justament.de, 29.5.2023: Einfach nur zusammen sein
Scheiben Spezial: Vor 50 Jahren gelang Udo Lindenberg der Durchbruch mit “Alles klar auf der Andrea Doria”
Thomas Claer
Im Frühjahr 1973, in einem Alter, in dem andere legendäre Popstars schon drauf und dran waren, sich mittels Überdosis oder Schrotflinte in die ewigen Jagdgründe des Musikerhimmels zu befördern, hatte der Sänger und Schlagzeuger Udo Lindenberg gerade erst seinen ganz großen Wurf gelandet. Und entgegen aller Wahrscheinlichkeit, trotz fortwährender Alkohol- und Nikotinexzesse, weilt er sogar heute noch unter uns und hat gerade erst seinen 77. Geburtstag würdevoll begangen – bei bester Gesundheit, nach allem, was man weiß.
Damals, vor 50 Jahren, hatte der Panikrocker im Frühstadium immerhin schon ein beachtliches Frühwerk mit kleinen Hits wie “Hoch im Norden” und “Candy Jane vorgelegt, dem er nun mit “Alles klar auf der Andrea Doria” sein ultimatives Meisterwerk folgen ließ. Auf dieser Platte stimmte einfach alles, jeder Song ein Volltreffer!
Vor allem aber widmete sich der junge Lindenberg in seinen Songtexten mit viel Chuzpe, Naivität und gesundem Menschenverstand auch heiklen politischen Fragen wie den innerdeutschen Beziehungen: Wenn man sich innerhalb ein und derselben Stadt nicht frei bewegen darf und der westliche Besucher seine östliche Geliebte hinter Mauern eingesperrt zurücklassen muss, dann ist etwas ganz grundsätzlich nicht in Ordnung. “Wir woll’n doch einfach nur zusammen sein”, heißt es im Song “Mädchen aus Ost-Berlin”, mit dem die sehr spezielle Beziehung zwischen dem “kleinen Udo” und der seitdem immer größer werdenden Zahl seiner Fans in der Deutschen Demokratischen Republik ihren Anfang nahm. Immer wieder gab es fortan DDR-Bezüge in den Lindenberg-Songs, kulminierend im “Sonderzug nach Pankow”, der 1983 sogar für eine Art kleine deutsch-deutsche Staatsaffäre sorgte. Wenn sich in 40 Jahren deutscher Teilung dann doch noch so viel Verbindendes zwischen Ost- und Westdeutschen erhalten hat, dann ist das nicht zuletzt solchen unermüdlichen Brückenbauern wie Udo Lindenberg zu verdanken.
Weiterhin finden sich auf der “Andrea Doria”-Platte epochale Songperlen wie das zarte Liebeslied“ Cello”, das fast schon existentialistische “Er wollte nach London” oder das melancholische “Nichts haut einen Seemann um”. Und wie radikal modern war seinerzeit der Text von “Ganz egal”: “Und wieso auch nicht / Es ist doch ganz egal / Ob du ein Junge oder ‘n Mädchen bist”. Kurzum, diese Platte und ihr Nachfolger “Ball Pompös” (1974) sind das Beste, was Udo Lindenberg jemals geschaffen hat. Das Urteil lautet: sehr gut (16 Punkte).
Udo Lindenberg & das Panikorchester
Alles klar auf der Andrea Doria
Telefunken/ Warner 1973
ASIN: B000069K14
justament.de, 8.5.2023: Wie mein Urgroßvater 22.000 Reichsmark verlor
Recht historisch: Vor 100 Jahre tobte die Hyperinflation in Deutschland
Thomas Claer
Heinrich Friedrich Christian Nützmann (1873-1926), mein Urgroßvater von der väterlichen Seite meiner Mutter, war Schäfermeister im mecklenburgischen Groß Lunow in mindestens dritter Generation. Wie auch über meine anderen Urgroßeltern weiß ich nicht gerade viel über ihn. Doch ist mir oftmals, und stets mit warnendem Unterton, von meiner Mutter berichtet worden, wie ihr sieben Jahre vor ihrer Geburt verstorbener Großvater in der Hyperinflation im Jahr 1923 seine gesamten Ersparnisse verlorenen hat. Es soll sich um eine Summe von 22.000 Reichsmark gehandelt haben, was für einen Schäfermeister in der damaligen Zeit ein außergewöhnlich hoher Betrag gewesen sein muss. Mein Urgroßvater wird also in seinem Beruf nicht schlecht verdient, sparsam gewirtschaftet und vielleicht auch etwas von seinen Eltern geerbt haben. Doch hat er seine bemerkenswerten Ersparnisse leider nicht in Sachwerten angelegt, sondern das Geld stattdessen seinen Vettern geliehen, die damit Häuser für sich gebaut haben. Als dann schließlich ein Brot mehrere Millionen Reichsmark kostete, legten ihm die frechen Cousins die nun beinahe wertlos gewordenen Geldbündel auf den Tisch: “Hier, Heinrich, hast du dein Geld zurück.” Von diesem Missgeschick hat sich mein Urgroßvater offenbar nie mehr richtig erholt, denn kaum drei Jahre darauf hat ihn die Tuberkulose hinweggerafft. Er war erst 52 Jahre alt.
Auch mein anderer Urgroßvater von der väterlichen Seite meines Vaters – Todesjahr 1930 – ist nur 53 Jahre alt geworden. Bei ihm ist nicht einmal die Todesursache überliefert, ja vermutlich damals gar nicht erst genauer ermittelt worden. Seinerzeit galt es als keineswegs ungewöhnlich, wenn jemand bereits mit Anfang fünfzig den Löffel abgab. Für uns Heutige fühlt sich ein solches Alter – toi, toi, toi – eher nach Lebensmitte an. Es ist schon ein nicht zu unterschätzendes Privileg, in Zeiten mit exzellenter medizinischer Versorgung leben zu dürfen.
