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justament.de, 30.9.2019: Rückkehr nach Bielefeld

Recht historisch Spezial: Justament-Autor Thomas Claer über eine nostalgische Sommerreise an die Orte seiner Juristenausbildung

Immer musste ich an die abgründigen Worte des Schriftstellers Uwe Johnson (1934-1984) denken: „Da, wo ich herkomm‘, das gibt es nicht mehr.“ Gemeint war damit vordergründig das alte Mecklenburg vor der DDR-Zeit, aber im Grunde genommen gilt dieser Satz doch universell: Kommt man an die Orte seiner früheren Lebensetappen, dann erkennt man sie oft kaum mehr wieder. Einerseits, weil sie sich in der Zwischenzeit tatsächlich stark verändert haben und womöglich gar nicht mehr sie selbst sind. (Besonders krass gilt dies, wenn der Staat, in dem man aufgewachsen ist, gar nicht mehr existiert. Meine Cousine aus Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz, pflegt immer zu sagen: „Es gibt die Straße, die Stadt und das Land nicht mehr, in denen ich aufgewachsen bin.“) Und andererseits sieht man diese Orte natürlich auch deshalb mit anderen Augen, weil man selbst schon längst nicht mehr der ist, der man seinerzeit noch war, als man in ihnen gelebt hatte…

17 Jahre ist es nun schon her, dass meine Frau und ich unsere Zelte in Bielefeld, der entgegen allen abstrusen Gerüchten sehr real existierenden Stadt am Teutoburger Wald, abgebrochen haben und nach Berlin gezogen sind. Nur einmal noch, im Jahr 2003, bin ich ganz kurz dort gewesen, um meine Doktorarbeit zu verteidigen. Seitdem nicht mehr. Dabei haben wir seinerzeit fast ein ganzes Jahrzehnt in der ostwestfälischen Provinz-Metropole verbracht. In den unteren Semestern hatte ich sogar noch lange Haare. Aber am Ende wollten wir, und ganz besonders meine Frau, nur noch weg von dort und auf ins Ungewisse, auf nach Berlin!

Keine Sekunde haben wir diesen Schritt seitdem bereut. Und wir können auch wirklich nicht behaupten, dass uns in den letzten 17 Jahren in Berlin etwas von Bielefeld gefehlt hätte. Aber irgendwann, mit ganz viel Abstand, sind dann doch nostalgische Erinnerungen in uns aufgestiegen. An all die schönen Momente unserer Jugendzeit. An diese Stadt, von der wir erst mit langer Verzögerung gemerkt haben, wie sehr sie uns trotz all ihrer Enge und Begrenztheit ans Herz gewachsen ist. In diesem Sommer wussten wir dann: Es ist Zeit, dort noch einmal hinzufahren und all die Orte unseres früheren Lebens noch einmal zu besuchen. Gerade einmal 2 ½ Stunden braucht der ICE für eine Strecke von Berlin nach Bielefeld. Ankunft um 10.30 Uhr und zurück um 21.30 Uhr. Dazwischen liegen 11 Stunden bei untypischstem Bielefelder Wetter: blauem Himmel und strahlendem Sonnenschein. (Ein alter Bielefeld-Witz lautet: Woran merkt man, dass es Sommer wird in Bielefeld? Der Regen wird wärmer.)

Wir kommen aus dem Bahnhof und laufen die Straße zum Jahnplatz entlang. Kein einziges der Geschäfte kommt mir irgendwie bekannt vor. Meine Frau glaubt immerhin, sich an ein oder zwei Läden zu erinnern, die es damals schon gegeben hat. Alles andere ist neu. Selbst der Saturn-Markt ist nicht mehr am selben Ort wie früher. Dort am Jahnplatz, wo wir uns immer den großen türkischen Vorspeisenteller geteilt haben, ist jetzt überhaupt kein Imbiss mehr. Der Aldi in der Herforder Straße, wo ich immer auf dem Rückweg vom Repetitorium eingekauft habe? Nicht mehr da. Aber ich möchte doch wenigstens noch mal in meinen liebsten Schallplattenladen. Ist der etwa auch nicht mehr…? Nein, auch ihn gibt es nicht mehr. Aber vielleicht den anderen, den Secondhandladen oben in der Passage? Die ganze obere Etage der City-Passage steht mittlerweile leer. Unten, wo früher das Antiquariat war, in dem wir unsere hübsche E.T.A. Hoffmann-Gesamtausgabe erstanden haben, ist jetzt ein Tattoo-Laden. Überhaupt scheint die ganze Passage fast nur noch aus Tattoo-Läden zu bestehen. Das ist wohl zurzeit sehr angesagt in Bielefeld. Wir sehen auch sehr viele tätowierte Leute auf der Straße, beinahe mehr als in Berlin. Die Imbiss-Läden sehen viel cooler aus als früher, von den Schildern und der Einrichtung her. Fast wie in Berlin in den hippen Bezirken. Die Preise sind auch nicht mehr so sehr anders. Damals, zu unserer Zeit, kostete der Döner in Bielefeld 6,50 DM, was schon sehr teuer für uns war. In Berlin bekamen wir ihn dann bereits für ein bis zwei Euro. Jetzt liegt der Preis hier wie dort bei ca. 3,50 Euro. Auch die Leute auf der Straße wirken nicht viel anders als in Berlin. Es gibt viel mehr Ausländer im Straßenbild als früher.

Wir fahren raus zur Uni, zu unserer geliebten Uni! Da ist aber ganz viel abgesperrt. Überall Bauarbeiten. Pünktlich zum 50-jährigen Jubiläum der Universität – ich erinnere mich noch gut an das 25-jährige Jubiläum kurz nach meiner Immatrikulation, als ich in den Genuss einer Rede von Niklas Luhmann kam – ist leider längst noch nicht alles fertig geworden. Wohin man blickt, stehen große Pappwände zwischen Staub und Schmutz. Aber als wir dann in der Mitte der riesigen Halle zu den vielen bunten Spruchbändern an der Galerie aufblicken, die dort noch immer genauso hängen wie vor zwei Jahrzehnten – Asta, Schwule Gruppe, Feministische AG, Internationale Solidarität und so weiter –, läuft es mir wohlig kalt den Rücken hinunter. Allerdings knurrt uns schon mächtig der Magen, doch zu unserer großen Enttäuschung hat wegen der Bauarbeiten die Mensa nicht geöffnet. Wie hatte ich mich auf das leckere Alternativ-Essen gefreut: diese unvergesslichen köstlichen Gemüse-Bratlinge und die riesigen Nachtisch-Portionen mit Obstjoghurt. Aber es kommt noch schlimmer: Auch die Cafeteria ist wegen der Bauarbeiten geschlossen. Dort, wo wir uns immer eine Tasse Kaffee für 50 Pfennig geteilt haben, was mir eigentlich schon viel zu teuer war… Stattdessen gehen wir zum Mittagessen nun also ins „Westend“ am anderen Ende des Hauptgebäudes, wo wir uns früher manchmal außerhalb der Mensa-Öffnungszeiten verköstigt hatten. Das „Westend“ heißt natürlich auch nicht mehr so, aber immerhin bekommt man dort noch etwas zu essen, wenn auch gänzlich anderes als zu unseren Zeiten. Nach dem Essen setzen wir uns an einen der kleinen Tische auf der Galerie und lassen unsere Blicke schweifen. Meine Frau hat hier früher stundenlang gesessen, sagt sie, und mit Freundinnen gequatscht.

