Justament Dez. 2003: Auf der Flucht vor den Paragraphen
Prominente Ex-Juristen waren und sind zumeist keineswegs traurig über ein Leben ohne die von ihnen mühsam erlernte Rechtswissenschaft
Thomas Claer
So alt wie die Juristerei ist vermutlich auch der Verdruss an ihr. Und so mancher, dem es möglich war, hat sich ihr, die ihm so viel Kopf- und Seelenschmerz verursacht hat, früher oder später auch wieder entzogen. Dies war vor über 200 Jahren so und ist es auch noch heute – wie zahlreiche prominente Beispiele zeigen.
Dichterjurist (1)
Ohne Zweifel war Deutschlands bis heute berühmtester Dichter schon zu seinen Lebzeiten prominent. Doch obwohl Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) in jungen Jahren die Jurisprudenz – ähnlich wie der Held seines großen Dramas – durchaus mit heißem Bemühen studiert hatte, erlangte er seinen Ruhm vornehmlich durch Dichtkunst und Farbenlehre.
Zunächst deutete aber alles auf eine Juristenlaufbahn des späteren Geheimrats hin: Den Grundstein dafür legte Goethes Vater, der seinem Sohn vom sechsten Lebensjahr an Privatunterricht mit Schwerpunkt Latein und Rechtslehre erteilen ließ, um ihn – nichts geringeres war seine Absicht – zielstrebig auf das juristische Studium vorzubereiten. Im Wintersemester 1965/66 immatrikulierte sich der gerade 16jährige dann zum Studium der Rechte in Leipzig, doch bald begannen ihn die Vorlesungen zu langweilen – ihm war der Stoff schon von seinen Privatlehrern eingebläut worden. Lieber hörte er Veranstaltungen in Geschichte, Philosophie und Naturwissenschaften. Das Studium schleppte sich hin. Nach krankheitsbedingter Unterbrechung setzte der nun fast 21jährige seine Studien 1770 in Straßburg fort, wo er allmählich Geschmack an der Rechtswissenschaft zu finden schien: “Die Jurisprudenz fangt an, mir sehr zu gefallen. So ists doch mit allem wie mit dem Merseburger Biere, das erste Mal schauert man, und hat mans eine Woche getrunken, so kann mans nicht mehr lassen.”, schrieb er an Klettenberg. Im September bestand er das “Vorexamen” (so genannt, weil damals üblicherweise noch eine Promotion nachgelegt wurde) mit “cum laude”. Seine – so heißt es jedenfalls in den Quellen – im Sommer 1771 angefertigte juristische Doktorarbeit “De legislatoribus”, in der sich Goethe für eine staatliche Regelung der kirchlichen Kultusordnung einsetzte, wurde zunächst als zu starke theologische Provokation von der Fakultät abgelehnt. Gleichwohl vollendete Goethe am 6. August 1771 seine Promotion, indem er eine Disputation über 56 lateinische Rechtsthesen mit “cum applauso” bestand.
Kurz darauf beantragte er beim Frankfurter Schöffengericht die Zulassung zum Advokat und führte bereits am 16. Oktober 1771 seinen ersten Prozess, dem in den nächsten vier Jahren 27 weitere folgten. Weil Goethe aber anfangs zu allzu stürmischen schriftlichen Plädoyers neigte, wurde er dafür schon bald mit einem Gerichtsverweis gerügt. Mit der Zeit fand der junge Rechtsanwalt dann zwar zur angemessenen stilistischen Trockenheit, doch wuchs damit andererseits auch sein Überdruss am Beruf: “Unter all meinen Talenten ist meine Jurisprudenz der geringsten eins. Das bißchen Theorie, und Menschenverstand, richtens nicht aus.”, schrieb er Ende 1773 an Kestner.
Zudem stellte sich mit den “Leiden des jungen Werthers” (1774) auch endlich der literarische Erfolg ein, so dass er 1775 die Anwaltsrobe an den Nagel hängte und auf Einladung des Herzogs von Sachsen-Weimar an dessen Hof wechselte, wo er schnell zum hohen Staatsbeamten und schließlich 1776 auch zum Geheimrat aufstieg. Fortan – und seit 1815 auch als Staatsminister – blieben Goethes Belastungen durch seine Ämter überschaubar. Der Herzog hielt ihm den Rücken, Goethe schrieb, forschte und reiste – und blieb von der Juristerei verschont.
