Author Archive: thomyc

justament.de, 13.3.2023: Auferstandene Legende

Die Kastrierten Philosophen sind wieder produktiv – nach 26 Jahren!

Thomas Claer

Jede Band von Bedeutung, die sich aufgelöst hat, kommt früher oder später auch wieder zusammen. Das ist so eine Art Naturgesetz der Branche. Die Fans dürsten nach einer Wiedervereinigung, nach neuen Songs von ihren alten Lieblingen, nach Revival-Tourneen und kostbaren Sammeleditionen der alten Veröffentlichungen. Und irgendwann lassen die alten Helden, so sie denn noch am Leben und halbwegs gesund geblieben sind, sich dann endlich breitschlagen und steigen tatsächlich noch einmal in den Ring. Nur bei den Kastrierten Philosophen, den Sonderlingen aus dem Indie-Underground der Achtziger und Neunziger, die damals ein richtig heißer Szene-Act gewesen sind, da war man sich ganz sicher, dass so etwas nie passieren würde.

Seinerzeit waren die beiden Hauptprotagonisten Katrin Achinger und Matthias Arfmann, die auch privat ein Paar waren (am Ende sogar ein Ehepaar mit Kind, um genau zu sein) ja nicht gerade friedlich auseinandergegangen. Auch wenn keine Details bekanntgeworden sind, konnte sich ja jeder an fünf Fingern abzählen, was wohl passiert sein musste: Von heute auf morgen wurde das Band-Projekt eingestellt, und Matthias Arfmann posierte auf seinen bald darauf erscheinenden Solo-Veröffentlichungen an der Seite einer auffällig hübschen jungen exotischen Sängerin. Katrin Achinger hingegen musste sich von nun an als alleinerziehende Mutter durchschlagen und war so begreiflicherweise musikalisch weitgehend ausgebremst…

In einem Interview berichtete sie lange Jahre später davon, wie hart diese Zeit für sie gewesen ist. Irgendwann stellte sie sich beruflich neu auf wurde Englisch-Lehrerin an einer Volkshochschule in Hamburg. Hach, wenn man damals in Hamburg gewohnt und davon Wind bekommen hätte, dann hätte man sich aber schnurstracks zum Englisch-Kurs bei Katrin Achinger angemeldet und sich alle seine geliebten Philosophen-Platten und CDs von ihr signieren lassen. Man hätte ihrer wunderbaren Stimme gelauscht, wie sie die Vokabeln deklamiert…

Aber genug der Vorrede. Die Kastrierten Philosophen, es ist wirklich kaum zu glauben, sind tatsächlich wieder da. Offenbar haben sie sich zusammengerauft, einander verziehen, sich auf ihre so überaus fruchtbaren gemeinsamen 15 Jahre besonnen. Jetzt, wo beide um die sechzig und darüber wohl auch ein Stück weit altersmilde geworden sind… Ein Best of-Album ist also nun entstanden, das insgesamt 17 Titel enthält, darunter sogar zwei neue. Loben muss man zunächst das bunt gemusterte Platten-Design, das großartigerweise rechts unten auf der Vorderseite die beiden Strichmännchen zeigt, die schon ihre allererste selbstbetitelte MC in den frühen Achtzigern geschmückt haben. Auch die CD selbst in Schallplattenoptik und mit pechschwarzer Rückseite (und trotzdem lässt sie sich problemlos abspielen!) ist ein Augenschmaus. Und selbstverständlich ist auch lauter gute Musik auf der Scheibe enthalten. Allein, das Beste von dieser Band? Nein, das bleibt leider ausgespart.

Gerade einmal ein einziges meiner zahlreichen Lieblingslieder von den Philosophen, nämlich “Toilet Queen”, befindet sich auf der Platte. Als ob sie sich bei der hier vorgenommenen Auswahl aus ihrem Oeuvre bewusst auf die tendenziell harmloseren, ja mitunter fast schon gefälligen Titel beschränkt hätten. Das ganz schräge Zeug, der ganz heiße Stoff hat es leider nicht aufs Album geschafft. Wo bleiben “Decadent Café” und “Faceless Fuckparade”, “Endzeitliebe” und “Hard Break Hotel”? Was ist mit “Lens Reflects Fear”, “Call Yourself a Liar”, “Gun Beat Babes 2” und “¿Por Qué Lloras?” Und warum fehlen “40th Generation” und “Cyrenaika”, “Privacy” und “Tyrants Of Insomnia”? Ebenso vergeblich sucht man nach “She’s Allergic” und “Peeping All”. Eigentlich müssten sie gleich noch eine weitere Best-of-the-Rest-Platte raushauen. Allerdings ist leider zu befürchten, dass sich das wohl wirtschaftlich nicht rechnen würde. Denn so viele Fans aus alten Tagen außer einem selbst sind dann vermutlich doch nicht mehr übriggeblieben. Wie konnte eine so fantastische und außergewöhnliche Musik nur dermaßen in Vergessenheit geraten? Es wird höchste Zeit, sie wieder oder neu zu entdecken!

Ach ja, es sind wie gesagt auch noch zwei neue Songs auf der Platte. Tja, man freut sich natürlich sehr darüber, mal etwas Neues von ihnen zu hören. Und es ist ja auch nicht ganz schlecht, aber eben doch längst nicht so gut wie die alten Sachen. Der letzte Song des Albums, das Titelstück “Jahre” mit einem sehr philosophischen Text in deutscher Sprache (der dem Bandnamen alle Ehre macht) ist schon vor einigen Jahren unter dem Titel “Hans im Glück” von Katrin Achingers Band “Flight Crew” herausgebracht worden, was aber vollkommen in Ordnung geht.

Kastrierte Philosophen
Jahre. 1981-2021 + 1
about us records 2022
LC 92196

justament.de, 27.2.2023: Gespenstisches Vergnügen

Recht cineastisch Spezial: Die Ausstellung “Phantome der Nacht: 100 Jahre Nosferatu” in der Sammlung Scharf-Gerstenberg

Thomas Claer

Vampire haben Konjunktur – und das schon seit 1897, als der epochale Roman “Dracula” des irischen Schriftstellers Bram Stoker erschienen ist. Besonders für manche Frauen ist es offenbar eine erregende Vorstellung, von so einem finsteren Gesellen lustvoll in den Hals gebissen zu werden. Klar, dass sich bald darauf auch das damals junge Medium Film immer wieder dieses gruseligen Sujets angenommen hat. Der Prototyp des Vampir-Films allerdings kommt aus Deutschland und wurde vor einem Jahrhundert unter dem Titel “Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens” von Regisseur Franz Murnau erschaffen. Eine sehenswerte Ausstellung in der Sammlung Scharf- Gerstenberg” gegenüber dem Schloss Charlottenburg widmet sich nun (und noch bis zum 23. April) den vielfachen Bezügen dieses Films zur bildenden Kunst.

Die Vampir-Mode hat nämlich zu dieser Zeit auch in der Malerei allerhand Blüten getrieben – so wie auch viele weitere Nebenaspekte im Nosferatu-Film, die sich ebenfalls in zahlreichen bildnerischen Werken nachweisen lassen. Die auf Werke des Surrealismus spezialisierte Berliner Sammlung Scharf-Gerstenberg hat es sich daher nicht nehmen lassen, eine Fülle an Kunstobjekten sowie zeithistorischem Material rund um das Thema Vampirismus zusammenzutragen, um so diesem großen expressionistischen Stummfilm zu huldigen. Gekonnt spielen die Ausstellungsmacher dabei, ganz ähnlich, wie es bereits der Film getan hat, mit Licht- und Schatten-Effekten. Immer wieder zuckt man als Besucher zusammen, wenn sich plötzlich eine bedrohliche Schattengestalt vor, neben oder hinter einem aufbaut. Für Kinder und Heranwachsende dürfte dies von besonderem Reiz sein.

So, wie man es sich wünscht, lässt sich in der Ausstellung auch der Nosferatu-Film selbst noch einmal vollständig und auf großer Leinwand zu Gemüte führen. Die Handlung ist im Wesentlichen vom Dracula-Roman inspiriert, spielt aber statt in London in der fiktiven norddeutschen Kleinstadt Wisborg, hinter der unschwer das von seiner prächtigen Altstadt geprägte Wismar zu erkennen ist, wo auch der größte Teil der Dreharbeiten stattgefunden hat. (Einige Szenen wurden aber auch in Lübeck und Rostock gedreht.)

Im Zentrum der 1838 spielenden Handlung steht ein Immobilienkauf: Graf Orlok (Nosferatu) aus Siebenbürgen kauft sich ein Haus in der Ostsee-Hafenstadt, wozu es nach damaligem Recht aber offenbar nicht einmal eines Notartermins bedarf. Hingegen ist auch schon vor fast 200 Jahren ein geschäftstüchtiger Immobilienmakler im Spiel, der – was niemanden verwundern dürfte – mit dem Vampir gewissermaßen unter einer Decke steckt. Was einem aber schon reichlich seltsam vorkommen kann, ist der Umstand, dass Graf Orlok samt seinem Sarg, in dem er zu nächtigen pflegt, aus Transsilvanien ausgerechnet auf dem Seeweg bis nach Norddeutschland reist (über Schwarzes Meer, Mittelmeer, Atlantik, Nord- und Ostsee!), was schon ein sagenhafter Umweg ist. Aber das musste wohl so sein, denn andernfalls hätte es ja die phänomenalen Bilder von Nosferatu auf dem Segelschiff nie gegeben!

