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justament.de, 5.12.2022: Meerjungfrauen-Fetisch und Produktivität im Bett

Die letzten kleinen Schriften des verstorbenen Karl Heinz Bohrer sind eine fesselnde Lektüre

Thomas Claer

Dieser kleine rote Essay-Band mit „Dreizehn alltäglichen Phantasiestücken“ des großen Literaturwissenschaftlers und -kritikers Karl Heinz Bohrer (1932-2021) ist kurz nach seinem Tod erschienen und zeigt den Verfasser – man kann es nicht anders sagen – noch einmal in schriftstellerischer Bestform. Auf jeweils nur zehn bis fünfzehn Seiten widmet er sich darin ganz unterschiedlichen Themen, von der apokalyptisch anmutenden Sommerhitze auf einer Bahnfahrt von Köln nach London bis zur „Seuche von heute mit ihrem fast schon poetischen Namen Corona-Virus“. Viele der Texte sind sehr persönlich gehalten, fungieren gewissermaßen als Nachträge zu seiner zweibändigen Autobiographie und sind in der Summe eine Art von „Was ich noch sagen wollte“ geworden, wie Ex-Kanzler Helmut Schmidt vor einigen Jahren seine finalen Abhandlungen genannt hat, in denen er seinen Lesern quasi auf den letzten Metern noch einige durchaus heikle Dinge offenbarte. Dies tut nun auch Bohrer, indem er sich etwa über Freundschaften auslässt und noch einmal detailliert auf bestimmte Aspekte seiner Kindheit und Jugend zurückblickt: zum einen auf die „Kampfspiele“, d.h. seine Indianer- und Fußballbegeisterung, zum anderen auf sein sexuelles Erwachen.

Hier wird es natürlich besonders interessant, denn es passiert unendlich viel im Inneren des heranreifenden Jugendlichen, was auch in den buntesten Farben geschildert, jedoch – Spoiler – kaum jemals von entsprechenden „äußeren Ereignissen“ begleitet wird, bis der Bericht des Erzählers im Alter von 17 Jahren jählings abbricht… Karl Heinz Bohrers erste große Liebe war – wie könnte es anders sein – eine literarische Figur, genauer gesagt deren Abbildung. In seinem Märchenbuch befand sich eine hocherotische Darstellung von Hans Christian Andersens „Kleiner Meerjungfrau“, die er schon im frühen Kindesalter über lange Zeiträume hinweg mehrmals täglich ausgiebig betrachtete, dabei aber stets blitzschnell eine andere Seite aufschlug, sobald seine Mutter sein Zimmer betrat. Der Autor ist der Ansicht, dass seine lebenslange obsessive Fixierung auf weibliche Brüste letztlich aus dieser Märchenbuch-Illustration resultiere, wobei jedoch relativierend anzumerken ist, dass eine solche Vorliebe unter seinen Geschlechtsgenossen nicht gerade Seltenheitswert haben dürfte. Weitaus ungewöhnlicher ist da schon des Verfassers Begeisterung für den Fischschwanz der Meerjungfrau… Ein „reales“ Erlebnis, das ihn in jungen Jahren ähnlich tief geprägt hat, hatte er, als seine Mutter während der Abwesenheit des Vaters Besuch von einer Freundin erhielt, die dann gemeinsam mit der Mutter leicht bekleidet und Schokolade essend im Bett lag, wobei die Freundin der Mutter kurzzeitig vor dem Jungen ihre Brust entblößte… Karl Heinz Bohrers zweite große Liebe war dann einige Jahre später erneut eine Figur aus der Literatur, nämlich die feurige Gruschenka aus dem Roman „Die Brüder Karamasow“ von Fjodor Dostojewski. Bereits als Teenager schlägt ihm dann eine von ihm heiß begehrte Mitschülerin namens Helga einen gemeinsamen Waldspaziergang vor. Doch außer verstockten Gesprächen und heißen Blickwechseln geschieht dabei letztendlich nicht viel… Weitere Annäherungen an das weibliche Geschlecht verlaufen ähnlich ergebnislos.

Ein ebenfalls großartiger Text widmet sich dem Thema Schlaflosigkeit. Diese muss für einen Geistesarbeiter, anders als für gewöhnliche Menschen, die oftmals sehr darunter leiden, gar kein Unglück sein: „Denn der Schlaflose unterscheidet sich von demjenigen, der bloß ohne Schlaf bleibt, durch seine reflexive Existenz. Er denkt in der Nacht über Phänomene und Eindrücke nach, über die er in alltäglich wachem Zustand vielleicht nicht nachdenken würde.“ Dabei kann er dann sogar überaus produktiv werden und all das schon vorab druckreif konzipieren, was er dann beim eigentlichen Schreibvorgang am Folgetag nur noch aus dem Gedächtnis abzurufen braucht. Dem kann man übrigens auch als kleiner Rezensent nur beipflichten: Der überwiegende Teil des Geschriebenen entsteht auch bei einem selbst keineswegs am Schreibtisch, sondern entweder beim Warten aufs Einschlafen in der Horizontalen oder während monotoner Tätigkeiten wie Wäsche aufhängen, Spülmaschine ausräumen, Staub saugen und dergleichen. Oder in der Schlange an der Supermarktkasse. Karl Heinz Bohrer jedenfalls nennt seine in schlaflosen Nächten entstandenen Texte in Anlehnung an E.T.A. Hoffmann „Phantasiestücke“, was den Untertitel dieser kleinen Schriftensammlung erklärt.

Weitere Aufsätze behandeln die Fragen, was gute Filme und was gute Literatur ausmacht. In letzterem findet sich Bohrers ästhetische Theorie komprimiert auf wenigen Seiten: Einen besseren Einstieg in sein Gesamtwerk wird man schwerlich finden. In „Schöne, hässliche, interessante Städte“ wiederum verrät der passionierte Großstadt-Flaneur seine Präferenzen und kommt zum Befund, dass schöne Städte oftmals nicht besonders interessant, interessante Städte hingegen oft nicht besonders schön seien. „Was Berlin betrifft, so kommt eben das Interessante ins Spiel. Doch warum ist diese Stadt, manchmal schön und meistens hässlich, so interessant? (…) Wohin man auch fährt oder geht, wo immer man aussteigt – man ist konfrontiert: mit Aussichten, die das Interesse entweder in historisch-politischer oder kultureller Hinsicht wecken.“ Und ganz ähnlich geht es einem auch beim Lesen in diesem wunderbaren Büchlein: Wohin man auch blättert, es wird nie langweilig.

Karl Heinz Bohrer
Was alles so vorkommt. Dreizehn alltägliche Phantasiestücke
Suhrkamp Verlag 2021
185 Seiten; 18,00 Euro
ISBN 978-3-518-47213-2

justament.de, 28.11.2022: Der letzte Großintellektuelle?

Zum Tod von Hans Magnus Enzensberger (1929-2022)

Thomas Claer

Seine literarische Lieblingsfigur, so hat Hans Magnus Enzensberger einmal gesagt, sei immer der „Fliegende Robert“ aus dem „Struwwelpeter“ gewesen, der sich trotz aller Warnungen und Ermahnungen so gerne hinaus ins stürmische Ungewisse begeben hat und genussvoll in ihm treiben ließ: „Wo der Wind ihn hingetragen? Nein, das weiß kein Mensch zu sagen.“ Mit ganz ähnlicher Leichtigkeit hat sich dieser gelernte Lyriker, der schon in relativ jungen Jahren zum intellektuellen Superstar avancierte, durch die Winde des Zeitgeistes bewegt, sich mal hierhin, mal dorthin treiben lassen, immer seiner Maxime verpflichtet: „Du sollst nicht langweilen!“. Auch wenn sich seine Standpunkte und Haltungen des Öfteren verändert haben, an Originalität und an der spielerischen Lust zur polemischen Zuspitzung hat es ihm nie gemangelt, ebenso wenig an selbstbewusstem Stolz bei der Verwaltung seines Ruhms. Es gab eine Zeit, in den Jahren nach der Wiedervereinigung, da erreichte der SPIEGEL seine höchsten Verkaufszahlen stets dann, wenn er mit einem Enzensberger-Essay zu aktuellen Zeitgeistfragen erschien. Und Enzensberger ließ sich seine Popularität auch gehörig versilbern, feilschte bei jedem neuen Text mit den SPIEGEL-Verantwortlichen um ein noch fürstlicheres Honorar. (Das weiß ich aus sicherer Quelle, die allerdings ihrerseits nicht mehr am Leben ist.)