Soziologenriege
Gleich von drei abtrünnigen deutschen Juristen maßgeblich geprägt wurde im vergangenen Jahrhundert der relativ junge Wissenschaftszweig der Soziologie. Als deren geistiger Wegbereiter schlechthin gilt der – seit dem Mauerfall viel geschmähte, aktuell aber wieder als einer “unserer Besten” gehandelte – Nationalökonom, Geschichtsphilosoph und Revolutionär Karl Marx (1818-1883). Auch er hat einmal, nämlich 1835 in Bonn, mit einem Jurastudium angefangen. Doch bereits ein Jahr später wechselte er nach Berlin, wo sich seine Studien im langen Schatten Hegels mehr und mehr auf die Philosophie verlagerten und er der Rechtswissenschaft irgendwann verloren ging. (Dass ein Jurastudium im übrigen kein schlechtes Rüstzeug für angehende Revolutionäre sein muss, belegt neben Marx auch dessen Epigone, der Sowjetunionsbegründer Wladimir Iljitsch Lenin (1870-1924), welcher von 1887 bis 1891 in Samara zum Juristen geschult wurde und bereits zu dieser Zeit in revolutionären Zellen aktiv war.)
Zur vollen Blüte brachten die Soziologie dann der habilitierte Jurist Max Weber (1864-1920) und schließlich der Begründer der Systemtheorie Niklas Luhmann (1927-1998), der nach seinem Jurastudium zunächst in der Verwaltung tätig war und sich als Privatdozent durchschlug, bis er 1968 als Professor für Soziologie an die Universität Bielefeld berufen wurde, wo er seinen Weltruhm begründete.
Dichterjurist (2)
Das Leiden an der juristischen Tätigkeit verkörpert wie kaum ein anderer der Schriftsteller Franz Kafka (1883-1924), der zu den großen Lichtgestalten der literarischen Moderne zählt. Im Wintersemester 1901/02 immatrikulierte sich Kafka an der Friedrich-Karls-Universität in Prag zunächst für Jura, wechselte bald zur Germanistik, dann zur Kunstwissenschaft, kehrte dann aber wieder zur Rechtswissenschaft zurück und blieb tapfer bei der Stange, obwohl er aus seiner Abneigung gegen sein Fach nie ein Hehl machte. Im Grundstudium hatte er – was damals möglich war – bis zur Zwischenprüfung im Sommersemester 2003 (Note: “gut”) ganz überwiegend Veranstaltungen zur Rechtsgeschichte belegt. Erst in den höheren Semestern durchlief er die heutigen dogmatischen Fächer und absolvierte schließlich im April 1906 die juristische Staatsprüfung mit “genügend”. Im Juni 1906 erhielt er nach nur drei zusätzlichen mündlichen Prüfungen auch seinen Doktortitel (Gesamtnote: “genügend”).
Ökonomischer und familiärer Druck bestimmten dann auch seine Berufswahl. Mit Hilfe eines Onkels fand er Aufnahme in den Vorbereitungsdienst einer Versicherungsgesellschaft, der ihn zeitlich so ausfüllte, dass er kaum noch zum Schreiben kam. Nur wenig besser wurde es vom August 1908 an, als er als Jurist in der Prager Arbeiter-Unfallversicherung mit der damals revolutionären Einstufung der Arbeiter in Gefahrenklassen betraut wurde. Ca. ab 1912 führte Kafka, von dessen Einkommen inzwischen auch zahlreiche Familienangehörige lebten, der seine Neigung zur Schriftstellerei aber nicht mehr länger unterdrücken konnte, ein “Doppelleben”: Am Tage erlitt er die “Schrecken des Bureaus”, nachts schrieb er seine Werke. Zu kurz kam dabei der Schlaf. 1917 hatte er seinen ersten Blutsturz. Um aus dem verhassten Büroalltag auszubrechen, meldete er sich sogar als Kriegsfreiwilliger, fiel aber durch den Gesundheitstest. Schließlich wurde er zu seiner großen Erleichterung 1922 pensioniert, lebte aber nur noch zwei weitere Jahre bis er an Tuberkulose starb.
