justament.de, 12.10.2020: Soundtrack einer Juristenausbildung
Vor 25 Jahren erschien “Digital ist besser” von Tocotronic
Thomas Claer
Muss man über das grandiose Frühwerk der Band Tocotronic, das vor einem Vierteljahrhundert seinen Anfang nahm, überhaupt noch große Worte verlieren? Ist denn nicht längst schon alles darüber gesagt? Das schon, ließe sich mit Karl Valentin einwenden, aber noch nicht von jedem. Meine persönliche Tocotronic-Geschichte begann bereits in den frühen Achtzigern, schon lange vor Gründung dieser Band, als ich zu meiner großen Freude eine Armbanduhr aus dem Westen geschenkt bekam, was für ein Ostkind jener Zeit so ziemlich das Größte war, was man sich vorstellen konnte. Entscheidend allerdings war, dass es sich dabei um eine Digitaluhr handelte. So altmodische Uhren mit Zeigern und Zifferblatt waren damals ja sowas von verpönt…
Lange Jahre trug ich fortan meine geliebte Digitaluhr und fühlte mich immer sehr cool damit. Bis ich im Mai 1989, nur wenige Monate vor dem Mauerfall, in den Westen kam und mich auf einem Bremer Gymnasium, umgeben von äußerst stilbewussten jungen Menschen, wiederfand. Schnell bemerkte ich, dass ich dort der einzige war, der eine solche Uhr trug, die noch dazu unter meinen Mitschülern mächtiges Naserümpfen hervorrief. Oh mein Gott, wie uncool war das denn? Wer trägt denn heute noch eine Digitaluhr?! Wahrscheinlich fehlte mir damals, im zarten Alter von 17 Jahren, auch einfach das Selbstbewusstsein, um mich über solche Verächtlichmachungen einfach hinwegzusetzen. Irgendwann gefiel mir meine alte Uhr dann selbst nicht mehr. Nach reiflicher Überlegung kaufte ich mir, ausdrücklich auch aus ökologischen Gründen, eine leuchtend blaue Solaruhr, die ebenfalls sehr schön war, natürlich mit Zeigern und Zifferblatt. Meine Digitaluhr ließ ich in einer Schublade verschwinden und hatte sie bald vergessen.
Mit meiner Solaruhr absolvierte ich das Abitur und bestritt ich auch meine gesamte Juristenausbildung. Aber es irritierte mich dann schon, als Mitte der Neunziger eine Band aus Hamburg in aller Munde war, deren erster Album- und auch Songtitel “Digital ist besser” lautete. Und diese drei Altersgenossen von mir trugen doch wirklich, was man vor kurzem noch für völlig unmöglich gehalten hätte, Trainingsjacken und, ja, tatsächlich auch Digitaluhren! Anfangs ging ich dem nicht weiter nach, auch wenn ich manchmal beim Durchzappen der Fernsehkanäle auf MTV oder Viva etwas davon mitbekam. Aber dann gab es einen in meiner Lern-AG, der Tocotronic-CDs besaß und von ihnen schwärmte. Von ihm lieh ich sie mir aus und überspielte sie mir auf Musikkassetten, die ich dann im Studentenwohnheim auf meinem alten Mono-Kassettenrecorder rauf und runter hörte.
Natürlich war es kein Zufall, dass die Band zu zwei Dritteln aus abgebrochenen Jura-Studenten bestand. Ihre Songs waren wild und eruptiv, oft auch laut und schnell. Die verstimmten Gitarren, das treibende Schlagzeug, die herausgebrüllte Wut in Dirk von Lowtzows Gesang, immer haarscharf neben dem Ton… Und dann diese parolenhaften und zugleich hintersinnigen Texte! So viele von ihnen sprachen mir sowas von aus dem Herzen: “Alles was ich will ist nichts mit euch zu tun haben!” oder “Ich bin viel zu lange mit euch mitgegangen!” Genau das hatte ich mir auch immer gedacht in all den Jahren, hatte aber irgendwie immer den Absprung verpasst, und irgendwann war es dafür dann zu spät. Ich wurde Volljurist und habe dennoch meinen Groll gegen die Juristenausbildung, gegen meine Juristenkollegen, ja gegen alles Juristische überhaupt nicht nur niemals abgelegt, sondern sogar heute noch tief verinnerlicht.
Dennoch wäre ich nie auf die Idee gekommen, meine Solaruhr, die mir immer gute Dienste geleistet hatte, wieder gegen eine Digitaluhr, die nun durch Tocotronic zum Symbol des Slackertums und einer misanthropisch-individualistischen Gegenkultur geworden war, auszutauschen. Erst lange Zeit später, es muss wohl vor sieben oder acht Jahren gewesen sein, gab meine Solaruhr mit einem Mal ihren Geist auf. Das war so plötzlich geschehen, dass ich auf die Schnelle keine Zeit hatte, um mir Gedanken über eine neue Uhr zu machen. Ich musste dringend zu meinen Privatschüler-Terminen und musste dabei vor allem immer wissen, wie spät es war. Hektisch kramte ich in Schränken und durchwühlte Schubladen, und dann hielt ich tatsächlich meine alte Digitaluhr in den Händen. Immerhin, sie lief noch… Mit ihr fuhr ich also zu meinen Nachhilfestunden. Doch was dann geschah, hatte ich nicht erwartet. “Wow, coole Uhr!”, rief mir mein arabischer Schüler in Schöneberg zu. “Sie haben aber eine hübsche Uhr”, fand meine Siebtklässlerin in Mitte. Da wusste ich, dass ich mir das Geld für die Anschaffung einer neuen Uhr sparen konnte. Am selben Abend hörte ich nach langer Zeit wieder den Song “Digital ist besser” – und trage seitdem nur noch Digitaluhren. Als meine alte aus den Achtzigern nach einigen Monaten dann doch nicht mehr funktionieren wollte, kaufte ich mir eine identische neue.