Sein Lieblingsgenre neben der Versdichtung war der freie Essay, der „Nomade im Regal“, der schon deshalb seine bevorzugte Form war, weil er sich darin – von keinerlei Regelwerk gestört – nach Herzenslust und Laune austoben konnte. Während sein Schriftstellerkollege Thomas Bernhard einmal verzweifelt beklagte, niemals habe er in seinen Schriften das ausdrücken können, was er wirklich sagen wollte, fand der stets fröhlich-heitere Enzensberger, es sei doch prima, wenn man am Anfang eines Textes noch nicht wisse, wohin er sich letztlich entwickeln werde. Schließlich sei es langweilig, wenn das Ergebnis schon von vornherein feststünde, dann sei es doch kein „Essai“, also Versuch, mehr, und es mache ihm sogar riesigen Spaß, sich immer wieder von sich selbst überraschen zu lassen.

Über die Schriftstellerei hinaus war Enzensberger, der unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg sehr erfolgreich als Schwarzmarkthändler tätig gewesen sein soll, auch eine Art Projektmacher. Mehre Zeitschriften brachte er heraus, allen voran das berühmte „Kursbuch“, aber auch die „Andere Bibliothek“, die vergessene und verschollene literarische Schätze vergangener Epochen in Prachtausgaben neu erscheinen ließ und ihnen mit dem Nachdruck des eigenen Renommees zu Aufmerksamkeit verhalf. Kurzum, Enzensberger ist eine Institution in unserer geistigen Landschaft gewesen. Aber war er wirklich der letzte Großintellektuelle aus der Weltkriegsgeneration, der nun 93-jährig ins Gras gebissen und damit auch einen Schlussstrich unter die Ära der Nachkriegszeit gezogen hat? Nein, nicht ganz, denn der Allerletzte war er nicht. Noch leben schließlich Großphilosoph Jürgen Habermas (93) und Großschriftsteller Martin Walser (95), wobei letzterer Umstand die schöne Pointe mit sich bringt, dass ausgerechnet Walser mit seinen Trinkgewohnheiten (von denen zu berichten Marcel Reich-Ranicki einmal die Indiskretion hatte) nunmehr alle Autorenkollegen seiner Generation überlebt hat…

Aber zurück zu Enzensberger. Von ihm bleiben werden nicht zuletzt einige wunderbare Zitate wie dieses: „Heiterkeit ist eine moralische Frage. Mürrische Leute, die andere mit ihren Problemen behelligen, die halte ich für rücksichtslos.“ Oder dieses: „Wer ist überhaupt dieser Herr Konrad Duden? Irgendein Sesselfurzer!“ Man sollte noch betonen, dass mit Hans Magnus Enzensberger auch einer der witzigsten Intellektuellen deutscher Sprache von der Bühne gegangen ist.

justament, 24.10.2022: Die Welt als Grauzone

Peter Sloterdijk präsentiert mit „Wer noch kein Grau gedacht hat“ eine ganz eigene Farbenlehre

Thomas Claer

Ein ganzes Buch über die triste Farbe Grau. Kann das überhaupt interessant sein? Nun, durchaus, wenn der Autor Peter Sloterdijk heißt. Dem metaphorischen und allegorischen Bedeutungsgehalt dieser unscheinbaren Couleur sind nämlich, wenn man es genauer betrachtet, was Sloterdijk hier ausgiebig tut, kaum Grenzen gesetzt. Grau steht etwa für die unbestimmte Zone oder den Kompromiss zwischen den Gegensätzen Schwarz und Weiß, ferner für Langeweile und Ödnis, für bürokratische Nüchternheit, aber auch für das Laue und Unbestimmte, für das Indifferente, dem alles egal ist. Grau ist so gesehen also eine ganze Menge in unserer Welt, wenn nicht sogar das meiste… So behandelt dann der sprachgewaltige Philosoph in seiner kurzweiligen Betrachtung ein breites Themenspektrum, kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen und landet dann doch immer wieder bei seinen bekannten Lieblingssujets: Religions- und sonstiger Autoritätenverspottung zum Beispiel oder dem moralischen Desaster des Weltkommunismus, welchem er unter dem Stichwort „Rotgrauverschiebung“ auch einige treffende Bemerkungen über die reale Alltagstönung in der verblichenen DDR hinzufügt. Längere Kapitel widmen sich auch der Geschichte der Fotographie und des Films (deren Schwarzweißphase eigentlich Grauphase hätte heißen müssen) sowie der Betrachtung gräulicher Landschaftsformen und Naturereignisse von Theodor Storms „grauer Stadt am Meer“ bis zur alpinen Schneesturmbeschreibung von Adalbert Stifter.

Natürlich darf an dieser Stelle auch die berühmte Traumszene im Schneesturm aus Thomas Manns „Zauberberg“ nicht fehlen, in der dem eingedösten Hans Castorp „zwei graue Vetteln“ (d.h. ungepflegte schlampige alte Frauen) mit langen Zitzen an ihren schlaffen hängenden Brüsten erscheinen, die Menschenfleisch verspeisen. Nur kurz widmet sich der Verfasser in einer „Digression“ (d.h. einer Abschweifung) der vielversprechenden Thematik „Grau und Frau“ und kommt darin auch auf die „vier grauen Weiber“ in Goethes Faust II zu sprechen, von denen drei (der Mangel, die Schuld und die Not) gleich wieder verschwinden („Vier sah ich kommen, drei nur gehen“), aber eine, nämlich die Sorge, in Fausts Nähe bleibt und ihn durch böswilliges Anhauchen erblinden lässt. Doch nach nur drei Seiten heißt es unvermittelt:

„Ein zynisches Kapitel ist schneller beendet als ausgeführt. Ein Windstoß vom offenen Fenster reißt die Mitautorschaft an sich und bläst die Notizen fürs Folgende durch den Flur ins Freie. Bedauernd schaut der Autor den verwehten Blättern nach… Vielleicht kam der Windstoß zur rechten Zeit – anderenfalls hätte der Lektor womöglich gesagt: Pass auf, wenn man keine Frau ist, kann man so etwas heute nicht mehr schreiben!“

Ach, wie schade! Das wäre doch zu interessant gewesen… Hoffentlich wird dieses unkorrekte verlorene Kapitel dann wenigstens im Nachlass des Autors erhalten bleiben und eines fernen Tages nach seinem Ableben doch noch den Weg zu seiner neugierigen Lesergemeinde finden… Die „grauen Ekstasen“, die man hier bereits vermutet hätte, bilden dann jedoch erst die Überschrift des fünften und letzten Kapitels.

Hier gelangt der Philosoph nämlich – nachdem er auf seinem fokussierten Streifzug durch die Ideengeschichte u.a. auch noch bei seinen Kollegen Platon, Hegel, Heidegger und Nietzsche haltgemacht hat – zur Interpretation des Projekts der Moderne als markante Grauzonenverschiebung in zweifacher Hinsicht: einerseits als Ausweitung all dessen, was „der Obrigkeit“ egal zu sein hat, also von Freiheiten aller Art, die das neuzeitliche Individuum nunmehr ungehindert genießen kann, worin der Verfasser einen beträchtlichen zivilisatorischem Fortschritt erkennt (sofern es so etwas überhaupt geben könne); andererseits als Aufweichung des zuvor noch elitär verstandenen Kunstbegriffs, was der Autor als ambivalent bewertet, da dies neben einer Absenkung der Zugangsschwelle zugleich auch jeder Form von Banalisierungen Tür und Tor öffnet. So schlicht, wie hier exzerpiert, sagt er es natürlich nicht, aber es dürfte ungefähr dem nahekommen, was er meint. Überhaupt gestaltet sich die Lektüre auch diesmal wieder mitunter etwas anstrengend, weil man immer wieder aufs Neue mehr oder weniger obskure Fremdwörter nachschlagen muss, was den Lesefluss schon erheblich stören kann, gerade auch bei den witzigen Stellen, die sich zum Glück in gewohnt großer Zahl finden lassen. Aber verglichen mit dem Vorgängerbuch „Den Himmel zum Sprechen bringen“ ist die Zahl der verwendeten Gräzismen, Latinismen, Gallizismen und Neologismen immerhin etwas zurückgegangen, die Richtung stimmt also…

Peter Sloterdijk
Wer noch kein Grau gedacht. Eine Farbenlehre
Suhrkamp Verlag 2022
286 Seiten; 28,00 Euro
ISBN: 978-3-518-43068-2

justament.de, 30.5.2022: Mit Goethe durch die Pandemie

Manfred Osten über „Die Welt, ‚ein großes Hospital‘. Goethe und die Erziehung des Menschen zum ‚humanen Krankenwärter‘“