Fernsehkoch
Auch TV-Entertainer und Fernsehkoch Alfred Biolek (Jahrgang 1934) studierte – auf Wunsch seines Vaters – zunächst in München, Wien und Freiburg Jura und legte 1958 sein erstes Staatsexamen ab. Zu dieser Zeit hatte er die Absicht, eines Tages die Rechtsanwaltskanzlei seines Vaters zu übernehmen. Nach einigen Jahren als wissenschaftliche Hilfskraft an der Uni Freiburg folgte 1962 seine 77seitige Doktorarbeit über “Die Schadensersatzpflicht des Verkäufers und des Herstellers mangelhafter Ware nach englischem Recht”.
Gleich nach dem zweiten Staatsexamen fand Biolek 1963 eine Anstellung als Assessor im Justitiariat des gerade frisch gegründeten ZDF in Mainz. Sein aus heutiger Sicht kurios anmutender Wechsel kaum zwei Jahre später von der Rechts- auf die Unterhaltungsschiene war aber den besonderen damaligen Umständen geschuldet: Allen Leuten, so Biolek, die man für ein bisschen talentiert hielt, habe man in dieser “Goldgräberzeit” eine Chance gegeben. Als sich die ZDF-Mitarbeiter, die damals noch durchweg in Hotels wohnten, allabendlich in Restaurants trafen, war Jurist Dr. Biolek stets vor Ort, brillierte mit seinen Späßen – und wurde so als Mitarbeiter für das Fernsehprogramm entdeckt. 1970 wechselte er als Produzent zur Bavaria München, bevor er 1974 als Assistent von Rudi Carell beim WDR in Köln einstieg und dort 1978 seine erste eigene Fernsehshow moderierte, der weitere Formate folgten. Seit 1990 ist Biolek zudem Professor der Münchener Kunsthochschule für Medien und seit 1994 dank “Alfredissimo” Deutschlands heimlicher Küchenchef.
Inzwischen fühlt sich Alfred Biolek nach eigenem Bekunden nicht mehr als Jurist. Das Jurastudium sei für ihn eine Art Lebenserfahrung gewesen, da das breit gestreute Fach nun einmal sehr viel über das Leben vermittle. Wenn er aber heute juristischen Rat benötige, hole er ihn sich von professionellen Juristen. Gleichwohl habe sein juristischer Doktortitel durchaus dazu beigetragen, sein seriöses Image zu prägen.
Medienstars
Da die Juristerei hierzulande mittlerweile ein Massenfach geworden ist und als solches weniger denn je nur zum Einstieg in die juristischen Berufe prädestiniert, kann es auch nicht verwundern, dass dieser oder jener angesagte Fernsehprominente eine juristische Ausbildung teilweise oder auch vollständig durchlaufen hat. Von selbst versteht sich dies naturgemäß in der politischen Klasse – mit dem Medien-Kanzler in der ersten Reihe – und parallel dazu im politischen Journalismus, wo derzeit etwa Ulrich Wickert, Ulrich Deppendorf oder Wolf von Lojewski die juristische Fahne hochhalten. Doch auch der erfolgreichste deutschsprachige Popsänger Herbert Grönemeyer (geb. 1956) und der Spaßgesellschaftsprotagonist Stefan Raab (geb. 1966) studierten einige Universitätssemester Jura, bevor sie quasi nebenbei, Grönemeyer als Klavierspieler im Theater und Raab als Ulknudel auf einem Casting für den Musiksender VIVA, für “höhere Aufgaben” entdeckt wurden.
Kurzum machen selbst die Abtrünnigen des deutschen Juristenstandes dem Leumund ihrer Zunft, multifunktionale Generalisten hervorzubringen, nachhaltig Ehre. Die Juristen sollten ihre Renegaten in Ehren halten.