Nur ein einziges Mal hat meine Mutter die Geschichte vom Reinfall ihres Opas in der Hyperinflation von ihren Eltern erzählt bekommen, als diese sich während einer Auseinandersetzung in höchster Erregung befanden. Es war ihnen wohl auch irgendwie peinlich, ein solches Desaster ihres Vaters und Schwiegervaters zuzugeben, das er schließlich durch sein unkluges Verhalten maßgeblich selbst mit herbeigeführt hatte. Aber wie sollte ein Schäfermeister, mutmaßlich ohne tiefere Einblicke in die weltökonomischen Zusammenhänge, in Fragen von Kriegskrediten, Reparationsforderungen der Siegermächte nach dem verlorenen Weltkrieg und die abenteuerliche Finanzpolitik der Reichsregierung, denn ahnen können, dass sich der Wert seiner langjährigen Ersparnisse so einfach von heute auf morgen in Luft auflösen könnte? Vielleicht war mein Urgroßvater auch zu gutmütig, sah für sich selbst und seine Familie (noch) nicht die Notwendigkeit eines Hausbaus oder Immobilienerwerbs, da sie bereits gut und kostengünstig untergebracht waren, während ihn seine Vettern womöglich flehentlich um Kredit für ihre Projekte baten.
Nur ein einziger konkreterer Hinweis auf die Wesenszüge meines Urgroßvaters ist überliefert. Meine Mutter berichtete mir, wie sie als kleines Mädchen von einem Nachbarn namens Bauch angesprochen wurde, der überall nur auf Plattdeutsch “Bauch mit dat een Pierd” genannt wurde, weil er genau ein Pferd besessen haben soll. Herr Bauch also sagte zu ihr: “Din Grotvadder, den hef ick ok kennt. Dat is’n gaanz muulfuuln Minschen wast.” (Hochdeutsch in etwa: “Deinen Großvater habe ich auch gekannt. Das ist ein gaaanz maulfauler Mensch gewesen.”) Mein unglückseliger Urgroßvater war also, wenn man den Aussagen von “Bauch mit dat een Pierd” trauen kann, schweigsam und introvertiert.
Seine Ehefrau hingegen, meine Urgroßmutter Anna Nützmann, geborene Riedler, genannt nach ihrem Geburts- und langjährigen Wohnort Oma Lunow, ist stets als energisch und resolut beschrieben worden. Sie war 15 Jahre jünger als mein Uropa und hat ihn nach dessen Tod noch um 45 Jahre überlebt. Sie starb erst wenige Monate vor meiner Geburt 1971, nachdem sie wohl schon lange Jahre im Haus meiner Großeltern gelebt hatte. Allerdings galt sie als sehr in traditionellen Geschlechtervorstellungen verhaftet. Wenn mein Vater, so hat er es mir später oft erzählt, nach dem Essen bei seinen Schwiegereltern den Tisch mit abdecken wollte, wies ihn Oma Lunow stets mit ihrem Stock in Richtung Sofa und sagte zu ihm: “Do lech di hin!” (Also: “Du leg dich hin!”) Sie war der Meinung, dass Männer sich am besten von jeder Hausarbeit fernhalten sollten. Meine Mutter berichtete mir oftmals, wie sie als junges Mädchen gerne auf den Dachboden ging, wo interessante Bücher lagen. Doch ihre Großmutter, Oma Lunow, schimpfte dann immer: “Is se all wedder bi de Bäukers?” (Also: “Ist sie schon wieder bei den Büchern?”) Nach ihrer Ansicht sollte ein junges Mädchen nämlich lieber Hausarbeiten verrichten, als Bücher zu lesen. Dennoch hat sich meine Mutter später nicht davon abhalten lassen, Medizin zu studieren.
Fünf Kinder hatten Heinrich und Anna Nützmann, von denen jedoch vier schon mehr oder weniger früh verstarben. Nur mein Großvater Erich Nützmann (1910-1985) konnte eine Familie gründen. Zwei seiner Geschwister haben bereits das frühe Kindesalter nicht überlebt. Sein ein Jahr älterer Bruder hat sich Anfang 1933 im Alter von 24 Jahren selbst eine Kugel in den Kopf geschossen, weil er verlobt war, aber eine andere junge Dame geschwängert hatte. Eine solche Schande war für ihn so unerträglich, dass er seinem jungen Leben ein Ende setzte. Der zehn Jahre jüngere Bruder meines Opas blieb im Krieg in der Sowjetunion verschollen und wurde schließlich für tot erklärt.
Ich habe meinen Opa mütterlicherseits noch gut kennengelernt, denn als er 1985 starb, war ich schon 13 Jahre alt. Unvergesslich sind mir seine zornigen kraftvollen Faustschläge entweder auf den Fernseher, wenn das Bild flackerte, oder auf den Tisch, wenn ich irgendetwas nicht essen mochte. Als ich dann auf seine Ermahnung “Was auf den Tisch kommt, wird gegessen!” mit der unverfrorenen Frage reagierte, ob ich denn auch die Teller und Tassen und Bestecke essen solle, die kämen doch schließlich auch auf den Tisch, wurde er wütend und drohte mir Schläge an, was er aber, anders als meine Mutter, niemals umgesetzt hat. Sah er hingegen, wie ich am Abendbrotstisch die überstehenden Enden der Wurst- und Käsescheiben auf meinen Broten zurechtschnitt, um sie exakt der Form des geschnittenen Brotes anzupassen, dann freute er sich darüber sehr und sagte: “Dat hätt hei von mir.” (“Das hat er von mir.”) Dabei hatte ich es mir wahrscheinlich gleichermaßen von meinen Eltern abgeschaut…
Mein Opa (auf dem obenstehenden Foto neben meiner Oma), der sein Leben lang ein begeisterter Kleingärtner war, hatte keine hohe Schulbildung genossen, war gelernter Stellmacher, d.h. er baute Wagenräder aus Holz, und wurde später nach der Verdrängung der Pferdewagen durch das Automobil zum Tischler umgeschult. Dennoch hat er zeitlebens viel gelesen. Immer, wenn er nicht gerade fernsah, sah ich ihn lesend im Sessel sitzen, entweder den Lokalteil der Tageszeitung “Freie Erde”, die auf ihren vorderen Seiten genauso unleserlich war wie alle anderen DDR-Zeitungen auch, oder die “Wochenpost”, zu deren glücklichen Abonnenten meine Großeltern gehörten. Diese Zeitschrift, die damals im Osten als allseits begehrte “Bückware” galt, enthielt zwar keine offen systemkritischen, aber doch mitunter doppeldeutige und manchmal sogar ironische Texte und Reportagen über den tristen DDR-Alltag, dazu auch anspruchsvolle Kulturberichte. Mein Opa las jede Ausgabe der Wochenpost komplett von vorne bis hinten, manchmal aber auch ganze Bücher. Sein ´Lieblingswerk waren “Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk” von Jaroslav Hasek, die ihn wohl an seine eigenen Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg erinnert haben. Dort war er lange Jahre in sowjetischer Gefangenschaft geblieben, wohl auch, weil er zu einer Kompanie gehörte, die an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen sein soll. Niemals hat er darüber gesprochen, überhaupt hat er so gut wie nichts von früher erzählt. Und schon gar nicht von seinem Vater, der in der Hyperinflation 22.000 Reichsmark verloren hat. Mein Opa war damals 13 Jahre alt, muss also schon eine Menge davon mitbekommen haben. Wie wäre sein Leben verlaufen, wenn sein Vater, der Alleinernährer der Familie, nicht so früh gestorben wäre? Wenn es für ihn keinen wirtschaftlichen Druck gegeben hätte, so früh die Schule zu verlassen und einen Beruf zu erlernen? Wenn die 22.000 Reichsmark (oder womöglich sogar noch viel mehr) am Ende bei ihm als Alleinerben gelandet wären? Hätte er damit etwas anfangen können?
