erhöhen, Samstag wieder zum allgemeinen Arbeitstag machen, überhaupt länger und vor allem flexibler arbeiten – all das wird derzeit munter und mit großem Ernst debattiert.
In einem Land wie Deutschland, das sich mit Fug und Recht als die Wiege der Arbeiterbewegung ansehen darf, kommt dies bereits einer Kulturrevolution gleich. Offenbar geht es dem kranken Mann im Herzen Europas so schlecht, und der Leidensdruck ist so groß geworden, dass nun möglich ist, was noch vor wenigen Jahren undenkbar schien. Aber wie konnte das passieren?

Erste Rechte für Arbeiter
Angefangen hat alles im Februar, gewissermaßen im unmittelbaren Vormärz 1848, als zwei zornige junge Männer aus dem Rheinland im Londoner Exil einen nur 20 Seiten langen Text publizierten, der die Welt für mehr als ein Jahrhundert das Fürchten lehren sollte: Im “Manifest der Kommunistischen Partei” analysierten Karl Marx und Friedrich Engels messerscharf, schonungslos und sprachlich meisterhaft den modernen Kapitalismus als tendenziell globales Phänomen und schufen damit zugleich einen bis in unsere Zeit maßgeblichen Schlüsseltext zur Interpretation sozialer und politischer Umwälzungen. Darüber hinaus setzten sie im “Manifest” aber auch dem Kapitalismus gehörig die Pistole auf die Brust, indem sie seinen Untergang durch eine Weltrevolution des Proletariats prophezeiten.
Die Autorität des starken Analyse-Teils muss den darauf folgenden (schwächeren) Propaganda-Abschnitten so viel Nachdruck verliehen haben, dass fortan die Drohkulisse Kommunismus im Bewusstsein aller Besitzenden fest etabliert war. So sprach sich unter ihnen allmählich herum, dass es klüger – und letztlich sogar einträglicher – sein könnte, den Proleten etwas Zaster und sogar Rechte einzuräumen, sie dadurch gleichzeitig als Konsumenten der in rauen Mengen produzierten Waren zu gewinnen und auf diese Weise die Marxsche Verelendungstheorie Lügen zu strafen. Schritt für Schritt werkelten in der Folge konservative Regierungen unter dem Druck der organisierten proletarischen Interessenvertreter an der allmählichen Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen des kleinen Mannes.

Die Hochphase
Eine gänzlich neue Situation ergab sich mit der Machtübernahme kommunistischer Parteien zunächst im anfangs von vielen völlig verklärten Sowjetreich und später auch in Mittel- und Osteuropa. Wer den Unterschied zwischen den Auswirkungen einer abstrakten und einer konkreten Bedrohung erfahren will, möge sich den rechtlichen und sozialen Status der westeuropäischen Arbeitnehmerschaft vor und in den Jahrzehnten der unmittelbaren räumlichen Nähe des real existierenden Sozialismus vor Augen halten – und sich seinen eigenen Reim auf die Gegenwart und die Zukunft machen.
Marxisten müssten es vermutlich als eine Art höhere Dialektik ansehen, dass die eigentlichen Arbeiterparadiese nicht in den Arbeiter- und Bauernstaaten (deren ökonomische Kraft nur zu einer elementaren Grundabsicherung genügte), sondern gleichsam in ihrem Schatten in den kapitalistischen Ländern entstanden. Im ideologischen Wettbewerb der Systeme kam dem Stellenwert der Arbeitnehmer in der Gesellschaft ein hoher Symbolwert zu. Es galt als vollkommenster Beweis der eigenen Überlegenheit, den Gegner auch in seinem ureigensten Terrain zu übertreffen.
Grundsätzliche Bedenken angesichts der enormen Aufwertung und immer neuer Schutz- und Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmerschaft kamen nur notorischen Nörglern wie Fernseh-Ekel Alfred Tetzlaff: Könnten etwa bei VW, gab er seinem sozialdemokratischen Schwiegersohn einmal zu verstehen, die so zahl- wie kinderreichen Gastarbeiter darüber mitbestimmen, welche Autos gebaut werden, dann würden bald nur noch Kleinbusse produziert…

Viele Räder stehen still
Neben den politisch und ökonomisch keineswegs zufälligen Wegfall der östlichen Drohkulisse tritt als wesentlicher und belastender Umstand vor allem der sich rasant beschleunigende Strukturwandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. Weitere 20 % der noch verbliebenen deutschen Industriearbeitsplätze werden in den zwei kommenden Jahrzehnten verloren gehen.
Sie wären wohl nicht einmal durch weiteres Sozialdumping zu halten, denn Deutschland kann mit den meisten Regionen der Welt bezüglich der Produktionskosten einfach nicht konkurrieren. Zum Sinnbild dieser traurigen Wahrheit sind die streikenden Rüsselsheimer Opel-Arbeiter des diesjährigen Oktobers geworden, denen ein Sprecher von “General Motors” ausdrücklich für die Lahmlegung der gesamten Produktion dankte, da dies im Wege der bald anstehenden Standortschließung ohnehin beabsichtigt gewesen sei.
So bleibt Deutschland letztlich nur die Beschränkung auf die industrielle Produktion besonders hochwertiger Konsumgüter mit gut qualifiziertem Personal. Zudem brauchen die betreffenden Unternehmen nach wie vor einen Apparat, der die durch Outsourcing in alle Welt verstreuten Teile der Produktion vom Firmenstammsitz aus organisatorisch in Einklang bringt.
Die vielen Niedrig- und Fehlqualifizierten, die den Arbeitsmarkt überschwemmen, werden dann jedoch zunehmend in den Dienstleistungssektor gedrängt, der sich durch Angebot und Nachfrage sowie die absehbare staatliche Deregulierung bald schon überwiegend zum Niedriglohnsektor entwickeln dürfte. Ob dies mit einer “Rückkehr des Feudalismus” gleichzusetzen ist, wie es manchmal heißt, ist eher zweifelhaft. Die Rede vom Ende der Industriegesellschaft stellt aber gewiss keine Übertreibung dar: Es entsteht etwas Neues.

Von der Mitbestimmung zur Kontrolle?
Nun sind glücklicherweise eine Reihe von arbeitnehmerrechtlichen Mindeststandards, die sich unmittelbar aus den Grundrechten ergeben oder solchen gleichgestellt werden – etwa die Chancengleichheit von Frauen und Männern, ein grundlegender Arbeitsschutz oder die Eingliederung von Behinderten in den Arbeitsmarkt -, bereits auf europäischer Ebene in Chartas und Richtlinien verankert. Ab 2006 wird man diese auch in die erste europäische Verfassung aufnehmen, wenn bei deren Ratifizierung alles nach Plan läuft.
Welchen Sinn können beispielsweise deutsche Steckenpferde wie das Recht auf innerbetriebliche Mitbestimmung oder der strikte Kündigungsschutz unter gänzlich veränderten Rahmenbedingungen haben? Sind sie nur die Kostentreiber und Investitionsbremsen, als die sie derzeit häufig dargestellt werden, oder lassen sich ihnen auch aus ökonomischer Sicht positive Seiten abgewinnen?
Während die derzeitigen Regelungen des Kündigungsschutzes faktisch Neueinstellungen von Beschäftigten erschweren, vor allem die Berufseinsteiger über Gebühr benachteiligen und insofern tatsächlich in Frage gestellt gehören, wird die Mitbestimmung trotz lästiger Debatten im Aufsichtsrat und langwieriger Diskussionen in den Betriebsräten zunehmend als wichtige Instanz bei der Unternehmenskontrolle angesehen.
Bei mitbestimmten Unternehmen, so wird vorgebracht, habe es immerhin keine kriminellen Skandale gegeben wie in den Vereinigten Staaten bei “Enron” oder “Worldcom”, wo die Vorstände Kapital in Milliardenhöhe und die Ersparnisse von vielen tausend Kleinaktionären vernichtet haben.
In der Tat sollten sich Arbeitnehmervertreter als (zusätzliche) Kontrolleure ihrer Chefetagen schon deshalb besonders gut eignen, weil sie ein unmittelbares Wissen aus dem Unternehmen selbst und womöglich sogar detaillierte Kenntnis interner Probleme mitbringen. Ob hierzu aber ein Mitbestimmen zwingend notwendig ist, sei dahingestellt. Vielmehr steht zu befürchten, dass die aus einer anderen Zeit stammende ideologische Aufgeladenheit eines solchen Wortes einem effektiven und wünschenswerten “Controlling”, wie es heute heißt, auch von unten nach oben (und nicht nur umgekehrt) im Wege steht.

* Die Überschrift des Beitrags in der Printausgabbe war vom Verleger persönlich in “Gute zeiten – schlechte Zeiten?” abgeändert worden.

Justament Dez. 2004: Kündigen hier und anderswo

Die Rechte der Arbeitnehmer unterscheiden sich von Land zu Land erheblich voneinander – selbst innerhalb der Europäischen Union

Thomas Claer

Noch gerade rechtzeitig vor dem Zusammenbruch des Weltkommunismus konnte sich die damals noch weitaus schlankere Europäische Union 1989 auf eine für alle Mitgliedsländer verbindliche soziale Grundorientierung einigen: die “Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte”. Sie enthielt die in zwölf Kapiteln verankerte Kodifizierung grundlegender Arbeitnehmerrechte –  von der Freizügigkeit über die berufliche Bildung, die Chancengleichheit von Männern und Frauen und die Mitwirkung der Arbeitnehmer im Betrieb bis hin zum Arbeitsschutz und der Eingliederung von behinderten Menschen in den Arbeitsmarkt. Daneben sind in einschlägigen Richtlinien zahlreiche arbeitnehmerrechtliche Mindeststandards festgelegt.
Mit der Aufnahme eines Kanons zentraler Arbeitnehmerrechte in die Charta der Grundrechte der Europäischen Union durch den Europäischen Rat in Nizza im Dezember 2000 ist die Sozialpolitik sogar zu einem Kernbereich der europäischen Politik geworden. Und schließlich haben diese arbeitnehmerrechtlichen Essentials auch Eingang in die am 29. Oktober 2004 von den Staats- und Regierungschefs in Rom unterzeichnete erste Europäische Verfassung gefunden.
Die “sensiblen” Bereiche wie die Löhne, das Koalitions-, Streik- und Aussperrungsrecht sowie der soziale Schutz der Arbeitnehmer einschließlich des Kündigungsschutzes sind jedoch in der Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten verblieben. Und hier gibt es teilweise beträchtliche Unterschiede.

Der deutsche Weg
In Deutschland sind bekanntlich die Kündigungsfristen bei Arbeitsverhältnissen sowohl für Arbeiter als auch für Angestellte gesetzlich geregelt, aber tarifvertraglich abdingbar. Sie liegen gem. §§ 622 ff. BGB je nach Dauer des Arbeitsverhältnisses bei vier Wochen bis sieben Monaten, in der Probezeit bei zwei Wochen. Zudem muss in Betrieben mit mehr als fünf Arbeitnehmern jede Kündigung von Arbeitgeberseite bei einem mindestens sechsmonatigen Arbeitsverhältnis sozial gerechtfertigt (i.S.d. Kündigungsschutzgesetzes) sein, d. h. es müssen jeweils verhaltens-, personen- oder betriebsbedingte Gründe vorliegen. Ungerechtfertigt ist eine Kündigung, wenn die Möglichkeit besteht, den Arbeitnehmer innerhalb des Unternehmens umzusetzen oder ihn umzuschulen, wobei dies zum Teil nur bei fristgemäßem Einspruch des Betriebsrats berücksichtigt wird.
Bei der betriebsbedingten Kündigung ist eine so genannte “Sozialauswahl” erforderlich, wobei der Arbeitgeber die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, etwaige Unterhaltspflichten oder eine Schwerbehinderung des Arbeitnehmers zu beachten hat. Nicht einzubeziehen sind diejenigen, deren Weiterbeschäftigung – insbesondere wegen ihrer Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen oder zur Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur des Betriebes – im berechtigten betrieblichen Interesse liegt.

Soziale Schweden
Alles in allem noch ein Stück arbeitnehmerfreundlicher ist der Kündigungsschutz im traditionell sozialdemokratischen Schweden ausgestaltet. Die gesetzlichen – jedoch tarifvertraglich abdingbaren – Kündigungsfristen liegen je nach Beschäftigungsdauer zwischen einem Monat und sieben Monaten. Erforderlich ist für jede Kündigung ein “sachlicher Grund”. Ein solcher liegt beispielsweise nicht vor, wenn dem Arbeitgeber zugemutet werden kann, dem Arbeitnehmer einen anderen Arbeitsplatz zuzuweisen.
Nicht in Betracht kommt eine Kündigung wegen persönlichen Verhaltens oder einer Pflichtverletzung des Arbeitnehmers, wenn dies dem Arbeitgeber schon seit zwei Monaten bekannt ist. Bei Kündigungen aus betrieblichen Gründen sind die Arbeitnehmer mit der kürzesten Beschäftigungszeit zuerst an der Reihe. Eine Ausnahme gilt nur in Betrieben mit bis zu zehn Beschäftigten. Dort darf der Arbeitgeber zwei seiner Arbeitnehmer trotz verhältnismäßig kurzer Beschäftigungszeit von der Kündigung ausnehmen, wenn sie für den Betrieb wichtig sind.
Bei betriebsbedingten Kündigungen oder bei einer größeren Zahl von Entlassungen müssen die Arbeitgeber frühzeitig mit den örtlichen Arbeitnehmer-Vertretern verhandeln. Gehört der Arbeitnehmer einer Gewerkschaft an, muss diese auch bei Entlassung aus personenbezogenen Gründen oder bei einer Pflichtverletzung zwei Wochen vor der Kündigung unterrichtet werden. Daraufhin kommt es gegebenenfalls zu einer Beratung mit dem Arbeitgeber. Dieses Verfahren gilt auch für Entlassungen aus Probearbeitsverhältnissen.