Thomas Claer

„Goethe weiß alles“, so hat es Peter Handke schon vor mehr als drei Jahrzehnten auf den Punkt gebracht. Und da Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) ein so umfangreiches Werk hinterlassen hat, zu dem neben all den literarischen und naturwissenschaftlichen Schriften (und Zeichnungen) auch noch unendlich viele Briefe an Zeitgenossen sowie ebenso unzählige Aufzeichnungen seiner Verlautbarungen in unterschiedlichsten Lebenslagen gehören und Goethe noch dazu eine fast schon seherische Begabung in der Wahrnehmung der mitunter verhängnisvoll sich steigernden Gefährdungen der Menschheit in der Moderne mitbrachte, lässt sich wohl sagen, dass wir bei ihm Antwort auf beinahe alles finden, was uns heute, 200 Jahre später, noch umtreibt und beschäftigt. Man muss nur wissen, wo es steht und wie es sich interpretieren lässt. Aber genau hier liegt freilich die Crux, denn wer einmal versucht hat, etwa den Faust II ohne sekundärliterarische Unterstützung zu bewältigen, weiß, wovon die Rede ist…

Bewährte Hilfestellung im ambitionierten Unterfangen der Goethe-Exegese gibt schon seit langen Jahren (und ganz besonders seit seiner Pensionierung) der mittlerweile 84-jährige Manfred Osten, promovierter Jurist, Ex-Diplomat und wohl einer der versiertesten noch lebenden Goethe-Kenner überhaupt. Wie schon in seinen früheren Publikationen wie „Alles veloziferisch. Goethes Entdeckung der Langsamkeit“ (2003) oder „Goethe und das Glück“ (2017) widmet sich Osten auch diesmal wieder einem aktuellen, aber gleichwohl von Goethe bereits hinreichend antizipierten Themenbereich, nämlich der Immunität des Einzelnen und der Allgemeinheit, noch konkreter gesagt: der Corona-Pandemie mit all ihren medizinischen bis hin zu ökologischen Implikationen.
Bekanntlich hat es vergleichbare Seuchen auch schon früher gegeben, sogar zur Genüge, wenn man an die Pest- und Cholera-Epidemien denkt, die sich erst in der frühen Neuzeit dank vermehrter hygienischer Sorgfalt besser eindämmen ließen, an Pocken und Blattern, mit denen sich auch der junge Goethe infizierte. Nach Goethes dezidierter Auffassung jedoch ist individuelle Gesundheit keinesfalls nur Glückssache, sondern es obliegt auch jedem Einzelnen, seine persönliche Immunität durch eine achtsame Lebensführung zu kräftigen. Und obschon die Virologie damals noch nicht einmal in den Kinderschuhen steckte, hatte Goethe schon eine hinlängliche Ahnung der Zusammenhänge, sprach von „kleinen Tieren in unseren Körpern“ und empfahl eine ausgewogene Ernährung nebst regelmäßigen Spaziergängen und überhaupt muntere Bewegung. Hart ging er mit seinem Freund und Kollegen Friedrich Schiller ins Gericht, dessen sich selbst stets verausgabenden und überfordernden Arbeitsstil („Das Leben ist der Güter höchstes nicht.“) er scharf missbilligte und diesem eine universelle Ethik der Mäßigung entgegensetzte. Oder wie es im „Wilhelm Meister“ heißt: „Der verständige Mann braucht sich nur zu mäßigen, so ist er auch glücklich.“

Dabei war es auch für Goethe selbst eine lebenslange Herausforderung, sein von Natur aus feuriges und leidenschaftliches Temperament unter Kontrolle zu halten. (Seine Figuren Werther und Faust weisen unverkennbar in diese Richtung.) In jungen Jahren, so erfahren wir außerdem, litt Goethe sogar unter diversen Ängsten und Phobien. Doch gelang ihm unter dem Einfluss von Denkern wie Spinoza und Konfuzius eine allmähliche Selbst-Stabilisierung, wozu übrigens auch seine ganz eigene Islam-Rezeption als „Religion der Furchtlosigkeit“ beigetragen haben dürfte. Fortan mochte er mit den „schwankenden Gestalten“ seiner frühen Schaffensjahre nichts mehr zu tun haben, distanzierte sich insbesondere auch von seinem „Werther“, zumal dieser etliche junge Leser in den Nachahmungs-Selbstmord getrieben hatte. Vielmehr entwickelte Goethe die für ihn äußerst fruchtbare Methode, seine keineswegs seltenen Überdruss- und Verzweiflungsschübe jeweils in erhöhte schriftstellerische Produktivität umzumünzen…

Doch nicht nur die individuelle Immunisierung durch Selbstdisziplinierung empfiehlt Goethe, sondern ebenso das, was er als „Reinhaltung der Elemente“ bezeichnet hat, worunter sich nicht weniger als ein lupenreines ökologisches Vordenkertum verbirgt. Im Schulterschluss mit Alexander von Humboldt, der bereits damals gegen die Abholzung des Regenwaldes in Südamerika protestiert, prangert Goethe, der als Minister in Thüringen die Umweltzerstörungen durch den Bergbau miterlebt hat, den Frevel an der Natur an, mit welcher der Mensch „seine Späße treibe“, mit der aber nicht zu spaßen sei. Weite Teile des Faust II beschreiben zerstörerische menschliche Eingriffe in ökologische Zusammenhänge, die sich später rächen werden. So wie uns ja auch aktuell durch das Überspringen tierischer Krankheitserreger auf den Menschen einmal mehr die Rechnung der Natur für unsere Fortschritts-Projekte präsentiert wird.

Ostens wieder einmal kleines, feines Bändchen endet mit einem Nachwort Peter Sloterdijks aus philosophisch-anthropologischer Sicht, das den Menschen als fürsorgebedürftiges Wesen herausstellt, was aber auch ausdrücklich die zu erlernende Fähigkeit zur Selbst-Fürsorge einschließe. So könne der moderne Mensch seine Rolle als „humaner Krankenwärter“ finden – für sich selbst und für andere.

Manfred Osten
Die Welt, „ein großes Hospital“. Goethe und die Erziehung des Menschen zum „humanen Krankenwärter“. Mit einem Nachwort von Peter Sloterdijk
Wallstein Verlag 2022
160 Seiten; 18,00 Euro
ISBN 978-3-8353-5045-8

justament.de, 10.1.2021: Graphic Novel 1.0

Thomas Claer empfiehlt Spezial: Vor 150 Jahren erschien „Die fromme Helene“ von Wilhelm Busch

Wer hat heutzutage eigentlich noch Zeit dazu, dicke Romane zu lesen? Wohl kaum jemand, und so überrascht es nicht, dass die Graphic Novel, die längere und thematisch anspruchsvolle Bildgeschichte im Buchformat, sich zunehmender Beliebtheit erfreut. Was allerdings weniger bekannt ist: So etwas hat es auch schon zur Kaiserzeit gegeben, wenn auch im deutschen Sprachraum nur von einem Solitär hervorgebracht, der mit einer außergewöhnlichen Doppelbegabung als Zeichner und Versdichter aufwarten konnte. Die Rede ist natürlich von niemand anderem als Wilhelm Busch (1832-1908), dem Godfather des deutschen Comics (gemeinsam mit dem noch früheren Struwwelpeter-Schöpfer Heinrich Hoffmann, versteht sich), dessen Werk sich freilich keineswegs in lustigen (wenngleich keineswegs harmlosen!) Kindergeschichtchen a la „Max und Moritz“ erschöpfte. Sieben Jahre nach dieser bis heute enorm populären „Bubengeschichte in sieben Streichen“ wagte sich Busch im Jahr nach der deutschen Reichsgründung, vor 150 Jahren, erstmals an die ganz große Form – und lieferte einen ganzen Roman in Reimen und Bildern.

„Die fromme Helene“ orientiert sich ganz am bürgerlichen Roman des 19. Jahrhunderts, den sie aber zugleich auf satirische Weise verfremdet. In 17 Kapiteln samt einem Epilog wird die Lebensgeschichte einer elternlosen Frau erzählt, die als junges Mädchen von ihrem Vormund zu Onkel und Tante aufs Land geschickt wird, um sie vor dem angeblich sündigen Großstadtleben zu bewahren. Ihr weiterer Lebensweg liest sich dann allerdings wie eine Aufeinanderfolge sündiger Versuchungen, denen sie oft genug nicht widerstehen kann, obwohl sie sich immer wieder mit Nachdruck an Religion, Sitte und Moral auszurichteten versucht. Der Plot bietet das volle Programm: Schon als Jugendliche eine amouröse Affäre mit ihrem Vetter, später dann die Heirat mit einem schwerreichen Industriellen, eine glänzende Partie. Es folgt – wie kann es in einem Quasi-Roman aus dem 19. Jahrhundert auch anders sein – der unvermeidliche Ehebruch, der jedoch gottlob unentdeckt bleibt. Nachdem ihr Ehemann an einer Fischgräte erstickt ist, wendet sich Helene ihrer langjährigen Liebschaft zu, wird aber nun ihrerseits von dieser hintergangen und bekommt schließlich ein ernstes Alkoholproblem. Und natürlich landet die „fromme Helene“ am Lebensende mit viel Trara in der Hölle, wo sie aber immerhin ihren Geliebten wieder trifft…

Das große Thema dieser Bildgeschichte ist also die religiös überhöhte Doppelmoral, wie sie sich im übrigen ganz ähnlich auch heute noch in weiten Teilen der Welt und nicht zuletzt auch in manchen Zuwanderermilieus unserer Großstädte zeigt. Und es ist nun einmal auch von immenser Komik, wie ein Mensch immer und immer wieder daran scheitert, ein vorgeblich gottgefälliges Leben zu führen. Besonders überzeugend gezeichnet sind auch die selbstgerechten Nebenfiguren, allen voran der stets mit erhobenem Zeigefinger auftretende Onkel Nolte.