Ich habe meinen Opa nur schwerhörig erlebt, was von seinem langjährigen Job im Sägewerk herrührte. Sein großes Glück waren seine immer auf maximale Lautstärke gestellten Kopfhörer, mit denen er fernsah, denn nur mit ihrer Hilfe konnte er alles verstehen, was dort gesagt wurde. Bestimmt hätte er auch gerne mal Westfernsehen geguckt, aber dafür war der Empfang zu schlecht. So musste er mit dem äußerst langweiligen DDR-Fernsehen vorliebnehmen und hat sich dennoch nie darüber beklagt. Sein Sohn, der ältere Bruder meiner Mutter, der nur ein paar Häuser weiter wohnte, empfing dank einer riesigen Antenne auf dem Dach gestochen scharfes Westfernseher, am Ende sogar in Farbe. Aber um so etwas auch zu bekommen, hätte mein Opa seinen Sohn darum bitten müssen, dies für ihn zu organisieren. Und das wäre meinem Opa, der sehr stur war, nie in den Sinn gekommen, denn er hatte zu seinem Sohn kein besonders gutes Verhältnis. Meine Mutter meinte, mein Opa sei eifersüchtig gewesen auf seinen eigenen Sohn, weil meine Oma vor allem ihren Sohn und weniger ihren Mann, meinen Opa, so angehimmelt hätte…
Politisch hatte mein Opa keine bestimmte Meinung. Er war nur der Ansicht, mit ihm und den kleinen Leuten könnten die Regierenden, egal in welchem System, es ja machen. Ihn habe nie jemand gefragt, wie er etwas finde. Da seien die DDR-Politiker nicht besser als die früheren oder die ganz früheren, und dass die im Westen besser sein könnten, das konnte er sich auch nicht vorstellen…
Mein Opa hing sehr an meiner Oma. Als sie schon mit Mitte 60 dement wurde und bald niemanden mehr erkannte, wurde mein Opa trübsinnig und begann immer mehr zu trinken. Im Stall hinter seinem Haus türmten sich die von ihm geleerten Schnapsflaschen. Jedes Mal, wenn meine Eltern und ich meine Großeltern besuchten, nahmen wir eine große Kofferraumladung leere Schnapsflaschen mit nach Hause, wo wir sie dann zum Altstoffhandel brachten und ich die Quittungen mit in die Schule nehmen konnte. Es gab ja in der DDR immer den großen Schülerwettbewerb, wer am meisten Altstoffe, also hauptsächlich alte Flaschen, Gläser und Zeitungen, gesammelt hatte. Viele meiner Mitschüler zogen dafür von Haus zu Haus und erbaten sich die Altstoffe ihrer Nachbarn. Das hatte ich nicht nötig, weil ich von meinem Opa stets mit so vielen leeren Schnapsflaschen versorgt wurde, dass ich in diesem Wettbewerb mehrmals Spitzenplätze belegte…
Als meine Oma gestorben war, verließ meinen Opa vollkommen der Lebensmut. Nur wenige Monate später wurde er, der bis dahin als kerngesund galt, mit einer leichten Infektion ins Krankenhaus gebracht, wo er dann kurz darauf 75-jährig verstarb. Seine drei Enkelkinder, also meine beiden Cousinen und ich, haben den Fehler seines Vaters, unseres Urgroßvaters, vermieden und den größten Teil unserer jeweiligen Vermögen in Sachwerten angelegt.
justament.de, 1.5.2023: Verlassen in Berlin
Element of Crime auf ihrem 15. Studio-Album “Morgens um vier”
Thomas Claer
Dass Element of Crime, die erklärten Lieblinge überwiegend großstädtischer Nachtmenschen, Melancholiker und Romantiker, sich zuletzt auf jeder neuen Platte noch etwas stärker als jeweils zuvor präsentierten, das konnte man so langsam fast schon beängstigend finden. Doch nun, im 39. Jahr ihrer Bandhistorie, ist dieser langjährige Trend gebrochen. Mit ihrem jüngst erschienenen neuen Album lassen sie, auf hohem Niveau zwar, aber doch unverkennbar, ein wenig nach. Aber auch wenn “Morgens um vier” nicht ganz mit dem Vorgänger “Schafe, Monster und Mäuse” von 2018 mithalten kann, so hält es für den geneigten Hörer doch genügend Höhenpunkte bereit, um ihm zumindest den diesjährigen bislang so nasskalten Frühling gebührend zu versüßen.