Das britische Modell
In Großbritannien beträgt die gesetzliche Kündigungsfrist bei einer Beschäftigungsdauer von bis zu zwei Jahren eine Woche, danach pro Beschäftigungsjahr eine weitere Woche, aber höchstens zwölf Wochen. Die Kündigung muss lediglich “fair” sein, d.h. im Verhalten oder den Fähigkeiten des Arbeitnehmers begründet sein oder aus wirtschaftlichen Gründen erfolgen. Eine Anhörung des Arbeitnehmervertreters ist nur bei Entlassung von zwanzig oder mehr Arbeitnehmern in Betrieben mit mindestens fünfzig Arbeitnehmern oder im Falle von Beschwerden bei Einzelkündigungen vorgeschrieben.
Auffällig ist die Ähnlichkeit des schwedischen Modells mit dem  früheren deutschen, wohingegen sich für die Zukunft wohl eher eine weitere Annäherung des deutschen Kündigungsschutzes an das britische Modell prognostizieren lässt.

Justament Okt. 2004: Recht, das sich rechnet

Zwar gibt es die Ökonomische Theorie des Rechts schon seit einigen Jahrzehnten, doch nun erlebt sie angesichts zunehmender Sparzwänge und chronisch leerer Kassen eine neue Blüte. Am Ende könnte unter anderem eine radikal verschlankte Justiz stehen.

Thomas Claer

“Judex non calculat”, heißt es nicht nur hierzulande von alters her. Der Jurist rechnet nicht. Damit war und ist vermutlich auch gemeint, dass sich die Rechtsfindung keinesfalls an den jeweiligen wirtschaftlichen Umständen des Einzelfalls zu orientieren habe, sondern stets nur an den eigenen ehernen Prinzipien, die für den exorbitanten Streitwert genauso gelten wie für den niedrigen. So wie bekanntlich die blinde Justitia den ohne Ansehen der Person und der Verhältnisse gefällten Richterspruch symbolisiert. “Lex non distinguit”, ist auch so ein Grundsatz. Das Gesetz unterscheidet nicht, weder zwischen arm und reich, noch zwischen angesehen und verachtet. Ökonomische Erwägungen sind ihm fremd.

Blind für wirtschaftliche Gesichtspunkte
Doch wird diese Regel in Zeiten des allgegenwärtigen Finanzierbarkeitsvorbehalts zunehmend hinterfragt.
Ökonomen sehen in der prinzipiellen Blindheit des Rechtssystems für wirtschaftliche Gesichtspunkte nicht weniger als eine groß angelegte Verschwendung volkswirtschaftlicher Ressourcen. Geistige Munition für den Angriff auf diverse Aspekte der Gesetzes- und Rechtspraxis liefert ihnen die “Ökonomische Theorie des Rechts”, laut Christian Kirchners gleichnamigem Standardwerk (Berlin 1997) “der Versuch, das Instrumentarium der Wirtschaftswissenschaft auf rechtliche Fragestellungen anzuwenden”. Davon ausgehend wird in Gesetzgebung und Rechtsprechung eine stärkere “Folgenorientierung”  angemahnt. Es müsse bei allem eben immer auch gefragt werden: Was kostet das? Zwar sei die Ökonomische Theorie des Rechts, räumt Jürgen Coppik ein, der gerade an seiner Dissertation über die gesetzlichen Regulierungsvorgaben für Unternehmensübernahmen aus ökonomischer Sicht arbeitet, “eher als eine Gesetzgebungs- denn als eine Rechtsanwendungstheorie zu verstehen”. Gleichwohl würden sowohl Politiker als auch Richter gefordert, denn Gesetze seien nun einmal meist unvollständig und an vielen Stellen auslegungsbedürftig. Reichlich Raum also für die Richterschaft, sich in ihren Entscheidungen auch von wirtschaftlichen Gesichtspunkten leiten zu lassen, was schließlich dem Gemeinwohl diene.

Rational und Nutzen maximierend
Dabei ist die Ökonomische Theorie des Rechts im Grunde ein alter Hut, wurde sie doch bereits Anfang der sechziger Jahre vorwiegend in den USA entwickelt. Die Natur gesetzlicher Regelungen lasse sich, so ihre damaligen Verfechter, nur unter der Einbeziehung ihrer Auswirkungen auf die Gesellschaft verstehen. Und deren Mitglieder wiederum, die Individuen, verhielten sich nicht nur im Wirtschaftsleben, sondern auch in allen anderen Lebensbereichen rational und Nutzen maximierend. Seither haben die ökonomischen Theorien – in Auseinandersetzung mit ihren Kritikern – ihr Welt- und vor allem auch ihr Menschenbild zunehmend verfeinert und berücksichtigen heute selbst altruistisches Verhalten, da dieses ebenfalls dem persönlichen Wohlbefinden und folglich der individuellen Nutzenmaximierung dienen könne. Explizit untersucht derzeit die “Neue Institutionenökonomik” die Bedeutung von “Institutionen”, von “auf bestimmten Zielbündeln abgestellten Systemen von Normen einschließlich deren Garantieinstrumenten” (also dem Recht schlechthin), für den Wirtschaftsprozess und beurteilt sie hinsichtlich ihrer Effizienz. Mittlerweile ist die ökonomische Theorie des Rechts auch an zahlreichen deutschen Hochschulen in Lehre und Forschung vertreten, u.a. durch Schäfer und Ott (Universität Hamburg) sowie Kirchner (Humboldt-Universität Berlin).

Schlanke Justiz
Während das ökonomische Paradigma in der Justiz noch auf erhebliche Vorbehalte trifft, rennen Theoretiker der Wirtschaftlichkeit in der Politik bereits Lager übergreifend offene Türen ein. Mit Hochdruck bereiten die Justizminister der Länder die ganz große, wirklich ihren Namen verdienende Justizreform vor, durch die Gerichtsbarkeiten zusammengelegt, ausufernde Beweisaufnahmen eingespart, Rechtsmittel auf Fälle mit bedeutenden Streitwerten beschränkt werden sollen und vieles mehr, was den Steuerzahler entlasten kann. Noch sträubt sich Bundesjustizministerin Zypries, doch auch sie wird den Zug der Zeit kaum aufhalten können. Argumentiert wird ähnlich wie beim Umbau des Sozialstaats: Nur durch die Beschränkung auf das Wesentliche bei Beschneidung von Wildwuchs aller Art könne der Rechtsstaat, so wie der Sozialstaat, im Kern erhalten bleiben.

Trend zur Relativierung von Absolutismen
Selbstverständlich schrillen angesichts dieser Aussichten – in der Justiz wie auf den Montagsdemonstrationen – bei vielen längst die Alarmglocken. Wird nach dem Sozial- nun auch der Rechtsstaat relativiert, dann ist bald schon die freiheitlich demokratische Grundordnung in Gefahr und von dort ist es nur noch ein kleiner Schritt zur gelenkten Demokratie a la Putin. Vielleicht leben wir ja in einem Zeitalter der schleichenden Relativierung für uns einst konstitutiver Absolutismen: des absoluten Folterverbots, des absoluten Verbots sich als Staat durch Terroristen erpressen zu lassen, des absoluten Primats des Rechts vor der Ökonomie. Die Erklärung dafür dürfte in der so ziemlich alles relativierenden Globalisierung liegen. Im globalen Dorf regiert der Pragmatismus. Niemand wünscht es, aber irgendeiner tut es doch und die anderen müssen nachziehen, wenn sie sich behaupten wollen.

Justament März 2004: Drei Koreaner in Bielefeld

Was südkoreanische Jurastudenten und -doktoranden über ihr Gastgeberland Deutschland denken

Thomas Claer

Unter den ausländischen Studierenden an deutschen Universitäten stellen die Südkoreaner nach den Chinesen die zweitgrößte “Landsmannschaft” aus Fernost. Darunter sind – im regulären oder im Promotionsstudium – auch etliche (angehende) Juristen. Warum fiel ihre Wahl gerade auf Deutschland, was denken Sie über ihr Gastgeberland und sein Rechtssystem? Und was gefällt ihnen in Deutschland besser, was finden sie hier schlechter als in ihrer Heimat? Wir haben drei in Bielefeld lebende koreanische Studenten befragt.

Hyung-Dun Kwon, 37 Jahre, Promotionsstudent
Ich bin 1996 nach Deutschland gekommen um in meinem Spezialgebiet, Verfassungsrecht mit Schwerpunkt Medienrecht, zu promovieren. Deutschland war für mich besonders interessant, weil bei der Kodifikation unserer südkoreanischen Verfassung 1948 auch Einflüsse aus Deutschland eine wichtige Rolle spielten: Es wurden damals nicht nur liberale, sondern auch soziale Grundsätze in die Verfassung geschrieben. Auch die weitere Entwicklung der koreanischen Verfassung war stark vom Bonner Grundgesetz beeinflusst. Der heutige deutsche Rechtsstaat ist dem koreanischen zwar formal recht ähnlich, funktioniert aber insgesamt besser, wie man beispielsweise an den Kontrollsystemen für Machtmissbrauch in der Politik sehen kann. Auch halte ich das deutsche Sozialsystem trotz aller gegenwärtigen Probleme für besser als das koreanische, vor allem gilt das für das Solidarprinzip in der Krankenversicherung. In Korea müssen Arme, wenn sie schwer krank werden, häufig auf ihr Leben verzichten, weil sie sich die erforderliche Behandlung nicht leisten können. Gut sind in Deutschland auch der Umweltschutz und die vielen sicheren Fahrrad- und Fußgängerwege. Schlecht finde ich in Deutschland die viele Bürokratie, auch den Umgang der Beamten mit ausländischen Studenten. An das deutsche Essen habe ich mich mit der Zeit etwas gewöhnt, aber das schlechte und wechselhafte Wetter stört mich noch immer. Sehr beeindruckt hat mich, wie manchmal deutsche Studenten im Seminar ihrem Professor widersprechen. Das wäre in Korea kaum vorstellbar. Eine hierarchisch strukturierte Gesellschaft wie die koreanische hat Vor- und Nachteile. Aber in der Wissenschaft sind flache Hierarchien sicherlich günstiger.

Sang-Mi Lee, 27 Jahre, Studentin der Rechtswissenschaften
Ich habe in Korea bereits ein Germanistikstudium abgeschlossen und studiere nun seit drei Jahren in Deutschland Jura. Deutschland habe ich mir ausgesucht, weil ich durch mein vorheriges Studium schon einige Sprach- und kulturelle Kenntnisse über das Land erlangen konnte. Meine Angst vor einem Leben allein im Ausland war daher bezüglich Deutschland am geringsten. Sehr ungewöhnlich war es anfangs für mich, das Studium selbst organisieren zu müssen. Dieses deutsche System der studentischen Freiheit hat sicherlich große Vorteile, aber zum Studium ist viel Selbstdisziplin erforderlich. Meine Mitbewohner in der WG zum Beispiel gehen ausnahmslos jede Woche auf irgendwelche Partys. Das ist schon anders als in Korea, wo insgesamt intensiver gelernt wird. Gut gefällt mir, dass im deutschen Jurastudium bereits von Anfang an Fälle gelöst werden und nicht wie in Korea erst im Hauptstudium. Sehr gerne mag ich das deutsche Bier, das hier auch viel billiger ist als in Korea. Allerdings finde ich das Freizeitangebot in Korea besser, es gibt hier nicht so viele Sachen zum Genießen, z.B. kaum Karaoke-Bars und nur wenige Internet-Cafes. Schlecht finde ich in Deutschland die kurzen Öffnungszeiten der Geschäfte. Das ist schon manchmal sehr unpraktisch.

Wan-Tae Kim, 36 Jahre, Promotionsstudent
Ich bin 1994 nach Deutschland gekommen, habe den Jura-LL.M-Studiengang in Bielefeld abgeschlossen und promoviere nun an der Uni Frankfurt am Main. Deutschland schien mir als Studienort im Hinblick auf sein Wissenschaftsniveau, die vielfältigen Auffassungen in Rechtsprechung und Literatur, aber auch von der Lebensqualität her sehr geeignet zu sein. Die Verwirklichung von Demokratie-, Rechtsstaats- und Sozialstaatsprinzip galt als vorbildlich. Die Krankenversicherungskosten und die Studiengebühren waren damals sehr günstig. Zwar sind die Rechtssysteme in Deutschland und Korea sehr ähnlich, doch die Rechtsanwendung ist in Korea eher amerikanisch. Allgemein ist das Lebenstempo in Deutschland langsam. Man braucht hier für alle Dinge viel Geduld. Die Regulierungen und Gesetze sind sehr umfangreich und es gibt keinen ausreichenden Service im Dienstleistungsbereich. Die Deutschen sind logisch, rational, sparsam und verantwortungsvoll. Vorteilhaft an Deutschland ist, dass hier sehr viel Freizeit genossen wird. Negativ an Deutschland finde ich die viel zu starke Bürokratisierung und eine oft sinnlose und überflüssige Genauigkeit, wenn ich an manche Ausweiskontrollen denke, bei denen auf dem Personalausweis bestanden und nicht ersatzweise der Führerschein akzeptiert wird.

Justament März 2004: Pauken im Land der Morgenstille

Das südkoreanische Juristenausbildungssystem übertrifft das deutsche an Rigorosität

Thomas Claer

Einen Namen gemacht hat sich Südkorea als Tigerstaat, der – abgesehen vom Asien-Krisen-Knick Mitte der Neunziger – seit Jahrzehnten ein exorbitantes Wirtschaftswachstum vorweisen kann und bei “ungehindertem Geschehensablauf” wohl in nicht allzu ferner Zukunft zum stagnierenden Nachbarn Japan aufschließen wird. In der für Deutschland so blamablen PISA-Studie belegten die Schüler Südkoreas hinter Finnland den zweiten Platz (was in den koreanischen Medien kaum Beachtung fand). Wie funktioniert in einem solchen aufstrebenden Land die Juristenausbildung?