Nun ist „Die fromme Helene“ allerdings in den letzten Jahrzehnten etwas ins Gerede gekommen angesichts des gegen ihren Verfasser oftmals erhobenen Antisemitismus-Vorwurfs. Denn es heißt im ersten Kapitel, in dem vor den vorgeblichen Gefahren des sündigen Großstadtlebens gewarnt wird:

„Und der Jud mit krummer Ferse,
Krummer Nas‘ und krummer Hos‘
Schlängelt sich zur hohen Börse
Tief verderbt und seelenlos.“

Doch hat schon der fabelhafte Robert Gernhardt seinen großen Lehrmeister gegen diesen Vorwurf (zumindest an dieser Stelle) in Schutz genommen, da es sich ganz offensichtlich um ein Rollengedicht handelt. Nicht der Verfasser der „Frommen Helene“ spricht im ersten Kapitel, sondern ein „frommer Sänger“, ein Feind vornehmlich aller Vergnügungen des Großstadtlebens:

„Wie der Wind in Trauerweiden
Tönt des frommen Sängers Lied,
Wenn er auf die Lasterfreuden
In den großen Städten sieht.

Ach die sittenlose Presse!
Tut sie nicht in früher Stund
All die sündlichen Exzesse
Schon den Bürgersleuten kund?!

Offenbach ist im Thalia,
Hier sind Bälle, da Konzerts.
Annchen, Hannchen und Maria
Hüpft vor Freude schon das Herz.

Kaum trank man die letzte Tasse,
Putzt man schon den ird’schen Leib.
Auf dem Walle, auf der Gasse
Wimmelt man zum Zeitvertreib.“

In diesem Zusammenhang steht der als krumm in jeder Hinsicht diffamierte Jude, der sich schlängelnd, also auf krummem Wege, zur Börse begibt (wo er vermutlich entsprechend krumme Geschäfte machen wird), also in einer Reihe mit all den anderen Phänomenen des bunten Großstadtlebens, die beim „frommen Sänger“ solchen Abscheu hervorrufen. Nimmt man noch die satirische Zuspitzung hinzu, so folgt daraus, dass Wilhelm Busch hier keineswegs antisemitische Klischees verbreitet, sondern sich im Gegenteil über das reaktionäre Weltbild der konservativ-bäuerlichen Landbevölkerung mitsamt ihrem Antisemitismus lustig macht. Im übrigen hat sich der Verfasser im weiteren Verlauf des ersten Kapitels – erneut auf indirekte Weise – sogar recht eindeutig selbst politisch positioniert:

„Schweigen will ich von Lokalen,
Wo der Böse nächtlich prasst,
Wo im Kreis der Liberalen
Man den Heil’gen Vater hasst.“

Indem er den „frommen Sänger“ auf solche Weise überzeichnet und der Lächerlichkeit preisgibt, macht Wilhelm Busch doch mehr als deutlich, wo seine eigenen Sympathien liegen.

Problematischer sind da schon andere Stellen im Werk dieses Künstlers: In der Figur Schmulchen Schievelbeiner im fünften Kapitel seiner grandiosen Geschichte „Plisch und Plum“ (1882) verwendet er zweifellos antisemitische Stereotypen, ohne sich eindeutig von ihnen zu distanzieren, was auch Robert Gernhardt einräumen musste. Ähnlich fatal aus heutiger Sicht mutet die Figur des „schwarzen Mannes“ im ersten Kapitel der ebenfalls ausgezeichneten Geschichte „Fipps der Affe“ (1879) an, die wohl nur zufällig ohne das N-Wort auskommt. Doch zeigt nicht zuletzt der ganz ähnlich gelagerte Fall Astrid Lindgrens hundert Jahre danach, dass auch eine grundsätzlich progressive Gesinnung niemanden zuverlässig davor schützt, mitunter zeitgebundenen abwertenden Klischees auf den Leim zu gehen. Und es empfiehlt sich für uns Nachgeborene, dies mit der gebotenen Milde und Nachsicht zu kontextualisieren, auf dass nicht eines Tages auch uns die Rechnung über unsere Verfehlungen und Versäumnisse präsentiert wird, von denen wir heute womöglich noch gar nichts ahnen…

justament.de, 20.12.2021: Berlin vor 40 Jahren

Sven Regeners sechster Roman „Glitterschnitter“

Thomas Claer

Wie es im Leben so kommt: Manchmal ist jahrelang alles nur Routine, und dann passiert plötzlich ganz viel in kurzer Zeit. Eine solche ereignisreiche Zeitspanne erlebt der junge Frank Lehmann, seit zwei Jahrzehnten die Hauptfigur in den Romanen des Berliner Autors und Musikers Sven Regener, um das Jahr 1980 herum, als er zunächst die elterliche Wohnung in der Bremer Neuen Vahr Süd verlässt, um während seines Bundeswehrdienstes in einer chaotischen WG im Szeneviertel am Steintor unterzukommen. Bald aber kehrt er der Armee und seiner WG den Rücken und flüchtet Hals über Kopf ins Aussteiger-Paradies West-Berlin, wo er eigentlich nur seinen Bruder besuchen will, dort jedoch ganz schnell hängenbleibt. Wie sich innerhalb weniger ereignisreicher Wochen alles ineinanderfügt, bis er auf die eingefahrenen Gleise gesetzt ist, auf denen er sich bis zum Mauerfall 1989 munter fortbewegt, wovon Sven Regeners gefeierter Debütroman „Herr Lehmann“ (2001) erzählt, davon handeln die vier aufeinander folgenden Romane „Neue Vahr Süd“ (2004), „Der kleine Bruder“ (2008), „Wiener Straße“ (2017) – und ganz aktuell: deren vor kurzem erschienene Fortsetzung „Glitterschnitter“. (Einen Ausreißer im Romanzyklus bildet nur der vierte Band „Magic Mysterie oder Die Rückkehr des Karl Schmidt“ (2013), der einen Zeitsprung ins Jahr 1995 wagt). Dass drei dieser vier zeitlich und inhaltlich direkt aneinander anknüpfenden Romane in Berlin spielen, zeigt, wie voraussetzungsreich Frank Lehmanns Achtzigerjahre-Existenz als Bierzapfer in Erwin Kächeles Kreuzberger Kneipe „Einfall“ zumindest in ihren Anfängen gewesen ist. Aber es liegt auch daran, dass hier über eine wirklich wilde Zeit berichtet wird – mit all ihren Ausbrüchen, Aufbrüchen und Experimenten.

Eine bunte Community hat sich da 1980 in Kreuzberg zusammengefunden. Lauter ganz überwiegend junge Leute, die fast alle irgendwelche Kunstprojekte am Laufen haben und nebenher ihren Brotjobs nachgehen: klassischerweise in der Kneipe oder im Taxi. Zwar ist die Szene noch längst nicht so international aufgestellt wie heute, doch immerhin schon aus dem gesamten deutschen Sprachraum zusammengewürfelt. Man hört die verschiedensten Dialekte, die dann mit den einheimischen Urberlinern um sprachliche Dominanz wetteifern. Man kommt mit sehr wenig Geld aus, viele sind schließlich auch Hausbesetzer und leben im ideologischen Biotop der Staatsverachtung und des „Bullen“-Hasses. Während „Der kleine Bruder“ wie seine Vorgänger noch durchgehend die Perspektive des Romanhelden einnahm, probierte Regener in „Wiener Straße“ erstmalig das von ihm so bezeichnete „multiperspektivische Erzählen“. Ohne allwissenden Erzähler wurde der Leser hier durch die jeweiligen Perspektiven und Gedankenströme einer Vielzahl von Romanfiguren geführt. Dieses Konzept setzt sich in „Glitterschnitter“ nun fort – und wird noch weiter radikalisiert. Auch vom Plot her ist der neue Roman deutlich ambitionierter als der vorherige. Es laufen durchweg mehrere Handlungsstränge parallel, die schließlich zu einem grandiosen Finale zusammenfinden. Wie in einem Wimmelbild – so hat es der Verfasser selbst bezeichnet – entfaltet sich so ein überaus lebendiges Panorama des kulturellen Lebens im westlichen Szenebezirk der damals geteilten Stadt. Man könnte sogar von einem alternativen Gesellschaftsroman sprechen, wäre das schöne Wort „alternativ“ nicht inzwischen auf so hässliche Weise vom Rechtspopulismus gekapert worden…

Das einzige, was man dem Roman vorwerfen kann, ist seine Geschwätzigkeit. Sicherlich haben die ausschweifenden Dialoge und nicht minder ausschweifenden inneren Monologe der Romanfiguren in diesem Konzept alle ihre Berechtigung. Aber 470 Seiten sind einfach zu viel des Guten. Hier hätte die Lektorin ihrem Autor vielleicht doch lieber etwas strenger in die Parade fahren sollen, denn ungefähr die Hälfte der endlosen Gesprächskaskaden zwischen den beiden liebenswerten Exil-Österreichern Kacki und P. Immel aus der „Arsch Art Gallery“ hätte es auch getan. Ferner hat das Lektorat auf S. 336 oben links übersehen, dass es richtigerweise: „…ein Heinzelmännchen, das die Arbeit macht…“ heißen muss – und nicht „…ein Heinzelmännchen, dass die Arbeit macht…”.