Sammlung Scharf-Gerstenberg, Schloßstraße 70, 14059 Berlin. Sonderausstellung: “Phantome der Nacht: 100 Jahre Nosferatu”. Noch bis 23. April 2023.

justament.de, 20.2.2023: Von Russland lernen…

Nationale Neueste Nachrichten

Thomas Claer

Prinz Heinrich XIII. meldet sich zu Wort, in den Abendnachrichten, zur besten Sendezeit, mit einer Ansprache an das deutsche Volk. Das Scholz-Regime hat abgedankt. Die nationale Querfront hat nunmehr das Kommando übernommen, unterstützt von den volkstreuen Kräften der früheren Bundeswehr, die nun endlich wieder den stolzen Namen Wehrmacht tragen darf. Die Angehörigen dieser notorischen Quasselbude namens Bundestag wurden bereits sämtlich inhaftiert, mit Ausnahme des völkischen Lagers aus AfD und Teilen der Linkspartei, die ab sofort das neue deutsche Parlament, den Reichstag, stellen, der künftig die Beschlüsse der neuen Reichsregierung unter Führung von Prinz Heinrich in treuer Ergebenheit absegnen wird. Als Angehörige der zunächst kommissarischen Reichsregierung werden vorgestellt: Reichsaußenminister Bernd Höcke, Reichsinnenminister Alexander Gauland, Reichsjustizminister Hans-Georg Maaßen, Reichspropagandaministerin Alice Weidel, Reichsfamilienministerin Beatrix von Storch und Reichsarbeitsministerin Sahra Wagenknecht. Niemand soll sagen, dass wir die Frauenquote nicht einhalten. Für das Amt des Reichspräsidenten ist bereits Thilo Sarrazin angefragt.

Sodann trägt der frischgebackene Reichsaußenminister Höcke seine außenpolitische Agenda vor: Lange Jahre haben wir den Provokationen und Bedrohungen unserer Nachbarn tatenlos zugesehen. Sie wollen uns vernichten, daran besteht kein Zweifel, aber jetzt ist das Maß voll. Seit fünf Uhr 45 wird zurückgeschossen. Unsere Truppen haben Elsass-Lothringen und das Sudetenland bereits komplett eingenommen. Das gleiche gilt für Österreich. Dieses Gebiet ist urdeutsches Kernland. Dass man es jemals für einen eigenen Staat gehalten hat, ist ein Irrtum der Geschichte; siehe dazu den jüngst von Prinz Heinrich publizierten Aufsatz “Über die historische Einheit von Deutschen und Österreichern”. Es ist unser gutes Recht, uns das zurückzuholen, was uns zusteht. Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt!

Kein einziger Leopard-Panzer wird mehr an die Ukraine geliefert. Das zieht doch eh nur den Krieg dort, ach was: die militärische Spezialoperation sinnlos in die Länge. Das russische Volk soll sich nehmen, was ihm gehört. Ein Land namens Ukraine hat es nie gegeben. Was reden manche Leute vom Baltikum und von Moldawien? Solche Länder kennen wir nicht. Wir nennen diese Gebiete Nowaja Rossia. Das südöstliche Polen soll unser Freund Putin bitte auch gleich mitübernehmen. Dann können wir nämlich aus der anderen Richtung endlich wieder in Ostpreußen, Pommern und Schlesien einmarschieren. Allerdings müssen wir mit Putin noch mal über Königsberg reden, denn dort wurde schließlich Preußen gegründet. Darauf kann ein deutscher Staat unmöglich verzichten. Das wäre ja gerade so wie Serbien ohne Amselfeld oder Russland ohne die Krim. Wir stellen ein Ultimatum zur Anerkennung der Grenzen von 1939 innerhalb von zwei Wochen. Jeder, der sich uns in den Weg stellt, wird Dinge erleben, die er noch nie erlebt hat. Pardon wird nicht gegeben! Jeder Schuss ein Russ! Jeder Tritt ein Brit! Jeder Stoß ein Franzos!

Glückwünsche zur Machtübernahme kommen bereits aus Budapest von Viktor Orban, ebenso aus Pjöngjang, Nicaragua, Iran und Venezuela. Natürlich auch von der heldenhaften Junta in Myanmar und von den Taliban aus Kabul. China beobachtet den Machtwechsel in Berlin mit wohlwollender Neutralität, ebenso Saudi-Arabien. Der türkische Präsident Erdogan stellt eine enge Zusammenarbeit mit der neuen Reichsregierung in Aussicht, sofern sie bereit sei, endlich alle Terroristen auszuliefern, die in Deutschland noch immer frei herumrumlaufen. Vor allem gelte das für alle diese feindlichen Elemente, die sich Kurden nennen, aber in Wirklichkeit nur gemeine Bergtürken sind.

Eine Woge der Begeisterung zieht durch das wieder erwachte Deutschland. Germany first! Am deutschen Wesen soll die Welt genesen! Deutschland, Deutschland über alles! Denen, die jetzt ihre Koffer packen und schnell ins Exil gehen, weinen wir keine Träne nach. Wir werden sie ausspeien wie ein lästiges Insekt. Aber wenn es zu viele werden sollten, die abhauen, dann passt mal gut auf: Wir können auch ganz anders, können in kürzester Zeit wieder eine Mauer, d.h. einen antifaschistischen Schutzwall, um unser Land errichten. Die Gegner unserer völkischen Ordnung sind nämlich allesamt Nazis! Jawohl, denn wer Nazi ist, bestimmen immer noch wir. Die schlimmsten Nazis waren übrigens die Juden. Hatte nicht Hitler auch jüdische Vorfahren? So war es doch, oder irren wir uns da?

Unsere Soldaten sollen sich nicht fürchten, wenn sie in die… äh… militärische Spezialoperation ziehen. Es gibt ja wohl Schlimmeres als den Tod. Süß und ehrenvoll ist es doch, fürs Vaterland zu sterben. Andere sterben, weil sie sich totsaufen. Also dann doch wohl lieber auf dem Schlachtfeld. Wer im Kampfe fällt, hat doch sein Lebensziel erreicht. Und wenn wir nicht mehr genug Soldaten haben, dann gibt es eben eine allgemeine Mobilmachung. Das wäre doch gelacht!

Sollte jemand etwas dagegen sagen, dann gelten unsere neuen “Bestimmungen gegen die Verbreitung von Falschinformationen”. Da kennen wir keine Gnade. Beim ersten Mal gibt es nur eine drakonische Geldstrafe, wir sind ja keine Unmenschen. Aber schon beim zweiten Mal geht es direkt in den Knast. Und für den Fall, dass sich höhere Verwaltungsleute oder gar Prominente künftig auf unpassende Weise äußern: Es passieren ja ständig irgendwelche Unfälle. Die Leute fallen aus dem Fenster oder sie vergiften sich versehentlich beim Essen und Trinken. So etwas kann schon mal vorkommen. Von Russland lernen, heißt siegen lernen. Heil dir, Prinz Heinrich! Hipp, hipp, hurra!

justament.de, 13.2.2023: Solo zum Dritten

Stella Sommer auf “Silence Wore a Silver Coat”

Thomas Claer

Eigentlich wäre jetzt eher mal ein neues Album von “Die Heiterkeit” dran gewesen, der Nachfolger des grandiosen “Was passiert ist” von 2019. In den trüben Corona-Jahren sollte doch viel Zeit zum Schreiben neuer Songs gewesen sein. Immerhin das letzte stimmt. Doch Stella Sommer überrascht uns nun stattdessen mit einem weiteren Solo-Album, dem mittlerweile dritten, das nur gut zwei Jahre nach dem Vorgänger “Northern Dancer” erscheint und nicht weniger als 24 (vierundzwanzig!) englischsprachige Songs enthält.

Natürlich, Stella Sommer reitet nach all den enthusiastischen Kritiken ihrer jüngsten Werke auf der Erfolgswelle (auch wenn sie, was die Plattenverkäufe angeht, noch längst nicht in der Champions League angekommen sein mag), da darf es auch schon mal ein bisschen mehr sein. Das Problem ist nur, dass hier vielleicht etwas weniger letztlich doch mehr gewesen wäre. Denn wenn auf einem Album mit zwölf Titeln vier davon brillant sind und der Rest ganz ordentlich ist, dann gilt das schon als Spitzenplatte. Wenn aber von 24 Songs vier großartig sind und der Rest teils ganz okay und teils etwas schwächer, dann kann das leicht den Genie-Status der Künstlerin in Frage stellen. Andererseits bleibt aber festzuhalten, dass es auf “Silence Wore a Silver Coat” (Was für ein großartig poetischer Albumtitel!) auch keine Totalausfälle gibt. Dafür ist Stella Sommer wohl mittlerweile auch zu stilsicher in ihren unermüdlichen Beschwörungen des Sixtees-Spirits.