Überzeugen kann vor allem der Beginn. Das erkennbar in der Corona-Zeit entstandene “Unscharf mit Katze” ist ein mustergültiger EoC-Song erster Güte, der all das enthält, was diese Band so groß und bedeutsam gemacht hat: scheppernde Gitarrenriffs, wuchtige Trompeteneinschübe, Sven Regeners knarzig-angerauten Gesang und eine wie gewohnt ausgefeilte, hintersinnige Textdichtung. Doch gerade hier, bei den Texten, läuft es diesmal, wenn man das ganze Album betrachtet, weniger rund als zuletzt. Neben lyrischen Glanzleistungen (“Aus unsren Mündern kommen Schall und Rauch”) stehen mitunter wenig schlüssige Sprachbilder wie bereits im Eröffnungssong das von der unscharf aufgenommenen Katze und der Axt in den Händen, bei denen man sich in der Tat fragen muss, worauf sie hinauslaufen sollen. Dies gilt auch für manche Passage der anderen Songs, etwa den rätselhaften Refrain “Was mein ist, ist auch dein”. Nachvollziehbarer ist da schon das auf recht witzige Weise den Trivialautor Johannes Mario Simmel zitierende “Liebe ist nur ein Wort”. Sehr schön und stimmungsvoll geraten, sowohl textlich wie auch musikalisch, sind das Titel- und zugleich Schlussstück “Morgens um vier” sowie das gemeinsam mit dem Isolation-Berlin-Sänger Tobias Bamborschke eingesungene “Dann kommst du wieder”, das einen irgendwie an den mehr als dreißig Jahre alten “Weeping Song” von Nick Cave im Duett mit Blixa Bargeld erinnert.
Thematisch kreisen die Lieder auf bewährte Weise – und insofern dann doch ans Vorgängeralbum anknüpfend – auffällig oft um die Themenfelder liebeskrankes, verlassenes lyrisches Ich und Berlin, gerne auch beides miteinander verbindend wie in “Ohne Liebe geht es auch” und “Wieder Sonntag”, das endlich einmal der Flohmarktkultur unserer Hauptstadt ein verdientes Denkmal setzt. Was die Kompositionen auf dieser Platte angeht, so fallen zwar auch sie etwas hinter diejenigen auf den vorherigen Alben zurück, doch sind sie dabei nicht unbedingt schlechter als etwa auf “Immer da wo du bist bin ich nie” (2009) oder “Psycho” (1999). Kurzum, für die Liebhaber der Elements hat dieses Album, wenn es auch nicht gerade ihr bestes sein mag, durchaus eine Menge zu bieten. Das Urteil lautet: voll befriedigend (12 Punkte).
Element of Crime
Morgens um vier
Vertigo Berlin (Universal Music)
ASIN: B0BTNSM71K
justament.de, 24.4.2023: Knallhärter
Recht cineastisch, Teil 42: “Sonne und Beton” von David Wnendt
Thomas Claer
Wer sich mal so richtig gruseln will, der sollte sich unbedingt “Sonne und Beton” ansehen, den neuen Film von Regisseur David Wnendt, der sich u.a. mit “Kriegerin” (2011), einer ausgezeichneten Milieustudie über die deutsche Neonazi-Szene, einen Namen gemacht hat. Nun widmet er sich kriminellen pubertierenden Heranwachsenden in Berlin-Neukölln kurz nach dem Millennium in der Literaturverfilmung “Sonne und Beton” nach dem autobiographischen Roman von Felix Lobrecht. Darin geht es ähnlich schockierend zu wie in Detlev Bucks “Knallhart” (2007) – und manchmal sogar noch etwas härter. Das war die Zeit, die frühen und mittleren Nullerjahre, als in Neuköllner Problemschulen der Sicherheitsdienst jeden Schüler zuerst nach Waffen durchsuchte, bevor ihm Einlass ins Schulgebäude gewährt wurde. Und die Klassen-Rowdys warfen dann auch gerne mal mit Schulbänken nach ihren Mitschülern oder gleich nach dem Lehrer. “Der Klügere gibt nach”, hört Lukas (Levy Rico Arcos) immer wieder von seinem Vater, doch sein älterer Bruder weiß es besser: “Der Klügere tritt nach”. Sehr eindringlich schildert der Film die verzweifelte Lage der jungen Menschen in einer von Bandengewalt, Rücksichtslosigleit und Verwahrlosung geprägten Umgebung, in der nur das Recht des Stärkeren zählt. Wer sich dort behaupten will, dem bleibt nicht viel anderes übrig, als früher oder später selbst auf die schiefe Bahn zu geraten.
Mittlerweile hat sich zum Glück vieles in Neukölln zum Besseren gewendet. Dank intensiver Sozialarbeit ist die eine oder andere Problemschule sogar zur Vorzeigeschule geworden. Doch gänzlich verschwunden sind die problematischen Strukturen trotz signifikanter Gentrifizierungstendenzen in mehreren Ecken des Bezirks noch lange nicht, was jüngst auch die Ereignisse der Neuköllner Silvesternacht gezeigt haben…
Sonne und Beton
Deutschland 2023
Länge: 119 Minuten
FSK: 12
Regie: David Wnendt
Drehbuch: David Wnendt, Felix Lobrecht
Darsteller: Levy Rico Arcos, Vincent Wiemer, Rafael Luis Klein-Hessling, Aaron Maldonado Morales u.v.a.
justament.de, 10.4.2023: Vielsagender Nachtrag
Achim Reichel mit seinen “Machines” live in der Elbphilharmonie
Thomas Claer
Dieses Album hatte Achim Reichel unbedingt noch herausbringen wollen – als krönenden Abschluss seines musikalischen Lebenswerks gewissermaßen, als I-Tüpfelchen auf der schier unglaublichen Wiederbelebung seines abgefahrenen Siebzigerjahre-Krautrock-Experiments “A.R. & Machines” in der Hamburger Elbphilharmonie am 15. September 2017. Begleitend zu diesem legendären Konzert ist damals eine opulente Box mit allen Werken aus jener Zeit erschienen, von der “Grünen Reise” (1971) bis zu “Erholung” (1975), und dazu noch mit reichlich unveröffentlichtem Material (Justament berichtete). Doch nun, mehr als ein halbes Jahrzehnt später, kommt auch noch der Konzertmitschnitt hinterher – und dies mit voller Berechtigung, denn im Klangtempel an der Waterkant hat diese einzigartige Musik noch einmal einen ganz eigenen Drive bekommen. Ferner finden sich auf dieser CD auch Stücke, die es nur hier und nirgendwo sonst gibt, wie das Titelstück “Another Green Journey”. Wie es im Booklet heißt, war dieses Projekt für Achim Reichel der gelebte Traum, “das kompromisslos eigene Ding in die Welt zu pflanzen”, sich von den übermächtigen angloamerikanischen Leitbildern zu emanzipieren. Nur hat es dann eben fast noch ein halbes Jahrhundert gedauert, bis diese obskuren Klänge schließlich doch noch ein breiteres Publikum erreicht haben. Es fragt sich nur, warum diese Live-CD unbedingt als Doppelalbum zusammen mit der “Grünen Reise” von 1971 erscheinen muss, über die doch wohl jeder Interesent dieser Musik ohnehin bereits verfügen dürfte.