Wenige Juristen
So wie in Deutschland muss, wer sich in Südkorea examinierter Jurist nennen will, zwei Staatsprüfungen bestehen. Die Parallelen sind nicht zufällig, wurde doch das formale Rechtssystem in Korea während der japanischen Kolonialherrschaft (1907-1945) etabliert und hatte Japan wiederum das seine nach dem Muster Preußens errichtet. Doch bildet Korea keine Einheitsjuristen aus. Es gibt drei unterschiedliche Staatsexamen: ein zivilrechtliches, das zwar auch das Strafrecht, hingegen das öffentliche Recht nur in Grundzügen umfasst, ferner ein öffentlich-rechtliches für alle Verwaltungsberufe und schließlich eins für den diplomatischen Dienst. Auch bewegt sich, anders als in Deutschland, das derzeit unter einer Juristenschwemme leidet, die Zahl der erfolgreich abschließenden Juristen in Korea bis heute auf eher preußischem Niveau: Genau 1000 Absolventen (bei ca. 50 Millionen Einwohnern) – diese Zahl ist festgeschrieben – kommen pro Jahr durchs zweite zivilrechtliche Staatsexamen. Bis 1997 waren es nur 500. Im öffentlich-rechtlichen und im Diplomaten-Examen lässt man noch deutlich weniger Kandidaten bestehen. Und diese wenigen Glücklichen haben – wie die vielen unglücklichen “Durchfaller” – einen nervenaufreibenden Lernmarathon durchlaufen, der selbst die gewiss nicht komfortable deutsche Examensvorbereitung in den Schatten stellt.

Voraussetzungen
Um sich für eines der koreanischen Staatsexamen anzumelden, bedarf es keinerlei formaler Voraussetzungen. Ein Jurastudium ist zwar hilfreich, aber genauso wenig vorgeschrieben wie ein bestimmter Schulabschluss. Wer es so will oder muss (z.B. weil er keinen der begehrten und streng limitierten Studienplätze bekommen hat), bereitet sich selbständig aufs Examen vor. Der jetzige Präsident der Republik Korea, Roh Moo Hyun, ist Jurist geworden, ohne jemals an einer Universität studiert zu haben. Das – wie alle Studiengänge in Korea – ziemlich verschulte Jurastudium ist zwar inhaltlich voll und ganz auf die Staatsexamen fixiert, bietet aber einen eigenen universitätsinternen Bachelor-Abschluss an, den auch üblicherweise der jeweils gesamte Jahrgang erreicht. Fast alle Jura-Studenten versuchen sich anschließend aber auch im ersten Staatsexamen, das immerhin ca. 10 Prozent von ihnen bestehen. Hinzu kommen noch die etwa zwanzig Prozent der erfolgreichen Examens-Prüflinge, die zuvor nicht Jura, sondern etwas anderes oder gar nicht studiert haben. Wer beim Examen scheitert oder diesen Weg gar nicht erst einschlagen will, kann immer noch einen aufbauenden Master-Studiengang absolvieren, der wiederum unverzichtbar für eine spätere Promotion ist, welche ihrerseits den Weg zu einer, in Korea nicht sonderlich attraktiven, Professur an einer Universität ebnen kann – und das alles ohne Staatsexamen.

Examensindustrie
Die eigentliche Examensvorbereitung erfolgt aber – wie in Deutschland – in den allermeisten Fällen beim “Rep”. Die absolvierten privaten examensvorbereitenden Kurse dauern mindestens ein Jahr, oft aber auch länger – je nach Selbsteinschätzung der Kandidaten. Manche sollen bis zu 10 Jahre für ihr Examen lernen. Die Intensität ist beträchtlich. Üblicherweise quartieren sich die Kursteilnehmer in den Lernräumen der Repetitorien ein (Übernachtungen sind in den Preisen von umgerechnet ca. 1000 Euro monatlich bereits enthalten) und büffeln dort buchstäblich Tag und Nacht. In der Nähe der renommierten Seoul-Uni, der koreanischen Eliteuniversität schlechthin, gibt es einen so genannten “Juristenexamensbezirk”, in dem sich eine Vielzahl dieser “Paukschulen” befindet.

Staatsexamen
Die zentrale Prüfung zum ersten Staatsexamen findet jeweils einmal jährlich für einige Tage in der Hauptstadt Seoul statt. Im ersten Durchgang müssen die zigtausend Kandidaten durch einen Multiple-Choice-Test, dessen Bestehen die Voraussetzung für die Teilnahme am zweiten Durchgang ist und der das Feld der Aspiranten bereits deutlich dezimiert. Dann folgt der Klausuren-Teil, zu dem neben der üblichen Fallbearbeitung, wie wir sie kennen, auch regelmäßig “Besinnungs-Aufsätze” mit Aufgabenstellungen wie “Stellen Sie Ihre Kenntnisse über die Meinungsfreiheit dar!” gehören. Wer hier zu den besten 1000 gehört, hat es so gut wie geschafft. Die abschließende mündliche Prüfung der “Sieger” dient dann nur noch der gelegentlichen Auslese aufgrund eines mangelhaften Persönlichkeitsbildes.

Vorbereitungsdienst
Auf das erfolgreiche erste Examen folgt dann ein zweijähriger staatlicher Vorbereitungsdienst, ähnlich unserem Referendariat. Im ersten Jahr erhalten die verbeamteten und besoldeten angehenden Juristen einen schulartigen, aber rechtspraxisnahen Unterricht an einem Institut. Das zweite Jahr wird nur noch in der Praxis absolviert. Grundsätzlich jeder besteht das darauf folgende zweite Staatsexamen. Allerdings verliert bei einem – nur selten vorkommenden – Scheitern im zweiten Examen auch das erste seine Gültigkeit. Je nach Examensnote dürfen die Absolventen dann Richter, Staatsanwälte oder Rechtsanwälte (von denen es in Korea nur einen Bruchteil der in Deutschland zugelassenen Zahl gibt) werden. In jedem Falle haben die auf solche Weise examinierten Juristen exzellente Berufs- und Verdienstaussichten.

Justament Dez. 2003: Auf der Flucht vor den Paragraphen

Prominente Ex-Juristen waren und sind zumeist keineswegs traurig über ein Leben ohne die von ihnen mühsam erlernte Rechtswissenschaft

Thomas Claer

So alt wie die Juristerei ist vermutlich auch der Verdruss an ihr. Und so mancher, dem es möglich war, hat sich ihr, die ihm so viel Kopf- und Seelenschmerz verursacht hat, früher oder später auch wieder entzogen. Dies war vor über 200 Jahren so und ist es auch noch heute – wie zahlreiche prominente Beispiele zeigen.

Dichterjurist (1)
Ohne Zweifel war Deutschlands bis heute berühmtester Dichter schon zu seinen Lebzeiten prominent. Doch obwohl Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) in jungen Jahren die Jurisprudenz – ähnlich wie der Held seines großen Dramas – durchaus mit heißem Bemühen studiert hatte, erlangte er seinen Ruhm vornehmlich durch Dichtkunst und Farbenlehre.
Zunächst deutete aber alles auf eine Juristenlaufbahn des späteren Geheimrats hin: Den Grundstein dafür legte Goethes Vater, der seinem Sohn vom sechsten Lebensjahr an Privatunterricht mit Schwerpunkt Latein und Rechtslehre erteilen ließ, um ihn – nichts geringeres war seine Absicht – zielstrebig auf das juristische Studium vorzubereiten. Im Wintersemester 1965/66 immatrikulierte sich der gerade 16jährige dann zum Studium der Rechte in Leipzig, doch bald begannen ihn die Vorlesungen zu langweilen – ihm war der Stoff schon von seinen Privatlehrern eingebläut worden. Lieber hörte er Veranstaltungen in Geschichte, Philosophie und Naturwissenschaften. Das Studium schleppte sich hin. Nach krankheitsbedingter Unterbrechung setzte der nun fast 21jährige seine Studien 1770 in Straßburg fort, wo er allmählich Geschmack an der Rechtswissenschaft zu finden schien: “Die Jurisprudenz fangt an, mir sehr zu gefallen. So ists doch mit allem wie mit dem Merseburger Biere, das erste Mal schauert man, und hat mans eine Woche getrunken, so kann mans nicht mehr lassen.”, schrieb er an Klettenberg. Im September bestand er das “Vorexamen” (so genannt, weil damals üblicherweise noch eine Promotion nachgelegt wurde) mit “cum laude”. Seine – so heißt es jedenfalls in den Quellen – im Sommer 1771 angefertigte juristische Doktorarbeit “De legislatoribus”, in der sich Goethe für eine staatliche Regelung der kirchlichen Kultusordnung einsetzte, wurde zunächst als zu starke theologische Provokation von der Fakultät abgelehnt. Gleichwohl vollendete Goethe am 6. August 1771 seine Promotion, indem er eine Disputation über 56 lateinische Rechtsthesen mit “cum applauso” bestand.
Kurz darauf beantragte er beim Frankfurter Schöffengericht die Zulassung zum Advokat und führte bereits am 16. Oktober 1771 seinen ersten Prozess, dem in den nächsten vier Jahren 27 weitere folgten. Weil Goethe aber anfangs zu allzu stürmischen schriftlichen Plädoyers neigte, wurde er dafür schon bald mit einem Gerichtsverweis gerügt. Mit der Zeit fand der junge Rechtsanwalt dann zwar zur angemessenen stilistischen Trockenheit, doch wuchs damit andererseits auch sein Überdruss am Beruf: “Unter all meinen Talenten ist meine Jurisprudenz der geringsten eins. Das bißchen Theorie, und Menschenverstand, richtens nicht aus.”, schrieb er Ende 1773 an Kestner.
Zudem stellte sich mit den “Leiden des jungen Werthers” (1774) auch endlich der literarische Erfolg ein, so dass er 1775 die Anwaltsrobe an den Nagel hängte und auf Einladung des Herzogs von Sachsen-Weimar an dessen Hof wechselte, wo er schnell zum hohen Staatsbeamten und schließlich 1776 auch zum Geheimrat aufstieg. Fortan – und seit 1815 auch als Staatsminister – blieben Goethes Belastungen durch seine Ämter überschaubar. Der Herzog hielt ihm den Rücken, Goethe schrieb, forschte und reiste – und blieb von der Juristerei verschont.

Soziologenriege
Gleich von drei abtrünnigen deutschen Juristen maßgeblich geprägt wurde im vergangenen Jahrhundert der relativ junge Wissenschaftszweig der Soziologie. Als deren geistiger Wegbereiter schlechthin gilt der – seit dem Mauerfall viel geschmähte, aktuell aber wieder als einer “unserer Besten” gehandelte – Nationalökonom, Geschichtsphilosoph und Revolutionär Karl Marx (1818-1883). Auch er hat einmal, nämlich 1835 in Bonn, mit einem Jurastudium angefangen. Doch bereits ein Jahr später wechselte er nach Berlin, wo sich seine Studien im langen Schatten Hegels mehr und mehr auf die Philosophie verlagerten und er der Rechtswissenschaft irgendwann verloren ging. (Dass ein Jurastudium im übrigen kein schlechtes Rüstzeug für angehende Revolutionäre sein muss, belegt neben Marx auch dessen Epigone, der Sowjetunionsbegründer Wladimir Iljitsch Lenin (1870-1924), welcher von 1887 bis 1891 in Samara zum Juristen geschult wurde und bereits zu dieser Zeit in revolutionären Zellen aktiv war.)
Zur vollen Blüte brachten die Soziologie dann der habilitierte Jurist Max Weber (1864-1920) und schließlich der Begründer der Systemtheorie Niklas Luhmann (1927-1998), der nach seinem Jurastudium zunächst in der Verwaltung tätig war und sich als Privatdozent durchschlug, bis er 1968 als Professor für Soziologie an die Universität Bielefeld berufen wurde, wo er seinen Weltruhm begründete.

Dichterjurist (2)
Das Leiden an der juristischen Tätigkeit verkörpert wie kaum ein anderer der Schriftsteller Franz Kafka (1883-1924), der zu den großen Lichtgestalten der literarischen Moderne zählt. Im Wintersemester 1901/02 immatrikulierte sich Kafka an der Friedrich-Karls-Universität in Prag zunächst für Jura, wechselte bald zur Germanistik, dann zur Kunstwissenschaft, kehrte dann aber wieder zur Rechtswissenschaft zurück und blieb tapfer bei der Stange, obwohl er aus seiner Abneigung gegen sein Fach nie ein Hehl machte. Im Grundstudium hatte er – was damals möglich war – bis zur Zwischenprüfung im Sommersemester 2003 (Note: “gut”) ganz überwiegend Veranstaltungen zur Rechtsgeschichte belegt. Erst in den höheren Semestern durchlief er die heutigen dogmatischen Fächer und absolvierte schließlich im April 1906 die juristische Staatsprüfung mit “genügend”. Im Juni 1906 erhielt er nach nur drei zusätzlichen mündlichen Prüfungen auch seinen Doktortitel (Gesamtnote: “genügend”).
Ökonomischer und familiärer Druck bestimmten dann auch seine Berufswahl. Mit Hilfe eines Onkels fand er Aufnahme in den Vorbereitungsdienst einer Versicherungsgesellschaft, der ihn zeitlich so ausfüllte, dass er kaum noch zum Schreiben kam. Nur wenig besser wurde es vom August 1908 an, als er als Jurist in der Prager Arbeiter-Unfallversicherung mit der damals revolutionären Einstufung der Arbeiter in Gefahrenklassen betraut wurde. Ca. ab 1912 führte Kafka, von dessen Einkommen inzwischen auch zahlreiche Familienangehörige lebten, der seine Neigung zur Schriftstellerei aber nicht mehr länger unterdrücken konnte, ein “Doppelleben”: Am Tage erlitt er die “Schrecken des Bureaus”, nachts schrieb er seine Werke. Zu kurz kam dabei der Schlaf. 1917 hatte er seinen ersten Blutsturz. Um aus dem verhassten Büroalltag auszubrechen, meldete er sich sogar als Kriegsfreiwilliger, fiel aber durch den Gesundheitstest. Schließlich wurde er zu seiner großen Erleichterung 1922 pensioniert, lebte aber nur noch zwei weitere Jahre bis er an Tuberkulose starb.