Zwei der besagten vier Höhepunkte der Platte befinden sich ganz am Anfang: der Opener “A Single Thunder in November” und der darauffolgende Titelsong. Hier wird gleichsam der Ton gesetzt für die atmosphärische Kolorierung, die auch im weiteren Verlauf des Albums durchgängig beibehalten wird. Die beiden weiteren Highlights sind dann aber weiter hinten versteckt: “Sorrow Had a Brother” und ganz besonders “A Special Kind of Lostness”. So, als “besondere Art der Verlorenheit” ließe sich im Übrigen auch das gesamte Solo-Werk von Stella Sommer charakterisieren. Und ganz allgemein ist an dieser Stelle auch ihre stets klangvolle und metaphernreiche englische Textdichtung zu loben, wenn auch der Rezensent dies mangels einschlägiger Sprachkompetenz leider nur sehr eingeschränkt zu beurteilen vermag… Das Urteil für diese Platte lautet jedenfalls: voll befriedigend (11 Punkte).

Stella Sommer
Silence Wore a Silver Coat
Buback Tonträger 2022

justament.de, 30.1.2023: Der Schick des Ostens

Recht cineastisch, Teil 41: “In einem Land, das es nicht mehr gibt” von Aelrun Goette

Thomas Claer

Gerade erst dreieinhalb Jahrzehnte liegt das alles nun zurück, und doch kommt es einem vor, als ob die alte DDR, der selbsternannte erste Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden, den realsozialistischen Einheitsbrei-Löffel schon vor einer halben Ewigkeit abgegeben hätte. Und so wirken heute Filme, die in jener Epoche spielen, auf den Betrachter ähnlich entrückt wie Wildwest- oder Mantel- und Degen-Filme – oder wie die Landschaften aus verwunschenen Königreichen in Grimms Märchen. Eine Mischung aus Historienschinken und Kostümspektakel ist dann auch der neue Film der Berliner Regisseurin Aelrun Goette geworden, der erstmals eine bislang kaum beachtete Nische der damaligen ostdeutschen Gesellschaft ausleuchtet: die Modeszene der DDR. Doch, so etwas hat es sehr wohl gegeben, und sie hat in diesem sehr besonderen Biotop sogar ziemlich besondere Blüten getrieben.

Auf der einen Seite gab es da die streng formalistisch durchgestylte Welt rund um die einzige DDR-Modezeitschrift „Sibylle“, der die Staatsmacht ganz erstaunliche Freiheiten einräumte. Man kann sogar sagen, dass diese Ost-Mode, fernab von Popularitäts- oder gar Profitabilitätskriterien und im selbstbewussten Gegensatz zum durchkommerzialisierten Westen, eine ganz eigene Ästhetik hervorgebracht hat. Und auf der anderen Seite war da, wenn auch vornehmlich nur in Ost-Berlin, der wild-anarchische Underground, der sich aus diversen Subkulturen speiste, die dann wiederum doch sehr stark von westlichen und internationalen Vorbildern beeinflusst waren.

Was man allerdings auch als gebürtiger Ossi nicht gedacht hätte, ist, wie durchdrungen diese scheinbar so entgegengesetzten beiden Mode-Welten tatsächlich voneinander waren. So rekrutierte sich ein nicht unwesentlicher Teil der Sibylle-Fotografen aus subversiven Szene-Existenzen, die auch immer wieder mit der Staatsmacht in Konflikt gerieten. Dieser ganz ausgezeichnete Film erzählt nun ihre Geschichte – und ist dazu noch ein Riesenspaß mit all den schrillen und bunten Klamottenstilen, immer begleitet vom Soundtrack dieser Zeit zwischen internationaler Disco-Popmusik und alternativem Krach aus beiden Hälften der geteilten Stadt.

Aber wenn sich nun jemand fragt, wie es denn überhaupt so etwas wie Mode in der DDR geben konnte, wo es doch kaum etwas Ansehnliches zu kaufen gab: Es wurde gebastelt, geschneidert und improvisiert. Jedes Heft der „Sibylle“ enthielt Anleitungen dazu. Und das offenbar mit dem Segen der Partei…

In einem Land, das es nicht mehr gibt
D 2022
Länge: 100 Minuten
FSK: 12
Regie: Aelrun Goette
Drehbuch: Aelrun Goette
Darsteller: Marlene Burow, Sabin Tambrea, David Schütter u.v.a.

justament.de, 23.1.2023: Beim Barte der Kassandren

Vor einem Jahr erschien “Nie wieder Krieg” von Tocotronic. Eine verspätete Rezension

Thomas Claer

Als im Januar 2022 die Band Tocotronic ihr 13. Studio-Album “Nie wieder Krieg” herausbrachte, da dachte man: Was soll denn das jetzt? Warum bloß ein so pathetischer und völlig aus der Zeit gefallener Titel?! Sind wir jetzt in den Achtzigern, oder was? Als ob irgendwo ein Krieg vor der Tür stünde… Na gut, es gibt natürlich schon eine Menge Kriege in der Welt, aber doch nicht hier bei uns, mitten in Europa…

Kurz darauf wurde man bekanntlich durch Putins Überfall auf die Ukraine aus allen Wolken gerissen und musste bei Tocotronic Abbitte leisten. Sie hatten es vielleicht nicht gerade kommen sehen, aber doch irgendwie… Wenn es nicht so despektierlich klänge, könnte man fast sagen: den richtigen Riecher gehabt. Kunstwerke sind ja, wie es so schön heißt, oftmals klüger als die Künstler, die sie in die Welt gesetzt haben. Und nicht nur der Titel- und zugleich Eröffnungssong trifft textlich den Nagel auf den Kopf (“Keine Verhetzung mehr!”), auch der darauffolgende Track “Komm mit in meine freie Welt” wirkt seltsam prophetisch, ebenso wie das Lied danach “Jugend ohne Gott gegen Faschismus”. Und es geht ja noch weiter mit Songtiteln wie “Ich gehe unter”, “Ich hasse es hier”, “Ein Monster kam am Morgen” und “Crash”. Noch mehr Zeitgeist auf einer Platte als hier lässt sich kaum vorstellen!

Soweit zur inhaltlichen Seite von Tocotronics aktuellem Album. Aber ist es denn auch künstlerisch gelungen? Nun, zumindest über weite Strecken. Musikalisch eher schwach geraten sind eigentlich nur der besagte Titelsong sowie die beiden letzten Stücke “Hoffnung” und “Liebe”. Der Rest ist ziemlich überzeugend, allen voran “Ich tauche auf”, das gesangliche Duett von Bandleader Dirk von Lowtzow mit Soap & Skin, worunter sich eine 33-jährige recht anmutige österreichische Sängerin verbirgt. Die beiden liefern hier den vielleicht schönsten und ergreifendsten Paargesang in der Popmusik seit Nick Cave und PJ Harvey ab. Andere würden vielleicht sagen: seit Nick Cave und Kylie Minogue… Und dies gilt ausdrücklich auch für das begleitende Musikvideo!

Es gibt aber auch noch weitere starke Titel auf “Nie wieder Krieg”, die interessanterweise auf jeweils unterschiedliche Schaffensphasen der einstigen Hamburger-Schule-Band verweisen. “Ich gehe unter” und “Leicht lädiert” klingen wirklich sehr nach ihrem Frühwerk, besonders letzteres in seiner ungelenken Fremdwörter radebrechenden Textdichtung. Ganz toll! “Crash” hingegen mit seinem Smiths-Gitarrenspiel erinnert deutlich an ihre entsprechend ausgerichtete Phase in den mittleren bis späten Nullerjahren mit dem Album “Kapitulation”. Vielleicht sind dies ja in Wirklichkeit auch Lieder von damals, die es seinerzeit nur nicht aufs jeweilige Album geschafft haben. Aber was macht das schon? Überaus raffiniert ist auch der Text von “Nachtflug”. Zuerst vermutet man darin eine üble Klima-Sauerei mitsamt Anwohner-Belästigung, bis sich allmählich herausstellt, dass das lyrische Ich wohl nur rein metaphorisch durchs Berliner Nachtleben fliegt…

Alles in allem also mal wieder eine reife Leistung der Tocos. Das Urteil lautet: gut (13 Punkte).

Tocotronic
Nie wieder Krieg
Vertigo Berlin 2022

justament.de, 16.1.2023: Und schuld daran war nur die SPD

Klassenkampf am Abendbrotstisch: Vor 50 Jahren hatte die Serie “Ein Herz und eine Seele” TV-Premiere 

Thomas Claer 

Vor ein paar Jahren fragte mich meine türkische Nachhilfeschülerin, was eigentlich meine Lieblingsserie sei. Meine Antwort war, dass ich mich damit nicht auskenne und gar keine Serien gucke. Aber meine Schülerin insistierte: “Wie, Sie gucken keine Serien?! Jeder guckt Serien!!” Und dann fiel mir ein, dass ich ja eigentlich doch eine Lieblingsserie habe. Die ist nur mittlerweile 50 Jahre alt und für die heutige junge Generation begreiflicherweise nicht besonders relevant. Doch zählt “Ein Herz und eine Serie” aus der Feder von Wolfgang Menge bis heute unbestritten zu den absoluten Sternstunden deutscher TV-Unterhaltung.