Ansonsten ist die Romanlektüre ganz überwiegend eine Freude. Im Zentrum der Handlung stehen das avantgardistische Bandprojekt Glitterschnitter mit Lehmann-Kumpel Karl Schmidt an der Bohrmaschine sowie das ausdauernde Ringen des Aktionskünstlers H.R. Ledigt mit seinem Manager Wiemer um den konzeptionell aussichtsreichsten Weg zur Kunstausstellung. Um Freundschaft und Verrat drehen sich die Gespräche nicht nur zwischen Kacki und P. Immel, sondern angesichts kollegialer Unstimmigkeiten hinsichtlich der Interpretation der Öffnungszeiten des Cafe Einfall auch zwischen Frank Lehmann und Karl Schmidt.

Besonders gut gelungen ist diesmal auch die Darstellung sowohl des männlichen als auch weiblichen sexuellen Begehrens, das zumal unter diesen jungen Menschen natürlich zurecht eine so bedeutsame Rolle spielt, und das am Ende des Tages genau dahin führt, wohin so etwas meistens führt, nämlich nirgendwohin. Der 21-jährige Frank Lehmann monologisiert in seinem Inneren ausführlich, wenn auch lustigerweise auf recht verdruckste und verschämte Weise, über seine nächtlichen erotischen Träume, in denen genau drei Frauen eine prominente Rolle spielen: neben der angehenden Glitterschnitter-Saxophonistin Lisa sind dies seine WG-Mitbewohnerin Chrissie (Erwin Kächeles Nichte) sowie deren 37-jährige Mutter Kerstin (Erwin Kächeles Schwester). Besonders schämt sich Frank für einen Traum, in dem er mit Mutter und Tochter gemeinsam zugange ist…

Bleibt noch die Frage, wie es im Romanzyklus weitergehen wird, denn dass Sven Regener von weiteren Fortsetzungen in Zukunft absehen wird, kann man sich zum Glück nicht vorstellen. Da nun aber Frank Lehmann endlich seinen Kneipenjob bekommen hat, könnte nun auch endlich einmal ein Zeitsprung fällig sein: vielleicht ins Jahr 1989 nach dem Mauerfall, hier hatte der Debut-Roman „Herr Lehmann“ geendet. Oder ins Jahr 1995 nach der Rückkehr Karl Schmidts von der Magical-Mystery-Tour. Denkbar wäre aber auch ein noch späterer Zeitpunkt, denn welcher Leser wollte nicht erfahren, wie es mit den Romanhelden auch auf lange Sicht weitergegangen ist. In ein paar Jahren werden wir hoffentlich schlauer sein.

Sven Regener
Glitterschnitter. Roman
Galiani Berlin
480 Seiten; 24,00 Euro
ISBN-10: ‎3869712341

justament.de, 18.10.2021: Das Rätsel unserer Existenz

Thomas Claer empfiehlt Spezial: Zum 100. Geburtstag von Hoimar v. Ditfurth

Als ich damals, Ende der Achtziger, im jugendlichen Alter die populärwissenschaftlichen Bücher des unvergesslichen Hoimar v. Ditfurth (1921-1989) regelrecht verschlungen habe, hat das einen überwältigenden Eindruck auf mich gemacht. Die Evolution des Lebendigen auf unserem Planeten, die Entwicklung des Universums seit dem mutmaßlichen Urknall, die Herausbildung der Sterne und Planeten – nichts hat mich damals brennender interessiert, als den Geheimnissen unseres Daseins auf die Spur zu kommen. Und natürlich führte der Weg mich dann von der Naturwissenschaft direkt zur Philosophie und unvermeidlich auch zu Metaphysik und Religion. Als Türöffner in solche Untiefen diente mir vor allem das wohl spekulativste – und gerade deshalb für mich aufregendste – Buch Hoimar von Ditfurths: „Wir sind nicht nur von dieser Welt. Naturwissenschaft, Religion und die Zukunft des Menschen“ aus dem Jahr 1981. Nach der Lektüre stand für mich fest, dass ich mich erst ganz am Anfang meiner diesbezüglichen Überlegungen befand und sie in meinem weiteren Leben unbedingt intensiv weiterverfolgen wollte. Doch wenn ich nun, nach mehr als drei Jahrzehnten, zurückblicke, fällt das Ergebnis leider ernüchternd aus. Da steht man also nun, man armer Tor, und ist eigentlich auch nicht viel schlauer geworden als zuvor…

Die bemerkenswerteste Aussage der Ditfurth-Bücher scheint mir immer noch die zu sein, dass es „Verstand auch ohne Gehirne“ gibt. Demnach ist die Evolution bereits lange, bevor es Individuen mit zerebralen Strukturen gab, auf eine Weise abgelaufen, die man als intelligent bezeichnen kann. Noch zugespitzter und spekulativer heißt es im besagten Buch „Wir sind nicht nur von dieser Welt“ sogar, dass „der Geist“ nicht erst mit intelligenten Lebensformen in die Welt gekommen sein könne, sondern mutmaßlich bereits von Anfang an zumindest in ihr angelegt gewesen sein müsse. Die im Laufe der Evolutionsgeschichte immer komplexer gewordenen Gehirne hätten so gesehen nur etwas in immer stärkerem Maße “aufgenommen”, das auch schon vor ihnen vorhanden war, womöglich schon seit dem Urknall.

Der große Hoimar v. Ditfurth hat nun daraus u.a. abgeleitet, dass sich naturwissenschaftliche und religiöse Weltbilder nicht unbedingt widersprechen müssen, und sogar ausdrücklich für einen Brückenschlag zwischen den sich traditionell feindlich gegenüberstehenden beiden Weltdeutungen plädiert. Problematisch daran ist vor allem, dass sich die großen Weltreligionen und ganz besonders gewisse sektiererisch-extremistische Gruppierungen, die aus ihnen hervorgegangen sind, durch solche „Brückenschläge“ in ihren abstrusen Weltbildern bestätigt fühlen können, u.a. mit der Folge, dass in manchen amerikanischen Bundesstaaten an den Schulen mittlerweile „Intelligent Design“ statt der Darwinschen Evolutionstheorie gelehrt wird. Das Verzwickte daran ist ja, dass man als denkender Mensch mit allen praktizierenden Religionen eigentlich nichts zu tun haben will, da sie nur wenig mehr als Menschheitsunterdrückungs- und Kontrollideologien sind, die sich das metaphysische Bedürfnis ihrer Anhänger zunutze machen und ihnen dabei immerhin als Nebeneffekt noch gelegentlich soziale Wohltaten erweisen. Andererseits sind die Naturwissenschaften und insbesondere die sich aus ihnen ergebenden Weltbilder aber so unbefriedigend und offensichtlich tautologisch, allen voran die Evolutionstheorie, dass man ihre (orthodoxen) Anhänger für ähnlich einfältig halten kann wie die Religionsgläubigen.

Doch was macht das mit einem, dass man hier, wo es im Leben endlich einmal interessant wird, niemals wirklich weiter kommt? Man schiebt es irgendwann beiseite und kümmert sich um andere Dinge. Oder man beneidet diejenigen Mitmenschen mit religiösen oder atheistischen Überzeugungen, die mit sich und der Welt im Reinen sind…

Heute vor 100 Jahren und drei Tagen wurde der große Naturforscher und Brückenbauer Hoimar v. Ditfurth geboren, der seinen Lesern und Fernsehzuschauern das Wunder ihrer Existenz vor Augen geführt und sie vom anthropozentrischen Mittelpunktswahn erlöst hat.

justament.de, 12.7.2021: An der Nordseeküste

„Daheim“, der zweite Roman von Judith Hermann

Thomas Claer

Also doch wieder ein Roman. Nach ihrem von der Kritik – vorsichtig gesagt – zwiespältig aufgenommenen Roman-Erstling „Aller Liebe Anfang“ (2014) wollte es Judith Hermann, inzwischen auch schon 51, offenbar noch mal wissen, sich auch nicht auf das Image einer Immer-nur-Kurzgeschichten-Autorin festnageln lassen. Und um gleich mit dem Positiven zu beginnen: Ihr neuer Roman liest sich deutlich besser als der vorige, ist spannender und abwechslungsreicher.