Aber zurück zu Tocotronic: Fünf fantastische Alben in fünf Jahren haben Tocotronic von 1995 bis 1999 herausgebracht. Von beinahe allem, was später von ihnen kam, muss man, ehrlich gesagt, dringend abraten, das war dann fast nur noch weichgespülter Mist. Aber das Frühwerk von “Digital ist besser” bis zu “K.o.o.k.” ist und bleibt gigantisch. Und zu ihren Texten muss man sagen, dass sie keineswegs schlechter sind als die von, sagen wir, Bob Dylan. Und auch gewiss nicht schlechter als die Lyrik dieser Frau Glück, die bis vor wenigen Tagen noch niemand kannte.
Das Urteil für Tocotronics Frühwerk kann daher nur lauten: Gebt ihnen den Nobelpreis!
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Tocotronic
Digital ist besser
L’age d’ or 1995
justament.de, 30.9.2019: Rückkehr nach Bielefeld
Recht historisch Spezial: Justament-Autor Thomas Claer über eine nostalgische Sommerreise an die Orte seiner Juristenausbildung
Immer musste ich an die abgründigen Worte des Schriftstellers Uwe Johnson (1934-1984) denken: „Da, wo ich herkomm‘, das gibt es nicht mehr.“ Gemeint war damit vordergründig das alte Mecklenburg vor der DDR-Zeit, aber im Grunde genommen gilt dieser Satz doch universell: Kommt man an die Orte seiner früheren Lebensetappen, dann erkennt man sie oft kaum mehr wieder. Einerseits, weil sie sich in der Zwischenzeit tatsächlich stark verändert haben und womöglich gar nicht mehr sie selbst sind. (Besonders krass gilt dies, wenn der Staat, in dem man aufgewachsen ist, gar nicht mehr existiert. Meine Cousine aus Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz, pflegt immer zu sagen: „Es gibt die Straße, die Stadt und das Land nicht mehr, in denen ich aufgewachsen bin.“) Und andererseits sieht man diese Orte natürlich auch deshalb mit anderen Augen, weil man selbst schon längst nicht mehr der ist, der man seinerzeit noch war, als man in ihnen gelebt hatte…
17 Jahre ist es nun schon her, dass meine Frau und ich unsere Zelte in Bielefeld, der entgegen allen abstrusen Gerüchten sehr real existierenden Stadt am Teutoburger Wald, abgebrochen haben und nach Berlin gezogen sind. Nur einmal noch, im Jahr 2003, bin ich ganz kurz dort gewesen, um meine Doktorarbeit zu verteidigen. Seitdem nicht mehr. Dabei haben wir seinerzeit fast ein ganzes Jahrzehnt in der ostwestfälischen Provinz-Metropole verbracht. In den unteren Semestern hatte ich sogar noch lange Haare. Aber am Ende wollten wir, und ganz besonders meine Frau, nur noch weg von dort und auf ins Ungewisse, auf nach Berlin!
Keine Sekunde haben wir diesen Schritt seitdem bereut. Und wir können auch wirklich nicht behaupten, dass uns in den letzten 17 Jahren in Berlin etwas von Bielefeld gefehlt hätte. Aber irgendwann, mit ganz viel Abstand, sind dann doch nostalgische Erinnerungen in uns aufgestiegen. An all die schönen Momente unserer Jugendzeit. An diese Stadt, von der wir erst mit langer Verzögerung gemerkt haben, wie sehr sie uns trotz all ihrer Enge und Begrenztheit ans Herz gewachsen ist. In diesem Sommer wussten wir dann: Es ist Zeit, dort noch einmal hinzufahren und all die Orte unseres früheren Lebens noch einmal zu besuchen. Gerade einmal 2 ½ Stunden braucht der ICE für eine Strecke von Berlin nach Bielefeld. Ankunft um 10.30 Uhr und zurück um 21.30 Uhr. Dazwischen liegen 11 Stunden bei untypischstem Bielefelder Wetter: blauem Himmel und strahlendem Sonnenschein. (Ein alter Bielefeld-Witz lautet: Woran merkt man, dass es Sommer wird in Bielefeld? Der Regen wird wärmer.)
Wir kommen aus dem Bahnhof und laufen die Straße zum Jahnplatz entlang. Kein einziges der Geschäfte kommt mir irgendwie bekannt vor. Meine Frau glaubt immerhin, sich an ein oder zwei Läden zu erinnern, die es damals schon gegeben hat. Alles andere ist neu. Selbst der Saturn-Markt ist nicht mehr am selben Ort wie früher. Dort am Jahnplatz, wo wir uns immer den großen türkischen Vorspeisenteller geteilt haben, ist jetzt überhaupt kein Imbiss mehr. Der Aldi in der Herforder Straße, wo ich immer auf dem Rückweg vom Repetitorium eingekauft habe? Nicht mehr da. Aber ich möchte doch wenigstens noch mal in meinen liebsten Schallplattenladen. Ist der etwa auch nicht mehr…? Nein, auch ihn gibt es nicht mehr. Aber vielleicht den anderen, den Secondhandladen oben in der Passage? Die ganze obere Etage der City-Passage steht mittlerweile leer. Unten, wo früher das Antiquariat war, in dem wir unsere hübsche E.T.A. Hoffmann-Gesamtausgabe erstanden haben, ist jetzt ein Tattoo-Laden. Überhaupt scheint die ganze Passage fast nur noch aus Tattoo-Läden zu bestehen. Das ist wohl zurzeit sehr angesagt in Bielefeld. Wir sehen auch sehr viele tätowierte Leute auf der Straße, beinahe mehr als in Berlin. Die Imbiss-Läden sehen viel cooler aus als früher, von den Schildern und der Einrichtung her. Fast wie in Berlin in den hippen Bezirken. Die Preise sind auch nicht mehr so sehr anders. Damals, zu unserer Zeit, kostete der Döner in Bielefeld 6,50 DM, was schon sehr teuer für uns war. In Berlin bekamen wir ihn dann bereits für ein bis zwei Euro. Jetzt liegt der Preis hier wie dort bei ca. 3,50 Euro. Auch die Leute auf der Straße wirken nicht viel anders als in Berlin. Es gibt viel mehr Ausländer im Straßenbild als früher.