Natürlich war das damals Zeitgeist pur: Die Jahre nach 1968. In den (westdeutschen) Familien, am kleinbürgerlichen Abendbrotstisch prallten nicht selten sehr entgegengesetzte Weltsichten aufeinander. Und besonders schön ließ sich das illustrieren, wenn zwei Paare, die zugleich stellvertretend für ihre Generationen standen (damals hatte dieser notorisch unscharfe Begriff noch seine Berechtigung durch unabweisbare Evidenz ) unter demselben Dach wohnten, genauer gesagt in einem Reihenhaus im Ruhrgebiet: der Büroangestellte Alfred Tetzlaff (Heinz Schubert) und seine etwas einfältige Gattin Else (Elisabeth Wiedemann), deren Tochter Rita (Hildegard Krekel) und der aufmüpfige Schwiegersohn Michi (Diether Krebs). “Ekel” Alfred verkörperte dabei den nur mühsam an die bundesrepublikanischen Verhältnisse angepassten altdeutschen autoritären Obrigkeitsgeist, konservativ und deutschnational bis auf die Knochen. Schwiegersohn Michi hingegen, Willy Brandt-Anhänger und SPD-Mitglied, stand gewissermaßen für die neue Zeit.

Wer heute eine Spaltung der Gesellschaft beklagt, der sollte sich einmal diese Sitcom-Serie der ersten Stunde zu Gemüte führen. Mit welch schweren Geschützen damals verbal aufeinander gefeuert wurde… Es war aber auch unglaublich witzig, besonders wenn “Ekel” Alfred loslegte und seinem Schwiegersohn die Leviten las: “Ihr habt doch sogar extra eine Partei gegründet, um den anständigen Bürgern das Geld aus der Tasche zu ziehen!”, befand er hinsichtlich der auch damals gerade heftig grassierenden Inflation, für die er natürlich “die Sozis” verantwortlich machte. Getreu nach der seinerzeit auch von Rudi Carrell besungenen Maxime: “Schuld daran ist nur die SPD”.

Seine eher nicht so kluge Ehefrau Else bemerkte aber immerhin sofort, wenn ihr Mann einmal ausnahmsweise einen SPD-Politiker lobte, nämlich den schneidigen früheren Wehrmachts-Offizier Helmut Schmidt, und am damaligen Oppositionsführer Rainer Barzel (CDU) herummäkelte. Wofür sich Alfred dann mit den Worten rechtfertigte: “Dis is Dialektik, dis verstehst du nich, du dusselige Kuh.” Und hinsichtlich seiner Nachbarin Frau Suhrbier befand er: “Ist Hausbesitzerin und wählt SPD. Die fällt ihrer eigenen Klasse in den Rücken.”

Eigentlich sollten doch, so denkt man sich, auch die heutigen bewegten Zeiten reichlich Stoff für eine lustige politische Familienserie ähnlicher Art liefern, aber bisher ist, zumindest nach meiner Kenntnis, noch nichts Vergleichbares entstanden. Warum eigentlich nicht?

justament.de, 9.1.2023: Ein Kind der Sesamstraße

Justament-Autor Thomas Claer gratuliert zum 50. Geburtstag ihrer deutschen Version 

Wodurch ist ein DDR-Kind in den Siebzigerjahren am nachhaltigsten beeinflusst worden? Das mag bei jedem anders gewesen sein. Für mich jedenfalls kann ich voll Dankbarkeit sagen: nicht nur durch die nach heutigen Maßstäben ziemlich autoritäre Erziehung in Elternhaus und staatlichen Einrichtungen, wo es immer nur hieß “Du sollst…”, “Du musst… oder “Du darfst nicht…”, sondern mindestens ebenso durch die tägliche “Sesamstraße” aus dem Westfernsehen, deren Motto etwa im grandiosen “Egal-Song” lautete: “Es ist egal, du bist, wie du bist.” Man könnte das auch übersetzen mit “Die Würde des Kindes ist unantastbar.”

Tatsächlich jeden Tag eine halbe Stunde lang lief in meiner Kindheit die Sesamstraße, außer donnerstags, da kam die ähnlich gute “Sendung mit der “Maus”. Und dieser fröhlich-bunte Spaß mit Puppen und Monstern und lustigen Liedern war ein ziemlicher Kontrast zum Kinderfernsehen Ost, das schon rein quantitativ nicht mit seinem westlichen Pendent mithalten konnte. Nun hatte das DDR-Programm für den Nachwuchs zweifellos auch seine Vorzüge, doch spielte es sich bezeichnenderweise zumeist in einer Parallelwelt zum Alltagsleben ab – im “Märchenwald”, und der lag wiederum im “Märchenland”. Anders die ganz überwiegend im damaligen “Hier und Jetzt” angesiedelte Sesamstraße. Ironischerweise waren nämlich in der Zeit nach 1968 die westlichen Kindersendungen oftmals politischer als die östlichen. Bürgte unter den ideologisch strengen DDR-Verhältnissen vor allem der unpolitische Charakter des Kinderprogramms für dessen Qualität, war es im freien Westen genau andersherum. In der “Sesamstraße” wehte ein neuer frischer Wind, der nicht zuletzt auch die überkommenen deutschen Erziehungskonzepte infrage stellte. Man muss betonen, dass es zu jener Zeit noch gang und gäbe war, im Osten wie im Westen, zu sagen: “Eine ordentliche Tracht Prügel hat noch keinem Kind geschadet.” Und dass Kinder grundsätzlich den Mund zu halten hatten, das ist wohl noch bis zum Ende der DDR so geblieben.

Für mich jedenfalls war das westliche Reformpädagogik-Fernsehen ganz großartig. Zumal die Macher der deutschen “Sesamstraße” gewissermaßen auch der ersten Generation dieser besagten Erziehung im neuen Geiste angehörten. Alles wirkte so frisch und unbekümmert, so experimentell und improvisiert. Und wie liebte ich die Puppen und Darsteller, besonders eine ganze Reihe von Nebenfiguren. Vor Graf Zahl, das muss ich zugeben, hatte ich in jüngeren Jahren noch richtig Angst, aber natürlich war es ein wohliges Gruseln. Umwerfend komisch war z.B. Don Schnulze, der genialische Sänger und Pianist, der immer wieder verzweifelt mit dem Kopf auf die Tasten schlug, wenn ihm zu seinen Kompositionen die passende Textzeile nicht einfallen wollte. Nicht minder witzig war Schlemihl, der zwielichtige Geschäftsmann, der die Verlautbarungen seines Gegenübers vorzugsweise mit einem “Psssst, genau!” kommentierte. Oder Herbert Leichtfuß, der freundliche Erfinder, der immer geduldig seine neuesten technischen Werke erklärte und sich nicht einmal durch unkontrollierte Aktionen des Krümelmonsters aus dem Konzept bringen ließ. Auch Sherlock Humbug, der sich am Ende seiner Ermittlungen meistens selbst als Übeltäter überführte, sich für diese Erkenntnisse aber anschließend noch von seinen jeweiligen Auftraggebern bezahlen ließ, war eine großartige Figur. Und dann natürlich Ernie und Bert, die beiden grundverschiedenen alterslosen Freunde eindeutig männlichen Geschlechts, die ohne Eltern oder sonstige Erzieher in einer gemeinsamen Wohnung zusammenlebten und sogar das Bett miteinander teilten. Kein Wunder, dass sie Jahrzehnte später zu Ikonen der Schwulenbewegung avancierten…

Was für ein Vergnügen es mir heute bereitet, mich durch die alten Sesamstraßen-Filmchen auf YouTube zu klicken! Sieht man sich dagegen mal eine heutige Sesamstraßen-Folge an, dann ist das eine fast schon schmerzhafte Erfahrung. Die neuen Puppen sind längst nicht mehr so gut wie die alten! Und die Puppen, die es früher schon gab, haben jetzt alle andere Stimmen, die überhaupt nicht zu ihnen passen. Auch inhaltlich ist das alles gar nicht mehr mit früher zu vergleichen. Nein, die Sesamstraße war früher wirklich um Längen besser! Die armen heutigen Kinder! Aber es ist ja schließlich auch kein Wunder, dass sich sowohl die Sesamstraße als auch man selbst in fünf Jahrzehnten ein wenig verändert haben. Alles Gute zum Jubiläum!

Jahresende 2022: Ahnenforschung Claer, Teil 14

In diesem Jahr bleibt mein “Forschungsbericht” zwar von seinem Umfang her hinter denen der letzten Jahre zurück. Was aber viel wichtiger ist: Inhaltlich ist uns erfreulicherweise ein großer Schritt nach vorne gelungen! Würden sich nicht militärische Metaphern in diesen Zeiten verbieten, könnte man mit Fug und Recht von einem Volltreffer sprechen… Und hinzu kommen weiter hinten sogar noch weitere spektakuläre Entdeckungen von einem anderen Forschenden.