Nun gehen wir zu unserem alten Studentenwohnheim hinter der Uni, wo wir die ersten fünf Jahre (meine Frau die ersten vier Jahre) in Bielefeld zum unschlagbaren Mietpreis von 245 DM gewohnt haben. Auf diesem Weg habe ich ca. im dritten Semester nach Fertigstellung einer BGB-Hausarbeit, die mich fast in den Wahnsinn getrieben hätte, nachts um eins am Himmel ein kleines UFO gesehen, das in Zickzacklinien über dem Studentenwohnheim kreiste… Genau 18 Quadratmeter betrug die Wohnfläche in den Apartments, das berühmte „Weltraum-Klo“ schon inbegriffen. Doch nun trauten wir unseren Augen kaum. Was war denn mit unserem Studentenwohnheim passiert?? Da stand ja ein völlig anderes Gebäude. Doch, bei genauerem Betrachten erkannten wir noch eine entfernte Ähnlichkeit mit unserem Wohnheim. Man hatte es offenbar völlig entkernt und aufgehübscht. Jetzt waren es Luxus-Wohnungen geworden…

Wir wandern durch den Wald hinter unserem alten Wohnheim zum Tierpark Olderdissen. Nach unserer Erinnerung bestand dieser Wald vor allem aus Nadelbäumen. Nun bemerken wir aber fast überall nur noch Laubbäume, warum auch immer… Es ist ein wunderschöner Weg, den wir früher so oft gegangen sind. Diese liebliche, hügelige Landschaft und dieser atemberaubende Blick auf den Vorort Dornberg! Ach, wie schön das damals doch war, zwischen all dem schrecklichen Paragraphen-Lernen diese schöne Natur zu genießen. Um auch noch alle Tiere im Zoo zu besichtigen, der früher niemals so gut besucht war wie an diesem schönen Sommertag, fehlen uns aber Zeit und Kraft, denn wir haben ja noch einiges vor.

Als nächstes fahren wir nach Baumheide, den einzigen „sozialen Brennpunkt“ in Bielefeld. Dort wohnten wir vier Jahre lang super günstig in einer Genossenschaftswohnung, als unsere Wohnzeit im Studentenwohnheim hinter der Uni abgelaufen war. Bis Baumheide fährt man vom Zentrum der Stadt, dem Jahnplatz, mit der U-Bahn nur 12 Minuten. In Berlin würde das als super zentral gelten, nach Bielefelder Maßstäben aber liegt es schon fast am Ende der Welt. Über drei bis vier U-Bahnstationen (über der Erde) fährt man nur durch trostlosestes Gewerbegebiet – und kommt dann in eine total idyllische Stadtrand-Siedlung direkt am Wald. Die Häuser, die damals, als wir 1998 dort eingezogen waren, alle gerade frisch saniert worden waren, sehen jetzt teilweise etwas mitgenommen aus. Aber ansonsten bin ich auch jetzt noch ganz angetan von Bielefeld-Baumheide. Den riesigen Marktkauf direkt an der U-Bahn-Station gab es damals schon. Nur innendrin erkennen wir nichts mehr wieder. Die Sozialstruktur galt schon damals als problematisch. Inzwischen scheint sich dies noch verstärkt zu haben, wie die Graffitis am U-Bahnhof vermuten lassen. Aber verglichen mit Berlin ist das wirklich lächerlich! Genau wie seinerzeit wirkt ansonsten alles supergepflegt. Kein Müll liegt in den Straßen. An unserem früheren Hausaufgang steht noch genau ein uns bekannter Name geschrieben, alle anderen sind neu. Die älteren Damen, die damals so streng die Einhaltung des Putzplans kontrolliert hatten, wohnen begreiflicherweise nicht mehr dort. Stattdessen lesen wir ganz viele türkische und arabische Namen auf den Klingelschildern. Was uns aber angenehm überrascht, ist, dass wir keine verächtlichen Blicke mehr erleben müssen. Damals wurde insbesondere meine koreanische Frau, manchmal auch wir beide, von überwiegend älteren Damen immer wieder feindselig angestarrt. Irgendwann merkten wir, dass dies wohl Russlanddeutsche waren, die in Baumheide in großer Zahl lebten und offenbar ein sehr rassistisches Weltbild hatten. Glücklicherweise hat sich dies offensichtlich nicht auf die jüngere Generation übertragen.

Wir laufen durch den Wald und kommen auf den einfach nur zauberhaften Landweg von Baumheide nach Milse. Dort marschiert man – genau wie vor 20 Jahren – inmitten zirpender Grillen durch die goldgelben Felder. Nur dass uns diesmal, etwas häufiger als damals, gelegentlich ein vorbeifahrendes Auto oder Fahrrad begegnet. Wir fragen uns, ob es solche idyllischen Orte eigentlich überall gibt oder nur hier am Stadtrand von Bielefeld. In Milse erreichen wir die U-Bahn-Endstation. Viel Zeit bleibt uns nun nicht mehr in Bielefeld. Für den Botanischen Garten reicht sie leider nicht mehr, aber dafür noch für einen Besuch auf der Sparrenburg. Dort hat sich aber auch eine Menge getan. Früher war es einfach nur eine alte Burg, um die sich kaum jemand kümmerte. Heute sind überall Schilder angebracht, die die wechselvolle Geschichte dieser Burg erklären. Große Informationstafeln widmen sich vor allem auch der Fledermauspopulation in den alten Mauern. Und so viele Besucher haben an diesem lauen Sommerabend den Weg zur Burg gefunden! Vor allem sieht man jede Menge Studenten auf den Mauern sitzen, die dort lässig mit einer Flasche Bier in der Hand in den Sonnenuntergang blicken. So schön, wie wir es jetzt erleben, hatten wir Bielefeld gar nicht in Erinnerung!

Auf dem Weg zum Bahnhof, in dessen Nähe wir uns schon gleich nach unserer Ankunft einen Asia-Imbiss zum Abendessen ausgeguckt hatten, sagt meine Frau zu mir: „Hier in Bielefeld ist es wirklich gar nicht schlecht. Hier kann man gut wohnen.“ Und fügt dann aber noch hinzu: „Als Spießer.“

www.justament.de, 25.9.2017: Der Gegenpapst

Die zweibändige Autobiographie des Literatur-Professors und Großintellektuellen Karl Heinz Bohrer

Thomas Claer

Es war wohl das Großereignis des Jahres im deutschen Kulturbetrieb: die vor einigen Monaten erschienenen Lebenserinnerungen Karl Heinz Bohrers (geb. 1932), des immer streitbaren und notorisch umstrittenen Homme de lettres, der insbesondere als FAZ-Literaturblatt-Redakteur in Frankfurt und Kulturkorrespondent in London, als Literatur-Professor in Bielefeld und später in Stanford und nicht zuletzt als langjähriger Herausgeber und scharfzüngiger Kolumnist des „Merkur. Zeitschrift für europäisches Denken“ brillierte. Und da ich seinerzeit in den Neunzigern an der Uni Bielefeld, wo er neben Luhmann (Soziologie), Wehler und Koselleck (Geschichte) zu den Superstars der Professorenzunft gehörte, oftmals und gerne seine Seminare besucht hatte, die ich all den trockenen juristischen Lehrveranstaltungen bei weitem vorzog, und mir das alles noch lebhaft in Erinnerung geblieben ist, lag nichts näher, als diesen Sommer der Lektüre ebendieser Autobiographie namens „Jetzt. Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie“ zu widmen, mitsamt den schon 2012 erschienenen, aber bislang von mir noch nicht gelesenen Jugenderinnerungen „Granatsplitter“. Nach 862 Seiten Karl Heinz Bohrer kann ich sagen: Es war interessant und abwechslungsreich, es hat sich gelohnt.