Das liegt vor allem auch am Plot, der diesmal deutlich mehr hergibt: Die 47-jährige namenlose Ich-Erzählerin hat sich nach dem Auszug ihrer gerade erwachsen gewordenen Tochter von ihrem Mann getrennt, einem Messi, der die Großstadtwohnung mit allerhand Kram vollgestellt hat, den er auf der Straße gefunden hat. Sie lebt nun neuerdings in einem kleinen Ort am Meer in Norddeutschland, hat Arbeit als Kellnerin in der Kneipe ihres dort ansässigen Bruders gefunden und bewohnt ein winziges baufälliges Haus in der Einöde. Und hier macht sie Bekanntschaft mit ihrer Nachbarin, einer aus der Umgebung stammenden Künstlerin. Über sie lernt sie deren Bruder kennen, einen von seiner Ehefrau verlassenen Bauern, der an die 1000 Schweine besitzen soll, und beginnt mit ihm eine Liaison bzw. wird allmählich die Frau an seiner Seite. Wobei die Ich-Erzählerin gleichzeitig aber auch noch sehr an ihrem Ex-Mann zu hängen scheint, der seinerseits lange Briefe an sie schreibt… Parallel dazu unterhält der 60-jährige Bruder der Ich-Erzählerin, der Kneipenwirt, der früher einmal mit der Nachbarin der Erzählerin liiert gewesen ist, eine Liebesbeziehung zu einem 20-jährigen jungen Mädchen, einer ziemlich grotesken Figur, die angeblich ihre ganze Kindheit hindurch von ihrer Mutter in einer Kiste eingesperrt worden war.

Doch was bis hierhin noch vielversprechend und schlüssig klingt, enthält im Detail leider beträchtliche Ungereimtheiten. Es fängt schon an mit dem Alter der Protagonisten: Die Ich-Erzählerin, so heißt es, ist 47, ihr Bruder 60 Jahre alt. Doch später im Roman erinnern sich die Geschwister daran, wie sie als Kinder nach der Schule regelmäßig gemeinsam vor der Wohnungstür auf die Ankunft ihrer Mutter gewartet haben. Sonderlich plausibel erscheint das nicht gerade bei diesem Altersunterschied. Man fragt sich, wie viele Ehrenrunden der Bruder dann wohl gedreht haben müsste…

Der norddeutsche Ort am Meer, wo sich die Ich-Erzählerin angesiedelt hat, soll „an der Ostküste“ liegen, heißt es. Nun gibt es Ost- und Westküsten zwar in Amerika oder Korea, nicht aber in Deutschland, das nur nördliche Küsten besitzt, nämlich jene an Nord- und Ostsee. (Allenfalls im Bundesland Schleswig-Holstein ließe sich sinnvoller Weise von einer West- und einer Ostküste sprechen.) Dann wird das Kaff wohl an der Ostsee liegen, denkt man. Aber weit gefehlt: Es gibt dort, wie berichtet wird, Ebbe und Flut (was an der Ostsee niemals vorkommt), und die alteingesessenen Bewohner tragen alle friesische Namen. Also muss es doch an der Nordsee sein.

Und dann heißt es über die 20-jährige Freundin des Bruders, sie könne nicht lesen und nicht schreiben, da sie ja nie eine Schule besucht habe, sie war ja immer in der Kiste eingesperrt. Aber später wird berichtet, der Bruder, der Kneipenwirt, schreibe ihr ständig lange Textnachrichten, auf die sie entweder gar nicht oder mit Kürzeln wie OMG oder LOL antwortet. Also zumindest ein wenig lesen und schreiben können müsste sie dafür aber schon… Und es gibt im Verlauf der Romanhandlung noch weitere solcher Merkwürdigkeiten…

Aber vielleicht ist das ja gar kein „realistischer Roman“, der sich mit Kriterien der Logik beurteilen ließe? Dafür könnte sprechen, dass sich die Ich-Erzählerin zum Ende des Buches hin plötzlich fragt, ob sie „das alles“ vielleicht nur geträumt habe… Doch kann eine solche Deutung keineswegs zufriedenstellen, denn dafür ist der Roman über weite Strecken viel zu nahe am sehr realen Alltag seiner Figuren. Auch wenn sich deren Erinnerungen mitunter als widersprüchlich und unzuverlässig erweisen.

Judith Hermann, das muss man trotz allem betonen, schreibt wirklich gut. Sehr genau schildert sie Landschaft und Bebauung des Ortes und seiner Umgebung, die Verhaltensweisen der Bewohner. Und eher beiläufig geht es sogar um große Fragen: „Welche Wurzeln hast du?“, wird die Ich-Erzählerin von ihrer Nachbarin gefragt, deren Familie schon seit Generationen Land in dieser Gegend besitzt. Darüber hat die Erzählerin noch nicht nachgedacht. Sie und ihr Bruder hätten gar keine Wurzeln, ist ihre Antwort. Sie kommen, das wird zwar niemals ausgesprochen, ergibt sich aber aus ihren Eigenschaften und ihrem Verhalten, sehr wahrscheinlich aus Berlin, dem großen Moloch, und werden nun in ihrer neuen Umgebung mit den Eigenheiten der norddeutschen Landbevölkerung konfrontiert…

Vieles davon ist gekonnt und anschaulich beschrieben. Die ländliche Einsamkeit treibt die Romanfiguren zueinander, und nach ein paar Schnäpsen findet der Schweinebauer die Ich-Erzählerin dann auch hinreichend schön und begehrenswert, während sie ihrerseits schon vom ersten Moment an Feuer gefangen hat, wo doch der muskulöse Bauer mit seinen behaarten Armen so hinreißend nach Gülle und Aftershave riecht…

Punktuell ist also durchaus einiges gelungen im Roman, aber man fragt sich beim Lesen doch die ganze Zeit, wo das alles hinführen soll und wird. Und am Ende bewahrheitet sich dann auch tatsächlich die fortwährend gehegte Befürchtung, dass dies alles nirgendwohin führen könnte. Es hört plötzlich und unvermittelt auf, die Schlusspointe ist ziemlich unerheblich. Die Auflösung diverser Rätsel und Handlungsstränge bleibt die Autorin uns schuldig. Bei manchen Büchern mag so etwas in Ordnung gehen, hier aber ist es für den Leser reichlich unbefriedigend. Kurz gesagt, es ist dann also doch wieder nichts wirklich Rundes aus diesem Roman geworden.

Und so bleibt es dabei: An ihr gefeiertes Debüt „Sommerhaus, später“ (1998) kann Judith Hermann leider auch diesmal nicht anknüpfen. Gekonnt geschrieben zwar, gute Grundidee, aber erhebliche konzeptionelle Schwächen bei der Umsetzung.

Judith Hermann
Daheim. Roman
S. Fischer, 2021
191 Seiten; 21,00 Euro
ISBN 978-3-10-397035-7

justament.de, 12.4.2021: Sex, das war sein letztes Wort

Star-Philosoph Slavoj Zizek über „Sex und das verfehlte Absolute“

Thomas Claer

Was für ein großartiger Typ ist doch dieser Slavoj Zizek, inzwischen auch schon 72. Ein intellektueller Popstar aus Ljubljana, Sloweniens wichtigster Kulturexport neben der Band Laibach. Immer mit zerzausten Haaren und einer Plastiktüte als einzigem Gepäckstück ist er bis zur Corona-Krise unermüdlich um die Welt gejettet, von einem Vortrag zum anderen, von einer Vorlesung zur nächsten. Bekleidet Professuren in Ljubljana, London und New York. Ein Hegelianer, der damit kokettiert, Kommunist zu sein. Seine Wortmeldungen in diversen Medien immer geistreich, witzig und pointiert. Und dann versucht man also, auch mal ein Buch von ihm zu lesen…

Was soll ich sagen? Ich hätte es doch wissen müssen. Schon einmal, vor zwei Jahrzehnten, bin ich an einem Zizek-Buch gescheitert („Liebe deinen Nächsten? Nein, danke!“). Dabei ging es darin richtig gut los mit einer steilen These, die ursprünglich auf den französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan (1901-1981) zurückgeht: Die Wahrheit von Kant liegt in de Sade. Klingt erstmal verrückt. Ist aber plausibel, wenn man es so sieht, dass – vereinfacht gesagt – die disziplinierte Askese gerade dazu führt, dass sich das unterschwellige Begehren niemals austoben kann, sondern sich durch seine permanente Unterdrückung nur immer und immer weiter bis ins Unermessliche steigert. Ins Politische gewendet führt dies dann zu der Paradoxie, dass es der freiheitlich-westliche Liberalismus selbst ist, der ungewollt aus sich heraus immer neue Monstrositäten gebiert. Es sei also keineswegs ein Zufall, dass auch Demokratien anfällig für barbarische Tendenzen seien, sondern entspreche nur ihrer innersten Logik. (Insbesondere aus heutiger Sicht klingen diese zwanzig Jahre alten Überlegungen bestürzend aktuell.) Bis hierhin, ungefähr auf S. 50, hatte ich es damals noch so halbwegs verstanden, aber dann war ich irgendwann raus. Immer sprunghafter und verwirrender wurden die Gedankengänge des Verfassers, immer grotesker seine Schlussfolgerungen. Ca. auf Seite 75 gab ich es auf.