Fernsehkoch
Auch TV-Entertainer und Fernsehkoch Alfred Biolek (Jahrgang 1934) studierte – auf Wunsch seines Vaters – zunächst in München, Wien und Freiburg Jura und legte 1958 sein erstes Staatsexamen ab. Zu dieser Zeit hatte er die Absicht, eines Tages die Rechtsanwaltskanzlei seines Vaters zu übernehmen. Nach einigen Jahren als wissenschaftliche Hilfskraft an der Uni Freiburg folgte 1962 seine 77seitige Doktorarbeit über “Die Schadensersatzpflicht des Verkäufers und des Herstellers mangelhafter Ware nach englischem Recht”.
Gleich nach dem zweiten Staatsexamen fand Biolek 1963 eine Anstellung als Assessor im Justitiariat des gerade frisch gegründeten ZDF in Mainz. Sein aus heutiger Sicht kurios anmutender Wechsel kaum zwei Jahre später von der Rechts- auf die Unterhaltungsschiene war aber den besonderen damaligen Umständen geschuldet: Allen Leuten, so Biolek, die man für ein bisschen talentiert hielt, habe man in dieser “Goldgräberzeit” eine Chance gegeben. Als sich die ZDF-Mitarbeiter, die damals noch durchweg in Hotels wohnten, allabendlich in Restaurants trafen, war Jurist Dr. Biolek stets vor Ort, brillierte mit seinen Späßen – und wurde so als Mitarbeiter für das Fernsehprogramm entdeckt. 1970 wechselte er als Produzent zur Bavaria München, bevor er 1974 als Assistent von Rudi Carell beim WDR in Köln einstieg und dort 1978 seine erste eigene Fernsehshow moderierte, der weitere Formate folgten. Seit 1990 ist Biolek zudem Professor der Münchener Kunsthochschule für Medien und seit 1994 dank “Alfredissimo” Deutschlands heimlicher Küchenchef.
Inzwischen fühlt sich Alfred Biolek nach eigenem Bekunden nicht mehr als Jurist. Das Jurastudium sei für ihn eine Art Lebenserfahrung gewesen, da das breit gestreute Fach nun einmal sehr viel über das Leben vermittle. Wenn er aber heute juristischen Rat benötige, hole er ihn sich von professionellen Juristen. Gleichwohl habe sein juristischer Doktortitel durchaus dazu beigetragen, sein seriöses Image zu prägen.

Medienstars
Da die Juristerei hierzulande mittlerweile ein Massenfach geworden ist und als solches weniger denn je nur zum Einstieg in die juristischen Berufe prädestiniert, kann es auch nicht verwundern, dass dieser oder jener angesagte Fernsehprominente eine juristische Ausbildung teilweise oder auch vollständig durchlaufen hat. Von selbst versteht sich dies naturgemäß in der politischen Klasse – mit dem Medien-Kanzler in der ersten Reihe – und parallel dazu im politischen Journalismus, wo derzeit etwa Ulrich Wickert, Ulrich Deppendorf oder Wolf von Lojewski die juristische Fahne hochhalten. Doch auch der erfolgreichste deutschsprachige Popsänger Herbert Grönemeyer (geb. 1956) und der Spaßgesellschaftsprotagonist Stefan Raab (geb. 1966) studierten einige Universitätssemester Jura, bevor sie quasi nebenbei, Grönemeyer als Klavierspieler im Theater und Raab als Ulknudel auf einem Casting für den Musiksender VIVA, für “höhere Aufgaben” entdeckt wurden.
Kurzum machen selbst die Abtrünnigen des deutschen Juristenstandes dem Leumund ihrer Zunft, multifunktionale Generalisten hervorzubringen, nachhaltig Ehre. Die Juristen sollten ihre Renegaten in Ehren halten.

Justament Sept. 2003: Kapital aus der Krise

Eine Vermittlungsfirma und ein Online-Ideenforum unter der Lupe

Thomas Claer

Es soll Leute geben, die während der vergangenen drei Jahre an der Börse auf fallende Kurse spekuliert haben und dadurch reich geworden sind. Vielleicht gibt es ja in fast jeder Krisenlage auch die Möglichkeit – nicht nur für Außenstehende, sondern mitunter auch für die Betroffenen – aus der Krise selbst einen wirtschaftlichen Nutzen zu ziehen. Und wer dies tut, muss deshalb allein noch nicht als Blutsauger am Pranger stehen, denn schon der gute Adam Smith wusste, dass aus privatem Egoismus oft das Wohlergehen aller entspringt – und nannte diesen Zauber die unsichtbare Hand. Warum also nicht auch, denkt sich gegenwärtig so mancher, der mit den Umständen vertraut ist, aus dem chronisch vor sich hin darbenden juristischen Arbeitsmarkt ökonomischen Honig saugen und dabei womöglich den verzweifelten Advokaten noch einen Gefallen tun?

Heißer Draht zum Anwalt
Etwa, indem man eine Vermittlung für telefonische Rechtsberatung gründet, deren Dienst die Rechtssuchenden pro Gespräch 29 Euro kostet. Die beratenden Rechtsanwälte erhalten davon die Hälfte und zahlen zusätzlich noch eine Kleinigkeit für die Vermittlungstätigkeit: einen einmaligen “Set-Up-Free” in Höhe von 300 Euro, eine Monatsgebühr von 30 Euro, eine Werbekostenbeteiligung von monatlich 100 Euro und eine “Bearbeitungsgebühr für die Anfrage” von jeweils 10 Euro. Sogar verspricht eine “Geld-zurück-Garantie” bis zu 30 Euro monatlich retour, wenn es dem Vermittler nicht gelingen sollte, dem jeweiligen Anwalt mindestens zwei Telefonauskünfte im Monat zu organisieren. Doch nicht jeder Rechtsanwalt bekommt solch ein verlockendes Angebot von der “BizzComMedia” aus Gießen. Glücklich kann sich schätzen, in wessen Briefkasten deren Infobrief landet, denn nur wenige Advokaten werden in das “Kompetenz-Netzwerk” aufgenommen, um dessen “Exklusivität garantieren” zu können. Immerhin liegt dem Großbrief ein Werbepäckchen Idee-Kaffee bei. Früher hätte man gesagt: Ein Fall für Ede Zimmermann.

Innovatives Ideenforum
Oder man gründet ein Internet-Ideenforum für Juristen, die sich nicht länger mit der Innovationskrise abfinden wollen. Um etwas “Großes”, “radikal Neues” gehe es, um die Entwicklung von “Geschäftsmodellen mit unbegrenztem Entwicklungs- und Gewinnpotential”, heißt es seit März 2003 bei http://www.haeger-innovation.com. Jeder, der Einfälle solchen Kalibers auf der Pfanne hat, kann sie bei RA Dr. Welf Haeger aus Bochum, seit zehn Jahren im Beruf, zur Diskussion stellen und ihm zugleich die Rechte dazu übertragen, “seine Beiträge zu verwenden, zu vervielfältigen, zu vertreiben, zu zeigen und zu senden”.
Für die Avantgarderolle bei den Rechtsinnovationen, so verkündet die Website, seien gerade die zunehmend als Juristen zweiter Klasse diffamierten “Not-High Potentials” (NHP) prädestiniert, da diese  den zeitlichen und intellektuellen Freiraum besäßen, um “ins Blaue” zu forschen, was erfahrungsgemäß eine zentrale Voraussetzung für grundlegende Innovationen sei.
Als “besonderer Anreiz für Rechtsinnovation”, so heißt es weiter auf Dr. Haegers Seite, wird alle zwei Monate der “haeger.INNOVATION.award” ausgeschrieben. Eine “unabhängige Jury aus den Bereichen Recht, Kreativität, Werbung und Venture Capital” werde die Preisträger ermitteln. Auf unsere Nachfrage ließ der Initiator allerdings durchblicken, dass es bislang noch zu keiner Preisverleihung gekommen sei, doch es liefen Gespräche mit Sponsoren (die Namen könne er noch nicht nennen), welche für den Gewinner ein Preisgeld von 500 Euro bereitstellen würden.

Rettungsanker “Open Law Firm”?
Der Zahl nach ist der bisherige Ideeneinlauf noch wenig berauschend, räumt Dr. Welf Haeger ein. Doch was viel wichtiger sei: Das “ganz große Ding” ist vermutlich schon dabei. Das ambitionierte Projekt einer “Open Law Firm” (OLF) für Berufseinsteiger wird bereits auf der Website vorgestellt. Es soll offen sein für alle, welche die Grundregeln akzeptieren – ohne Rücksicht auf Examensnoten oder subjektive Auswahlkriterien. In den Ohren Tausender sind dies Sirenenklänge. Aber wie kann das funktionieren? Dr. Haeger zufolge über die Faktoren Größe, Spezialisierung, Organisation und Preis. Kurzfristig ließe sich eine enorme Zahl an Anwälten rekrutieren. Für jedes noch so kleine Rechtsgebiet könnte solch ein “Anwaltskaufhaus” eine Spezialabteilung einrichten. Durch überregionale Vernetztheit via Internet wäre die Lew Firm in Kürze bundesweit omnipräsent. Und nach § 3 Abs. 5 BRAGO kann der Rechtsanwalt in außergerichtlichen Angelegenheiten Zeitvergütungen berechnen, die niedriger sind als die gesetzlichen Gebühren. Also warum nicht ein Anwalts-Aldi mit Discount-Stundensätzen? Schließlich ist nicht jeder Rechtssuchende ein Kunde für den Hochpreissektor. Als einziger zentraler Entscheidungsträger würde dann eine alles koordinierende externe Geschäftsführung fungieren.
Die Resonanz auf die Idee ist beachtlich. Schon knapp 200 junge Juristen hätten angefragt, wo man sich für die OLF anmelden könne, berichtet Dr. Haeger. Und da niemand sonst die Sache in die Hand nehmen wolle, werde er, der ja eigentlich nur die Idee weiterzuentwickeln gedachte, nun notgedrungen selbst die OLF gründen und als Geschäftsführer in den Ring steigen. Wir lassen uns überraschen, ob hier nur einmal mehr die Berufsanfänger abgezockt werden sollen oder vielleicht doch die “unsichtbare Hand” hier Segen für alle Beteiligten stiftet.

Justament Juni 2003: Mehr Reformen!

Die Neuerungen in der Juristenausbildung sind begrüßenswert, aber keineswegs ausreichend. Um eine radikale Strukturreform, die mit der preußischen Tradition des Einheitsjuristen bricht und sich stärker an den Systemen anderer Länder orientiert, werden wir wohl nicht herumkommen.

Thomas Claer

Es ist schon ein Kreuz mit der deutschen Juristenausbildung. Jahr für Jahr durchlaufen hierzulande Tausende hoffnungsvolle junge Menschen ein äußerst strapaziöses und zeitaufwendiges Ausbildungssystem, in dem sie in erster Linie für einen Beruf geschult werden, den 93 Prozent von ihnen niemals ausüben werden: das Richteramt. Der Umfang und die Komplexität des Prüfungsstoffs sind in den vergangenen Jahren exponentiell gewachsen, was zwar grundsätzlich für fast alle Wissenschaftsbereiche gilt, jedoch den angehenden Juristen deutlich härter trifft, da er in den Staatsexamina das gesamte Wissen auf einen Schlag parat haben muss. Zudem weist der (Massen-) Studiengang Rechtswissenschaft an den Universitäten die schlechteste Betreuungsrelation auf. Nur wenige Mutige trauen sich daher ins erste Staatsexamen, ohne zuvor ein teures privates Repetitorium besucht zu haben (und beim zweiten Examen ist es später auch nicht viel anders). Teuer kommen die jungen Juristen aber auch den Staat, der sie auf der zweiten Ausbildungsstufe, dem Referendariat, zwei Jahre lang für insgesamt stolze 500 Millionen Euro p.a. aushält, um sie – wie es Tradition ist – zu Generalisten zu formen, die dann – was in dieser Dramatik relativ neu ist – den Arbeitsmarkt überschwemmen.

Das zweite Staatsexamen verleiht die einheitliche Befähigung für alle juristischen Berufe: “Ein guter Jurist muss alles können.” hieß es früher. Heute beweisen das zahlreiche “Halbtags-Rechtsanwälte” (wobei diese Bezeichnung noch ein Euphemismus ist) beim Taxifahren, der Schüler-Nachhilfe oder an der Aldi-Kasse. Als entscheidendes strukturelles Problem erweist sich, dass der Alleskönner-Jurist in den rechtlichen Berufen, die sich immer mehr auseinander entwickeln, nicht mehr so recht gefragt ist. Vielmehr werden Spezialisten benötigt. Wer Wirtschaftsrecht an der Fachhochschule studiert, ist in der Hälfte der Zeit “fit for business”, die ein Volljurist für seine Ausbildung benötigt – und hat auf dem Arbeitsmarkt bessere Karten als 80 Prozent der staatsexaminierten Juristen.

Man fragt sich, welche Verschwendung die schlimmere ist, die der Staatsgelder für die Vermittlung von auf dem Arbeitsmarkt zu wenig nachgefragten Fähigkeiten an einen viel zu großen Personenkreis im Referendariat oder die gigantische persönliche Fehlinvestition von Zeit und Mühe eines erheblichen Anteils der jungen Juristen. Dabei sind noch gar nicht diejenigen berücksichtigt, die unterwegs auf der Strecke geblieben sind. Bundesweit fallen durchschnittlich fast dreißig Prozent durch die Prüfungen zum ersten Staatsexamen – nach mindestens vierjährigem Studium. Einigen von ihnen gelingt immerhin noch die Korrektur im Wiederholungsversuch.

Selbst die “High Potentials”, die derzeit ca. 14 Prozent der Absolventen, welche ein Prädikatsexamen erreichen, was praktisch den Eintritt in die Spitzenjobs und -gehaltsebenen garantiert, klagen über Wettbewerbsnachteile gegenüber ihren Berufskollegen im Ausland: Die deutschen Juristen sind beim Einstieg ins Berufsleben meist schon Ende Zwanzig, was im internationalen Vergleich relativ alt ist. Daran ist allerdings auch die ca. einjährige Wartezeit auf eine freie Referendarstelle nicht ganz unschuldig. Nur zu erahnen sind schließlich die psychischen Deformationen, welche die permanente Angst- und Konkurrenzsituation in den Köpfen der heutigen jungen Juristen hinterlässt.