Damals in Bielefeld erlebte ich, als ich meine heutige Frau, die damals Literaturwissenschaft studierte, erstmals in ein Bohrer-Seminar begleitete, einen zunächst griesgrämig wirkenden Mann jenseits der 60 mit extravaganter Frisur, der jedoch, sobald er zu reden begann, gleichsam erstrahlte und aus dem feurige Begeisterung sprühte für all das, was er seinen Zuhörern mitzuteilen hatte: Das absolute Präsens! Die radikale Melancholie! Das dionysische Prinzip! Die Ästhetik des Schreckens! Die Imagination! Die Plötzlichkeit! Und immer wieder warf er große Namen in den Ring: Baudelaire! Malarmé! Maupassant! Friedrich Nietzsche! Walter Benjamin! Es war schwindelerregend. Nun muss ich einräumen, dass sich meine literarischen Kenntnisse damals, mit Mitte zwanzig, in dem erschöpften, was ich – immerhin – aus der Fernsehsendung „Das Literarische Quartett“ und der Lektüre einiger gewichtiger Romane, hauptsächlich von Thomas Mann und Fjodor Dostojewski, mitgenommen hatte. Von Marcel Reich-Ranicki, der sich, wie ich heute weiß, vor allem an Georg Lukacs und dem literarischen Realismus orientierte, hatte ich gelernt, dass die literarische Moderne maßgeblich aus Thomas Mann und Bertolt Brecht bestand. Nun traf ich aber auf jemanden, der das ganz anders sah, und mir öffnete sich eine neue Welt. Fast noch interessanter allerdings, als die bedeutende Literatur selbst zu lesen, das muss ich zugeben, war es, Karl Heinz Bohrer zuzuhören, wenn er darüber redete. (Das war mir zuvor mit Reich-Ranicki aber auch schon so ähnlich gegangen…) Und auch vom Charisma her stand Bohrer dem alten Ranicki in nichts nach, nur dass er inhaltlich mitunter schwerer zu verstehen war. Alles war komplizierter und auch manchmal nebulöser als bei MRR, aber so ungefähr verstand man schon, was er meinte. Es wurde erzählt, Prof. Bohrer sei nur dienstags bis donnerstags an der Uni anwesend und fahre danach immer gleich wieder zurück an seinen Wohnort Paris. Ja, Paris! Darunter machte er es nicht. Ein Leben in der ostwestfälischen Provinz, so habe er sich mal geäußert, komme für ihn nicht in Frage. Eine Stadt wie Bielefeld sei ihm unerträglich! Klar, als Herausgeber einer „Zeitschrift für europäisches Denken“!
Ich begann, Karl Heinz Bohrers frühere Kolumnen im Merkur zu lesen. Obwohl er immer eine radikale Autonomie der Kunst befürwortete und insbesondere deren politische Vereinnahmung entschieden bekämpfte – wer etwa Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“ für üble Kriegsverherrlichung hielt, sei borniert und habe die einzigartige poetische Wucht dieser Sprache nicht verstanden! – hielt ihn das umgekehrt nicht davon ab, ästhetische Maßstäbe auf Fragen der Politik anzuwenden. In seinen köstlichen Glossen ließ er vernichtende Donnerschläge auf Deutschland hinabfahren, das er für zutiefst provinziell, sein Lieblingsbegriff war der Provinzialismus, in jeder Hinsicht hielt – mit einem so mittelmäßigen und konturlosen Mann wie Helmut Kohl an der Spitze, den er nach all dessen Jahren an der Macht einfach nicht mehr ertragen konnte. Verglichen mit Bohrers Wohnorten London und Paris erschien dann selbst die deutsche Hauptstadt Berlin nur als ländlich, beschränkt und zurückgeblieben. Die Politiker ohne Format, die Menschen ohne Stil und Manieren. Dass etwa die Bielefelder Studenten mit angebissenen Pizzastücken in seine Vorlesung kamen, so etwas gäbe es in England oder Frankreich nicht! Und besonders schlimm fand er den gesinnungsethischen (also verantwortungslosen) deutschen Pazifismus, mit dem sich die Deutschen wohl, so sein Verdacht, von ihrer verbrecherischen Vergangenheit reinwaschen wollten, aber sich stattdessen bei ihren Nachbarn – vor allem in London und Paris – nur erneut und erst recht verdächtig machten.
Als Symbolfiguren für das angebliche west- und später gesamtdeutsche Nachkriegselend hatte er die Mainzelmännchen ausgemacht, jene harmlosen, jämmerlich winselnden Pausenclowns aus dem ZDF-Werbefernsehen, die stellvertretend für die ganze deutsche Malaise stünden. Nun ja, mit solchen Tiraden hat Karl Heinz Bohrer sich natürlich nicht gerade überall beliebt gemacht. Und auch ich fühlte mich beim Lesen oftmals zum Widerspruch herausgefordert. Dennoch gefielen mir seine Texte sehr. Es war eine gänzlich andere Sichtweise auf die Dinge. Sicherlich war das, wie es ein Journalist einmal genannt hat, „intellektueller Stammtisch“, aber immer auf hohem Niveau und überaus originell. Auch seine Aversionen gegen die Friedens- und Umweltbewegung, die sich mit ihren omnipräsenten Bannern und Transparenten (gerade an der Uni Bielefeld) in seinen Augen als Gesinnungskitsch der schlimmsten Sorte ausnahm, konnte ich auf einer ästhetischen Ebene durchaus nachvollziehen, obgleich ich inhaltlich sogar streckenweise mit ihr sympathisierte.
Die seit 1998 regierende rot-grüne Koalition beurteilte Bohrer dann aber überraschend wohlwollend, vor allem wohl, weil deren Repräsentanten in seinen Augen gestandene Persönlichkeiten waren. Einmal betonte er im Seminar, die deutschen Grünen an der Regierung würden in Paris und London sehr misstrauisch beobachtet, da sie irrationale ideologische Wurzeln hätten, die manchen an ungute deutsche Traditionen erinnerten. Doch würde er, Bohrer, sie dort dann immer verteidigen, denn in ihren Reihen gäbe es hervorragende Leute, die unser Land ausgezeichnet repräsentierten, z.B. „Wie heißt sie noch gleich? Jutta…?“ Ich saß ganz vorne im Seminarraum und schlug vor: „Jutta Ditfurth?“ Darauf Bohrer empört: „Nein, um Gottes willen!! Wie heißt denn unsere Bundestagsvizepräsidentin??“ Ich legte nach: „Antje Vollmer?“ Ja, genau die meinte er.
In einer seiner Merkur-Kolumnen schrieb er über Physiognomie und behauptete, dass sich aller politischer Korrektheit zum Trotz sehr wohl vom Aussehen und insbesondere dem Gesicht eines Menschen auf dessen Persönlichkeit schließen lasse, der beste Beleg dafür seien doch die Politiker der Bundesregierung (damals noch der schwarz-gelben). Natürlich stehe Kohl seine ganze Mittelmäßigkeit ins Gesicht geschrieben, und Blüm sei ein Kassenbrillenmodell kleinbürgerlich-rechter Sozialdemokratie in der CDU u.s.w. Hingegen erkenne man an der soignierten Vornehmheit eines Klaus v. Dohnanyi doch gleich, aus welch guter Familie er komme…
Eine besondere Feindschaft pflegte Karl Heinz Bohrer zum SPD-Intellektuellen Peter Glotz, der ihn wegen seines entschiedenen Eintretens für die deutsche Wiedervereinigung als Vertreter eines neuen deutschen Nationalismus geschmäht hatte. Bohrer konterte daraufhin, Glotz sei ein Ideologe und „bornierter Parteimann“ und empfahl ihm die Lektüre eines Aufsatzes von Friedrich Schlegel…
In den letzten anderthalb Jahrzehnten hat Karl Heinz Bohrer sich dann wieder mehr auf seine literaturtheoretischen Themen konzentriert, weshalb ich ihn etwas aus dem Blick verloren habe. Umso erfrischender war für mich nun die Lektüre seines ausführlichen Lebensberichts.