Und nun, nach zwei Jahrzehnten, begegnet mir Zizek erneut in einem langen Interview in der Süddeutschen Zeitung. Was er dort erzählt, es geht um Sexualität im digitalen Zeitalter, ist witzig und provozierend, verständlich und nachvollziehbar. Meine Frau bricht bei der Lektüre mehrfach in schallendes Gelächter aus. Er sagt so etwas wie: Der Geschlechtsverkehr ist zur Masturbation am lebenden Objekt geworden. Und er erzählt die Anekdote vom Porno-Darsteller in Aktion, der plötzlich nicht mehr kann und sich erst wieder mit Hilfe seines Smartphones durch ein paar Online-Videos in Stimmung bringen muss, um seine Arbeit fortsetzen zu können. Was liegt also näher, als Zizeks aktuelles Buch zum Thema namens „Sex und das verfehlte Absolute“ zu rezensieren.
Und auch hier beginnt es vielversprechend. Dieses Werk, so heißt es in der Einleitung, sei so etwas wie die Quintessenz von Slavoj Zizeks Philosophie, eine Art „Best of Zizek“ gewissermaßen. Doch dann kommt es knüppeldick, was jetzt keineswegs als frivole Anspielung gemeint sein soll. Will wirklich irgendjemand in der Welt ein Buch mit Kapitelüberschriften wie „Theorem I: Die Parallaxe der Ontologie“ lesen? Und weiter geht es mit: „Die Realität und ihr transzendentales Supplement“. Zum Glück gibt es vorne im Buch eine Einleitung, die auf 16 Seiten seine Kernaussagen auf den Punkt bringt. „Die Sexualität ist unser privilegierter Kontakt zum Absoluten“, ist die erste. „Die Dimension des Scheiterns … ist der menschlichen Sexualität konstitutiv“, ist die zweite. Dass hingegen der weibliche Orgasmus, dieser „rauschhafteste Moment sexueller Lust“, dieser „Gipfel der menschlichen Evolution“, eine „Neufassung des ontologischen Gottesbeweises“ sein solle, wie Zizeks Freund und Kollege Peter Sloterdijk meint, sei hingegen nur „eine weitere obskurantistische New-Age-Spekulation“.

Apropos Sloterdijk: Der ist vergleichsweise, selbst in seinem letzten ziemlich abgedrehten und mit unzähligen Fremdwörtern auf jeder Seite gespickten Buch „Den Himmel zum Sprechen bringen“, das wir vor einigen Wochen an dieser Stelle besprochen haben, regelrecht ein Ausbund an Klarheit und Verständlichkeit. Verglichen jedenfalls mit diesem Wirbelwind aus Ljubljana, der von Seite zu Seite immer neue und gefährlichere gedankliche Pirouetten dreht, die den Leser schwindelig machen und ein Goethe’sches Mühlrad in seinem Kopf in Bewegung setzen. Zizeks große philosophische Vorliebe ist der deutsche Idealismus. Zuerst Kant, dann aber ganz besonders Hegel, den er allerdings auf ganz eigene Weise vom Kopf auf die Füße stellt. Zizek rührt daraus nämlich einen „neuen dialektischen Materialismus“ an, den er so nennt, weil „diese Bewegung des abstrakt Immateriellen als vollkommen kontingent, aleatorisch, anorganisch, ziellos und in diesem Sinne nicht geistig aufzufassen ist.“ Man solle sich nicht scheuen, „sogar vom Materialismus der platonischen Ideen zu sprechen“. Spätestens hier bin ich raus. Es mag ja alles seine Berechtigung haben, dass man in gewisser Weise schwarz auch als eine Art weiß bezeichnen kann und umgekehrt. Aber ich verstehe das dann leider nicht mehr.

Schon in diesem frühen Stadium meiner Lektüre wird mir also klar, dass ich die 560 Seiten dieses Buches leider nicht bewältigen können werde. Was man aber noch machen könnte: Sich wie die jugendlichen Leser im vordigitalen Zeitalter einfach die interessantesten, das heißt natürlich die erotischen Stellen herauspicken und sich nur auf diese beschränken. Das Kapitel „Theorem I: Die Parallaxe der Ontologie“ überspringe ich also. Ebenso den nächsten großen Abschnitt „Folgerung 1: Intellektuelle Anschauung und intellectus archetypus: Reflexivität bei Kant und Hegel“. Erst auf S.131 setze ich mit dem Lesen wieder ein im „Theorem II: Sex als flüchtige Berührung mit dem Absoluten“. Es beginnt mit den „Antinomien der reinen Sexuierung“. Die sind aber, wie ich bald merke, auch nicht gerade leichtverdaulich. Zumindest darf man das, was dort über Kant steht – „die Unmöglichkeit, das Ding an sich zu erfassen“, die „Sackgassen der menschlichen Sexualität“ oder die „ethische Stoßrichtung des Erhabenen“ nicht zu wörtlich verstehen…

Interessant und sogar halbwegs verständlich wird es, wenn Zizek näher ausführt, was er mit der Sexualität als „Kontakt zum Absoluten“ meint. Die Abwertung der (von der Fortpflanzung abgekoppelten) Sexualität durch die Katholische Kirche liege darin begründet, dass diese intuitiv sehr genau erfasse, „dass der Sex ihr großer Konkurrent ist, denn schließlich bildet er die erste und grundlegendste Erfahrung eines im eigentlichen Sinne meta-physischen Erlebens. Sexuelle Leidenschaft unterbricht den Fluss des täglichen Lebens: Eine andere Dimension dringt in unseren Alltag ein und sorgt dafür, dass wir unsere üblichen Interessen und Verpflichtungen vernachlässigen.“ Dabei sei doch nur der Mensch imstande, das, was in der Natur lediglich der Fortpflanzung diene, „zu einem Selbstzweck, einem Akt intensiven vergeistigten Lusterlebens“ zu machen. Im übrigen sei „der Schmerz, der Schmerz des Scheiterns, Teil des intensiven sexuellen Erlebens, und der Genuss stellt sich erst als Folge der durch den Schmerz getrübten Lust ein“.

Ausführlich äußert sich Zizek auch zur „MeToo-Bewegung“. Ob zustimmend oder kritisch, das werden wohl nur die wenigsten Leser seinen Ausführungen entnehmen können, so dass ihm vermutlich jede Art von medialem Shitstorm erspart bleiben dürfte: „Die Differenz der Geschlechter ist, kurz gesagt, ihre eigene Metadifferenz: Sie ist nicht die Differenz zwischen den beiden Geschlechtern, sondern die Differenz zwischen den beiden Modi, den beiden Funktionsweisen der Geschlechterdifferenz: Lacans Formeln der Sexuierung lassen sich auch so verstehen, dass die Geschlechterdifferenz von der Männerseite her die Differenz zwischen dem (männlichen) Universalmenschlichen und seiner (weiblichen) Ausnahme ist, während sie sich von der Frauenseite her als die Differenz zwischen dem (weiblichen) Nicht-Alles und der (männlichen) Nicht-Ausnahme darstellt.“ Gut, das lassen wir dann mal so stehen. Ob das wirklich jemand versteht?