Endlich eine Reform
Natürlich haben sich diese Missstände herumgesprochen und am 1. Juli ist es auch schon soweit: Eine Reform der Juristenausbildung tritt in Kraft und sieht u.a. vor, dass in Studium und Referendariat die Anwaltsorientierung stärker als bisher zu berücksichtigen ist. Die Rechtsanwaltsstation soll nun 9 statt 4 Monate dauern und die Universität – was wirklich revolutionär ist – Rhetorik und Kommunikationsfähigkeit vermitteln. Das Gewicht der Wahlfächer, die künftig an den Universitäten zu prüfen sind, steigt im ersten Examen von 10 auf 30 Prozent. Und auch aus eigenem Antrieb heraus hat sich an den Universitäten in den letzten Jahren schon manches gebessert. Vielerorts machen dort etwa didaktisch aufgerüstete Examens vorbereitende Wiederholungskurse den kommerziellen Repetitorien Konkurrenz.
Wer seine Examina vor ein paar Jahren abgelegt hat, kann fast neidisch werden auf die jungen Kollegen, die in den Genuss dieser Neuerungen kommen. Doch angesichts der Dramatik der eingangs geschilderten Probleme sind die Veränderungen kaum mehr als ein oberflächliches Herumdoktern an den Symptomen und eben nicht die eigentlich angezeigte “Wurzelbehandlung”.

Die Wurzeln in Preußen
Wo die Wurzeln des deutschen Juristenausbildungssystems liegen, dürfte niemanden, der durch dieses hindurchgegangen ist, überraschen. Im Jahre 1781 bestimmte das von Friedrich dem Großen, dem “alten Fritz”, verordnete “Corpus Iuris Fridericianum” erstmals gesetzlich und einheitlich die preußische Juristenausbildung. 1793 erfuhr das “Corpus” eine Überarbeitung und wurde als “Allgemeine Gerichtsordnung” verkündet. Die Justiz wurde in Preußen fortan zur unangefochtenen – wie es damals hieß – “Pflanzschule” (Der Nazi-Lehrer in der “Feuerzangenbowle” lässt grüßen!) des gesamten Juristenstandes.

Das Gesetzbuch enthielt Anweisungen, nach welchen die sich der Justiz widmenden Kandidaten durch “scharfe Examina” geprüft und mehrere Jahre als Referendare in den Gerichten angeleitet und ihre “Denkungsart und Conduite” genau erforscht werden sollten. Die Anforderungen an das dem Referendariat vorangehende Universitätsstudium beschränkten sich auf ein Zeugnis über “Fleiß und Wohlverhalten” des abgehenden Studenten. Das Studium endete – wie es noch heute ist – nicht mit einer Universitätsprüfung, sondern einer Justizeingangsprüfung, dem ersten von damals noch drei Staatsexamen. Bis zur erfolgreich absolvierten zweiten Staatsprüfung war der junge angehende Jurist für ein Jahr lediglich ein Akten lesender und hospitierender “Auskultator”, fortan erst – und für weitere drei Jahre – ein aktiv in die juristischen Tätigkeiten eingebundener Referendar. Die dritte “Große Staatsprüfung” erfolgte dann beim Chef der Justiz in Berlin. Der anschließende Lebensweg der Juristen richtete sich dann hauptsächlich nach der letzten Examensnote: Den Spitzenkräften stand der Weg in die exzellent besoldete Verwaltung offen, die zweite Reihe ging zur Justiz, die weniger Erfolgreichen wurden Justizkommissare (staatlich angestellte Advokaten) und die Erfolglosen wurden als Sekretäre, Archivare und im unteren Dienst untergebracht.

Auf diese Weise gelang es in Preußen, eine moderne, flächendeckende und effektive Verwaltung und einen ebensolchen Justizapparat zu errichten. Die Beamten wurden nicht mehr – wie es anderswo noch lange üblich war – (nur) nach Standesprivilegien bestimmt, sondern nach bürokratischem Fachwissen und unbedingter Loyalität zur Obrigkeit. Während der gesamten vier Ausbildungsjahre beim Staate wurden die jungen (damals nur) Männer daraufhin genauestens beurteilt, ohne dass ihnen jemals Einblick in ihre immer dicker werdende Personalakte gewährt wurde. (Dieses Recht erkämpften sich die Referendare dann im 19. Jahrhundert.) Voraussetzung für die Aufnahme in die staatliche Juristenschulung war allerdings ein vom Bewerber zu erbringender “Subsistenznachweis”, der belegen konnte, dass genügend Vermögen vorhanden war, um sich während der langen Ausbildung selbst ernähren zu können. (Die staatliche Bezuschussung der Referendare wurde erst in den 1950er Jahren eingeführt.) Der soziale Status der preußischen Juristen war immerhin so hoch, dass selbst Bismarck ein Leben lang Komplexe gegenüber seinen juristischen Mitarbeitern gehabt haben soll, da er selbst 1839 nach nur wenigen Monaten sein Referendariat abgebrochen hatte …

In den folgenden Epochen bewies das preußische Juristenausbildungssystem eine sagenhafte Resistenz gegenüber sämtlichen politischen Veränderungen, überstand 1848er Revolution, Restaurationsphasen und Staatskrisen nahezu unbeschadet und avancierte schon vor der Reichsgründung 1871 zum Exportschlager in andere deutsche Länder. Das Gerichtsverfassungsgesetz des Reiches von 1877 schrieb dann das preußische Modell für ganz Deutschland fest, allerdings mit der Einschränkung, dass fortan eine zweiphasige Ausbildung (Universität und auf drei Jahre verkürztes Referendariat) die bislang dreiphasige ersetzte. Der Rest ist bekannt: Weder in Nazizeit noch 50 Jahren Grundgesetz wurde am Erfolgsmodell gerüttelt, nur wurde es jeweils moderat den politischen Verhältnissen angepasst. Die Diplom-Juristen-Ausbildung der ehemaligen DDR wurde nach dem Untergang letzterer auf dem Schrottplatz der Geschichte als Sondermüll entsorgt.

Wie ist es woanders?
Dabei ist das deutsche System im Vergleich zu den anderen großen westlichen Industrieländern (zu denen Deutschland ja trotz aller desaströsen Tendenzen immer noch gehört) ziemlich einzigartig.

In Frankreich absolvieren die Jurastudenten schon nach dem zweiten Studienjahr Prüfungen, die den Zugang zum weiteren Studium ermöglichen oder nicht. Nach erneuten Zwischenprüfungen ein Jahr später erfolgt im vierten Studienjahr eine fachliche Spezialisierung, ohne die Fächer weiterbelegen zu müssen, die zuvor bereits geprüft worden sind. Auch in der Abschlussprüfung der Universitäten zum “Maitre en Droit” wird nicht das gesamte Studienwissen verlangt. Die zweite Phase der Juristenausbildung wird dann von den jeweiligen Berufsständen angeboten, die nur nach ihrem quantitativen Bedarf ausbilden und über Aufnahmeprüfungen eine Auswahl unter den Bewerbern treffen. Für den Rechtsanwaltsberuf muss man einen zwölfmonatigen Kurs absolvieren (der selbst zu finanzieren ist) und zwei Jahre unter Aufsicht eines Anwalts praktisch tätig sein.

In England erfolgt nach dreijähriger Studienzeit mit jährlichen Prüfungen ohne Zertifikate, ab dem 2. Jahr mit einer Reihe von Wahlmöglichkeiten, die Abschlussprüfung zum Bachelor of Laws, die in den meisten Fällen noch durch weitere Kurse und Prüfungen um die Qualifikation zum “Master of Laws” ergänzt wird. Im Anschluss daran lassen sich die Juristen dann ähnlich wie in Frankreich von den Berufsständen nach deren Bedarf praktisch schulen, etwa als “Solicitor” (einfacher Rechtsberater) von der “Law Society” oder als Barrister” (höherer Rechtsberater) vom “Bar Council”. Es erfolgt keinerlei staatliche Finanzierung der Ausbildung.

In den USA hat der angehende Jurist zunächst nach der High School ein College-Studium zur Komplettierung seiner Allgemeinbildung zu absolvieren. Daran schließt sich ein dreijähriges Studium an einer “Law School” an, die von der “American Bar Association” akkreditiert sein muss. Das Studium ist sehr praxisorientiert. In den Sommerferien arbeiten die Studenten bei Anwaltsfirmen. Nach dem Studium gibt es keinerlei Vorbereitungsdienst, doch wird die Praxiserlaubnis für Rechtsanwälte erst bei Zulassung zur Anwaltsorganisation des jeweiligen Bundesstaates verliehen. Dazu bedarf es weiterer Prüfungen (educational, character and competence requirements) mit recht hohen Anforderungen. Und natürlich ist in den USA alles selbst zu finanzieren.

Was tun?
Schon ein flüchtiger vergleichender Blick lässt erkennen, in welchem Umfang die deutschen -Missstände hausgemacht und systembedingt sind. Aus Wohltat ist Plage geworden. Will es sich Deutschland angesichts einer Rekordverschuldung der öffentlichen Hand weiter leisten, seine Juristen auf Kosten der Allgemeinheit konsequent am Markt vorbei auszubilden und dabei die Akteure durch sinnlose Paukerei und einen absurden Selektionsdruck während der Ausbildung zu verschleißen?
Warum also nicht ein Studium der Rechte, das – wie in anderen Fächern auch – im Grundstudium Allgemeines behandelt und im Hauptstudium bereits eine Spezialisierung ermöglicht, in welcher dann auch die Abschlussarbeit verfasst wird? Das Staatsexamen bliebe dann denen vorbehalten, die wirklich auf eine Stelle im Staatsdienst spekulieren. Bestehen würden es exakt so viele, wie dort freie Stellen zu erwarten sind. Auch die Rechtsanwaltskammern könnten dann so viele junge Juristen zu Anwälten ausbilden, wie sie es nach der Marktlage für opportun hielten, d.h. derzeit wahrscheinlich nur sehr wenige. Und die anderen Absolventen? Sie hätten durch Spezialisierungen bereits im Studium ein eigenes Profil erworben und könnten sich anderen Branchen andienen.

Natürlich kann eine Ausbildungsreform nur begrenzt zur Lösung der Probleme auf dem Arbeitsmarkt beitragen. Vielleicht verschieben sich die Probleme nur. Und doch würde der Abschied vom alten Zopf des staatlichen Juristenmonopols, diesem mittlerweile versteinerten System von anno dunnemals, einer unverantwortlichen Verschwendung von Kapazitäten ein Ende machen und einem rauen Arbeitsmarkt im Zweifel jüngere und unverbrauchtere Absolventen zuführen. Die Zeit ist reif.

Strafrechtsgeschichte SoSe 1996: Zur Problematik der Staatskriminalität

Über Unrechtssysteme in der Strafrechtsdogmatik und die Möglichkeit einer strafrechtlichen Verantwortung für das Unrecht krimineller Staaten

Thomas Claer

A Einleitung

Mit dem Zusammenbruch der DDR wurde der Rechtsstaat vor Probleme gestellt, die in anderer Form bereits nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bestanden: Ist es möglich und überhaupt sinnvoll, offensichtliches Unrecht in einer Diktatur nach rechtsstaatlichen Grundsätzen unter dem Gesichtspunkt individueller Schuld zu betrachten, obwohl gerade das Unrechtssystem als ganzes dieses Unrecht produziert hat? Ist es nicht eine Art „Siegerjustiz”, einzelne Menschen gleichsam stellvertretend für das System als Sündenböcke bestrafen zu wollen, obwohl sie sich innerhalb des anderen (Un-)Rechtssystems (un)rechtstreu verhalten haben? Selbst der langjährige politische Häftling Rudolf Bahro bezeichnete jüngst seine Verurteilung als nach den Maßstäben des sozialistischen Rechts gerecht, die jetzigen Verfahren gegen seine damaligen Richter wegen Rechtsbeugung hingegen als Siegerrecht. Blickt man über den deutschen Tellerrand, zeigt sich eine ähnliche Problemlage beim Tribunal für Kriegsverbrecher des (ex)jugoslawischen Bürgerkrieges in Den Haag: Vom höheren humanitären Standpunkt aus sollen Verbrechen einzelner gegen die Menschlichkeit aufgearbeitet werden. Aber waren die Greueltaten nicht zunächst ein Instrument der Kriegsführung und ihre Verwirklichung die Erfüllung von Befehlen, deren Durchsetzbarkeit sich aber wiederum erst aus dem Funktionieren der Strukturen der Armeen als Systeme ergab?

Bezieht man die historischen Erfahrungen aus den Nürnberger und Tokioter Prozessen sowie die übrigen Versuche einer rechtsstaatlichen Aufarbeitung nach dem Ende von Kriegen oder dem Zusammenbruch von Diktaturen in die Überlegungen ein, ergibt sich eine gemeinsame Grundproblematik: Wie kann jenes Unrecht rechtsstaatlich erfaßt werden, das seinem „Wesen” nach nicht durch die Summe der individuellen Taten, sondern erst durch das sie ermöglichende System begangen wurde?

Dazu gilt es zunächst zu untersuchen, welche Unrechtssysteme überhaupt in der Strafrechtsdogmatik eine Rolle spielen, also auch solche unterhalb der staatlichen Ebene, und welche unsere Rechtsordnung kennt.

B Unrechtssysteme in der Strafrechtsdogmatik

Strafrechtliche Unrechtssysteme sind, so Ernst-Joachim Lampe in seinem richtungsweisenden Aufsatz über das Systemunrecht, auf Unrechtsziele hin organisierte Beziehungen von Menschen.

Eine einheitliche Theorie des Systemunrechts konnte bisher aber wahrscheinlich deshalb nicht entstehen, weil die Strafrechtsdogmatik, wie auch in ihrem Gefolge die Kriminologie, ausschließlich vom auf eigene Faust handelnden Täter ausging und somit primär auf Individual- und nicht auf Systemstrukturen des Unrechts traf. Der typische Täterb des Strafgesetzbuches ist das Individuum, das nur für eigenes personales Unrecht und nur für eigene personale Schuld (§ 29 StGB) einzustehen hat.

I. Unrechtssysteme in unserer Rechtsordnung

Unsere Rechtsordnung erkennt Systemunrecht mit sich daraus ergebender besonderer Unrechtsqualität jedoch in folgenden Normen an:

§ 223a qualifiziert die „von mehreren gemeinschaftlich begangene” Körperverletzung wegen der möglichen erhöhten Gefährdung des Opfers als „Gefährliche Körperverletzung” mit verschärfter Haftung.