Wir fahren raus zur Uni, zu unserer geliebten Uni! Da ist aber ganz viel abgesperrt. Überall Bauarbeiten. Pünktlich zum 50-jährigen Jubiläum der Universität – ich erinnere mich noch gut an das 25-jährige Jubiläum kurz nach meiner Immatrikulation, als ich in den Genuss einer Rede von Niklas Luhmann kam – ist leider längst noch nicht alles fertig geworden. Wohin man blickt, stehen große Pappwände zwischen Staub und Schmutz. Aber als wir dann in der Mitte der riesigen Halle zu den vielen bunten Spruchbändern an der Galerie aufblicken, die dort noch immer genauso hängen wie vor zwei Jahrzehnten – Asta, Schwule Gruppe, Feministische AG, Internationale Solidarität und so weiter –, läuft es mir wohlig kalt den Rücken hinunter. Allerdings knurrt uns schon mächtig der Magen, doch zu unserer großen Enttäuschung hat wegen der Bauarbeiten die Mensa nicht geöffnet. Wie hatte ich mich auf das leckere Alternativ-Essen gefreut: diese unvergesslichen köstlichen Gemüse-Bratlinge und die riesigen Nachtisch-Portionen mit Obstjoghurt. Aber es kommt noch schlimmer: Auch die Cafeteria ist wegen der Bauarbeiten geschlossen. Dort, wo wir uns immer eine Tasse Kaffee für 50 Pfennig geteilt haben, was mir eigentlich schon viel zu teuer war… Stattdessen gehen wir zum Mittagessen nun also ins „Westend“ am anderen Ende des Hauptgebäudes, wo wir uns früher manchmal außerhalb der Mensa-Öffnungszeiten verköstigt hatten. Das „Westend“ heißt natürlich auch nicht mehr so, aber immerhin bekommt man dort noch etwas zu essen, wenn auch gänzlich anderes als zu unseren Zeiten. Nach dem Essen setzen wir uns an einen der kleinen Tische auf der Galerie und lassen unsere Blicke schweifen. Meine Frau hat hier früher stundenlang gesessen, sagt sie, und mit Freundinnen gequatscht.
Nun gehen wir zu unserem alten Studentenwohnheim hinter der Uni, wo wir die ersten fünf Jahre (meine Frau die ersten vier Jahre) in Bielefeld zum unschlagbaren Mietpreis von 245 DM gewohnt haben. Auf diesem Weg habe ich ca. im dritten Semester nach Fertigstellung einer BGB-Hausarbeit, die mich fast in den Wahnsinn getrieben hätte, nachts um eins am Himmel ein kleines UFO gesehen, das in Zickzacklinien über dem Studentenwohnheim kreiste… Genau 18 Quadratmeter betrug die Wohnfläche in den Apartments, das berühmte „Weltraum-Klo“ schon inbegriffen. Doch nun trauten wir unseren Augen kaum. Was war denn mit unserem Studentenwohnheim passiert?? Da stand ja ein völlig anderes Gebäude. Doch, bei genauerem Betrachten erkannten wir noch eine entfernte Ähnlichkeit mit unserem Wohnheim. Man hatte es offenbar völlig entkernt und aufgehübscht. Jetzt waren es Luxus-Wohnungen geworden…
Wir wandern durch den Wald hinter unserem alten Wohnheim zum Tierpark Olderdissen. Nach unserer Erinnerung bestand dieser Wald vor allem aus Nadelbäumen. Nun bemerken wir aber fast überall nur noch Laubbäume, warum auch immer… Es ist ein wunderschöner Weg, den wir früher so oft gegangen sind. Diese liebliche, hügelige Landschaft und dieser atemberaubende Blick auf den Vorort Dornberg! Ach, wie schön das damals doch war, zwischen all dem schrecklichen Paragraphen-Lernen diese schöne Natur zu genießen. Um auch noch alle Tiere im Zoo zu besichtigen, der früher niemals so gut besucht war wie an diesem schönen Sommertag, fehlen uns aber Zeit und Kraft, denn wir haben ja noch einiges vor.
Als nächstes fahren wir nach Baumheide, den einzigen „sozialen Brennpunkt“ in Bielefeld. Dort wohnten wir vier Jahre lang super günstig in einer Genossenschaftswohnung, als unsere Wohnzeit im Studentenwohnheim hinter der Uni abgelaufen war. Bis Baumheide fährt man vom Zentrum der Stadt, dem Jahnplatz, mit der U-Bahn nur 12 Minuten. In Berlin würde das als super zentral gelten, nach Bielefelder Maßstäben aber liegt es schon fast am Ende der Welt. Über drei bis vier U-Bahnstationen (über der Erde) fährt man nur durch trostlosestes Gewerbegebiet – und kommt dann in eine total idyllische Stadtrand-Siedlung direkt am Wald. Die Häuser, die damals, als wir 1998 dort eingezogen waren, alle gerade frisch saniert worden waren, sehen jetzt teilweise etwas mitgenommen aus. Aber ansonsten bin ich auch jetzt noch ganz angetan von Bielefeld-Baumheide. Den riesigen Marktkauf direkt an der U-Bahn-Station gab es damals schon. Nur innendrin erkennen wir nichts mehr wieder. Die Sozialstruktur galt schon damals als problematisch. Inzwischen scheint sich dies noch verstärkt zu haben, wie die Graffitis am U-Bahnhof vermuten lassen. Aber verglichen mit Berlin ist das wirklich lächerlich! Genau wie seinerzeit wirkt ansonsten alles supergepflegt. Kein Müll liegt in den Straßen. An unserem früheren Hausaufgang steht noch genau ein uns bekannter Name geschrieben, alle anderen sind neu. Die älteren Damen, die damals so streng die Einhaltung des Putzplans kontrolliert hatten, wohnen begreiflicherweise nicht mehr dort. Stattdessen lesen wir ganz viele türkische und arabische Namen auf den Klingelschildern. Was uns aber angenehm überrascht, ist, dass wir keine verächtlichen Blicke mehr erleben müssen. Damals wurde insbesondere meine koreanische Frau, manchmal auch wir beide, von überwiegend älteren Damen immer wieder feindselig angestarrt. Irgendwann merkten wir, dass dies wohl Russlanddeutsche waren, die in Baumheide in großer Zahl lebten und offenbar ein sehr rassistisches Weltbild hatten. Glücklicherweise hat sich dies offensichtlich nicht auf die jüngere Generation übertragen.