1. Die Claers in Bieberswalde 

“Es gibt so viele Puzzleteile”, hatte mir vor einigen Jahren mein Vetter vierten Grades Manfred Claer geschrieben, “und nur bei uns passen sie zusammen.” Diese Aussage bezog sich auf die Entdeckung, dass sein Ururgroßvater August Hermann Claer (1833-????) und mein Ururgroßvater Franz Claer (1841-1906) Brüder waren. Nun passen wieder zwei Puzzleteile zusammen: ein schon vor zwei Jahrzehnten und ein erst vor einigen Monaten gefundenes.

a) Zufallsfund 1: Ein Familiengrab auf dem Friedhof 

Vor mehr als zwanzig Jahren besuchte meine Tante dritten Grades Lorelies Claer-Fischer gemeinsam mit einer Freundin das frühere Ostpreußen, beide auf der Suche nach Spuren ihrer Vorfahren. Auf dem Friedhof von Bieberswalde, das seit 1945 den polnischen Namen Liwa trägt, wurde zwar nicht die an diesem Ort etwas suchende Freundin fündig, dafür aber ganz unerwartet Tante Lorelies, die dort auf eine Steintafel mit der Aufschrift “Ruhestätte der Familie Claer” stieß, siehe Foto.

Über ihre anschließende Recherche berichtete mir Tante Lorelies wie folgt:

“Ich war seinerzeit, das war 2004, bei den Mormonen und habe dort nur Kirchenbücher durchgesehen, bis Mitte 1700 sogar, die jedoch sehr unordentlich geschrieben waren, so dass ich kaum etwas entziffern konnte. Verlaufene Tinte, Sütterlin. Ich weiß nicht mehr, mit welchem Jahrgang ich anfangen konnte.”

Die Suche blieb also vorerst ergebnislos. Die Claers in Bieberswalde waren damals – und blieben auch noch später – nicht zuzuordnen.

b) Wie kam Franz Claer (1841-1906) von Eichenberg nach Usdau? 

In meinem letzten Forschungsbericht vor einem Jahr widmete sich ein Kapitel dem Wirken meines besagten Ururgroßvaters Franz Claer (dem Urgroßvater von Tante Lorelies) als Postangestellter in Usdau. Und ich warf die Frage auf:

“Aber wie ist Franz, der als jüngster Sohn meines Urururgroßvaters, des Jägers Friedrich Claer (1799-18??) in Eichenberg/Drusken, Amt Wehlau (gelegen einige Kilometer östlich von Königsberg) geboren wurde, ins relativ weit entfernte Usdau gekommen bzw. wie konnte er meine dort lebende Ururgroßmutter Henriette überhaupt kennenlernen? Laut Google Maps beträgt die Entfernung zwischen dem heute russischen Snamensk (dem früheren Wehlau) und Uzdowo (Usdau) mindestens 224 Kilometer, was einer heutigen Fahrzeit mit dem Auto von mehr als drei Stunden entspricht.”

Sodann spekulierte ich auf berufsbedingte Gründe:

“Bevor Franz Claer sich also mit Anfang dreißig in Usdau niedergelassen und als Landbriefträger verdingt hat, seine Frau Henriette geheiratet und mit ihr seine ersten beiden Söhne Otto und Georg bekommen hat (denen später noch der dritte Sohn Richard sowie die Töchter Amelia/Armanda, Martha und Hedwig folgen sollten), war er als Postschaffner tätig und ist als solcher vermutlich viel herumgereist.”

Doch nun lässt ein weiterer Fund alles in neuem Licht erscheinen.

c) Zufallsfund 2: Friedrich Claers Versetzung nach Bieberswalde 

Vor einigen Monaten fand ich, als ich bei Google “Clair Bieberswalde” eingab, im mittlerweile digitalisierten und online verfügbaren Namens- und Ortsregister des Amtsblatts der Königl. Regierung zu Königsberg für das Jahr 1855” den Eintrag: “Clär s. Förster in Bieberswalde S.26”

Und auf S.26 dann die Notiz: “Der Förster Clair ist von der Försterei Lebkoyen, Oberförsterei Drusken, nach der Försterei Bieberswalde, Oberförsterei Gauleben, versetzt worden.”

So war das also! Mein Urururgroßvater Friedrich Clair/Clär/Claer (1799-18??) war demnach 1855, im Alter von 56 Jahren, ein weiteres Mal auf eine andere Försterstelle versetzt worden, und zwar von Eichenberg/Drusken, Kreis Wehlau, nach Bieberswalde. Seine laut Hochzeitsurkunde vier Jahre jüngere Frau Justine Claer, geb. Knaebe/Knebe/Knebel, die er 1824 in Corjeiten geheiratet hatte (und deren Todesjahr wir ebenfalls nicht kennen), war sicherlich ebenso mit dabei wie zumindest sein mutmaßlich jüngster Sohn Franz, damals 13- oder 14-jährig, mein Ururgroßvater.

Die Entfernung vom Kreis Wehlau, dem heute russischen Snamensk, nach Bieberswalde, dem heute polnischen Liwa, beträgt laut Google Maps immerhin 188 Kilometer.

Dieser Ortswechsel macht auch plausibler, wie mein Ururgroßvater Franz nach Usdau kommen konnte, denn von Bieberswalde (Liwa) bis nach Usdau (Uzdowo) sind es nach Google Maps gerade einmal 56,8 km.

Bei einer weiteren Google-Recherche stieß ich sogar noch auf ein Foto vom alten Forsthaus in Bieberswalde. Ob hier tatsächlich die Försterfamilie Claer gewohnt hat?! 

d) Urkunden aus Biberswalde digitalisiert im Netz 

Wie ich bereits vor einem Jahr in meinem vorigen Bericht geschildert habe, gibt es seit 1874, infolge der deutschen Reichsgründung drei Jahre zuvor, in ganz Deutschland einheitliche Standesämter mit Urkundsstellen, die durch Ausstellung von Geburts-, Sterbe- und Heiratsurkunden die zuvor maßgeblichen Kirchenbücher abgelöst haben. Verbunden war dies auch mit einer seitdem in der Regel einheitlichen Namensschreibweise, was bis dahin oftmals von Ort zu Ort recht unterschiedlich gehandhabt worden war. Und glücklicherweise sind diese standesamtlichen Urkunden von Bieberswalde ab 1874 neben vielen weiteren Dokumenten aus dem Kreis Allenstein (seit 1945 Olsztyn) mittlerweile vollständig digitalisiert im Netz verfügbar unter

https://olsztyn.ap.gov.pl/baza/wynik.php

Nur leider gibt es dort kein Namenregister und keine Suchfunktion, so dass man als Interessent in mühsamer Kleinarbeit Urkunde für Urkunde durchzusehen hat. Hinzu kommt, dass Friedrich und Justine im Jahr 1874, sofern sie noch gelebt haben, schon 75 und 71 Jahre alt hätten sein müssen, was in den damaligen, von früher Sterblichkeit geprägten Zeiten schon eine sportliche Annahme wäre. (Und mit jedem Jahr, das man sich in den Urkunden chronologisch nach vorne arbeitet, sinkt die Wahrscheinlichkeit, noch auf ihre Sterbeeinträge zu stoßen.) Doch zumindest hat Tante Lorelies sie in den Kirchenbüchern vor 1874 nicht gefunden. Und die “modernere” Namensschreibweise Claer auf der Steintafel des Familiengrabs (verglichen mit Clair und Clär in den Einträgen von 1855, siehe oben) deutet auch auf eine eher spätere Errichtung der Familienruhestätte. Hinzu kommt, dass es, sofern die Einrichtung eines Familiengrabes einen Sinn gehabt hat, auch noch weitere Familienangehörige gegeben haben muss, die auf dem Bieberswalder Friedhof neben Friedrich und Justine bestattet wurden. Und dass die Tafel mit der Aufschrift zumindest vor 20 Jahren noch erkennbar und vorhanden war könnte ebenfalls für deren eher späteres Entstehungsdatum, also nach 1874, sprechen.

Allein, meine bisherige Suche in den Urkunden ab 1874 verlief leider ergebnislos. Bislang konnte ich nur die Sterbeurkunden von 1874 bis 1882 und die Heiratsurkunden von 1874 bis 1877 komplett durchsehen, leider ohne Treffer. Es ist daher wohl zu vermuten, dass Friedrich und Justine doch bereits vor 1874 verstorben sind, was eine erneute Recherche in den Bieberswalder Kirchenbüchern von 1855 bis 1873 nahelegen würde. Dennoch werde ich im kommenden Jahr zunächst weiter die standesamtlichen Urkunden durchsehen in der Hoffnung, darin vielleicht doch noch auf weitere Familienangehörige zu stoßen…

e) Die kinderreiche Jägerfamilie Claer 

Die Frage ist nur, wer das sein könnte. Friedrich Clairs Vater Friedrich Wilhelm war bereits 1815 in Ludwigswalde (?) gestorben. Friedrichs mutmaßlicher Onkel Johann Friedrich Clair und Friedrichs jüngerer Bruder Johann Wilhelm Clair drängen sich als etwaige Mitbewohner in Bieberswalde nicht so recht auf. Da kommen schon eher die zahlreichen Kinder von Friedrich und Justine in Betracht. Hier noch einmal eine Auflistung jener, von denen wir wissen:

Kinder von Friedrich (1799-18??) und Justine Clair/Claer, geb. Knaebe/Knebel (ca. 1803-18??)  