Die Frage ist nun allerdings, ob das für Achim Reichel schon der Schlusspunkt war, oder ob da vielleicht noch etwas kommen könnte. Gerade ist der mittlerweile 79-Jährige noch einmal auf Deutschland-Tournee gegangen. Was von ihm aber definitiv noch fehlt, ist eine Raritäten-CD. So gibt es etwa seine grandiose Macky-Messer-Version mit Shanty-Chor im Stile seines Shanty-Alb’ms (1976) bislang nur auf Vinyl, nämlich auf seiner 1981 auf dem Ahorn-Label herausgebrachten Werkschau “Rock in Deutschland Vol 7”, die auch noch eine Reihe weiterer Tracks enthält, die auf keinem seiner regulären Alben erschienen sind, wie die Studio-Version von “Sie hieß Mary Ann”. Auch sein Elvis-Presley-Cover “Im Ghetto” (1984) wurde noch nie auf CD gepresst. Es gäbe also zweifellos eine Menge Schätze zu entdecken…
A.R. & Machines
71/17 Another Green Journey: Live at Elbphilharmonie (2CDs)
Bmg Rights Management (Warner) 2022
ASIN: B0BCCY3H19
justament.de, 13.3.2023: Auferstandene Legende
Die Kastrierten Philosophen sind wieder produktiv – nach 26 Jahren!
Thomas Claer
Jede Band von Bedeutung, die sich aufgelöst hat, kommt früher oder später auch wieder zusammen. Das ist so eine Art Naturgesetz der Branche. Die Fans dürsten nach einer Wiedervereinigung, nach neuen Songs von ihren alten Lieblingen, nach Revival-Tourneen und kostbaren Sammeleditionen der alten Veröffentlichungen. Und irgendwann lassen die alten Helden, so sie denn noch am Leben und halbwegs gesund geblieben sind, sich dann endlich breitschlagen und steigen tatsächlich noch einmal in den Ring. Nur bei den Kastrierten Philosophen, den Sonderlingen aus dem Indie-Underground der Achtziger und Neunziger, die damals ein richtig heißer Szene-Act gewesen sind, da war man sich ganz sicher, dass so etwas nie passieren würde.
Seinerzeit waren die beiden Hauptprotagonisten Katrin Achinger und Matthias Arfmann, die auch privat ein Paar waren (am Ende sogar ein Ehepaar mit Kind, um genau zu sein) ja nicht gerade friedlich auseinandergegangen. Auch wenn keine Details bekanntgeworden sind, konnte sich ja jeder an fünf Fingern abzählen, was wohl passiert sein musste: Von heute auf morgen wurde das Band-Projekt eingestellt, und Matthias Arfmann posierte auf seinen bald darauf erscheinenden Solo-Veröffentlichungen an der Seite einer auffällig hübschen jungen exotischen Sängerin. Katrin Achinger hingegen musste sich von nun an als alleinerziehende Mutter durchschlagen und war so begreiflicherweise musikalisch weitgehend ausgebremst…
In einem Interview berichtete sie lange Jahre später davon, wie hart diese Zeit für sie gewesen ist. Irgendwann stellte sie sich beruflich neu auf wurde Englisch-Lehrerin an einer Volkshochschule in Hamburg. Hach, wenn man damals in Hamburg gewohnt und davon Wind bekommen hätte, dann hätte man sich aber schnurstracks zum Englisch-Kurs bei Katrin Achinger angemeldet und sich alle seine geliebten Philosophen-Platten und CDs von ihr signieren lassen. Man hätte ihrer wunderbaren Stimme gelauscht, wie sie die Vokabeln deklamiert…
Aber genug der Vorrede. Die Kastrierten Philosophen, es ist wirklich kaum zu glauben, sind tatsächlich wieder da. Offenbar haben sie sich zusammengerauft, einander verziehen, sich auf ihre so überaus fruchtbaren gemeinsamen 15 Jahre besonnen. Jetzt, wo beide um die sechzig und darüber wohl auch ein Stück weit altersmilde geworden sind… Ein Best of-Album ist also nun entstanden, das insgesamt 17 Titel enthält, darunter sogar zwei neue. Loben muss man zunächst das bunt gemusterte Platten-Design, das großartigerweise rechts unten auf der Vorderseite die beiden Strichmännchen zeigt, die schon ihre allererste selbstbetitelte MC in den frühen Achtzigern geschmückt haben. Auch die CD selbst in Schallplattenoptik und mit pechschwarzer Rückseite (und trotzdem lässt sie sich problemlos abspielen!) ist ein Augenschmaus. Und selbstverständlich ist auch lauter gute Musik auf der Scheibe enthalten. Allein, das Beste von dieser Band? Nein, das bleibt leider ausgespart.