Zunächst seine Jugenderinnerungen „Granatsplitter“, benannt nach den bunten glänzenden Absplitterungen von Flak-Granaten, die bei den Bombenangriffen auf seine Heimatstadt Köln vom Himmel regneten und von den Kindern aufgehoben und gesammelt wurden. Schon in frühem Alter ist Karl Heinz Bohrer, der aus einer großbürgerlich-liberalen Familie stammt, von seinem Vater, einem Ökonomen, auf den verbrecherischen Charakter der NS-Regierung hingewiesen worden. Der Vater steckte seinen Sohn, um ihm eine exzellente Erziehung zukommen zu lassen, in ein Elite-Internat nahe Freiburg im Breisgau. Dort machte er Bekanntschaft mit Kindern der Oberschicht, Sprösslingen von Adligen und Großbürgern, aber auch neureicher Industrieller, auf die in diesen Kreisen allerdings eher herabgeblickt wurde. Diese Sozialisation sollte sich als prägend für sein ganzes Leben erweisen. Als Anfang der fünfziger Jahre eine Delegation junger FDJler aus Ost-Berlin sein Internat besucht und die Jugendlichen aus Ost und West miteinander diskutieren, ist der junge Bohrer nach der Lektüre von Arthur Koestlers „Sonnenfinsternis“ bereits glühender Anti-Kommunist. Die FDJler attestieren ihm, der die westliche Freiheit verteidigt, ein falsches Bewusstsein, da es im Westen doch nur eine Freiheit für die Reichen gäbe, was man doch im Übrigen schon an diesem Elite-Internat sehen könne, in dem man sich gerade befinde. Da entgegnet der junge Bohrer, sein Vater sei keineswegs reich und habe als Universitätsassistent nur ein so kümmerliches Gehalt, dass er, der Vater, sogar sein Familienerbe habe angreifen müssen, um ihm den Aufenthalt im Internat bezahlen zu können… Politisch verortet sich Karl Heinz Bohrer zwar als eher liberal als konservativ, pflegt aber zeitlebens eine besondere Abneigung gegen die politische Linke. Nichts interessiert diesen vielseitig interessierten jungen Mann nach eigener Aussage weniger als die Verbesserung der Situation armer Menschen. Diese „asoziale Grundhaltung“, die er sich selbst ohne Anflüge von Reue bescheinigt, erstaunt umso mehr, als er die entfesselte Phantasie, wie es auch der Untertitel des zweiten Bandes verrät, zu seinem Lebensprinzip erhoben hat. Doch bringt er offenbar keinerlei Phantasie dafür auf, sich vorzustellen, wie er sich wohl ohne diese familiäre Prägung und elitäre Erziehung entwickelt hätte. Auf diesem Auge sieht er rein gar nichts, wohingegen sein Blick auf die Kunst, vor allem die Literatur, und auf alles Schöne schon in früher Jugend ungeheuer scharf ist. Freimütig berichtet er von seinen jugendlichen Leiden unter der mangelnden Gelegenheit zum Ausleben der eigenen Sexualität. Aus heutiger Sicht muss man wohl sagen, zum Glück, denn wie so viele andere Intellektuelle ist offenbar auch er zum großen Teil – so weiß es zumindest die einschlägige Küchenpsychologie – durch sexuelle Frustration zu dem geworden, der er ist. (Ob aus der heutigen „Generation Tinder“ überhaupt noch jemals Intellektuelle hervorgehen werden, möchte man fast bezweifeln…)

Im zweiten Band ist Karl Heinz Bohrer dann schon Leiter des Literaturteils der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. In der Redaktion dieser Zeitung sitzen nur Leute „aus den besten Familien“. Wichtiger für seine Einstellung als alle akademischen Abschlüsse war nach eigener Einschätzung sein früherer Besuch des richtigen Internats. Auch wenn er dort, wie wir im ersten Band erfahren haben, beinahe von der Schule geflogen wäre, nachdem er einmal wutentbrannt einen Lehrer geohrfeigt hatte. Und in seiner Studentenzeit saß er sogar zwei Wochen im Gefängnis – wegen Unfallflucht nach einem Verkehrsunfall (verursacht als Radfahrer, Bohrer hatte nie einen Führerschein).
Die späten Sechzigerjahre erlebt er als eine berauschende Zeit. Die revolutionäre Stimmung, die mit allem Althergebrachten aufräumt, findet er großartig, obgleich ihm alles Marxistische herzlich zuwider ist. Kurioserweise ist er sogar ziemlich eng mit der späteren Terroristin Ulrike Meinhof befreundet, wobei er aber allen Gerüchten entgegentritt, er hätte „etwas mit ihr gehabt“. Sie habe ihn einfach gemocht, weil er ihr so interessiert zugehört habe, vermutet Bohrer. Allerdings habe sie noch kurz vor ihrer Verhaftung bei ihm übernachtet, was ihm einigen Ärger mit seinen Herausgebern bereitete…
Als FAZ-Literaturchef bringt Karl Heinz Bohrer dann aber immer wieder so komplizierte Texte, die kein Mensch versteht, dass er – nach ein paar Jahren im Amt – unter dem neuen Herausgeber Joachim Fest kurzerhand abgesetzt und – ausgerechnet – durch den weniger akademischen Marcel Reich-Ranicki ersetzt wird. Für Bohrer bricht eine Welt zusammen. Wer soll nun den Lesern die „wahre literarische Moderne“ nahebringen, wo doch dieser Ranicki genau die in seinen Augen falschen Autoren hochschätzt und die eigentlichen Heroen verschmäht? So hält Reich-Ranicki Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ für ein missratenes Werk, während er für Bohrer das non plus ultra ist. Stattdessen bevorzugt Reich die großen Gesellschaftsromane des 19. und 20. Jahrhunderts, die Bohrer nur zum Gähnen bringen…

Bohrer wird also Anfang der 1970er Jahre bei der FAZ zum Kulturkorrespondenten degradiert und – immerhin! – nach London versetzt, von wo aus er großartige Berichte und Reportagen über alles Mögliche schreibt. Er interessiert sich neben dem hochkulturellen Leben in dieser Stadt aber auch sehr für Fußball und die Gesänge der Fans oder die Popmusik aus den Einwanderer-Vierteln. Als Maggie Thatcher an die Macht kommt, findet Bohrer sie als Person mit kleinbürgerlicher Handtasche völlig unmöglich (wie hatte er bis dahin von den englischen Politikern geschwärmt!), wenngleich er ihrer neoliberalen Politik gegen die damals noch mächtigen Gewerkschaften einiges abgewinnen kann. So interessant aber das Leben in London für ihn ist, sehnt er sich doch nach einer größeren geistigen Herausforderung – und das wird 1982 die Professur in Bielefeld! Ausgerechnet an dieser linksversifften Reform-Uni! Nur durch eine Verkettung glücklicher Zufälle und eine exzellente Probe-Vorlesung bekommt er den begehrten Lehrstuhl. Zuvor war er vom Leiter der Auswahlkommission, einem marxistischen Literatur-Historiker in zerschlissener Kleidung und mit einer Dose Bier in der Hand, mit den Worten begrüßt worden: „Du siehst hier heute keinen Stich!“