Die anschließenden Unterkapitel „Geschlechterparallaxe und Erkenntnis“ sowie „Das geschlechtliche Subjekt“ überspringe ich dann wieder. Weiter geht es mit „Folgerung 2: Das Mäandrieren einer sexualisierten Zeit“. Das klingt doch spannend. Ist es aber dann leider nur ansatzweise: „Eine bestimmte Aktivität wird in dem Moment sexualisiert, in dem sie sich in einer verzerrten zirkulären Zeitlichkeit verfängt. Sexualisierte Zeit ist, kurz gesagt, die Zeit dessen, was Freud als Todestrieb bezeichnet: jener obszönen Unsterblichkeit eines Wiederholungszwangs, der jenseits von Leben und Tod fortbesteht.“ Der Erste, der diese Logik obszöner Unsterblichkeit formuliert habe, sei übrigens der „heimliche Kantianer“ Marquis de Sade gewesen. „Weil dieser Hindernisse und Umwege verwirft und auf direktestem Wege nach Lust strebt, entsteht eine vollkommen mechanisierte, kalte Sexualität, der all das abgeht, was wir mit Erotik verbinden.“ Immer wieder geht es auch um Lacan („Das Begehren ist das Begehren des Anderen“) und schließlich um die Digitalisierung. Doch gerade über diese ist leider nicht viel Erhellendes zu erfahren: „Die Digitalisierung dezentriert das Subjekt nicht, sie schafft dessen Dezentrierung vielmehr ab.“ Immerhin lässt sich hier noch ahnen, was damit gemeint sein könnte…

Dann wird es aber doch noch einmal interessanter, nämlich ab S. 241 im „Zusatz 2.2: Marx, Brecht und Sexualverträge“. In diesem überraschend zugänglichen und sehr lesenswerten Abschnitt wird der etwaige Vertragscharakter sexueller Beziehungen behandelt. Karl Marx wird als Kritiker aller nur scheinbar gleichberechtigten Vertragsbeziehungen ins Spiel gebracht, der auf die in ihnen immer bestehende strukturelle Ungleichheit verweist. Dies lässt sich auch gegen die berühmt-berüchtigte Definition der Ehe von Immanuel Kant aus seiner Metaphysik der Sitten anwenden, wonach diese den „wechselseitigen Gebrauch“ beinhalte, „den ein Mensch von eines anderen Geschlechtsorganen und Vermögen macht“. (Nur in der Ehe wird Kant zufolge der Partner nicht auf ein Objekt reduziert, so dass Sex außerhalb der Ehe somit ganz buchstäblich ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellt: In ihm reduzieren sich beide Partner zu Objekten, die zur Lustgewinnung gebraucht werden, und sprechen sich dadurch ihre menschliche Würde ab.)

Doch nun kommt der Verfasser doch noch einmal auf MeToo zurück und kritisiert diesmal klar und deutlich bestimmte dieser Bewegung innewohnende Tendenzen („Hier waltet der Geist der Rache.“) Dabei nimmt er auch wesentliche Teile der aktuellen Debatte um Identitäts-Politik vorweg und positioniert sich eindeutig in Distanz zu deren Verfechtern (nachdem er von ihnen als „alter weißer Mann“ diffamiert worden ist).

Abermals überspringe ich sodann gut 150 Seiten und lande schließlich im Kapitel „Wahnsinn, Sex und Krieg“. Dieses beginnt mit der bemerkenswerten Feststellung, dass „der barbarische Kern im Inneren jeder Zivilisation ihr ethisches Gefüge erhält“, weshalb Zivilisationen sich nicht unmittelbar dadurch zivilisieren ließen, „dass man die friedlichen Verhältnisse, wie sie die Rechtsstaatlichkeit garantiert, auf den Bereich internationaler Beziehungen insgesamt ausdehnt (dies war Kants Idee einer Weltrepublik)“. Über die Sexualität heißt es dann, dass diese sich „in ihrer extremen Form ebenso als eine spezifische Gestalt der Verrücktheit charakterisieren lässt“. Sie bilde keineswegs die natürliche Grundlage des menschlichen Lebens, sondern sei vielmehr gerade das Gebiet, auf dem der Mensch sich von der Natur loslöse: „Sexuelle Perversionen sind im Tierreich ebenso unbekannt wie irgendwelche tödlichen Leidenschaften sexueller Art.“ Die menschliche Sexualität sei nicht mehr der instinktive Fortpflanzungstrieb, „sondern ein Trieb, der sich von seinem natürlichen (Fortpflanzungs-)Zweck abgeschnitten findet und dadurch in eine unendliche, wahrhaft metaphysische Leidenschaft ausbricht. Auf diese Weise setzt bzw. transformiert die Zivilisation oder Kultur rückwirkend ihre eigenen Voraussetzungen. Sie entnaturalisiert rückwirkend die Natur“.

An dieser Stelle breche ich meine bruchstückhafte Lektüre dieses wahrhaft herausfordernden Werkes ab. Wer mag, kann sich veranlasst fühlen, diesem Buch noch mehr Erkenntnisse abzugewinnen, als der Rezensent es vermocht hat.

Slavoj Zizek
Sex und das verfehlte Absolute
Aus dem Englischen übersetzt von Axel Walter und Frank Born
Wbg Academic 2020
560 Seiten; 50,00 Euro
ISBN: 978-3-534-27243-3

justament.de, 25.1.2021: Altersmilder Satans-Follower

Peter Sloterdijk über “Theopoesie”: “Den Himmel zum Sprechen bringen”

Thomas Claer

Es gibt die berühmte Fabel vom “Wolf auf dem Totenbett”, dem es am Lebensende plötzlich wichtig geworden ist, festzustellen, dass er nicht nur böse Taten, sondern gelegentlich auch gute vollbracht habe. Nun lässt sich zwar nicht gerade behaupten, dass der mittlerweile 73-jährige Peter Sloterdijk, der ewig scharfzüngige Spötter, das Enfant terrible unter Deutschlands Philosophen, auf seine alten Tage fromm geworden wäre. Aber verglichen mit dem nur allzu oft provozierenden Furor früherer Jahre wirkt sein aktuelles Alterswerk dann doch erstaunlich gedämpft, beinahe schon altersmilde. Ein Opus magnum über die Religion also sollte es noch einmal sein. Doch anders als in früheren Veröffentlichungen zu diesem Thema schlägt Sloterdijk in “Den Himmel zum Sprechen bringen. Über Theopoesie” moderate, fast schon versöhnliche Töne an. Ausdrücklich würdigt er die Religionen als kulturell bedeutsame Systeme menschlicher Sinnstiftung, trotz all ihrer “Merkwürdigkeiten” und Absurditäten, ihrer Dogmatismen und mörderischen Fanatismen. Vor allem aber, und darum geht es in diesem Buch vorrangig, haben sie die Menschen zu dichterischen Glanzleistungen angespornt, denn genau solche verbergen sich – bei Lichte betrachtet – hinter sämtlichen vorgeblich heiligen Texten. Die dichterische menschliche Einbildungskraft ist es, die immer wieder scheinbar den Himmel zum Sprechen gebracht hat.

Nun wäre Sloterdijk aber nicht Sloterdijk, wenn er das unfreiwillig humoristische Potential der religiösen Schriften so einfach ungenutzt liegen ließe. Auch diesmal kann er es sich, zur Freude seiner Leser, selten verkneifen, die heiligen Bücher ein ums andere Mal beim Wort zu nehmen, konsequent weiterzudenken und so immer wieder auf groteske logische Ungereimtheiten zu stoßen. Doch mit nur mildem ironischen Unterton zollt er insbesondere dem Christentum Anerkennung für dessen eindrucksvolle erzählerische Umdeutung eines völligen Desasters – der seltsame Wunderheiler sang- und klanglos von der Obrigkeit hingerichtet, und dann ist auch noch sein Leichnam verschwunden – in eine einzigartige Erfolgsgeschichte von Auferstehung und Erlösung. Noch dazu wird über die Jahrhunderte die ursprüngliche Kernbotschaft in pragmatischer Anpassung an die Verhältnisse weitgehend in ihr Gegenteil verkehrt!

Weniger Freude dürfte einem Großteil seiner Leser aber die diesmal wirklich exzessive Bildungshuberei in Form unzähliger ungeläufiger Fremdwörter bereiten, die den Text wie ein roter Faden durchziehen und den Lesefluss immer wieder erheblich stören. (Man könnte hier fast von einer neuen Form der Lektüre zur linken Hand sprechen, bei der die rechte allerdings nicht in unausgesprochene Körperregionen abgleitet, sondern fortwährend hilfesuchend die Tastatur betätigt, um von Google Aufschluss über nebulöse Begrifflichkeiten zu erlangen.) Zwar waren auch Sloterdijks frühere Werke nicht gerade leichte Lektüren, doch mit zunehmendem Alter droht insbesondere seine Überdosierung an Latinismen zur Marotte zu geraten.

Wer sich jedoch durch die manchmal etwas zähen, dann aber auch wieder erfrischend kurzweiligen 352 Seiten hindurchgearbeitet hat, wird mit einer Fülle von Erkenntnissen belohnt. Wenn einem dann nur nicht die ganzen nachgeschlagenen Fremdwörter schon längst wieder in Vergessenheit geraten wären…

Peter Sloterdijk
Den Himmel zum Sprechen bringen. Über Theopoesie
Suhrkamp Verlag 2020
352 Seiten; 26 Euro
ISBN: 3518429337