Gerade einmal ein einziges meiner zahlreichen Lieblingslieder von den Philosophen, nämlich “Toilet Queen”, befindet sich auf der Platte. Als ob sie sich bei der hier vorgenommenen Auswahl aus ihrem Oeuvre bewusst auf die tendenziell harmloseren, ja mitunter fast schon gefälligen Titel beschränkt hätten. Das ganz schräge Zeug, der ganz heiße Stoff hat es leider nicht aufs Album geschafft. Wo bleiben “Decadent Café” und “Faceless Fuckparade”, “Endzeitliebe” und “Hard Break Hotel”? Was ist mit “Lens Reflects Fear”, “Call Yourself a Liar”, “Gun Beat Babes 2” und “¿Por Qué Lloras?” Und warum fehlen “40th Generation” und “Cyrenaika”, “Privacy” und “Tyrants Of Insomnia”? Ebenso vergeblich sucht man nach “She’s Allergic” und “Peeping All”. Eigentlich müssten sie gleich noch eine weitere Best-of-the-Rest-Platte raushauen. Allerdings ist leider zu befürchten, dass sich das wohl wirtschaftlich nicht rechnen würde. Denn so viele Fans aus alten Tagen außer einem selbst sind dann vermutlich doch nicht mehr übriggeblieben. Wie konnte eine so fantastische und außergewöhnliche Musik nur dermaßen in Vergessenheit geraten? Es wird höchste Zeit, sie wieder oder neu zu entdecken!
Ach ja, es sind wie gesagt auch noch zwei neue Songs auf der Platte. Tja, man freut sich natürlich sehr darüber, mal etwas Neues von ihnen zu hören. Und es ist ja auch nicht ganz schlecht, aber eben doch längst nicht so gut wie die alten Sachen. Der letzte Song des Albums, das Titelstück “Jahre” mit einem sehr philosophischen Text in deutscher Sprache (der dem Bandnamen alle Ehre macht) ist schon vor einigen Jahren unter dem Titel “Hans im Glück” von Katrin Achingers Band “Flight Crew” herausgebracht worden, was aber vollkommen in Ordnung geht.
Kastrierte Philosophen
Jahre. 1981-2021 + 1
about us records 2022
LC 92196
justament.de, 27.2.2023: Gespenstisches Vergnügen
Recht cineastisch Spezial: Die Ausstellung “Phantome der Nacht: 100 Jahre Nosferatu” in der Sammlung Scharf-Gerstenberg
Thomas Claer
Vampire haben Konjunktur – und das schon seit 1897, als der epochale Roman “Dracula” des irischen Schriftstellers Bram Stoker erschienen ist. Besonders für manche Frauen ist es offenbar eine erregende Vorstellung, von so einem finsteren Gesellen lustvoll in den Hals gebissen zu werden. Klar, dass sich bald darauf auch das damals junge Medium Film immer wieder dieses gruseligen Sujets angenommen hat. Der Prototyp des Vampir-Films allerdings kommt aus Deutschland und wurde vor einem Jahrhundert unter dem Titel “Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens” von Regisseur Franz Murnau erschaffen. Eine sehenswerte Ausstellung in der Sammlung Scharf- Gerstenberg” gegenüber dem Schloss Charlottenburg widmet sich nun (und noch bis zum 23. April) den vielfachen Bezügen dieses Films zur bildenden Kunst.
Die Vampir-Mode hat nämlich zu dieser Zeit auch in der Malerei allerhand Blüten getrieben – so wie auch viele weitere Nebenaspekte im Nosferatu-Film, die sich ebenfalls in zahlreichen bildnerischen Werken nachweisen lassen. Die auf Werke des Surrealismus spezialisierte Berliner Sammlung Scharf-Gerstenberg hat es sich daher nicht nehmen lassen, eine Fülle an Kunstobjekten sowie zeithistorischem Material rund um das Thema Vampirismus zusammenzutragen, um so diesem großen expressionistischen Stummfilm zu huldigen. Gekonnt spielen die Ausstellungsmacher dabei, ganz ähnlich, wie es bereits der Film getan hat, mit Licht- und Schatten-Effekten. Immer wieder zuckt man als Besucher zusammen, wenn sich plötzlich eine bedrohliche Schattengestalt vor, neben oder hinter einem aufbaut. Für Kinder und Heranwachsende dürfte dies von besonderem Reiz sein.
So, wie man es sich wünscht, lässt sich in der Ausstellung auch der Nosferatu-Film selbst noch einmal vollständig und auf großer Leinwand zu Gemüte führen. Die Handlung ist im Wesentlichen vom Dracula-Roman inspiriert, spielt aber statt in London in der fiktiven norddeutschen Kleinstadt Wisborg, hinter der unschwer das von seiner prächtigen Altstadt geprägte Wismar zu erkennen ist, wo auch der größte Teil der Dreharbeiten stattgefunden hat. (Einige Szenen wurden aber auch in Lübeck und Rostock gedreht.)
Im Zentrum der 1838 spielenden Handlung steht ein Immobilienkauf: Graf Orlok (Nosferatu) aus Siebenbürgen kauft sich ein Haus in der Ostsee-Hafenstadt, wozu es nach damaligem Recht aber offenbar nicht einmal eines Notartermins bedarf. Hingegen ist auch schon vor fast 200 Jahren ein geschäftstüchtiger Immobilienmakler im Spiel, der – was niemanden verwundern dürfte – mit dem Vampir gewissermaßen unter einer Decke steckt. Was einem aber schon reichlich seltsam vorkommen kann, ist der Umstand, dass Graf Orlok samt seinem Sarg, in dem er zu nächtigen pflegt, aus Transsilvanien ausgerechnet auf dem Seeweg bis nach Norddeutschland reist (über Schwarzes Meer, Mittelmeer, Atlantik, Nord- und Ostsee!), was schon ein sagenhafter Umweg ist. Aber das musste wohl so sein, denn andernfalls hätte es ja die phänomenalen Bilder von Nosferatu auf dem Segelschiff nie gegeben!
Sammlung Scharf-Gerstenberg, Schloßstraße 70, 14059 Berlin. Sonderausstellung: “Phantome der Nacht: 100 Jahre Nosferatu”. Noch bis 23. April 2023.
justament.de, 20.2.2023: Von Russland lernen…
Nationale Neueste Nachrichten
Thomas Claer
Prinz Heinrich XIII. meldet sich zu Wort, in den Abendnachrichten, zur besten Sendezeit, mit einer Ansprache an das deutsche Volk. Das Scholz-Regime hat abgedankt. Die nationale Querfront hat nunmehr das Kommando übernommen, unterstützt von den volkstreuen Kräften der früheren Bundeswehr, die nun endlich wieder den stolzen Namen Wehrmacht tragen darf. Die Angehörigen dieser notorischen Quasselbude namens Bundestag wurden bereits sämtlich inhaftiert, mit Ausnahme des völkischen Lagers aus AfD und Teilen der Linkspartei, die ab sofort das neue deutsche Parlament, den Reichstag, stellen, der künftig die Beschlüsse der neuen Reichsregierung unter Führung von Prinz Heinrich in treuer Ergebenheit absegnen wird. Als Angehörige der zunächst kommissarischen Reichsregierung werden vorgestellt: Reichsaußenminister Bernd Höcke, Reichsinnenminister Alexander Gauland, Reichsjustizminister Hans-Georg Maaßen, Reichspropagandaministerin Alice Weidel, Reichsfamilienministerin Beatrix von Storch und Reichsarbeitsministerin Sahra Wagenknecht. Niemand soll sagen, dass wir die Frauenquote nicht einhalten. Für das Amt des Reichspräsidenten ist bereits Thilo Sarrazin angefragt.