Der notorische Einzelgänger Bohrer hält sich fern von seinen Professoren-Kollegen und fährt nach den Vorlesungen lieber schnell zu seiner Geliebten in Wuppertal, der unehelichen Tochter eines bekannten Literatur-Professors mit einer Lyrikerin. Diese betörend schöne und 20 Jahre jüngere Dame namens Undine ist ein großer Fan seiner Werke, hat alle seine Bücher gelesen. Sie wird Karl Heinz Bohrers zweite Ehefrau. (Von seiner langjährigen ersten ist im Buch nur ganz am Rande die Rede gewesen.) Mit ihr geht er für ein Gastsemester nach Paris – und Undine gefällt es dort so gut, dass sie gar nicht mehr weg will! Fortan pendelt Ehemann Karl Heinz wöchentlich mit dem Zug nach Bielefeld und wieder zurück nach Paris in die prächtige Wohnung am Montmartre. Undine, die ihre literaturwissenschaftliche Promotion längst abgebrochen hat, wird freie Schriftstellerin und verfasst von der Kritik und ganz besonders von ihrem Ehemann hochgelobte Romane und Erzählungen. Die gut dotierte Professur erlaubt ihnen ein ausschweifendes Leben in Paris, obwohl Undine mit ihren Werken, wie beiläufig bemerkt wird, „keinen Cent verdient“. So verleben sie wunderbare Jahre. Doch dieses Glück ist nicht von Dauer. Undine wird krank, sehr krank, und stirbt schließlich mit kaum fünfzig Jahren an einem seltenen Nervenleiden. Ihr inzwischen in Bielefeld emeritierter Mann pflegt sie jahrelang hingebungsvoll – und steht nach ihrem Tod ziemlich alleine da. Doch mittlerweile hat sich sein exzellenter wissenschaftlicher Ruf in aller Welt herumgesprochen. Mit fast siebzig Jahren tritt Karl Heinz Bohrer noch eine Professur in Stanford/Kalifornien an. Angebote aus London lehnt er ab, weil sein Englisch dafür nicht gut genug sei. Für Amerika findet er es hingegen völlig ausreichend.

Am Ende siedelt sich Karl Heinz Bohrer, der sich absolut nicht vorstellen kann, noch einmal in Deutschland zu leben, dann wieder in London an, wo er abermals sein privates Glück gefunden hat. Seine dritte Ehefrau ist die Enkeltochter eines der Attentäter des 20. Juli 1944, alter preußischer Adel, was ja genau seinem Geschmack entspricht. Sie ist ebenfalls auf dem besagten Elite-Internat gewesen und hat als kleines Mädchen den einige Jahre älteren Karl Heinz als Schauspieler in einem Theaterstück bewundert. Ihre Mutter war dort Lehrerin, Karl Heinz Bohrers Lieblingslehrerin genau genommen, die bei ihm erotische Träume hervorgerufen hat… Als Pensionär und Buchautor in London wird der alte Bohrer nun allerdings in seinen Ansichten zunehmend reaktionärer. Habe er früher noch Wert darauf gelegt, nicht als Teil der konservativen Opposition zu gelten, sei ihm das nach den Anschlägen des 11. September 2001 egal geworden. Jedes Appeasement gegenüber dem radikalen Islam hält er für verfehlt. Auch habe ihn schon als Teenager das Stück „Nathan der Weise“ nicht wirklich überzeugt. Klar, dass er Angela Merkels Flüchtlingspolitik im Jahr 2015 für eine Katastrophe hält. Und er ist auch der Meinung, dass zu viele Schwarze in London leben, die sich doch ganz überwiegend überhaupt nicht integrieren könnten. Andererseits habe er aber vor kurzem zwei junge schwarze Frauen beobachtet, die sich ganz im Stile der englischen Oberschicht unterhielten. Und dann seien sie auch noch so überaus elegant gekleidet gewesen. Das habe ihm dann doch wiederum sehr gefallen… Und bei der letzten Bürgermeisterwahl in London habe er sogar für den pakistanischstämmigen Labour-Kandidaten gestimmt – aber nur, weil dieser ihm kompetenter erschien und um den Tory-Kandidaten zu verhindern, von dem er befürchtete, unter ihm würden noch mehr hässliche Hochhäuser in der Stadt errichtet. Er sieht nun einmal alles durch die ästhetische Brille…

Karl Heinz Bohrer
Granatsplitter: Eine Erzählung
Carl Hanser Verlag 2012
320 Seiten; 19,90 EUR
ISBN-10: 3446239723

Karl Heinz Bohrer
Jetzt: Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie
Suhrkamp Verlag 2017
542 Seiten; 26,00 EUR
ISBN-10: 351842579X

Justament Dez. 2008: UFOs über Bielefeld

Best of Jurastudium, Teil 5

Thomas Claer

25 DRUM HERUM TC Ufos über Bielefeld

Der Autor, im Kampf mit der Olive (Foto: privat)

Es gibt im Menschenleben Augenblicke, in denen entscheidet sich das eigene Schicksal. Jetzt umkehren oder doch den eingeschlagenen Weg fortsetzen? Lieber ein Ende mit Schrecken oder besser Augen zu und durch? Diese Fragen stellen sich dann – und niemand nimmt sie einem ab.

Der Tiefpunkt
Es muss wohl im vierten oder fünften Semester gewesen sein und war der Tiefpunkt meiner juristischen Karriere. Niemals hätte ich geglaubt, durch eine Hausarbeit fallen zu können. Eine gewisse Rest-Arroganz aus gymnasialen Tagen hatte sich bei mir noch erhalten. Wer nicht ganz blöd ist und vernünftig arbeitet, der muss es doch irgendwie schaffen, nicht zu den dreißig oder vierzig Prozent Losern zu gehören, dachte ich, zumal es bei den kleinen Scheinen ja auch irgendwie geklappt hatte. Aber weit gefehlt! Diesmal waren es nicht einmal 15 Prozent der insgesamt vielleicht fünfhundert Teilnehmer, die das Klassenziel nicht erreicht hatten, und unter meiner großen Hausarbeit im Zivilrecht stand: mangelhaft (2 Punkte). Was es noch schlimmer machte: Ich hatte viereinhalb Wochen lang wirklich mein Bestes gegeben. Da tröstete es wenig, dass zwei Kommilitonen aus meiner Lerngruppe, in der wir uns nach langer Diskussion auf einen gemeinsamen Lösungsweg geeinigt hatten, das gleiche Schicksal ereilt hatte. Genau genommen waren es jene beiden, die wie ich zur ersten Hälfte der zweigeteilten Übung (Nachnamens-Buchstaben A-K) gehörten. Die beiden anderen Mitstreiter, die unter L-Z fielen, lagen mit jeweils 5 Punkten über dem Strich. Ich glaubte zuerst an ein Missverständnis, was sich doch sicherlich noch irgendwie aufklären lassen würde. In der Fallbesprechung vor Rückgabe der Arbeiten hatten wir doch alle mit großer Befriedigung festgestellt, im Ergebnis exakt die Musterlösung des Falles getroffen zu haben. Doch stand unter meiner Arbeit (wie unter denen meiner Leidensgenossen) etwas von schwerwiegenden Mängeln im Aufbau. Tatsächlich, die Punkte drei und vier der Prüfung des entscheidenden Anspruchs – es war irgendwas mit einer Hypothek – hatten wir andersherum bearbeitet, als es in der offiziellen Musterlösung stand. Aber unser Prüfungsschema hatten wir uns doch nicht ausgedacht, sondern auch nur irgendwo angelesen! Noch am selben Abend schrieb ich, wie meine zwei unglücklichen Mitstreiter, ein ausführlich begründetes Bittgesuch an den Dozenten, der für die Buchstaben A-K verantwortlich war. Mit dieser Methode hatte ich früher bei einer “kleinen” BGB-Klausur schon einmal Erfolg gehabt. Doch nach einer Woche kam das niederschmetternde Ergebnis: Es bleibe dabei wegen schwerer Mängel im Aufbau. Unsere Prüfung sei unlogisch. Fand ich nicht, aber das half ja nun auch nicht mehr.