Wir laufen durch den Wald und kommen auf den einfach nur zauberhaften Landweg von Baumheide nach Milse. Dort marschiert man – genau wie vor 20 Jahren – inmitten zirpender Grillen durch die goldgelben Felder. Nur dass uns diesmal, etwas häufiger als damals, gelegentlich ein vorbeifahrendes Auto oder Fahrrad begegnet. Wir fragen uns, ob es solche idyllischen Orte eigentlich überall gibt oder nur hier am Stadtrand von Bielefeld. In Milse erreichen wir die U-Bahn-Endstation. Viel Zeit bleibt uns nun nicht mehr in Bielefeld. Für den Botanischen Garten reicht sie leider nicht mehr, aber dafür noch für einen Besuch auf der Sparrenburg. Dort hat sich aber auch eine Menge getan. Früher war es einfach nur eine alte Burg, um die sich kaum jemand kümmerte. Heute sind überall Schilder angebracht, die die wechselvolle Geschichte dieser Burg erklären. Große Informationstafeln widmen sich vor allem auch der Fledermauspopulation in den alten Mauern. Und so viele Besucher haben an diesem lauen Sommerabend den Weg zur Burg gefunden! Vor allem sieht man jede Menge Studenten auf den Mauern sitzen, die dort lässig mit einer Flasche Bier in der Hand in den Sonnenuntergang blicken. So schön, wie wir es jetzt erleben, hatten wir Bielefeld gar nicht in Erinnerung!
Auf dem Weg zum Bahnhof, in dessen Nähe wir uns schon gleich nach unserer Ankunft einen Asia-Imbiss zum Abendessen ausgeguckt hatten, sagt meine Frau zu mir: „Hier in Bielefeld ist es wirklich gar nicht schlecht. Hier kann man gut wohnen.“ Und fügt dann aber noch hinzu: „Als Spießer.“
JURA-Juristische Ausbildung, Dezember 2014: Wenn aus Lust Frust wird
Der Sammelband „Wem gehört der Mond? Texte rund um die Juristenausbildung aus 14 Jahren Justament“
Katharina Mohr
Alle Volljuristen teilen eine Gemeinsamkeit: Sie haben zwei Staatsexamina bestanden. Wie sich Studium und Referendariat gestaltet haben und auf welche Weise sie schließlich durch die Prüfungen gekommen sind, ist hingegen bei jedem individuell verschieden. Oder – halt! – könnte es sein, dass es auch hierbei für viele eine fast unheimlich anmutende Ähnlichkeit in den Erlebnissen und Erkenntnissen gegeben hat?
Wer das vor kurzem erschiene hellblaue Büchlein „Wem gehört der Mond? Texte rund um die Juristenausbildung aus 14 Jahren Justament“ zur Hand nimmt, den beschleicht das Gefühl, dass es noch eine weitere Gemeinsamkeit gibt: Alle Mitautoren des Buches haben auf dem Weg in die Befähigung zum Richteramt einige skurrile, häufig ernüchternde und manchmal sogar erschreckende Erfahrungen gemacht. Zwar lässt sich die Juristenwerdung in Deutschland nicht mit den Initiationsriten der Grandes Ecoles – den besten Hochschulen in Frankreich – vergleichen, die unter dem Begriff „Bizutage“ bekannt wurden und nichts anderes sind als brutale Misshandlungen und Demütigungen junger Studenten durch ihre älteren Mitstudenten. Doch eine gewisse Form der Demütigung und Unterdrückung durch Professoren, Prüfer im Examen, Ausbilder im Referendariat und durch Kommilitonen und Mitreferendare scheint der juristischen Ausbildung nicht fremd zu sein.
Die wahren Geschichten in den Kapiteln „Best of Jurastudium“ und „Tagebücher anonymer Rechtsreferendare“ zeugen von Diensten wie Einkäufe erledigen und Kaffeekochen, die Referendare in Anwaltskanzleien oder bei der Staatsanwaltschaft verrichten müssen, von ausgerissenen Seiten in den Kommentaren der Uni-Bibliothek, um es dem Mitstudenten schier unmöglich zu machen, die entscheidende Frage in seiner Hausarbeit zu lösen, von der gegenseitigen Panikmache in den Repetitorien und von cholerischen Prüfern, die den Prüfling nicht ausreden lassen, sondern ihn beim ersten falschen Wort laut anschnauzen.
Was in den einzelnen Texten des Bändchens auf wunderbar erleuchtende und zugleich äußerst humorvolle Weise beschrieben wird, ist die Erklärung für die „déformation professionelle“, die allen Juristen unterstellt wird und die sich bei einigen Exemplaren schön beobachten lässt. Die Neigung, die berufsbedingte Perspektive unbewusst auch auf andere Lebenssituationen anzuwenden, kann sich zum Beispiel dergestalt zeigen, dass – man verzeihe das derbe Beispiel, das sich aber im entfernten Bekanntenkreis so zugetragen hat – der Ehemann (ein Jurist) seine Ehefrau, die er als Fremdgeherin im Verdacht hat, mit den Worten zur Rede stellt: „Hast Du den Geschlechtsverkehr vollzogen?“.