§ 125 (Landfriedensbruch) sieht in der Zusammenrottung mit anderen eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und dadurch ein eigenes Rechtsgut verletzt. Gleiches gilt für die anderen „Rottendelikte” § 121 (Gefangenenmeuterei: „mit vereinten Kräften”) und § 124 (Schwerer Hausfriedensbruch). Voraussetzung ist dabei ist dabei für den systemischen Charakter des Unrechts immer ein lockerer organisatorischer Hintergrund: Die Menge muß durch eine feindselige Haltung die Basis für Ausschreitungen abgeben. Gemeinsame Aktionen sind keine Rottendelikte, wenn sie nicht Ausdruck der kriminellen Haltung der Menge sind.

§ 244 I Nr.3 stellt denjenigen, der als Mitglied einer Bande stiehlt unter höhere Freiheitsstrafe als den gewöhnlichen Dieb. Ebenso verfährt § 250 I Nr.4 mit dem Täter, der einen Raub als Mitglied einer Bande begeht. Ferner stellt § 373 II Nr. 3 der Abgabenordnung (AO) den bandenmäßigen Schmuggel und die bandenmäßige Steuerhinterziehung unter schwerere Strafe als gewöhnlichen „Bannbruch” oder Hinterziehung von Eingangsangaben. Diese „Bandendelikte” gehen von dem Begriff der schon seit Jahrhunderten als klassisches Unrechtssystem bekannten Bande aus, also einer Verbindung mehrerer Personen zwecks Verübung von im einzelnen noch unbestimmten Verbrechen.

§ 244a setzt ein erhöhtes Strafmaß für bandenmäßig begangenen „Besonders schweren Fall des Diebstahls” und „Diebstahl mit Waffen” aus.

§§ 260 I Nr.2 und 260a richten sich gegen bandenmäßige Hehlerei. § 261 VII S.3 bestimmt im Falle der bandenmäßig begangenen Geldwäsche die Anwendung von § 43a (Vermögensstrafe) und § 73d (Erweiterter Verfall). Gleiches gilt gem. § 150 für die bandenmäßig begangene Geld- und Wertzeichenfälschung und gem. § 181c für bandenmäßig begangenen Menschenhandel und ebenso vollzogene Zuhälterei.

§ 284 III Nr. 2 stellt die bandenmäßig begangene unerlaubte Veranstaltung eines Glücksspiels unter erheblich höhere Strafe als das Grunddelikt.

§ 30 I Nr.1 des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) setzt ein erhöhtes Strafmaß für das bandenmäßige Anbauen und Herstellen von Betäubungsmitteln sowie den Handel mit ihnen aus.

Als Normen zur Abwehr von Staatskriminalität ließen sich ebenfalls § 80 (Vorbereitung eines Angriffskrieges), § 100 (Herstellung friedensgefährdender Beziehungen) und § 220a (Völkermord) anführen, die kaum anders als von staatlicher Ebene aus geplant und nur von dort her befohlen werden können. Doch auch diese Strafrechtsnormen richten sich an einzelne.

Somit liegt die eigentliche Crux darin, daß die Strafrechtsdogmatik bisher auf jede systemische Delinquenz mit einem auf Einzeltäter zugeschnittenen Instrumentarium reagiert. Das Zusammenwirken mehrerer Personen bei einer Straftat führt aber in Dimensionen des Unrechts, denen das Einzeltäter-Paradigma einer individuellen Verhaltensverpflichtung des jeweiligen Beteiligten nicht gerecht wird. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer Dogmatik der Unrechtssysteme.

II. Typen von Unrechtssystemen

1. Einfache Unrechtssysteme

Im Unterschied zu den „verfaßten Unrechtssystemen” kommt den einfachen keine dauerhafte, institutionelle Gestalt zu. Dennoch ergibt sich ihre Systemqualität aus der funktionalen Organisation durch den Willen der in ihnen zusammengeschlossenen Individuen auf ein gemeinsames Ziel hin. Einfachstes und zugleich Hauptbeispiel ist die Mittäterschaft.

Diese erfordert ein allseits bewußtes Solidarverhalten in einem funktionalen System, von dem Verletzungen oder Gefährdungen für die Rechtsgüter Dritter ausgehen. Abweichend vom etwas ungenauen Wortlaut des § 25 II kann es objektiv sowohl auf die Gemeinsamkeit externer Erfolgsverursachung als auch auf ein Mindestmaß an Egalität im Verhältnis zueinander und auf eine im wesentlichen gleiche Rechtsstellung in der sozialen Umwelt ankommen. Keiner dieser Faktoren allein vermag die Mittäterschaft hinreichend zu begründen.

Daraus folgt, daß Mittäterschaft mehr ist als eine Addition von Einzelhandeln: Sie ist ein funktional organisiertes Unrechtssystem, welches eine neue Qualität des Handels schafft, das Solidarhandeln, welches über isoliertes Einzelhandeln hinausgeht. Im Wege der Rückkopplung ergibt sich aus der Spezifik des Systemunrechts auch eine besondere Systemverantwortung, die das Verhalten der anderen, systemisch verbundenen Mittäter einschließt, etwa die Verantwortung für den strafbaren Versuch des Systems oder für die Vollendung der strafbaren Tat durch das System.

2. Verfaßte Unrechtssysteme

Verfaßte oder auch „formelle” Unrechtssysteme sind vom Wechsel ihrer Teile unabhängig und sind Träger einer formellen oder informellen Verfassung, die Ziele und Mittel des Systems und damit sein Unrecht bestimmt. Mitglied ist, wer sich subjektiv einigen der zentralen Auffassungen über die Ziele des Zusammenschlusses und die Wege zu ihrer Erreichung verpflichtet fühlt und dies objektiv durch Teilnahme an einigen Aktivitäten zu erkennen gibt.

a) Kriminelle Vereinigungen

Erste wichtige Gruppe der verfaßten Unrechtssysteme sind die kriminellen Vereinigungen. Darunter sind auf eine gewisse Dauer berechnete organisatorische Vereinigungen einer Anzahl von Personen zu verstehen, die Sachmittel zur Verfolgung gemeinsamer krimineller Ziele einsetzen und untereinander derart in Beziehung stehen, daß sie sich als einheitlicher Verband fühlen.

Banden sollen sich von kriminellen Vereinigungen dadurch unterscheiden, daß zwar auch ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl gefordert wird, jedoch eine lose Zusammenfügung ohne besondere Organisationsform ausreicht. Trotz des Mangels an fester institutioneller Organisation sind sie aber als quasi kriminelle Vereinigungen aufzufassen.

b) Kriminell anfällige Wirtschaftsunternehmen

Auch kriminell anfällige Wirtschaftsunternehmen sind verfaßte Unrechtssysteme. Unter einem Wirtschaftsunternehmen versteht man rechtsformübergreifend eine organisatorische Einheit, die von einem Rechtssubjekt getragen wird und einem wirtschaftlichen Zweck dient. Kriminell anfällig werden können sowohl die Organisation des Unternehmens als auch sein Ziel und dessen Verfolgung in der sozialen Umwelt.

c) Kriminell pervertierte Staaten und staatliche Gebilde

Die für die folgenden Untersuchungen entscheidenden verfaßten Unrechtssysteme sind kriminell pervertierte Staaten oder staatliche Gebilde. In juristischer Betrachtungsweise ist ein Staat eine rechtlich organisierte Wirkungseinheit, also mithin ein verfaßtes System.

Unter pervertiertenstaatlichen Systemen sind Systeme zu verstehen, die rechtswidrig verfaßt sind, deren Gesetze Unrecht beinhalten oder deren Akte den Makel der Rechtswidrigkeit auf der Stirn tragen, ohne daß dies in einem systemkonformen Verfahren berichtigt werden könnte. Ihre Perversion beruht entweder auf einer der Idee des Rechts widersprechenden Staatsphilosophie bzw. Ideologie oder einer den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit widersprechenden Staatsorganisation.

Kriminell sind pervertierte staatliche Systeme, wenn ihre Funktionäre Straftaten begehen, die Ausdruck der Staatsphilosophie sind oder durch einen bewußten Mangel an rechtlicher Kontrolle veranlaßt oder begünstigt werden.

Von der Möglichkeit einer strafrechtlichen Verantwortung für solches Unrecht handeln die folgenden Abschnitte.

C Strafrechtliche Verantwortung für das Unrecht krimineller Staaten

Obwohl es auf den ersten Blick geboten schiene, die theoretische Begründung vor der praktischen Umsetzung zu behandeln, soll hier andersherum verfahren werden, um die aktuelle theoretische Diskussion vor dem Hintergrund der historischen und gegenwärtigen Erfahrungen austragen zu können.

I. Praktische Umsetzung

Wenn auch die Kriegsverbrechen und das Unrecht in Diktaturen in diesem Jahrhundert ungewöhnliche Ausmaße erreicht haben, gab es ähnliche Konstellationen auch in früheren Jahrhunderten. Heute werden bisweilen die Vorgänge, die der Vernichtung der athenischen Flotte bei Aigopotamoi im Jahre 405 v. Chr. Durch den lakedaimonischen Admiral Lysander folgten, als Vorläufer der Nürnberger Prozesse diskutiert.

Exemplarisch werden nun kurz die Verfahrensweisen mit staatlichem Systemunrecht im Deutschland dieses Jahrhunderts betrachtet:

1. Versuche nach dem Ersten Weltkrieg

Schon nach dem Ersten Weltkrieg beabsichtigten die Alliierten in Deutschland, den Kaiser, höhere Politiker und Militärpersonen sowie Rüstungsproduzenten vor internationale Militärgerichte bzw. einen „besonderen Gerichtshof” zu stellen. Dieses Vorhaben scheiterte letztlich an der Weigerung der Reichsregierung, die als Kriegsverbrecher genannten Personen auszuliefern. Die Anzahl der daraufhin nach Zusage der Reichsregierung an die Alliierten vor dem Reichsgerichtshof angeklagten Personen war jedoch so niedrig und zudem die Zahl der Freisprüche so hoch, daß dies von den Alliierten als Affront bewertet wurde.

2. Die Nürnberger Prozesse

Zwischen dem 1. Oktober 1947 und dem 14. April 1949 wurden in Nürnberg insgesamt 13 Prozesse gegen 199 Personen durchgeführt, die wegen Begehung von Kriegs- und Humanitätsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden und ihrer Mitgliedschaft in verbrecherischen Organisationen angeklagt waren. 38 Personen wurden freigesprochen, 36 zum Tode verurteilt, 23 Angeklagte erhielten lebenslängliche Freiheitsstrafen, die übrigen zeitliche Strafen zwischen 1 ½ und 25 Jahren.

Der erste, der „Hauptverbrecherprozeß” (gegen Göring u.a.) fand vor dem Internationalen Militär Tribunal (IMT) statt, die weiteren Prozesse gegen SS-Angehörige, hohe Militärs, Mitglieder des auswärtigen Amtes und andere hohe Beamte, Justizfunktionäre, Ärzte und Industrielle wurden dann infolge der Spannungen zwischen den alliierten vor US-Military Tribunals durchgeführt.

Rechtsgrundlage waren für den Prozeß vor dem IMT materiell und formell die regeln des Londoner Statuts vom August 1945. Die Nachfolgeprozesse wurden bei materiell-rechtlicher Grundlage des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 (KRG 10) formell durch die vom amerikanischen Militärbefehlshaber General McNarny erlassene Verordnung Nr. 7 geregelt. Die entscheidende Verordnung Nr. 7 stellte sich als ein Gemisch aus Elementen anglo-amerikanischer und kontinentaler Verfahrensregeln dar, wobei auf anglo-amerikanischem Rechtsverständnis beruhende Regeln deutlich überwogen.

Drei zentrale Kritikpunkte wurden gegen die Nürnberger Prozesse wiederholt geltend gemacht:

Zunächst wurde innerhalb der Völkerrechtswissenschaft die Jurisdiktionsbefugnis der Gerichtshöfe bezweifelt. Sie entbehrten der völkerrechtlich gerechtfertigten Zuständigkeit.

Weiter wurde von Strafrechtlern der Vorwurf erhoben, in Nürnberg sei gegen den Grundsatz „nulla poena sine lege” verstoßen worden.

Schließlich rügten die beteiligten Anwälte und Angeklagten die prozeßordnungsrechtliche und tatsächliche Chancenungleichheit zwischen Ankläger und Angeklagten sowie die Voreingenommenheit der Richter.

Daher war es die in der gesamten Bevölkerung weit verbreitete Meinung, daß die Nürnberger Prozesse nur ein Mittel der Politik seien, insbesondere der amerikanischen, zunächst der Außen- und später der Besatzungspolitik.

So wurde mit den Nürnberger Prozessen ein Exempel statuiert, das letztendlich viele Fragen offen ließ.

3. Aufarbeitung des DDR-Unrechts nach der Wiedervereinigung

Kaum drohte die Diskussion über NS-Täter, die der deutschen Justiz „durch die Lappen gingen” aus biologischen Gründen im Laufe der Zeit langsam zu verstummen, wurden durch den Zusammenbruch des Regimes in der DDR – nun auf gesamtdeutschen Boden – neue Kontroversen entfacht.

a) Allgemeine Grundsätze

Trotz tiefgreifender Meinungsverschiedenheiten, ob und inwieweit es rechtspolitisch wünschenswert und rechtsstaatlich vertretbar ist, auf das DDR-Unrecht mit strafrechtlichen Mitteln zu reagieren, bildet Art. 315 des Einführungsgesetzes zum StGB (EGStGB) eine abschließende gesetzgeberische Entscheidung, die auf folgenden Prinzipien beruht:

Das frühere DDR-Recht wird im Anwendungsbereich von § 2 I-III für das Beitrittsgebiet als das vorausgegangene Recht behandelt, das der Einigungsvertrag aufgehoben und durch das Recht der BRD ersetzt hat. Die Bundesrepublik ist in die Verantwortung für die Überleitung des DDR-Strafrechts eingerückt. Nach § 2 ist grundsätzlich das Tatzeitrecht der DDR maßgebend, es sei denn, daß ein milderes Zwischengesetz oder das zur Zeit der Aburteilung geltende Gesetz die Strafbarkeit aufgehoben oder gemildert hat, wobei die in Art. 315 I-III EGStGB vorgesehenen Milderungen des DDR-Rechts zu berücksichtigen sind. In der DDR erlassene Amnestien sind grundsätzlich zu berücksichtigen.