– 1824 Wilhelm Friedrich (23. Oktober) in Corjeiten – verstorben 15.6.1889 in Rahnkalwen/Dittlaken 

– 1826 Heinrich Julius (17. Dezember) in Juditten  

– 1828 Amalia Dorothea (??. November) in Juditten 

– 1830 Albert Eduard (14. November) in Juditten 

– 1833 Herrmann August (8. Januar) in Juditten 

– 1835 Justina Wilhelmine (??. Februar) in Juditten 

– 1837 Auguste Ernestine (11. März) in Juditten 

– 1839 Otto Conrad (14. April) in Juditten 

– 1841 Franz Claer (27. September) in Eichenberg/Drusken, Kr. Wehlau – verstorben 16.10.1906 in Neidenburg 

In einem meiner früheren Berichte schrieb ich hierzu:

„An dieser Stelle ist ergänzend auf die handschriftlichen Aufzeichnungen meines Großvaters Gerhard Claer hinzuweisen, wonach im Kirchenregister der ev. Kirche Judithen bei Neidenburg, Jahrgang 1828, Seite 451 Nr. 61 einige Male Clair mit „ai“ erscheint, nämlich: „Heinrich Clair, Förster; Otto C., Gendarm u.s.w., Franz u.s.w. Postbeamter// Geschwister Amelie (?) geb. Clair“. Er geht offenbar von einer Verwandtschaft aus und wertet die dem Französischen näher stehende Schreibweise als Indiz für die ursprünglich französische Herkunft der Familie… Die vollständige Notiz meines Opas Gerhard enthielt außerdem noch den Zusatz: 9 Knaben, 3 Mädchen. Sollte dies die Anzahl der Kinder von Friedrich Claer und Justine Knaebe sein?”

Wenn das mit den neun Knaben und drei Mädchen stimmte, dann gäbe es noch drei weitere Brüder. Wann könnten die zur Welt gekommen sein, wenn nicht erst nach 1841? In diesem Fall wäre mein Urururgroßvater Franz entgegen meiner bisherigen Annahme also gar nicht der jüngste Sohn seiner Eltern gewesen. Bei weiterer Einhaltung eines jeweils zweijährigen Abstands zwischen den Geburten, siehe oben, kämen als Geburtsjahre folglich 1843, 1845 und 1847 in Betracht (jeweils in Eichenberg/Drusken). Dann hätte meine Urururgroßmutter Justine bei deren Geburten aber schon 40, 42 und 44 Jahre alt gewesen sein müssen. Aus heutiger Sicht gut vorstellbar, nach damaligen Maßstäben vielleicht ambitioniert. Aber warum nicht? Diese eventuellen jüngeren Brüder (nach deren Geburtseinträgen man in den Kirchenbüchern von Drusken bzw. dem Kreis Wehlau noch recherchieren könnte) wären zur Zeit des Ortswechsels der Familie nach Bieberswalde im Jahr 1855 demnach 11/12, 9/10 und 7/8 Jahre alt gewesen und könnten, wie möglicherweise auch das eine oder andere ältere Geschwister, siehe oben, auch nach dem Tod der Eltern in Bieberswalde geblieben sein, was die Einrichtung eines Familiengrabes dort nachvollziehbar erscheinen ließe.

Allerdings könnte es auch ganz anders gewesen sein. Da im Amtsblatt der Königl. Regierung für den Förster Clair kein Vorname angegeben ist, wäre es auch denkbar, dass gar nicht Friedrich die Försterstelle in Bieberswalde angetreten hat, zumal dieser bereits bei seiner Berufung nach Drusken 1840 im Amtsblatt als “invalider Jäger” bezeichnet worden war. Womöglich hatte mittlerweile auch einer seiner Söhne eine weitere Försterstelle in Drusken angetreten und war dann nach Bierberswalde versetzt worden. Laut Aufzeichnung meines Großvaters Gerhard, siehe oben, war ja – neben dem Erstgeborenen Friedrich Wilhelm, über dessen späteren Werdegang wir relativ gut Bescheid wissen – zumindest auch der zweitälteste Sohn Heinrich Clair, geb. 1826, wie sein Vater und Großvater Jäger geworden.

Doch könnte darüber nur ein Fund in den weiteren Urkunden in Bieberswalde Aufschluss geben, die ich also – wie bereits erwähnt – weiter untersuchen werde.

f) Das Familiengrab im 19. Jahrhundert

Doch wie war das überhaupt mit Familiengräbern zu jener Zeit? Seit wann gab es so etwas und welche Bedeutung und Funktion kam diesen zu? Hierzu fand ich im Netz einen sehr erhellenden fachhistorischen Aufsatz (Archiv für Sozialgeschichte 55, 2015, S. 19 ff.: Anna-Maria Götz – Zwischen Status, Prestige und Distinktion. Das bürgerliche Familiengrab und der Wandel des Bestattungswesens im 19. Jahrhundert), aus dem ich im Folgenden die wichtigsten Passagen zitiere:  

“Das 19. Jahrhundert ist in der Sozialgeschichte auch als das bürgerliche Zeitalter bekannt und eben dieses Bürgertum differenzierte sich in seinen ideellen Vorstellungen sowie im sozialen Habitus bis zur Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert immer weiter aus. Was in den Jahrzehnten nach der Französischen Revolution und der Aufklärung als egalitär proklamiert wurde, offenbarte sich im Alltagsleben nicht selten auf elitäre Weise. Diesen Paradigmenwechsel finden wir auf den Friedhöfen der Jahrhundertwende mit einer weiten Bandbreite an bürgerlichen Grabanlagen mit monumentalem Grabschmuck, mehrdeutigen Bildschöpfungen und kostspieligen Materialen. Hier lässt sich im Sinne Pierre Bourdieus ein vielschichtiges Geflecht der sogenannten feinen Unterschiede erahnen, das es im Folgenden näher zu untersuchen gilt.” (S.19) 

Die Verfasserin betont das

“Phänomen, das historische Friedhöfe als Accessoirelandschaften des bürgerlichen Habitus erscheinen lässt. Erst ab dem 19. Jahrhundert bot sich mit der Einrichtung kommunaler Zentralfriedhöfe ausreichend Platz, um die früheren Massen- und Schichtgräber durch individuelle Einzelgräber abzulösen. Die Professionalisierung des Bestattungswesens im späten 19. Jahrhundert sowie das Aufkommen von Gewerbezweigen rund um Beisetzung, Verabschiedung und Grabgestaltung lassen vermuten, dass die Bestattungs- und Grabmalkultur zu diesem Zeitpunkt immer weiter ausdifferenziert wurde. Insbesondere die monumentalen, dauerhaft angelegten Gräber bürgerlicher Familien veranschaulichen facettenreich, dass sich das Andenken um die Verstorbenen auf repräsentative und äußerst individuelle Weise in Szene setzen ließ.” (S.19)

Und weiter heißt es, dass

“Friedhöfe eine überregionale Reputation hatten. All diese Aspekte lassen vermuten, dass hier im Laufe des 19. Jahrhunderts Bedingungen gegeben waren, unter denen sich bürgerliche Kreise gegenüber anderen sozialen Gruppen zu behaupten versuchten und ein spezifisch bürgerliches Bestattungswesen und Andenken kultivierten.” (S.21) 

“Neben Lage und Größte konnten auch Materialien Mittel zu sozialer Statusbekundung und schichtspezifischer Abgrenzung sein. An die physische Beschaffenheit und den materiellen, ökonomischen Wert bestimmter Werkstoffe war eine soziokulturelle Codierung gekoppelt: »Materialien sind Indikatoren gesellschaftlicher Empfindlichkeiten, denn an ihnen lagert sich die Geschichte ihrer Verwendungsweisen an.«28 Als besonders hochwertig galten Materialien wie Sandstein, Marmor, Granit oder auch Bronze, da sie bis zum 19. Jahrhundert den Repräsentanzbauten des Adels und der Kirchen vorbehalten waren. Während derart exklusive Materialien entlang der Hauptalleen gewissermaßen in Reinform zu finden waren, zeigen sich in den zweiten und dritten Reihen auch Grabstätten in Form von Amalgamen. Eine kostengünstigere Variante war es beispielsweise, auf einen Sandsteinsockel aus der Region eine Plastik aus importiertem Marmor in Szene zu setzen. Ebenfalls von Bedeutung für die Reputation eines Grabs war die Art der Fertigung als 
Unikat, als Reproduktion oder als serielle Katalogware. (S.31) 

“Bürgerliche Familiengräber des 19. Jahrhunderts wurden für die Ewigkeit angelegt, oder genauer: für die Hoffnung auf Erinnerung der Hinterbliebenen in Ewigkeit.” (S.35) 

Das Bürgertum ist dabei als eine heterogene Gruppe von Akteuren zu verstehen, die durch erkämpfte Rechte und erarbeiteten Status diskursprägend war und sich gegenüber aufstrebenden Schichten als vorbildlich erachtete. Allein der Umstand, dass sich viele bürgerliche Familien ein Familiengrab mit monumentaler Grabanlage finanzieren konnten, grenzt diese Gruppe der Grabbesitzer von unteren sozialen Schichten ab. Der Friedhofsraum spielte dabei die Rolle eines Spielfelds der sozialen Ordnung. Die Einrichtung der Grabstätte fungierte dabei als eine Art Seismograf bürgerlicher Identität (S.36) 

“Offensichtlich ist jedoch, dass allein die Dauerhaftigkeit und Monumentalität der vorgestellten Grabanlagen einen ausgeprägten Wunsch demonstrieren, das Andenken an die Toten im Diesseits repräsentativ auszustatten.” (S.37) 

Was folgt daraus nun für unsere Betrachtungen? Zwar kann bei der Försterfamilie Claer nicht unbedingt von großbürgerlichem Habitus und elitärer Renommiersucht auf dem Friedhof ausgegangen werden. Die Steintafel ist auch vergleichsweise schlicht gehalten, und von der damaligen Ausstattung der eigentlichen Grabstätte wissen wir nichts. Doch war zu jener Zeit – noch vor den Bismarckschen Sozialreformen mitsamt Einführung einer Rentenversicherung – eine Existenz als königlicher Förster, also quasi im sicheren Staatsdienst, mit mindestens sechs, vielleicht sogar neun männlichen Nachkommen, die womöglich allesamt ihrerseits sicher in Lohn und Brot standen, keine schlechte Voraussetzung für die Errichtung einer zumindest dezent repräsentativen Familiengrabstätte im von den Friedhofs-Bodenpreisen her sicherlich noch kostengünstigen ländlichen Raum.