Aber, mal ehrlich, wer wundert sich über diese Deformierung der Persönlichkeit, wenn schon dem jungen Jurastudenten nahegelegt wird, bloß niemandem von seinen schlechten Ergebnissen in Klausuren oder Hausarbeiten zu berichten, um nicht aus der Lerngruppe ausgeschlossen zu werden, und wenn man ihm gleich vermittelt, dass er keine Ahnung von gar nichts hat und nicht damit rechnen kann, auf dem hart umkämpften Anwaltsmarkt auch nur eine halbe Stufe der Karriereleiter zu erklimmen. Stattdessen soll er sich gefälligst an den Kopierer stellen und dankbar sein, dass er bedeutsame Schriftsätze aus der Feder bedeutsamer Juristen vervielfältigen darf. Ansonsten hat er den Mund zu halten, es sei denn, der Professor drangsaliert ihn in der Vorlesung vor dem versammelten Semester mit Fragen wie „Wem gehört der Mond?“. Wenn er darauf aber die juristisch korrekte Antwort nicht weiß, dann gnade ihm der liebe Gott, damit er nicht am gebügelten Hemdkragen mitsamt seinem noch knickfreien Schönfelder, den seine Eltern stolz in der heimischen juristischen Fachbuchhandlung erworben und ihm bei ihrem ersten Besuch im Studentenwohnheim überreicht haben, aus dem Hörsaal geworfen wird.
Was für Persönlichkeiten sollen bei dieser Art der „Behandlung“ am Ende herauskommen? Es ist kein Wunder, dass in der juristischen Ausbildung – wie in den Texten beschrieben – aus Jura-Lust schnell Jura-Frust wird und der Glaube an das Schlechte im Juristen sich tief verfestigt, was zu entsprechenden Schlussfolgerungen und Konsequenzen für das eigene Verhalten führt.
Denjenigen Juristen, die vor 1970 geboren sind und die Kinder der Generation Golf und erst Recht diejenigen der Generation Y allesamt für verweichlichte Mimosen halten, da sie keinerlei Belastung mehr ertragen könnten und deshalb naturgemäß auch nicht für den juristischen Beruf geeignet seien, empfehle ich das letzte Kapitel des Buches mit dem Titel „Drum herum“. Es hält einige schöne Texte bereit, die zeigen, dass auch junge Juristen in der Lage sind, intelligente und feine Überlegungen zur juristischen Sprache und zur Rechtsgeschichte anzustellen.
Die vielfältigen Geschichten von der Lust und vom Frust bei der Juristerei sind in der Textsammlung „Wem gehört der Mond?“ zusammengestellt, die das Beste aus 14 Jahren Justament in sich vereint. Ende der 90er Jahre haben zwei Referendarinnen die Zeitschrift Justament aus der Taufe gehoben, seit 2000 erscheint sie im Berliner Lexxion Verlag. Die Justament hat in den letzten 14 Jahren jungen Juristen Anregungen für ihre eigene Ausbildung gegeben und die vielen verschiedenen Möglichkeiten der Gestaltung von Studium und Referendariat aufgezeigt. Sie hat immer wieder den Blick in die Praxis gerichtet und gestandene Richter, Rechtsanwälte, Staatsanwälte und Verwaltungsjuristen zu Wort kommen lassen, um Berufsbilder zu beschreiben und junge Juristen dadurch bei der eigene Berufswahl zu unterstützen. Bei alledem ist in der Justament der Humor nie zu kurz gekommen – auch um der oben beschriebenen „déformation professionelle“ entgegenzuwirken. Die Redaktion und das Online-Portal der Justament werden seit vielen Jahren von Dr. iur. Thomas Claer geleitet, der den Textband herausgegeben hat.
Allen angehenden Juristen, den schon examinierten jungen Juristen und den gestandenen älteren Juristen sei zum Abschluss der ultimative Selbsttest ans Herz gelegt: die Lektüre von „Alex prüft die Liebe im Examen“. Wer sich beim ersten Satz fragt: „Was soll daran lustig sein? Es ist doch selbstverständlich, dass ich mich nicht durch die Liebe von der Examensvorbereitung ablenken lasse!“, dem ist mit großer Wahrscheinlichkeit eine glänzende Karriere als Anwalt in einer anglo-amerikanischen Großkanzlei beschieden. Allerdings muss er oder sie eventuell damit leben, dass sich der Lebenspartner eines Tages dem Klavierlehrer oder der Nachbarin zuwendet. Wer hingegen bei diesem Satz schallend lachen muss, kann zumindest von sich behaupten, das Herz am rechten Fleck zu haben. Ob er oder sie allerdings jemals aus der „Feld-Wald-und-Wiesen-Ecke“ herauskommen und halbwegs gewinnbringende Mandate akquirieren wird, ist eine andere Frage. Auf die Generation des perfekten Volljuristen, der beides kann – korrekt subsummieren und herzlich über sich lachen – warten wir noch!
Thomas Claer (Hrsg.)
Wem gehört der Mond? Texte rund um die Juristenausbildung aus 14 Jahren justament
BoD 2014
186 Seiten, 12,00 €
ISBN: 9-783735-737366
Die Rezensentin Dr. Katharina Mohr ist Rechtsanwältin in Berlin.
www.justament.de, 20.10.2014: JUSTAMENT als Buch
NEU: “Wem gehört der Mond?” Höhepunkte aus 14 Jahren justament
So eine Juristenausbildung ist kein Lebensabschnitt wie jeder andere. Wer sie durchlaufen hat, der hat schon einiges erlebt. Die Zeitschrift justament hat sich neben ihrer fachlichen Seite auch immer wieder der „Juristenausbildung als innerem Erlebnis“ gewidmet. Die gelungensten Beiträge hierzu aus 14 Jahren sind nun erstmals als Buch zusammengestellt, darunter die komplette Serie „Best of Jurastudium“ und alle Tagebücher mit den geheimen Aufzeichnungen der anonymen Rechtsreferendarinnen.