Die Zweifel
Bevor ich mir den neuen Sachverhalt für die Wiederholer abholte, kamen mir sehr grundsätzliche Zweifel, ob ich mir das überhaupt noch antun sollte. Ich war auch einfach wütend. Was ist das für eine merkwürdige Wissenschaft, fragte ich mich, für die man wegen einer blöden Abweichung vom Schema F mehrere Wochen umsonst gearbeitet hat? Damals kam es mir noch nicht in den Sinn, dass es sich bei der juristischen Ausbildung auch um ein mentales Training handeln könnte, um die Vermittlung von Härte im Nehmen, von Steher- und Wiederaufsteher-Qualitäten. Das Jurastudium, so sehe ich es heute, lehrt einen, die Kontingenz und Absurdität der Welt zu ertragen. Wer sich von solchen Dingen (die wohl jeder Jurist in ähnlicher oder schlimmerer Form schon erlebt haben wird) nicht entmutigen lässt, wer da durchkommt, den wirft so schnell nichts mehr um. Dass aber das Studium der Rechte, wie böse Zungen sagen, den Charakter verdirbt, dass es egoistisch und verschlagen mache, wer wollte da widersprechen? Schon weil niemals alle bestehen können und es immer Lerngruppen gibt, die anderen deshalb wichtige Informationen vorenthalten und die entscheidenden Bücher in der Bibliothek verstecken oder wichtige Seiten herausreißen. Und dann werden die jeweils hübschesten Mädchen zum Spionieren in die anderen Gruppen geschickt. Perfide! Zum Intriganten wird man im Jurastudium also auch ausgebildet.

Schade um die schönen Scheine
Ich glaube, ich fand es letztlich nur schade und verschwenderisch, meine bereits erworbenen Scheine einfach verfallen zu lassen. Viele andere Semester-Kollegen, mit denen wir das Studium begonnen hatten, waren schließlich schon auf der Strecke geblieben. Nur deshalb machte ich wohl damals überhaupt noch weiter.
Die Nachschreibe-Arbeit schrieben wir also zu dritt, parallel zu den regulären Lehrveranstaltungen. Verbunden mit dem ständigen Gedanken, sich keinen weiteren Fehltritt mehr erlauben zu können, brachte mich das am Abend vor dem Abgabetermin in einen Zustand völliger Erschöpfung. Und auf dem Weg von der Bibliothek ins Wohnheim, es war ein Uhr nachts (In Bielefeld sind die Öffnungszeiten vorbildlich extensiv!), da bemerkte ich am Himmel drei kleine Lichtpunkte, die sich in Zickzacklinien bewegten. War es eine Sinnestäuschung infolge der Überanstrengung oder eher eine Spätfolge meiner ausgiebigen Lektüre der Bücher des Erich von Däniken in Teenagertagen? Ich weiß es bis heute nicht mit Bestimmtheit zu sagen. Schnell ging ich ins Wohnheim und schlief sofort ein. In der Hausarbeit bekam ich 10 Punkte. Es gibt eben Dinge zwischen Himmel und Erde, die gibt’s gar nicht.

Justament März 2008: Land der Extreme

Eine vergleichende rechtskulturelle Betrachtung

Thomas Claer

28 DRUM HERUM TC Land der Extreme FotoEin wenig vereinfachend könnte man sagen: Das heutige Deutschland zerfällt rechtskulturell gesehen in zwei heterogene Teile, nämlich in seine Hauptstadt Berlin einerseits und den Rest der Republik andererseits. Exemplarisch soll zum Beleg dieser These ein punktueller Vergleich der Bundeshauptstadt mit der – wie man sagt – durchschnittlichsten aller deutschen Städte dienen, in welche es den Verfasser während seines Jurastudiums so zufälliger- wie unglücklicherweise verschlagen hatte. Die Rede ist von Bielefeld, der Stadt am Teutoburger Wald, wo meine heutige Frau und ich die Wohnzeit im Studentenwohnheim irgendwann nicht mehr weiter verlängern konnten und uns eine Genossenschaftswohnung am Stadtrand suchten.

Putzorgien in Bielefeld
Man hatte uns gewarnt, die Gegend sei ein sozialer Brennpunkt, hieß es. Aber die schöne, große und billige Wohnung und die Lage direkt am Wald waren doch zu verführerisch. Schon bald nach dem Einzug mussten wir feststellen, dass in jenem Hause eine weit über siebzigjährige Dame, nennen wir sie Frau Kurz, als Hausordnungsverantwortliche der Genossenschaft ein gar strenges Regiment führte. Von Anbeginn nahm sie uns unter ihre Fittiche und erklärte uns genau, was wir laut Hausordnung nun alles im Hause und drum herum zu tun haben würden. Und das war weiß Gott nicht wenig: Alle zwei Wochen war man jeweils mittwochs und samstags dran mit dem Treppenhausdienst, der aus Treppefegen, Treppe feucht wischen und dazu noch Fensterputzen bestand. Mit Huschhusch war es da nicht getan. Auch die zumeist offensichtliche Sauberkeit des Treppenhauses und erst recht die der Fenster war nicht ausschlaggebend. Frau Kurz wachte unerbittlich darüber, dass alle Arbeiten umfassend und gründlich ausgeführt wurden. Es gehe ja nicht allein um den Schmutz, sondern vor allem um den Staub, belehrte sie uns. Recht häufig klingelte sie auch an unserer Wohnungstür, um uns ihre Beanstandungen unserer Arbeiten mitzuteilen oder uns zu verdächtigen, diese nicht oder nicht fristgerecht ausgeführt zu haben. Und noch viel grotesker war es mit den anderen Verpflichtungen: Zweimal im Jahr musste jeder Wohnungsbesitzer den gesamten Gemeinschaftskeller auswischen. Nie konnte ich einen Unterschied zwischen Vorher- und Nachherzustand feststellen. Frau Kurz aber merkte sofort, wenn man sich auch nur einmal drücken wollte. Und dann die Gehwege vor dem Haus: Da war man alle sechs Wochen dran. Ein einziges Mal in vier Jahren fand ich ein weggeworfenes Stück Papier, ansonsten fegten wir jeweils fast eine Stunde lang vereinzelte Sandkörner zusammen. Und alle Nachbarn machten mit bei der wöchentlichen Reinigung des ohnehin immer wie geleckt aussehenden Umfelds. Niemand außer uns schien sich an diesem Irrsinn zu stören. Hilfe, wo waren wir gelandet?