Sodann trägt der frischgebackene Reichsaußenminister Höcke seine außenpolitische Agenda vor: Lange Jahre haben wir den Provokationen und Bedrohungen unserer Nachbarn tatenlos zugesehen. Sie wollen uns vernichten, daran besteht kein Zweifel, aber jetzt ist das Maß voll. Seit fünf Uhr 45 wird zurückgeschossen. Unsere Truppen haben Elsass-Lothringen und das Sudetenland bereits komplett eingenommen. Das gleiche gilt für Österreich. Dieses Gebiet ist urdeutsches Kernland. Dass man es jemals für einen eigenen Staat gehalten hat, ist ein Irrtum der Geschichte; siehe dazu den jüngst von Prinz Heinrich publizierten Aufsatz “Über die historische Einheit von Deutschen und Österreichern”. Es ist unser gutes Recht, uns das zurückzuholen, was uns zusteht. Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt!
Kein einziger Leopard-Panzer wird mehr an die Ukraine geliefert. Das zieht doch eh nur den Krieg dort, ach was: die militärische Spezialoperation sinnlos in die Länge. Das russische Volk soll sich nehmen, was ihm gehört. Ein Land namens Ukraine hat es nie gegeben. Was reden manche Leute vom Baltikum und von Moldawien? Solche Länder kennen wir nicht. Wir nennen diese Gebiete Nowaja Rossia. Das südöstliche Polen soll unser Freund Putin bitte auch gleich mitübernehmen. Dann können wir nämlich aus der anderen Richtung endlich wieder in Ostpreußen, Pommern und Schlesien einmarschieren. Allerdings müssen wir mit Putin noch mal über Königsberg reden, denn dort wurde schließlich Preußen gegründet. Darauf kann ein deutscher Staat unmöglich verzichten. Das wäre ja gerade so wie Serbien ohne Amselfeld oder Russland ohne die Krim. Wir stellen ein Ultimatum zur Anerkennung der Grenzen von 1939 innerhalb von zwei Wochen. Jeder, der sich uns in den Weg stellt, wird Dinge erleben, die er noch nie erlebt hat. Pardon wird nicht gegeben! Jeder Schuss ein Russ! Jeder Tritt ein Brit! Jeder Stoß ein Franzos!
Glückwünsche zur Machtübernahme kommen bereits aus Budapest von Viktor Orban, ebenso aus Pjöngjang, Nicaragua, Iran und Venezuela. Natürlich auch von der heldenhaften Junta in Myanmar und von den Taliban aus Kabul. China beobachtet den Machtwechsel in Berlin mit wohlwollender Neutralität, ebenso Saudi-Arabien. Der türkische Präsident Erdogan stellt eine enge Zusammenarbeit mit der neuen Reichsregierung in Aussicht, sofern sie bereit sei, endlich alle Terroristen auszuliefern, die in Deutschland noch immer frei herumrumlaufen. Vor allem gelte das für alle diese feindlichen Elemente, die sich Kurden nennen, aber in Wirklichkeit nur gemeine Bergtürken sind.
Eine Woge der Begeisterung zieht durch das wieder erwachte Deutschland. Germany first! Am deutschen Wesen soll die Welt genesen! Deutschland, Deutschland über alles! Denen, die jetzt ihre Koffer packen und schnell ins Exil gehen, weinen wir keine Träne nach. Wir werden sie ausspeien wie ein lästiges Insekt. Aber wenn es zu viele werden sollten, die abhauen, dann passt mal gut auf: Wir können auch ganz anders, können in kürzester Zeit wieder eine Mauer, d.h. einen antifaschistischen Schutzwall, um unser Land errichten. Die Gegner unserer völkischen Ordnung sind nämlich allesamt Nazis! Jawohl, denn wer Nazi ist, bestimmen immer noch wir. Die schlimmsten Nazis waren übrigens die Juden. Hatte nicht Hitler auch jüdische Vorfahren? So war es doch, oder irren wir uns da?
Unsere Soldaten sollen sich nicht fürchten, wenn sie in die… äh… militärische Spezialoperation ziehen. Es gibt ja wohl Schlimmeres als den Tod. Süß und ehrenvoll ist es doch, fürs Vaterland zu sterben. Andere sterben, weil sie sich totsaufen. Also dann doch wohl lieber auf dem Schlachtfeld. Wer im Kampfe fällt, hat doch sein Lebensziel erreicht. Und wenn wir nicht mehr genug Soldaten haben, dann gibt es eben eine allgemeine Mobilmachung. Das wäre doch gelacht!
Sollte jemand etwas dagegen sagen, dann gelten unsere neuen “Bestimmungen gegen die Verbreitung von Falschinformationen”. Da kennen wir keine Gnade. Beim ersten Mal gibt es nur eine drakonische Geldstrafe, wir sind ja keine Unmenschen. Aber schon beim zweiten Mal geht es direkt in den Knast. Und für den Fall, dass sich höhere Verwaltungsleute oder gar Prominente künftig auf unpassende Weise äußern: Es passieren ja ständig irgendwelche Unfälle. Die Leute fallen aus dem Fenster oder sie vergiften sich versehentlich beim Essen und Trinken. So etwas kann schon mal vorkommen. Von Russland lernen, heißt siegen lernen. Heil dir, Prinz Heinrich! Hipp, hipp, hurra!
justament.de, 13.2.2023: Solo zum Dritten
Stella Sommer auf “Silence Wore a Silver Coat”
Thomas Claer
Eigentlich wäre jetzt eher mal ein neues Album von “Die Heiterkeit” dran gewesen, der Nachfolger des grandiosen “Was passiert ist” von 2019. In den trüben Corona-Jahren sollte doch viel Zeit zum Schreiben neuer Songs gewesen sein. Immerhin das letzte stimmt. Doch Stella Sommer überrascht uns nun stattdessen mit einem weiteren Solo-Album, dem mittlerweile dritten, das nur gut zwei Jahre nach dem Vorgänger “Northern Dancer” erscheint und nicht weniger als 24 (vierundzwanzig!) englischsprachige Songs enthält.