Inhalt:
Best of Jurastudium (2007-2009)
Thomas Claer – Wem gehört der Mond?
Pinar Karacinar – Was wäre, wenn…
Inessa Molitor – Nur in die Fresse
Jochen Barte – Deutschland sucht den Superjuristen
Thomas Claer – UFOs über Bielefeld
Inessa Molitor – Hauptsache voll
Tagebücher
Alexa (2003-2005)
Pinar (2007-2009)
Nina (2010-2011)
Alex (2012-2014)
Drum herum (2007-2013)
Thomas Claer – Kollegen Diktatoren. Wohin eine juristische Ausbildung auch führen kann
Jean-Claude Alexandre Ho – Der dicke Rote. Die Geschichte hinter dem „Schönfelder”
Marc Nüßen – Zur Verfassungswidrigkeit des Richter-NC
Constantin Körner – Juristische Repetitorien. Ein polarisierendes Stück Rechtsgeschichte
Katharina Stosno – Die eiskalte Akademie (bisher unveröffentlicht)
Patrick Mensel – Bachelor ante Portas Iustitiae
Arnd Wiebusch – Ein x-beliebiger Tag! Erlebnisbericht vom Praktikum in Brüssel
Jochen Barte – Juristische Auslegung als Geheimwissenschaft. Eine kleine Geschichte der Hermeneutik
Katharina Stosno – Drei Jahre dolce vita und dann die Ärmel hoch. Interview mit Juli Zeh
Marc Nüßen – Das fähige genehmigungs-bedürftige Vorhaben. Eine Sprachkritik unter Juristen
Oliver Niekiel – Anwalt der Herzen. Über die Kult-Serie „Liebling Kreuzberg“ (bisher unveröffentlicht)
Thomas Claer (Hrsg.)
Wem gehört der Mond? Texte rund um die Juristenausbildung aus 14 Jahren justament
Verlag BoD Norderstedt 2014
184 Seiten, 12,00 Euro
ISBN: 9783735737366
Kaufen kann man das Buch hier oder beim Buchhändler seines Vertrauens.
Justament Dez. 2008: UFOs über Bielefeld
Best of Jurastudium, Teil 5
Thomas Claer
Es gibt im Menschenleben Augenblicke, in denen entscheidet sich das eigene Schicksal. Jetzt umkehren oder doch den eingeschlagenen Weg fortsetzen? Lieber ein Ende mit Schrecken oder besser Augen zu und durch? Diese Fragen stellen sich dann – und niemand nimmt sie einem ab.
Der Tiefpunkt
Es muss wohl im vierten oder fünften Semester gewesen sein und war der Tiefpunkt meiner juristischen Karriere. Niemals hätte ich geglaubt, durch eine Hausarbeit fallen zu können. Eine gewisse Rest-Arroganz aus gymnasialen Tagen hatte sich bei mir noch erhalten. Wer nicht ganz blöd ist und vernünftig arbeitet, der muss es doch irgendwie schaffen, nicht zu den dreißig oder vierzig Prozent Losern zu gehören, dachte ich, zumal es bei den kleinen Scheinen ja auch irgendwie geklappt hatte. Aber weit gefehlt! Diesmal waren es nicht einmal 15 Prozent der insgesamt vielleicht fünfhundert Teilnehmer, die das Klassenziel nicht erreicht hatten, und unter meiner großen Hausarbeit im Zivilrecht stand: mangelhaft (2 Punkte). Was es noch schlimmer machte: Ich hatte viereinhalb Wochen lang wirklich mein Bestes gegeben. Da tröstete es wenig, dass zwei Kommilitonen aus meiner Lerngruppe, in der wir uns nach langer Diskussion auf einen gemeinsamen Lösungsweg geeinigt hatten, das gleiche Schicksal ereilt hatte. Genau genommen waren es jene beiden, die wie ich zur ersten Hälfte der zweigeteilten Übung (Nachnamens-Buchstaben A-K) gehörten. Die beiden anderen Mitstreiter, die unter L-Z fielen, lagen mit jeweils 5 Punkten über dem Strich. Ich glaubte zuerst an ein Missverständnis, was sich doch sicherlich noch irgendwie aufklären lassen würde. In der Fallbesprechung vor Rückgabe der Arbeiten hatten wir doch alle mit großer Befriedigung festgestellt, im Ergebnis exakt die Musterlösung des Falles getroffen zu haben. Doch stand unter meiner Arbeit (wie unter denen meiner Leidensgenossen) etwas von schwerwiegenden Mängeln im Aufbau. Tatsächlich, die Punkte drei und vier der Prüfung des entscheidenden Anspruchs – es war irgendwas mit einer Hypothek – hatten wir andersherum bearbeitet, als es in der offiziellen Musterlösung stand. Aber unser Prüfungsschema hatten wir uns doch nicht ausgedacht, sondern auch nur irgendwo angelesen! Noch am selben Abend schrieb ich, wie meine zwei unglücklichen Mitstreiter, ein ausführlich begründetes Bittgesuch an den Dozenten, der für die Buchstaben A-K verantwortlich war. Mit dieser Methode hatte ich früher bei einer “kleinen” BGB-Klausur schon einmal Erfolg gehabt. Doch nach einer Woche kam das niederschmetternde Ergebnis: Es bleibe dabei wegen schwerer Mängel im Aufbau. Unsere Prüfung sei unlogisch. Fand ich nicht, aber das half ja nun auch nicht mehr.