Schmuddelkram in Berlin
Das vollständige Kontrastprogramm erleben wir seit unserem Umzug nach Berlin vor gut fünf Jahren. Auch hier zogen wir in eine einfache Wohnlage: schöne große Wohnung, billige Miete. Zuerst staunten wir, dass der Hauswart der Genossenschaft die Treppe selbst putzte: “Sonst macht det ja keener”, antwortete er auf unsere Anfrage. Auch andere Putzverpflichtungen der Mieter waren hier unbekannt. Wie schön, dachten wir, und genossen unsere neue Freiheit. Doch bemerkten wir schon bald, dass man hier – anders als in Bielefeld – nun wirklich mal häufiger die Gehwege fegen müsste. Überall lagen weggeworfene Plastikbeutel, Werbezettel, Imbisstüten, Essensreste und sonstiger Müll auf den Straßen und Wegen – im reinen Wohngebiet wohlgemerkt. Wenn die Stadtreinigung, zu deren Aufgaben die Säuberung der Gehwege gehörte, wieder mal da war, war es sauber – aber das hielt, vor allem im Sommer, höchstens für einen Tag. Und manchmal sah man sogar Ratten, die sich an den Essensresten erfreuten. Wenn das unsere Frau Kurz sehen würde, die fiele sofort in Ohnmacht, dachten wir oft. Wer macht das bloß, fragten wir uns, bis wir einmal eine Gruppe südländisch aussehender Jugendlicher sahen, die ihre Plastikbecher vom Imbiss einfach fallen ließen. Politische Korrektheit hin oder her, nun glaubten wir, die Schuldigen gefunden zu haben: Die Türken mussten es sein. Doch in unserem anschließenden Türkeiurlaub konnten wir feststellen: überall nur strahlende Sauberkeit. Und in den zentralen Berliner Ostbezirken registrierten wir schließlich ebenfalls öfter Bilder der Verwüstung. Auch fiel uns ein, dass es damals in Bielefeld ein türkischer Mann vom Nebenaufgang gewesen war, der uns energisch dazu aufgefordert hatte, auch noch die andere saubere Hälfte des Gehwegs zu fegen, da sie noch zu unserem Gebiet gehöre. Dann sind es eben ganz allgemein die Jugendlichen, meinten wir nun, bis wir in einem angesagten Szeneviertel, allerdings spät am Abend, Zeuge wurden, wie ein gar nicht schlecht gekleideter, gewiss über vierzigjähriger Mann mitten auf den Gehweg einen großen braunen Haufen setzte. Einfach so. Langsam wurde uns nun auch klar, dass der penetrante Uringeruch in unserem Kellereingang nicht, wie wir anfangs glaubten, zwangsläufig von einem Hund stammen musste. Und auch am S-Bahnhof der nicht mehr ganz so schlechten Gegend, in die wir vor einem Jahr gezogen sind, sieht man täglich Männer jeden Alters und jeder Herkunft am helllichten Tage urinieren. Einmal hielt ein Taxifahrer dort, stieg aus, pinkelte gegen die Hecke und fuhr anschließend weiter. Alle hier finden das ganz normal. Als ein offensichtlicher Berlin-Neuling sich abfällig über die Vermüllung eines S-Bahn-Wagens äußerte, wies ihn ein anderer Fahrgast zurecht: “Det is hier die S-Bahn und keen Museum. Wo jehobelt wird, da fallen Späne.”  Nur selten stört sich jemand daran, wenn z.B. wieder einer ins Treppenhaus gepinkelt hat, und hängt einen bösen Zettel an die Wand (siehe Foto).
Bielefeld und Berlin – der Gegensatz könnte nicht stärker sein. Deutschland ist ein Land der Extreme.

Justament März 2004: Der Sport im Zeitalter seiner juristischen Debattierbarkeit*

Wolfgang Schild übersetzt seine Liebe zum Fußball in die Sprache des Rechts

Thomas Claer

Schild CoverGemessen an Phänotyp und bevorzugten Forschungsgebieten ist der Bielefelder Strafrechtler, Rechtshistoriker und -philosoph Wolfgang Schild (Jahrgang 1946) für den Stand der Rechtsgelehrten nicht gerade repräsentativ. Noch bis Anfang der Neunziger soll Vollbartträger Schild seine Erstsemester im legendären grünen Wollpulli mit den Worten “Hallo, ich bin der Wolfgang” begrüßt haben. In seinen seit zwei Jahrzehnten überaus beliebten Vorlesungen zur Strafrechtsgeschichte präsentiert und kommentiert der gebürtige Wiener bis heute – im völlig abgedunkelten Hörsaal – seine umfangreiche einschlägige Dia-Sammlung mit zeitgenössischen Darstellungen verbrennender Hexen, geräderter Jungfrauen und anderer, meist blutiger Hinrichtungsrituale. Gerüchte gehen um, dass es während dieser Veranstaltung im studentischen Publikum  schon vereinzelte Eheanbahnungen gegeben haben soll. In seinen Forschungen treiben Schild zum großen Teil Dinge um, deren rechtliche Relevanz der Mehrzahl seiner Kollegen nicht viel bedeutet. Neben der mittelalterlichen Hexenverfolgung – in einem Fernsehinterview zur Walpurgisnacht wurde er schlicht als “Hexenforscher” etikettiert -, den dämonisch-abstrusen Rechtslehren des Nationalsozialismus und der Hegelschen Rechtsphilosophie gilt seine Vorliebe auch der Welt des Sports, im besonderen der des Fußballs (vor allem wenn es sich um die Vereine Bayern München und Rapid Wien handelt). Nach zahlreichen Einzelveröffentlichungen in den vergangenen Jahren stellt das “Sportstrafrecht” nun die Summe seiner Überlegungen zur rechtlichen Relevanz sportlicher Großveranstaltungen dar.
Im Eingangskapitel widmet sich Schild der historischen Herausbildung des modernen Sports, differenziert dabei detailliert zwischen Körperlichkeit und Leiblichkeit des Sportlers und  bestimmt schließlich das Sporthandeln als ein kulturelles Handeln und ein “leibliches Genießen seiner Selbst”. Die Herausbildung des Sports als eines eigenständigen gesellschaftlichen Bereichs sieht Schild vor allem auch als Reaktion auf den Nationalsozialismus: Dieser hatte die Leibesertüchtigung als Triumph des Willens über den Körper und als wesentlichen Bestandteil des gesellschaftlichen Bildungsprozesses propagiert. Da alles Leben Kampf zu sein hatte, gab es keinen Freiraum für einen besonderen Sport. Heute hingegen vermittle der Sport zunächst eine “zwecklose Freude an der Bewegung” und jenes “Glücksgefühl, das mit einem Ganzheitserleben verbunden ist”. Durch die Medienwelt könne der Sport sogar zum “religiösen Fest” werden, zum “mythischen Ritual”, das eine “dramatische Symbolwelt” bilde, die in vielem Gemeinsamkeiten zu archaischen Verhaltensmustern habe.
Sodann geht es bereits ans Eingemachte, um Grundsatzfragen wie die nach einer etwaigen Rechtsnatur der Regeln im Sport. Sind die Fußballregeln Gewohnheitsrecht, rechtlich relevante (Verkehrs-) Sitte, rechtsanaloge Bestimmungen oder vielleicht sogar eine Verwirklichung von Gerechtigkeit im naturrechtlichen Sinne? Für Schild sind sie, was ihren Wert nicht schmälern soll, am Ende doch nur rechtlich irrelevante Spielregeln. Folglich seien die sportspezifischen Regeln für die juristische Beurteilung sportlichen Handelns außer Acht zu lassen. Diesen Überlegungen schließt sich schwerpunktmäßig die Erörterung der Frage einer “Strafbarkeit des Sportlers durch Verletzung des Gegners” an. Kann ein “Foul” eine Körperverletzung (und kann – nebenbei gefragt – eine “Schwalbe” ein Betrug) im Sinne des StGB sein? Ein erstes Problem liegt hier in der Vorsätzlichkeit. Nach Durchexerzieren aller Vorsatztheorien plädiert Schild dafür, zumindest in den zu Verletzungen führenden Situationen des Kampfsports, grundsätzlich von vorsätzlichen Verletzungshandlungen und nicht von bloßer Fahrlässigkeit auszugehen. Noch viel ausufernder ist der Theorienstreit in der Frage eines Tatbestands ausschließenden Einverständnisses bzw. einer rechtfertigenden Einwilligung des Sportlers zumindest in das Risiko von Sportverletzungen. Schild betritt hier theoretisches Neuland, indem er den Grund für die Straflosigkeit der sportadäquaten Verletzungshandlung (trotz der zurechenbaren Herbeiführung eines Körperverletzungserfolges) nicht in einer rechtlichen Erlaubnis sieht, sondern in der “Freilassung” des Sports als eines “rechtlich (nur) zugelassenen Risikobereichs” durch den Staat.
Als wenig ergiebig erweist sich die ebenfalls noch behandelte Frage einer möglichen Strafbarkeit des Trainers: Begriffe wie Magier (für bestimmte Trainer) und Kampfmaschinen (für manche Spieler) bringen hier eine – letztlich natürlich abzulehnende – mittelbare Täterschaft ins Spiel. Allenfalls die Trainingsmethoden manches “Schleifers” oder “harten Hundes” könnten eine strafrechtliche Überprüfung nahe legen. Vornehmlich der Sonderproblematik des Fahnenraubes unter konkurrierenden Fangruppen widmet sich ein anschließender Exkurs zur Strafbarkeit des Zuschauers, bevor das Schlusskapitel dieser anregenden und kurzweiligen Veröffentlichung die Strafbarkeit des Dopings unter die Lupe nimmt.