Sogenanntes artverschiedenes Unrecht ist anzunehmen, wenn eine Vorschrift des DDR-Rechts keine Entsprechung im BRD-Recht hat. In diesen Fällen liegt teilweise keine Unrechtskontinuität vor. Bei den Tatbeständen zum Schutz von Individualrechtsgütern wie z.B. Leben, körperliche Unversehrtheit, persönliche Freiheit, Ehre, Eigentum und Vermögen besteht in der Regel Unrechtskontinuität. Gleiches gilt für Diebstahl und Betrug zum Nachteil sozialistischen Eigentums (§§ 158, 159 StGB/DDR a.F.).

b) Die „Mauerschützen”

Bei Tötungshandlungen der sogenannten Mauerschützen zur Verhinderung der Republikflucht ist die Unrechtskontinuität unstrittig anzunehmen, problematisch ist jedoch die Strafbarkeit zur Zeit der Tat.

Gem. § 112 StGB/DDR waren die Tötungshandlungen tatbestandsmäßig, aber gerechtfertigt, wenn sie sich im Rahmen der einschlägigen Dienstvorschriften über den Schußwaffengebrauch und ab 1982 im Rahmen des § 27 GrenzG/DDR hielten, darüber hinaus entschuldigt, wenn sie den Voraussetzungen des § 258 StGB/DDR (Handeln auf Befehl) genügten. Weil aber in Folge der Ausreisepolitik der DR die rechtfertigende Wirkung des Schußwaffengebrauchs auch in Fällen vorlag, in denen jemand nur das ihm verweigerte, völkerrechtlich aber zustehende Ausreiserecht durchsetzen wollte, hat die in der Bundesrepublik herrschnde Meinung diesem Rechtfertigungsgrund schon vor dem Beitritt die Anerkennung versagt. Daran hat die Rechtsprechung auch nach dem Beitritt festgehalten unter Hinweis auf „allgemein anerkannte rechtsstaatliche Grundsätze”, mit untermauernder völkerrechtlicher Argumentation und „menschenrechtsfreundlicher Auslegung” des GrenzG/ DDR, auf „vorgeordnete allgemeine Rechtsprinzipien” und einen „extremen Verstoß gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip” gestützt.

Teilweise nahm die Rechtsprechung bei Grenzsoldaten, selbst wenn sie auf Befehl gehandelt haben und besonderer ideologischer Indoktrination ausgesetzt waren, an, daß die Rechtswidrigkeit des Befohlenen wirklich offensichtlich und in ihrer Lage ein Verbotsirrtum vermeidbar war.

Überwiegend anerkannt ist aber, daß jedenfalls Exzesse rechtswidrig waren, wenn sie offensichtlich gegen anerkannte Normen des Völkerrechts verstießen oder auf exzessiven, auch im Kontext des DDR-Systems mit dem Grenzgesetz unvereinbaren Befehlen beruhten.

Für die Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme gilt § 22 StGB/ DDR, nach dem die leitenden Funktionäre eines Machtapparates nicht mittelbare Täter, sondern nur Anstifter waren.

c) Weitere Grundsätze

Taten, die gegen die DDR als solche oder ihre verfassungsgemäße Ordnung gerichtet waren (§§ 96-111 StGB/ DDR a. F.) scheiden als artverschiedenes Unrecht aus.

Bei Straftaten gegen die staatliche oder öffentliche Ordnung (§ 210-224 StGB/ DDR a. F.), gegen die Rechtspflege (§ 225-244 StGB/ DDR a. F.) und gegen sonstige Gemeinschaftsgüter fehlt es an Unrechtskontinuität, wenn die Tatbestände schon nach ihrem Schutzzweck allein der Systemerhaltung dienten, weshalb z.B. die Angehörigen des DDR-Machtapparates nicht mit Hilfe des § 129 als kriminelle Vereinigungen erfaßt werden, weil alle in Frage kommenden Tatbestände des DDR-Rechts artverschiedenes Unrecht beschreiben.

Bei Rechtsbeugung (§ 244 StGB/ DDR) liegt Unrechtskontinuität vor, wenn die Strafbarkeit der Tat sowohl nach DDR-Recht als auch nach § 336 und den ihnen zugrunde liegenden rechtsstaatlichen Maßstäben begründbar ist. Damit können Vorgänge ausgeschieden werden, in denen ein Richter oder Staatsanwalt gehandelt hat, um rechtsstaatswidrige, vom DDR-Recht aber geforderte Ergebnisse abzuwenden oder zu mildern. Im umgekehrten Fall politischer Anpassung haben die jetzt möglichen Einblicke in die Justizpraxis der DDR gezeigt, daß es in politischen Verfahren nicht nur vereinzelt zu exzessiven, dem § 244 StGB/ DR eindeutig widersprechenden Sachverhaltsfälschungen, Strafvereitelungen und falschen rechtlichen Würdigungen kam, bei denen die Annahme von Unrechtskontinuität begründet ist. In Anlehnung an seine Rechtsprechung in den Fällen der „Mauerschützen” bejaht der BGH „abgesehen von Einzelexzessen” die Tatbestandsmäßigkeit erst, wenn die Rechtswidrigkeit der Entscheidung so offensichtlich ist, daß sie sich als Willkürakt darstellt, der Rechte anderer, hauptsächlich ihre Menschenwürde, schwerwiegend verletzt hat.

Für die Strafzumessung sind die Grundsätze rechtsstaatlichen Strafens maßgebend, nicht die Erwartung, mit welcher Strafe nach den politischen Anschauungen der DDR zu rechnen gewesen wäre. Die ideologische Überzeugung des Täters rechtfertigt deshalb nicht schon als solche eine Strafmilderung, doch kann seine Verstrickung in das Unrechtssystem und die damit verbundene Minderung des Unrechtsbewußtseins zu Buche schlagen.

d) Kritikpunkte

Die Aufarbeitung des DDR-Unrechts nach rechtsstaatlichen Gesichtspunkten muß zwangsläufig fragmentarisch bleiben. In gewisser Weise setzte sich die Justiz durch ihre derart begrenzte Handlungsfähigkeit auch dem Hohn und Spott der Bevölkerung aus, etwa in der Anklage des ehemaligen Ministers für Staatssicherheit Erich Mielke wegen zweier Morde in Straßenkämpfen der zwanziger Jahre (!) und dem Prozeß gegen den ehemaligen Staats- und Parteichef Honecker, der nach großer Aufregung schließlich aus humanitären Gründen wegen der Krankheit des Angeklagten abgebrochen wurde.

Durch die Auseinandersetzung über die jüngst angewendete Rechtspraxus erhielt die Diskussion über den Umgang mit Systemunrecht im allgemeinen neue Nahrung.

4. Fazit zur praktischen Umsetzung

Der einzige bisher und gegenwärtig gegangene Weg der rechtsstaatlichen Aufarbeitung von Systemunrecht ist demnach der, einzelne Repräsentanten des Systems für die konkret von ihnen persönlich verwirklichten Tatbestände haftbar zu machen. Früher geschah dies noch etwas unverblümter im Sinne der historischen Sieger, heute dagegen nur, soweit dadurch nicht gegen rechtsstaatliche Prinzipien wie „nulla poena sine lege” verstoßen wird. Dieses aber kann seinerseits durchbrochen werden durch völkerrechtliche Konstruktionen oder – wenn diese nicht ausreichen – quasi naturrechtliche Vorstellungen wie die von „wirklich offensichtlichem Unrecht” oder die von „allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätzen”.

Somit läßt sich am Ende schließlich doch die Rechtsvorstellung des historischen Siegers durchsetzen, allerdings dieser gemäß in überwiegend symbolischer Form.

II. Theoretische Begründung

1. Makrokriminalität als Gegenstand der Strafrechts- und Kriminalwissenschaft

a) Plädoyer

Zwar gibt es – wie bereits festgestellt – auch in unserer Strafrechtsordnung Straftatbestände, deren Verwirklichung überhaupt nur mit geasamtgesellschaftlichen Entwicklungen der Makroebene und bestimmten staatlichen Zielsetzungen, Einflüssen und Steuerungsvorgängen vorstellbar ist (§§ 80, 220a). Diese aber, wie auch die in den Nürnberger Prozessen abgeurteilten Verbrechen, also Tatbestände des sogenannten Völkerstrafrechts, kommen in der Strafrechts- und Kriminalwissenschaft nur am Rande vor. Warum aber werden gerade die schwersten und folgereichsten Formen menschlichen Unrechts aus den straf- und kriminalwissenschaftlichen Denkkonzepten so weitestgehend ausgeblendet?

In seinem „Versuch über Makrokriminalität” konstatiert Herbert Jäger, daß die Geschichte dieses Jahrhunderts mit ihren Großereignissen in der Kriminologie kaum irgendwelche Spuren hinterlassen habe. Beide Weltkriege, eine kaum mehr zu überblickende Vielzahl bewaffneter Konflikte, Genozide und Minoritätsverfolgungen, Staatsterrorismus und kollektive Gewalt in den unterschiedlichsten Varianten, zudem die Bedrohung mit nuklearer Massenvernichtung werden praktisch nicht als „kriminologisch relevantes Verhalten” aufgefaßt.

Die vordergründigste Erklärung dafür sind die enormen Schwierigkeiten, die sowohl die rechtliche als auch die tatsächliche Erfassung von Makrokriminalität bereitet. In Verbrechen verstrickte Staatsführungen verstehen es, jede Untersuchung wirksam zu unterdrücken. Nur in den seltenen Fällen des Zusammenbruchs des jeweiligen politischen Systems oder schwerwiegender innenpolitischer Konflikte kommt es zu strafrechtlichen Verfolgungsaktivitäten.

Aber sind vielleicht nur Konflikte und Handlungsweisen einer bestimmten Größenordnung sinnvoll als Kriminalität zu bezeichnen? Verharmlost nicht, wer etwa Hitler einen gemeinen Verbrecher nennt, seine Erscheinung und verzaubert sie ins Begreifliche?

Jäger räumt diesem Argument eine gewisse Überzeugungskraft ein, bleibt aber dabei, dasß eine rechtlich wie ethisch wertende Betrachtungsweise eben doch nicht vor der Makrokriminalität Halt machen kann, ohne ihrer Neutralisierung – und dadurch zugleich ihrer Ermöglichung – Vorschub zu leisten, so wie auch die Erforschung des Verbrechens nicht einfach auf die Untersuchung seiner extremsten Erscheinungsformen verzichten könne.

So ist es für Jäger nach den Wendejahren nicht auszuschließen, daß die großen weltpolitischen Veränderungen und Umbrüche der letzten Jahre dem Völkerstrafrecht die Chance eines Neuanfangs eröffnen.

Als „heikles Sonderproblem” sieht er die Selektivität der Strafverfolgung, d.h. die Frage, wem das kollektive Unrecht tatsächlich individuell zugerechnet wird. Die Aburteilung eines noch so gravierenden Einzelfalles könne angesichts des ständigen weltweiten staatlichen Unrechts zum Willkürakt geraten. Das würde einmal bedeuten, daß andere Komplexe von Massenunrecht ignoriert und vernachlässigt werden, weil das Scheinwerferlicht der Medien nicht auf sie gerichtet ist und daher die Weltöffentlichkeit weit weniger auf sie aufmerksam wird. Zum anderen kann man kaum die Auswahl des Einzelfalles aus einer Fülle ähnlicher Verbrechen des makrokriminellen Phänomens rechtfertigen, so daß bei den Verurteilten das Gefühl entstehen muß, in die Rolle stellvertretend bestrafter Sündenböcke geraten zu sein.

Als Konsequenz empfiehlt Jäger daher, bei der Strafverfolgung von Makrokriminalität Abschied von jenen Gleichheitsvorstellungen zu nehmen, die uns im innerstaatlichen Strafrecht zumindest als Postulat unentbehrlich erscheinen.

Schließlich wird zur Begründung der Notwendigkeit der Strafverfolgung von Makrokriminalität noch ein pragmatisches Argument ins Feld geführt. Da eine von terroristischer Herrschaft oder Kriegsschrecken befreite Gesellschaft die für vergangene Greueltaten Verantwortlichen nicht einfach reaktionslos integrieren könnte, würde ohne Strafverfahren das Feld willkürlicher Vergeltung, Rache und Selbstjustiz überlassen. Insofern habe das Strafrecht eine wohl unverzichtbare Friedensfunktion gerade in diesem Bereich.

b) Gegenrede

Demgegenüber sieht Günther Jakobs in seinem Aufsatz „Untaten des Staates – Unrecht im Staat” nur wenig Raum für eine strafrechtliche Verantwortung für Staatskriminalität.

Strafe als rechtliche Reaktion setze voraus, daß bei der Tat der Täter mit dem Opfer rechtlich verbunden ist, daß also Täter und Opfer als Personen, als sich gegenseitig Respektierende, definiert sind. Der nicht rechtlich gebundene sei Feind und möge kurzerhand erschlagen oder, wenn er zukünftig unschädlich zu sein garantiert, auch bald vergessen werden, aber er sei kein Straftäter, weil seine Tat keine Gemeinsamkeit mit dem Opfer verletzt, ja nicht einmal verletzen könne. Bestrafung dürfe nicht der Stabilisierung eigener, wie gut auch immer begründeter, sondern nur gemeinsamer Normen dienen.

In Anspielung auf die Rechtsprechung zu den „Mauerschützen” fragt Jakobs ironisch, ob das Rückwirkungsverbot nicht offen aufgehoben werden solle, und bezeichnet die „heimliche Lösung” des BGH, daß das Tötungsverbot des DDR-Strafrechts dann gegriffen haben solle, wenn man die Erlaubnis für naturrechtswidrig erklärt, als unklar, verlogen und schlechthin unglücklich.

Die lex naturalis habe heute die Eigenschaft verloren, unwandelbare Gesetze zu stiften, die nur durchgeführt, nicht aber erst einmal gestaltet werden müssen. Eine Vorstellung von richtigem Recht lasse sich aber heute ohne Berücksichtigung des geistigen und materiellen Stands der Gesellschaft nicht begründen.