Die Zweifel
Bevor ich mir den neuen Sachverhalt für die Wiederholer abholte, kamen mir sehr grundsätzliche Zweifel, ob ich mir das überhaupt noch antun sollte. Ich war auch einfach wütend. Was ist das für eine merkwürdige Wissenschaft, fragte ich mich, für die man wegen einer blöden Abweichung vom Schema F mehrere Wochen umsonst gearbeitet hat? Damals kam es mir noch nicht in den Sinn, dass es sich bei der juristischen Ausbildung auch um ein mentales Training handeln könnte, um die Vermittlung von Härte im Nehmen, von Steher- und Wiederaufsteher-Qualitäten. Das Jurastudium, so sehe ich es heute, lehrt einen, die Kontingenz und Absurdität der Welt zu ertragen. Wer sich von solchen Dingen (die wohl jeder Jurist in ähnlicher oder schlimmerer Form schon erlebt haben wird) nicht entmutigen lässt, wer da durchkommt, den wirft so schnell nichts mehr um. Dass aber das Studium der Rechte, wie böse Zungen sagen, den Charakter verdirbt, dass es egoistisch und verschlagen mache, wer wollte da widersprechen? Schon weil niemals alle bestehen können und es immer Lerngruppen gibt, die anderen deshalb wichtige Informationen vorenthalten und die entscheidenden Bücher in der Bibliothek verstecken oder wichtige Seiten herausreißen. Und dann werden die jeweils hübschesten Mädchen zum Spionieren in die anderen Gruppen geschickt. Perfide! Zum Intriganten wird man im Jurastudium also auch ausgebildet.
Schade um die schönen Scheine
Ich glaube, ich fand es letztlich nur schade und verschwenderisch, meine bereits erworbenen Scheine einfach verfallen zu lassen. Viele andere Semester-Kollegen, mit denen wir das Studium begonnen hatten, waren schließlich schon auf der Strecke geblieben. Nur deshalb machte ich wohl damals überhaupt noch weiter.
Die Nachschreibe-Arbeit schrieben wir also zu dritt, parallel zu den regulären Lehrveranstaltungen. Verbunden mit dem ständigen Gedanken, sich keinen weiteren Fehltritt mehr erlauben zu können, brachte mich das am Abend vor dem Abgabetermin in einen Zustand völliger Erschöpfung. Und auf dem Weg von der Bibliothek ins Wohnheim, es war ein Uhr nachts (In Bielefeld sind die Öffnungszeiten vorbildlich extensiv!), da bemerkte ich am Himmel drei kleine Lichtpunkte, die sich in Zickzacklinien bewegten. War es eine Sinnestäuschung infolge der Überanstrengung oder eher eine Spätfolge meiner ausgiebigen Lektüre der Bücher des Erich von Däniken in Teenagertagen? Ich weiß es bis heute nicht mit Bestimmtheit zu sagen. Schnell ging ich ins Wohnheim und schlief sofort ein. In der Hausarbeit bekam ich 10 Punkte. Es gibt eben Dinge zwischen Himmel und Erde, die gibt’s gar nicht.
Justament Feb. 2005: Just a five – 2000 bis 2005
Glückwünsche und Statements zum Jubiläum von Lesenden und Schreibenden
Dr. Thomas Claer, Rechtsanwalt in Berlin
Es war schon eine andere Zeit, als damals die erste justament erschien: Milenniums-Euphorie, Internet-Boom, Aufbruchstimmung aller Orten. Fünf Jahre, eine Wirtschaftsrezession, ein paar Kriege, Terroranschläge und Naturkatastrophen später sieht die Welt gleich wieder sehr viel nüchterner aus. Dabei haben es die jungen Juristen doch von Anfang an gewusst, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Als in ihrer großen Mehrheit geübte Dauerbewältiger der vom Ausbildungssystem produzierten strukturellen Krisen sind sie ja schließlich Kummer gewohnt und lassen sich nun auch von Hartz IV nicht mehr aus der Bahn werfen. Heute gilt nichts anderes als vor fünf Jahren: Nach dem Examen ist vor dem Examen oder vor dem Berufseinstieg – ein Schrecken jagt den anderen, eine Verkettung von Extremsituationen mit ungewissem Ausgang. Aber Bangemachen gilt nicht! Denn immerhin will und wird justament auch künftig die bewährte geistig-moralische Stütze sein.
Justament März 2004: Pauken im Land der Morgenstille
Das südkoreanische Juristenausbildungssystem übertrifft das deutsche an Rigorosität
Thomas Claer
Einen Namen gemacht hat sich Südkorea als Tigerstaat, der – abgesehen vom Asien-Krisen-Knick Mitte der Neunziger – seit Jahrzehnten ein exorbitantes Wirtschaftswachstum vorweisen kann und bei “ungehindertem Geschehensablauf” wohl in nicht allzu ferner Zukunft zum stagnierenden Nachbarn Japan aufschließen wird. In der für Deutschland so blamablen PISA-Studie belegten die Schüler Südkoreas hinter Finnland den zweiten Platz (was in den koreanischen Medien kaum Beachtung fand). Wie funktioniert in einem solchen aufstrebenden Land die Juristenausbildung?
Wenige Juristen
So wie in Deutschland muss, wer sich in Südkorea examinierter Jurist nennen will, zwei Staatsprüfungen bestehen. Die Parallelen sind nicht zufällig, wurde doch das formale Rechtssystem in Korea während der japanischen Kolonialherrschaft (1907-1945) etabliert und hatte Japan wiederum das seine nach dem Muster Preußens errichtet. Doch bildet Korea keine Einheitsjuristen aus. Es gibt drei unterschiedliche Staatsexamen: ein zivilrechtliches, das zwar auch das Strafrecht, hingegen das öffentliche Recht nur in Grundzügen umfasst, ferner ein öffentlich-rechtliches für alle Verwaltungsberufe und schließlich eins für den diplomatischen Dienst. Auch bewegt sich, anders als in Deutschland, das derzeit unter einer Juristenschwemme leidet, die Zahl der erfolgreich abschließenden Juristen in Korea bis heute auf eher preußischem Niveau: Genau 1000 Absolventen (bei ca. 50 Millionen Einwohnern) – diese Zahl ist festgeschrieben – kommen pro Jahr durchs zweite zivilrechtliche Staatsexamen. Bis 1997 waren es nur 500. Im öffentlich-rechtlichen und im Diplomaten-Examen lässt man noch deutlich weniger Kandidaten bestehen. Und diese wenigen Glücklichen haben – wie die vielen unglücklichen “Durchfaller” – einen nervenaufreibenden Lernmarathon durchlaufen, der selbst die gewiss nicht komfortable deutsche Examensvorbereitung in den Schatten stellt.