Natürlich, Stella Sommer reitet nach all den enthusiastischen Kritiken ihrer jüngsten Werke auf der Erfolgswelle (auch wenn sie, was die Plattenverkäufe angeht, noch längst nicht in der Champions League angekommen sein mag), da darf es auch schon mal ein bisschen mehr sein. Das Problem ist nur, dass hier vielleicht etwas weniger letztlich doch mehr gewesen wäre. Denn wenn auf einem Album mit zwölf Titeln vier davon brillant sind und der Rest ganz ordentlich ist, dann gilt das schon als Spitzenplatte. Wenn aber von 24 Songs vier großartig sind und der Rest teils ganz okay und teils etwas schwächer, dann kann das leicht den Genie-Status der Künstlerin in Frage stellen. Andererseits bleibt aber festzuhalten, dass es auf “Silence Wore a Silver Coat” (Was für ein großartig poetischer Albumtitel!) auch keine Totalausfälle gibt. Dafür ist Stella Sommer wohl mittlerweile auch zu stilsicher geworden in ihren unermüdlichen Beschwörungen des Sixtees-Spirits.
Zwei der besagten vier Höhepunkte der Platte befinden sich ganz am Anfang: der Opener “A Single Thunder in November” und der darauffolgende Titelsong. Hier wird gleichsam der Ton gesetzt für die atmosphärische Kolorierung, die auch im weiteren Verlauf des Albums durchgängig beibehalten wird. Die beiden weiteren Highlights sind dann aber weiter hinten versteckt: “Sorrow Had a Brother” und ganz besonders “A Special Kind of Lostness”. So, als “besondere Art der Verlorenheit” ließe sich im Übrigen auch das gesamte Solo-Werk von Stella Sommer charakterisieren. Und ganz allgemein ist an dieser Stelle auch ihre stets klangvolle und metaphernreiche englische Textdichtung zu loben, wenn auch der Rezensent dies mangels einschlägiger Sprachkompetenz leider nur sehr eingeschränkt zu beurteilen vermag… Das Urteil für diese Platte lautet jedenfalls: voll befriedigend (11 Punkte).
Stella Sommer
Silence Wore a Silver Coat
Buback Tonträger 2022
justament.de, 30.1.2023: Der Schick des Ostens
Recht cineastisch, Teil 41: “In einem Land, das es nicht mehr gibt” von Aelrun Goette
Thomas Claer
Gerade erst dreieinhalb Jahrzehnte liegt das alles nun zurück, und doch kommt es einem vor, als ob die alte DDR, der selbsternannte erste Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden, den realsozialistischen Einheitsbrei-Löffel schon vor einer halben Ewigkeit abgegeben hätte. Und so wirken heute Filme, die in jener Epoche spielen, auf den Betrachter ähnlich entrückt wie Wildwest- oder Mantel- und Degen-Filme – oder wie die Landschaften aus verwunschenen Königreichen in Grimms Märchen. Eine Mischung aus Historienschinken und Kostümspektakel ist dann auch der neue Film der Berliner Regisseurin Aelrun Goette geworden, der erstmals eine bislang kaum beachtete Nische der damaligen ostdeutschen Gesellschaft ausleuchtet: die Modeszene der DDR. Doch, so etwas hat es sehr wohl gegeben, und sie hat in diesem sehr besonderen Biotop sogar ziemlich besondere Blüten getrieben.
Auf der einen Seite gab es da die streng formalistisch durchgestylte Welt rund um die einzige DDR-Modezeitschrift „Sibylle“, der die Staatsmacht ganz erstaunliche Freiheiten einräumte. Man kann sogar sagen, dass diese Ost-Mode, fernab von Popularitäts- oder gar Profitabilitätskriterien und im selbstbewussten Gegensatz zum durchkommerzialisierten Westen, eine ganz eigene Ästhetik hervorgebracht hat. Und auf der anderen Seite war da, wenn auch vornehmlich nur in Ost-Berlin, der wild-anarchische Underground, der sich aus diversen Subkulturen speiste, die dann wiederum doch sehr stark von westlichen und internationalen Vorbildern beeinflusst waren.
Was man allerdings auch als gebürtiger Ossi nicht gedacht hätte, ist, wie durchdrungen diese scheinbar so entgegengesetzten beiden Mode-Welten tatsächlich voneinander waren. So rekrutierte sich ein nicht unwesentlicher Teil der Sibylle-Fotografen aus subversiven Szene-Existenzen, die auch immer wieder mit der Staatsmacht in Konflikt gerieten. Dieser ganz ausgezeichnete Film erzählt nun ihre Geschichte – und ist dazu noch ein Riesenspaß mit all den schrillen und bunten Klamottenstilen, immer begleitet vom Soundtrack dieser Zeit zwischen internationaler Disco-Popmusik und alternativem Krach aus beiden Hälften der geteilten Stadt.
Aber wenn sich nun jemand fragt, wie es denn überhaupt so etwas wie Mode in der DDR geben konnte, wo es doch kaum etwas Ansehnliches zu kaufen gab: Es wurde gebastelt, geschneidert und improvisiert. Jedes Heft der „Sibylle“ enthielt Anleitungen dazu. Und das offenbar mit dem Segen der Partei…
In einem Land, das es nicht mehr gibt
D 2022
Länge: 100 Minuten
FSK: 12
Regie: Aelrun Goette
Drehbuch: Aelrun Goette
Darsteller: Marlene Burow, Sabin Tambrea, David Schütter u.v.a.