Im nächsten Forschungsbericht in einem Jahr, vielleicht mit Funden aus den Bieberswalder Urkunden, könnten wir Genaueres wissen…

2. Die Claers in Gerdauen 1872 

Einen weiteren kleinen Treffer landete ich auf der Internetseite Portal-Ostpreußen:

Demnach wurden in Gerdauen, Kirchspiel Muldzen, in den jahren 1871 und 1872 die Kinder Anna Johanna Claer (24.6.1871) und Max Friedrich Claer (24.11.1872) geboren. Die Eltern waren jeweils ein Herrmann Claer und seine Frau Anna Gutzki.

Besonders interessant ist ferner, dass als Geburtsort im Falle von Anna Johanna “Ilmsdorf Forsthaus” angegeben wird. Dies deutet auf eine weitere Försterfamilie Claer hin, von der wir bisher noch nichts wussten!

Gerdauen liegt etwas südlich von Wehlau und südöstlich von Königsberg, also ziemlich dicht an Eichenberg/Drusken, wo – wie oben geschildert – die Förster-Familie von Friedrich Clair bis zur Versetzung nach Bieberswalde 1855 gelebt hat. Auch deren frühere Wohnorte Juditten und Corjeiten sowie Friedrichs Geburtsort Ludwigswalde sind nicht weit.

Wie aber lassen sich diese Claers in Gerdauen nun einordenen? Der Name des Vaters Herrmann erinnert natürlich gleich an Hermann August Clair, Friedrich und Justines viertältesten Sohn, geboren 1833 in Juditten, den Ururgroßvater meines anfangs erwähnten Cousins vierten Grades Manfred Claer. Der mutmaßliche Förster Herrmann Claer aus Gerdauen könnte bei der Geburt seiner Kinder 1871/72 (rein statistisch betrachtet) ca. 20 bis 30 Jahre alt gewesen sein, womit sein Geburtsdatum zwischen 1841 und 1851 liegen könnte. Unter Berücksichtigung der damals weit verbreiteten Gepflogenheit, den ältesten Sohn einer Familie nach dem Vater und die weiteren Söhne nach dessen Brüdern, also ihren Onkeln, zu benennen, könnte der Gerdauer Herrmann folglich der älteste Sohn oder ein Neffe von Manfreds Ururgroßvater Hermann August gewesen sein.

Da Manfreds Ururgroßvater Hermann August (geb. 1833 in Juditten) aber laut Geburtsurkunde von Manfreds Urgroßvater Franz Richard Claer (geb. 1872 in Geidlauken) Müller war – er hatte in die Müllerfamilie seiner Frau Henriette Mettschul eingeheiratet –, hätte vermutlich der älteste Sohn die Mühle übernommen und wäre nicht Jäger geworden. (So wie es ja auch naheliegend ist, dass Franz Richard als vermutlich erst spät geborener, weiterer Sohn seines Vaters neue berufliche Wege ging bzw. fuhr, denn er wurde Fuhrmann und verliebte sich während eines Frachttransports im Rheinland, wo er dann hängenblieb, siehe meine früheren Berichte.) Demnach dürfte der Gerdauer Jäger Herrmann Claer eher ein Neffe des Müllers Hermann August gewesen sein, der nach diesem benannt wurde. Und falls Herrmanns Vater, wofür vieles spricht, auch Jäger gewesen sein sollte, könnte er der Jäger Heinrich Julius Clair (geb. 1826 in Juditten) oder auch Albert Eduard Clair (geb. 1830 in Juditten), dessen Beruf wir nicht kennen, gewesen sein; aber eher nicht Otto Conrad Clair (geb. 1839 in Juditten), denn der soll ja laut meinem Opa Gerhard Gendarm gewesen sein. Genauso denkbar wäre aber auch, dass der Gerdauer Jäger Herrmann Claer aus der Linie von Friedrichs Bruder, dem Oberförster Johann Wilhelm Clair, geb. 1802 in Ludwigswalde, stammt; oder von noch woanders…

Noch dazu spricht für die Neffen-These, dass Gerdauen nur überschaubare 50 km von Geidlauken entfernt ist. Noch dichter liegt übrigens Geidlauken an Eichenberg/Drusken, und auch Ludwigswalde und Juditten und Gumbinnen (wo sich die ersten Clairs 1712 aus St. Imier in der Schweiz kommend angesiedelt haben) sind nicht weit. Demnach haben sich die Clairs lange Zeit im nördlichen Ostpreußen aufgehalten – bis zur Versetzung von Friedrich nach Bieberswalde im Jahr 1855!

3. Wie es Förster Otto Wilhelm Claer 1890 von Ostpreußen nach Schlesien verschlug

Um einen Ortswechsel noch viel größeren Ausmaßes geht es nun in den folgenden Ausführungen, die mir mein Neffe vierten Grades Andreas Z. aus Moritzburg bei Dresden dankenswerterweise zur Verwendung überlassen hat. Sein Ururgroßvater, der Förster Otto Wilhelm Claer (1859-1937), Sohn des Försters Wilhelm Friedrich Claer (1824-1889), welcher wiederum der älteste Sohn von unseren besagten Friedrich Cair (geb. 1799) und Justine Knaebe (geb. ca. 1803) ist, siedelte offenbar der Liebe wegen 1890 von Ostpreußen nach Schlesien um. Die folgenden Passagen von Andreas Z. bringen nun erstmals Licht in die näheren Begleitumstände, wobei bedauerlicherweise seine Großmutter, deren Mutter selbst eine geborene Claer war, diese Entdeckungen nicht mehr miterleben kann, da sie vor wenigen Jahren hochbetagt verstorben ist…

Noch dazu hat mir Andreas dieses großartige Foto des Försters Otto Wilhelm Claer (1859-1937) in Dienstkleidung zur Verfügung gestellt:

“Unsere und Omis große Frage war ja, weshalb ihr Opa Otto Wilhelm Claer, geb. 1859 in Argenthal/Ostpreußen, nach Schlesien übergesiedelt ist. Diese Frage hatte Omi sich gestellt und nicht beantworten können. Sie hat sie auch nie ihrem Opa gestellt. Wir haben das Rätsel nun lüften können. 🙂 

Nur zur kurzen Einordnung. Der Vater von Otto Wilhelm Claer war Friedrich Wilhelm Claer, geb. 1824 in Corjeiten, Kreis Fischhausen/Ostpreußen. Das war uns ja bereits bekannt. 

– Otto Wilhelm Claer hat 1890 im schlesischen Leutmannsdorf eine Minna Klara Hübner geheiratet. Sie ist die Tochter des Friedrich Wilhem Hübner. …der Name war Friedrich Wilhelm Programm 🙂 Hier entstand die Frage, weshalb er in Ostpreußen geboren wurde, dort Förster wurde und in Schlesien dann geheiratet hat. Er war auch bereits 31 Jahre. Weshalb ist er nach Schlesien? Nun, er war Förster und es wäre denkbar, dass er in Schlesien eine Stelle angetreten hat, weil möglicherweise in Schlesien eine Försterstelle ausgeschrieben war. Nicht undenkbar, allerdings für uns eher unwahrscheinlich, denn die Claers waren in Ostpreußen ja schon lange Förster und es war eine waldreiche Region. Weshalb also die lange „Fahrt“ und einen Umzug antreten? Es war zu dieser Zeit ja sicher nicht wie heute, in der ein Umzug für eine Stelle über mehrere 100km kein Problem und eher normal ist. Also diese Försterstellentheorie war für uns eher nicht so griffig. Da musste noch mehr sein 🙂 

Hier kommt die Entdeckung! Wir haben eine Geburtsurkunde aus Ostpreußen entdeckt, in der der Förster Friedrich Wilhelm Claer anzeigt, dass seine Tochter 1879 eine Tochter zur Welt gebracht hat. Viel wichtiger ist jedoch die handschriftliche Ergänzung auf der linken Seite. Wir haben diese entschlüsselt:  

“Der Revierförster Richard Hübner, evangelischer Religion, wohnhaft in Ludwigsdorf, Landkreis Schweidnitz hat laut Heiratsurkunde Nr. 4 des Standesamtes zu Eschenbruch vom 5. September 1879 mit Emma Marianne Claer der Mutter des nebenbezeichneten Kindes, die Ehe geschlossen und in einer unterm 28. September 1903 vor dem königlichen Notar Ludwig Kottman in Schweidnitz errichteten Urkunde die Vaterschaft zu dem nebenbezeichneten Kinde anerkannt 

Didlaken, den 1. Oktober 1903.  