Wolfgang Schild
Sportstrafrecht
Nomos Verlagsgesellschaft Baden-Baden, 2002

194 Seiten, € 22,00
ISBN: 3-789-07918-9

* Die damalige Justament-Redaktion hatte den Titel seinerzeit fürs Heft abgeändert in: “Juristische Debatten auf dem Fußballplatz”.

Justament März 2004: Drei Koreaner in Bielefeld

Was südkoreanische Jurastudenten und -doktoranden über ihr Gastgeberland Deutschland denken

Thomas Claer

Unter den ausländischen Studierenden an deutschen Universitäten stellen die Südkoreaner nach den Chinesen die zweitgrößte “Landsmannschaft” aus Fernost. Darunter sind – im regulären oder im Promotionsstudium – auch etliche (angehende) Juristen. Warum fiel ihre Wahl gerade auf Deutschland, was denken Sie über ihr Gastgeberland und sein Rechtssystem? Und was gefällt ihnen in Deutschland besser, was finden sie hier schlechter als in ihrer Heimat? Wir haben drei in Bielefeld lebende koreanische Studenten befragt.

Hyung-Dun Kwon, 37 Jahre, Promotionsstudent
Ich bin 1996 nach Deutschland gekommen um in meinem Spezialgebiet, Verfassungsrecht mit Schwerpunkt Medienrecht, zu promovieren. Deutschland war für mich besonders interessant, weil bei der Kodifikation unserer südkoreanischen Verfassung 1948 auch Einflüsse aus Deutschland eine wichtige Rolle spielten: Es wurden damals nicht nur liberale, sondern auch soziale Grundsätze in die Verfassung geschrieben. Auch die weitere Entwicklung der koreanischen Verfassung war stark vom Bonner Grundgesetz beeinflusst. Der heutige deutsche Rechtsstaat ist dem koreanischen zwar formal recht ähnlich, funktioniert aber insgesamt besser, wie man beispielsweise an den Kontrollsystemen für Machtmissbrauch in der Politik sehen kann. Auch halte ich das deutsche Sozialsystem trotz aller gegenwärtigen Probleme für besser als das koreanische, vor allem gilt das für das Solidarprinzip in der Krankenversicherung. In Korea müssen Arme, wenn sie schwer krank werden, häufig auf ihr Leben verzichten, weil sie sich die erforderliche Behandlung nicht leisten können. Gut sind in Deutschland auch der Umweltschutz und die vielen sicheren Fahrrad- und Fußgängerwege. Schlecht finde ich in Deutschland die viele Bürokratie, auch den Umgang der Beamten mit ausländischen Studenten. An das deutsche Essen habe ich mich mit der Zeit etwas gewöhnt, aber das schlechte und wechselhafte Wetter stört mich noch immer. Sehr beeindruckt hat mich, wie manchmal deutsche Studenten im Seminar ihrem Professor widersprechen. Das wäre in Korea kaum vorstellbar. Eine hierarchisch strukturierte Gesellschaft wie die koreanische hat Vor- und Nachteile. Aber in der Wissenschaft sind flache Hierarchien sicherlich günstiger.

Sang-Mi Lee, 27 Jahre, Studentin der Rechtswissenschaften
Ich habe in Korea bereits ein Germanistikstudium abgeschlossen und studiere nun seit drei Jahren in Deutschland Jura. Deutschland habe ich mir ausgesucht, weil ich durch mein vorheriges Studium schon einige Sprach- und kulturelle Kenntnisse über das Land erlangen konnte. Meine Angst vor einem Leben allein im Ausland war daher bezüglich Deutschland am geringsten. Sehr ungewöhnlich war es anfangs für mich, das Studium selbst organisieren zu müssen. Dieses deutsche System der studentischen Freiheit hat sicherlich große Vorteile, aber zum Studium ist viel Selbstdisziplin erforderlich. Meine Mitbewohner in der WG zum Beispiel gehen ausnahmslos jede Woche auf irgendwelche Partys. Das ist schon anders als in Korea, wo insgesamt intensiver gelernt wird. Gut gefällt mir, dass im deutschen Jurastudium bereits von Anfang an Fälle gelöst werden und nicht wie in Korea erst im Hauptstudium. Sehr gerne mag ich das deutsche Bier, das hier auch viel billiger ist als in Korea. Allerdings finde ich das Freizeitangebot in Korea besser, es gibt hier nicht so viele Sachen zum Genießen, z.B. kaum Karaoke-Bars und nur wenige Internet-Cafes. Schlecht finde ich in Deutschland die kurzen Öffnungszeiten der Geschäfte. Das ist schon manchmal sehr unpraktisch.

Wan-Tae Kim, 36 Jahre, Promotionsstudent
Ich bin 1994 nach Deutschland gekommen, habe den Jura-LL.M-Studiengang in Bielefeld abgeschlossen und promoviere nun an der Uni Frankfurt am Main. Deutschland schien mir als Studienort im Hinblick auf sein Wissenschaftsniveau, die vielfältigen Auffassungen in Rechtsprechung und Literatur, aber auch von der Lebensqualität her sehr geeignet zu sein. Die Verwirklichung von Demokratie-, Rechtsstaats- und Sozialstaatsprinzip galt als vorbildlich. Die Krankenversicherungskosten und die Studiengebühren waren damals sehr günstig. Zwar sind die Rechtssysteme in Deutschland und Korea sehr ähnlich, doch die Rechtsanwendung ist in Korea eher amerikanisch. Allgemein ist das Lebenstempo in Deutschland langsam. Man braucht hier für alle Dinge viel Geduld. Die Regulierungen und Gesetze sind sehr umfangreich und es gibt keinen ausreichenden Service im Dienstleistungsbereich. Die Deutschen sind logisch, rational, sparsam und verantwortungsvoll. Vorteilhaft an Deutschland ist, dass hier sehr viel Freizeit genossen wird. Negativ an Deutschland finde ich die viel zu starke Bürokratisierung und eine oft sinnlose und überflüssige Genauigkeit, wenn ich an manche Ausweiskontrollen denke, bei denen auf dem Personalausweis bestanden und nicht ersatzweise der Führerschein akzeptiert wird.