Insbesondere dort, wo eine schon von der Besatzungsmacht menschenverachtend eingerichtete Ordnung von mehr oder weniger marionettenhaften Figuren fortgeführt wird, fehle die wohlgeordnete Umgebung, vor der sich erst die Tat als subjektive Bosheit abheben könnte. Mangelnde Fähigkeit, dem breiten Strom der Umgebung nicht zu widerstehen, sei nicht rechtliche Schuld. Diese setze vielmehr voraus, daß zur Tat auch die Alternative der Einpassung in die bestehende Ordnung bleibt; ist diese Ordnung ihrerseits pervertiert, lasse sich nichts Individuelles mehr ausmachen. Niemandem könne vorgeworfen werden, über den Geist der Ordnung, in der er lebt, nicht hinausgekommen zu sein.

Ganz besonders gelte das für diejenigen Personen, die nicht leiteten, sondern ausführten. Wenn etwa dem Schützen an der Grenze oder dem Mitarbeiter der Staatssicherheit Schuld zugeschrieben wird, so werde diesen Tätern ein Maß an praktischer Weitsicht unterstellt, das vor dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten auch in westlichen Ländern nicht notwendig zum guten Ton gehörte, noch weniger gang und gäbe war.

Zudem stehe auch nicht zu erwarten, bei Straflosigkeit werde irgend jemand dazu ermutigt, diktatorische Verhältnisse einzuführen. Daher lasse sich vermuten, daß die laufenden Prozesse auch nicht zur Abschreckung geführt werden, sondern zur Vergeltung, moderner gesprochen : zur Normbestätigung. Es gehe darum, einige Täter als Symbol für die menschenrechtsverachtende politische Richtung zu nehmen und mit ihnen gleichsam diese Politik anzuklagen.

Abschließend warnt Jakobs den Rechtsstaat ob seiner Aufarbeitung des DR-Unrechts, es wäre klüger gewesen, es bei der Freude über den historischen Ausgang zu belassen, bei Hilfe für die Opfer und kluger Vorsorge für den gewiß kommenden Tag, an dem die Kosten-Nutzen-Rechnung der gegenwärtigen Gesellschaft aufgemacht werden wird.

c) Kritische Stellungnahme

Makrokriminalität wird in der Strafrechts- und Kriminalwissenschaft mit der nachlassenden Erinnerung an die nationalen Verbrechen wohl wieder an Bedeutung verlieren. Wäre der demokratische Rechtsstaat tatsächlich global dermaßen auf dem Vormarsch, daß das Ende der Geschichte bevorstünde, rückte ein durchsetzbares internationales Völkerstrafrecht in den Bereich des Möglichen. Realistisch scheint diese Voraussetzung angesichts der zukünftig wahrscheinlichen weltweiten Nahrungs- und Ressourcenengpässe wohl nicht zu sein.

Jakobs ist in seiner Charakterisierung der Grenzen einer strafrechtlichen Verfolgung von staatlichem Unrecht grundsätzlich zuzustimmen. Auch die Einwände von Lampe, es sei unrichtig, die Geltung von Rechtsnormen an den staatlichen Willen zu binden und den Grundsatz „nullum crimen sine lege scripta” dafür zu bemühen, daß ein rechtsunwilliger Staat sich sttrafrechtsfreie Räume erhalten kann, erscheint mir unzutreffend.

Zwar ist es denkbar, daß – wie Lampe postuliert – ein ganzes Volk elementare Rechtsnormen anerkennt – auch wenn sie vorübergehend von der staatlichen Macht nicht durchgesetzt werden. Mit diesem Argument ließe sich jedoch höchstens Straftätern unter der „vorübergehenden” Herrschaft von Putschisten (etwa Kapp und Hitler in Deutschland in den 20er Jahren oder die Altkommunistenclique in Moskau 1993) begegnen, nicht aber einem 12 oder 40 oder gar 70jährigen faktischen Herrschaftssystem. Mag die große Mehrheit der Bevölkerung es verabscheut haben, so kann doch Menschen, zumal jungen Menschen, die in diesem System erzogen wurden, die natürliche Bereitschaft es zu verteidigen, nicht vorgeworfen werden.

Ob wirklich jemals die Strafwürdigkeit einer Tat einfach „soziokulturell feststeht” und daher staatlich nicht erst festgesetzt werden muß, ist eine Annahme, ohne welche der Rechtsstaat als ausgleichendes Korrektiv nicht auszukommen scheint, deren Wahrheitsgehalt man aber durchaus anzweifeln kann.

Somit ist die strafrechtliche Verfolgung für das Unrecht krimineller Staaten als Form der Siegerjustiz – vorbehaltlich des zur Tatzeit am Tatort tatsächlich geltenden Völkerrechts – aus den genannten Gründen abzulehnen.

Dennoch bleibt das stärkste Argument für die strafrechtliche Verantwortlichkeit für Staatskriminalität, deren Befriedungsfunktion, unwidersprochen.

Danach bliebe – etwas überspitzt – als  i m  E r g e b n i s  allen Faktoren gerecht werdende Lösung nur die Verurteilung möglichst vieler Repräsentanten des Unrechtsstaates mit wackligsten Argumentationsketten zu Haftstrafen, um sie nach kurzer Zeit allesamt wieder zu amnestieren.

2. Strafe für das System?

Abschließend bleibt noch das bereits dargestellte Problem zu untersuchen, daß das Systemunrecht als solches die Summe der Einzeltaten übersteigt. Weder die einseitige strafrechtliche Erfassung solcher Tat als Kollektivverbrechen noch die als Einzeltat kann in seiner Vereinzelung den Unrechtsgehalt des Geschehens voll ausschöpfen.

Dennoch wurde in der bisherigen Darstellung theoretischer Begründungen die Bestrafung des Einzeltäters – ganz unserer Rechtsordnung entsprechend – vorausgesetzt.

Bis Mitte des 18. Jahrhunderts war man allerdings anderer Meinung. Die Lehrbücher jener Zeit erkannten fast ausnahmslos die Strafbarkeit von Städten, Gemeinden und Gilden an, und die Praxis handelte danach.

Bis heute ist solches Rechtsdenken in der Öffentlichkeit lebendig geblieben. So spricht man nicht Individuen, sondern Staaten oder staatlichen Machtapparaten die Schuld am Ausbruch eines Krieges, an ethnischen Säuberungen, einem Massaker oder der Verwendung von Atomwaffen zu, eingedenk der Tatsache, daß die Kraft eines einzelnen nicht ausreicht, um solche verbrechen zu begehen.

a) Plädoyer

Tatsächlich, so kritisiert Lampe, sei es ungerecht, wenn sich für schwerste staatliche Verbrechen nur diejenigen völkerstrafrechtlich verantwortlich machen sollen, die sie persönlich verübt oder angeordnet haben. Denn eine Strafe, welche nur Personen treffe, sühne nicht das Unrecht des Systems, das die Verbrechen provozierte und sich die Handlanger dafür schuf.

Der Gerechtigkeit entspräche es vielmehr, wenn sich die Strafe zuvörderst gegen ds System wendet, das die Verbrechen hervorgebracht hat. Daß die Sanktionsfolgen vor allem das Staatsvolk treffen, schade der Gerechtigkeit nicht. Zum einen stütze sich nämlich jedes politische System – auch das skrupelloseste – auf ein gewisses Maß an Akzeptanz bei der Bevölkerung, sonst würde es zerfallen. Zum anderen befänden sich auch diejenigen seiner Mitglieder, die seine verbrecherischen Taten oder darüber hinaus das System insgesamt ablehnen, in einer durch das System organisierten Solidargemeinschaft, welche die Folgenverantwortung einschließt. Daher habe es auch niemand als ungerecht empfunden, daß wir nach dem Ende der Nazidiktatur insgesamt für das staatliche Unrecht die Folgenverantwortung tragen und an die Opfer Wiedergutmachung leisten mußten.

Gleichwohl müsse bei der Zumessung von Strafsanktionen gegen einen Staat selbstverständlich berücksichtigt werden, wen die Folgenverantwortung trifft. So sollten keine Strafmaßnahmen, unter denen das Volk zu leiden hat, gegen einen Staat ergriffen werden, der sich auf eine fremde Militärmacht stützt. Und ganz allgemein sollten darüber hinaus Unschuldige und Verbrechensopfer von der Folgenverantwortung ausgenommen werden.

Lampe selbst findet die praktischen Bedenken gegen seine Forderungen „gravierend und unübersehbar”, verweist aber darauf, daß es einer solchen Untersuchung nicht um politische Durchsetzbarkeit, sondern „nur” um Gerechtigkeit gehen solle.

Die Einrichtung eines internationalen Strafgerichtshofes und insbesondere seine allseitige Unterstützung für die Durchführung seiner Verhandlungen durch die souveränen Staaten gehörten allerdings ins Reich der Illusionen.

Daher bedürfe es der Einsetzung einer Weltregierung, um zwischen den Völkern Strafgerechtigkeit zu verwirklichen. Der Jurist müsse dieses von den Politikern anmahnen, selbst wenn er wisse, daß seine Mahnung kein Gehör finden wird.

Darüber hinaus tragen aber nach Lamps Ansicht alle Systemmitglieder Verantwortung für ihr eigenes Unrecht, auch wenn sie es im Interesse des sozialen Systems oder unter Ausnutzung der von ihm gebotenen Möglichkeiten begangen haben.

b) Kritische Stellungnahme

Der Gedanke, ein System als ganzes haftbar zu machen, vermag mehr zu überzeugen, als einzelne Mitglieder als Sündenböcke mit Hilfe naturrechtlicher Konstruktionen in die Verantwortung zu nehmen. (Anders ist es bei klaren Verstößen gegen dort zu dieser Zeit anwendbares Völkerrecht.) Das Haftbarmachen eines weiter bestehenden Staates als ganzen durch Sanktionen könnte durch eine internationalrechtliche Legitimationsgrundlage seine siegerrechtliche Attitüde verlieren.

Allerdings würde das Abtreten juristischer Kompetenz den Völkern ein wichtiges Stück „Identität” nehmen, weshalb man wohl – trotz heute vielfach gehegter entgegengesetzter Hoffnungen – nicht einmal alle Europäer über das bisher schon praktizierte Maß hinaus dazu überreden können wird.

So wird die Schaffung einer internationalen Strafgerichtsbarkeit für Staatskriminalität auch zukünftig ein Ziel sein, für das es sich einzusetzen lohnt. Mehr aber vermutlich nicht.

D Ergebnis

Es sind als Unrechtssysteme zu unterscheiden: zweckgerichtete Verbindungen krimineller Personen, kriminell ausgerichtete Vereinigungen, kriminell anfällige Wirtschaftsunternehmen, kriminell pervertierte Staaten oder staatliche Institutionen.

In unserer Rechtsordnung wird Systemunrecht anerkannt und besonders sanktioniert. Allerdings wird dabei nur das Individuum, niemals das System als Ganzes in die Verantwortung genommen.

In der Geschichte gab es viele Versuche, staatliches Unrecht strafrechtlich zu ahnden. Diese waren allerdings nur möglich nach Kriegen oder nach dem Zusammenbruch eines staatlichen Systems. Überschattet wurden sie durch die gegen sie erhobenen Vorwürfe der „Siegerjustiz” und der Schaffung von „Sündenböcken”. Die Gesamthaftung eines solchen Systems wurde durch Sanktionen oder Reparationen ohne explizite theoretische Begründung praktisch vollzogen und öffnete der Willkür Tür und Tor.

Theoretisch begründen läßt sich die strafrechtliche Verantwortung einzelner für das Systemunrecht in einem staatlichen Unrechtssystem nur bei Verstoß gegen ausdrückliches Völkerrecht, nicht aber – so das Ergebnis dieser Untersuchung – durch naturrechtliche Konstruktionen. Der rechtsstaatliche Grundsatz „nulla poena sine lege” verhindert eine pauschale Anwendung rechtsstaatlicher Vorstellungen auf Unrecht außerhalb des Rechtsstaates.

Eine rechtlich legitimierte kollektive Bestrafung des staatlichen Systems ist vorstellbar bei Einrichtung wirksamer Institutionen internationaler Strafgerichtsbarkeit, was jedoch aus heutiger Sicht nicht sehr realistisch erscheint.

Literaturverzeichnis

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– Feldmann, Horst: Das Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Essen 1948

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– Herzberg, Rolf Dietrich: „Mittäterschaft durch Mitbvorbereitung eine actio communis in causa?” in: JZ 1991 S.856-862

– Jäger, Herbert: „Versuch über Makrokriminalität” in: Strafverteidiger 4/1988 S.172-179

– Ders.: „Menschheitsverbrechen und die Grenzen des Kriminalitätskonzeptes” in: Krit V 1993 S.259-275

– Jakobs, Günther: „Untaten des Staates – Unrecht im Staat” in: GA 1994 S.1-19

– Jung, Susanne: Die Rechtsprobleme der Nürnberger Prozesse, Tübingen 1992

– Küper, Wilfried: Versuchsbeginn und Mittäterschaft, Heidelberg 1978

– Ders.: „Ein neues Bild der Lehre von Täterschaft und Teilnahme” in: ZStW 1993 S.445-482

– Lackner, Karl: Strafgesetzbuch (Kommentar), 21. Auflage München 1995

– Lampe, Ernst-Joachim: „Systemunrecht und Unrechtssysteme” in: ZStW 1994 S.683-745

– Roxin, Claus: „Straftaten im Rahmen organisatorischer Machtapparate” in: GA 1963 S.193-207

– Schild, Wolfgang: „Der strafrechtsdogmatische Begriff der Bande” in: GA 1982 S.55-84

– Schmidt, Karsten: Gesellschaftsrecht, 2. Auflage Köln 1991

Arbeit zum Erwerb eines Wahlfachscheins in Strafrechtsgeschichte, Sommersemester 1996, Universität Bielefeld. Leider können hier aus technischen Gründen die Fußnoten nicht richtig dargestellt werden. Wer die Version mit Fußnoten benötigt, der möge mich benachrichtigen. 

Am 1. Juni 2002 nahm der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag seine Arbeit auf.