Der Standesbeamte in Insterburg Dekars 

hier nachträglich eingetragen Insterburg, den 7. Oktober 1903“ 

 ALSO: Ein Richard Hübner aus Schlesien, aus dem Landkreis Schweidnitz hat in Ostpreußen ein uneheliches Kind mit der Tochter des Friedrich Wilhelm Claer (geb. 1824) gezeugt. Richard Hübner, selbst Förster, war zu dieser Zeit mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit in Ostpreußen stationiert. Wir wissen ja, dass viele Förster einige Zeit im Militär gedient haben. So ist es sicher zu erklären, dass Richard Hübner in Ostpreußen war und dort die sicherlich überaus bezaubernde Emma Marianne Claer getroffen hat und ein Kindelein entstanden ist 🙂  Und es ist sehr naheliegend, dass Omis Opa, Otto Wilhelm Claer, mit Richard Hübners Familie in Kontakt kam und die Schwester von Richard Hübner kennengelernt hat…und dann 1890 die Schwester von Richard Hübner geheiratet hat. Das ist also die Verbindung, die wir immer gesucht haben. Otto Wilhelm hat aufgrund der Verbindung zwischen seiner Schwester und Richard Hübner den Kontakt nach Schlesien gehabt. Da er und Richard Förster waren, ist die Vermittlung einer Försterstelle in Schlesien sicher einfacher gewesen und Otto Wilhelm ist dann seiner Schwester nach Schlesien gefolgt.  

Wir sind über die Eintragung in der Geburtsurkunde so glücklich und entzückt. Omi hätte sich sicher so gefreut diese Antwort zu bekommen.” 

Allerdings ist an dieser Stelle noch einmal darauf hinzuweisen, dass es auch schon zuvor in Schlesien Clairs gegeben hat, die vermutlich aus Ostpreußen stammten. Es sei hier nur an den Förster Clair in Mellendorf erinnert, der dort 61-jährig im Jahr 1822 ein Wildschwein im Kampf von Angesicht zu Angesicht bezwungen hat, worüber dann mehrere Zeitungen, darunter auch Fachzeitschriften für Jägerei berichteten, siehe meine früheren Texte.

4. Heiratseintrag der Elisabeth Clair (Tochter des Jacob Clair), Gumbinnen 1834 – auf Französisch! 

Und noch ein weiterer spektakulärer Fund ist Andreas Z. gelungen. Hier ist der französischsprachige Heiratseintrag von 1734 der Elisabeth Clair, der Tochter des Jacob Clair aus Gumbinnen, der gemeinsam mit David Clair und weiteren Angehörigen 1712 aus St. Imier in der Schweiz neben vielen weiteren französischsprachigen Zuwanderern nach Gumbinnen in die “Schweizer Kolonie” gekommen war, siehe meine früheren Texte.

Inhaltlich war uns das aber schon bekannt. Neu für uns ist die Ansicht des Eintrags. Wirklich schade, dass wir  die “Lücke” zwischen den Clairs in Gumbinnen und den Förstern in Ludwigswalde um 1800 bisher nicht schließen konnten, wobei das Geburtsjahr “unseres” Friedrich Wilhelm Klaer, der wohl erst in den 1790ern nach Ludwigswalde gekommen ist, nach einem (ungesicherten) Datenbankeintrag 1770 gewesen sein soll, siehe meine früheren Texte. 

5. Weitere Fotos von Erich Claer (1901-1950)

Abschließend noch ein Zeitsprung um zwei Jahrhunderte nach vorne. Tante Lorelies hatte mir freundlicherweise noch weitere Bilder ihres Vaters Erich Claer (1901-1950) zur Verfügung gestellt, meines Großonkels zweiten Grades, über den wir dank der Kondolenzbriefe und zahlreicher weiterer Unterlagen (siehe meine Berichte aus den letzten beiden Jahren) schon ziemlich gut Bescheid wissen. Hier also sind die Fotos (teilweise mit Erichs Söhnen Hans-Henning “Moppel” und Dieter), jeweils mit den Erklärungen von Tante Lorelies:

Bild 1: Vor dem Krieg in Gröben mit Frido Finno Fitz von der Niederlausitz, unserem Schäferhund, der auf der Flucht verschollen ist. 

2: Das Foto hatte meine Mutter auf der Flucht bei sich, ein Russenbengel zerriss es vor ihren Augen und klaute alles, was sie in ihre Kleider eingenäht hatte.

3: Juni 1947, erstes Foto nach der Gefangenschaft.

4: 1949 im Stadtpark Steglitz, wo Moppel auch immer trainierte zwischen 4 Bäumen, mit einem Seil drum (rechts im Bild Dieter).

5: Bei einer Festveranstaltung der Fa. Meyer, wo er Personalchef war, neben ihm Dieter, der mit durfte.

6: Das letzte Passbild 1950.

6. Ausblick

Damit endet mein Bericht in diesem Jahr. Die Fortsetzung folgt wie immer in 12 Monaten.

justament.de, 26.12.2022: Ganz großer Kleinkünstler

Scheiben Spezial: Zum 80. Geburtstag von Reinhard Mey

Thomas Claer

Neulich habe ich nach langer Zeit mal wieder den “Antrag auf Erteilung eines Antragsformulars” gehört, den satirischen Song des Berliner Liedermachers Reinhard Mey aus dem Jahr 1977, der darin in sieben Strophen die deutsche Bürokratie treffsicher auf den Punkt bringt und zugleich durch den Kakao zieht. Auf seinem langen Weg zum begehrten Antragsformular kämpft sich das lyrische Ich tapfer durch den Behördendschungel, trifft dort auf durchweg freundliche und hilfsbereite Amtsträger (insofern ist das Lied wohl eher noch beschönigend), die auch im Rahmen ihrer Zuständigkeiten ihr Möglichstes tun. Doch ist in diesem Wust von Unübersichtlichkeit und Ineffizienz leider kein Vorankommen möglich, und am Ende sorgt nur ein grotesker Zufallsfund für das nicht mehr für möglich gehaltene Erfolgserlebnis. Erst in der vorletzten Strophe gerät der Ich-Erzähler, der bis dahin alles geduldig über sich ergehen lässt, aus der Fassung…  Es ist so witzig. Man kann sich immer wieder aufs Neue darüber amüsieren, egal wie oft man es schon gehört hat. Gäbe es ein Ranking der lustigsten Lieder aller Zeiten, dann stünde dieses Lied, jedenfalls wenn es nach mir ginge, unangefochten an erster Stelle (gefolgt von Torfrocks Blasphemie-Klassiker “Rollos Taufe” und dem “Sonnenschein-Song” aus der Sesamstraße).

Natürlich ist der “Antrag auf Erteilung eines Antragsformulars” auch ein Zeitdokument. Ja, genauso war das damals in den Siebzigern:

“Tja”, sagte der Herr am Schreibtisch, “alles, was Sie wollen, nur 
Ich bin hier Vertretung, der Sachbearbeiter ist zur Kur 
Allenfalls könnte ich Ihnen, wenn Ihnen das etwas nützt 
Die Broschüre überlassen, ,Wie man sich vor Karies schützt’” 

Die Sozialdemokratie hatte gesiegt. Im Mittelpunkt stand nun der arbeitende Mensch, dem man allerhand Privilegien angedeihen ließ. So etwas wie Kundenfreundlichkeit hingegen war noch nicht erfunden:

“… In die Abwertungsabteilung für den Formularausschuss. 
Bloß, beeil’n Se sich ein bisschen, denn um zwei Uhr ist da Schluss” 

… 

“Und die Nebendienststelle, die sonst Härtefälle betreut, 
Ist seit elf Uhr zu, die feiern da ein Jubiläum heut’ 
Frau Schlibrowski ist auf Urlaub, tja, da bleibt Ihnen wohl nur 
Es im Neubau zu probier’n, vielleicht hat da die Registratur…” 

Überhaupt tritt man dem Musiker und großen Textdichter Reihard Mey wohl nicht zu nahe, wenn man feststellt, dass er seine beste Zeit in den besagten Siebzigern hatte. Wohl alle seine Lieder, an die man sich heute noch erinnert, stammen aus jenem Jahrzehnt: Vom heute wieder sehr aktuellen “Ich bin Klempner von Beruf” über die wirklich großartige “Ballade vom Pfeifer” bis zu “Über den Wolken”, seinem größten “Hit”, ohne den auch nach fast einem halben Jahrhundert kaum eine Schlagerparty auskommt. Als dieses Lied geschrieben wurde, war das Fliegen im Flugzeug noch keine schambehaftete Klima-Sauerei, sondern ein für die breite Masse unbezahlbarer und grenzenlose Freiheit verheißender romantischer Traum:

“In den Pfützen schwimmt Benzin 
Schillernd wie ein Regenbogen 
Wolken spiegeln sich darin 
Ich wär gern mitgeflogen.” 

Am Mittwoch letzter Woche hat Reinhard Mey seinen 80. Geburtstag begangen.