Voraussetzungen
Um sich für eines der koreanischen Staatsexamen anzumelden, bedarf es keinerlei formaler Voraussetzungen. Ein Jurastudium ist zwar hilfreich, aber genauso wenig vorgeschrieben wie ein bestimmter Schulabschluss. Wer es so will oder muss (z.B. weil er keinen der begehrten und streng limitierten Studienplätze bekommen hat), bereitet sich selbständig aufs Examen vor. Der jetzige Präsident der Republik Korea, Roh Moo Hyun, ist Jurist geworden, ohne jemals an einer Universität studiert zu haben. Das – wie alle Studiengänge in Korea – ziemlich verschulte Jurastudium ist zwar inhaltlich voll und ganz auf die Staatsexamen fixiert, bietet aber einen eigenen universitätsinternen Bachelor-Abschluss an, den auch üblicherweise der jeweils gesamte Jahrgang erreicht. Fast alle Jura-Studenten versuchen sich anschließend aber auch im ersten Staatsexamen, das immerhin ca. 10 Prozent von ihnen bestehen. Hinzu kommen noch die etwa zwanzig Prozent der erfolgreichen Examens-Prüflinge, die zuvor nicht Jura, sondern etwas anderes oder gar nicht studiert haben. Wer beim Examen scheitert oder diesen Weg gar nicht erst einschlagen will, kann immer noch einen aufbauenden Master-Studiengang absolvieren, der wiederum unverzichtbar für eine spätere Promotion ist, welche ihrerseits den Weg zu einer, in Korea nicht sonderlich attraktiven, Professur an einer Universität ebnen kann – und das alles ohne Staatsexamen.
Examensindustrie
Die eigentliche Examensvorbereitung erfolgt aber – wie in Deutschland – in den allermeisten Fällen beim “Rep”. Die absolvierten privaten examensvorbereitenden Kurse dauern mindestens ein Jahr, oft aber auch länger – je nach Selbsteinschätzung der Kandidaten. Manche sollen bis zu 10 Jahre für ihr Examen lernen. Die Intensität ist beträchtlich. Üblicherweise quartieren sich die Kursteilnehmer in den Lernräumen der Repetitorien ein (Übernachtungen sind in den Preisen von umgerechnet ca. 1000 Euro monatlich bereits enthalten) und büffeln dort buchstäblich Tag und Nacht. In der Nähe der renommierten Seoul-Uni, der koreanischen Eliteuniversität schlechthin, gibt es einen so genannten “Juristenexamensbezirk”, in dem sich eine Vielzahl dieser “Paukschulen” befindet.
Staatsexamen
Die zentrale Prüfung zum ersten Staatsexamen findet jeweils einmal jährlich für einige Tage in der Hauptstadt Seoul statt. Im ersten Durchgang müssen die zigtausend Kandidaten durch einen Multiple-Choice-Test, dessen Bestehen die Voraussetzung für die Teilnahme am zweiten Durchgang ist und der das Feld der Aspiranten bereits deutlich dezimiert. Dann folgt der Klausuren-Teil, zu dem neben der üblichen Fallbearbeitung, wie wir sie kennen, auch regelmäßig “Besinnungs-Aufsätze” mit Aufgabenstellungen wie “Stellen Sie Ihre Kenntnisse über die Meinungsfreiheit dar!” gehören. Wer hier zu den besten 1000 gehört, hat es so gut wie geschafft. Die abschließende mündliche Prüfung der “Sieger” dient dann nur noch der gelegentlichen Auslese aufgrund eines mangelhaften Persönlichkeitsbildes.
Vorbereitungsdienst
Auf das erfolgreiche erste Examen folgt dann ein zweijähriger staatlicher Vorbereitungsdienst, ähnlich unserem Referendariat. Im ersten Jahr erhalten die verbeamteten und besoldeten angehenden Juristen einen schulartigen, aber rechtspraxisnahen Unterricht an einem Institut. Das zweite Jahr wird nur noch in der Praxis absolviert. Grundsätzlich jeder besteht das darauf folgende zweite Staatsexamen. Allerdings verliert bei einem – nur selten vorkommenden – Scheitern im zweiten Examen auch das erste seine Gültigkeit. Je nach Examensnote dürfen die Absolventen dann Richter, Staatsanwälte oder Rechtsanwälte (von denen es in Korea nur einen Bruchteil der in Deutschland zugelassenen Zahl gibt) werden. In jedem Falle haben die auf solche Weise examinierten Juristen exzellente Berufs- und Verdienstaussichten.
Justament Juni 2003: Mehr Reformen!
Die Neuerungen in der Juristenausbildung sind begrüßenswert, aber keineswegs ausreichend. Um eine radikale Strukturreform, die mit der preußischen Tradition des Einheitsjuristen bricht und sich stärker an den Systemen anderer Länder orientiert, werden wir wohl nicht herumkommen.
Thomas Claer
Es ist schon ein Kreuz mit der deutschen Juristenausbildung. Jahr für Jahr durchlaufen hierzulande Tausende hoffnungsvolle junge Menschen ein äußerst strapaziöses und zeitaufwendiges Ausbildungssystem, in dem sie in erster Linie für einen Beruf geschult werden, den 93 Prozent von ihnen niemals ausüben werden: das Richteramt. Der Umfang und die Komplexität des Prüfungsstoffs sind in den vergangenen Jahren exponentiell gewachsen, was zwar grundsätzlich für fast alle Wissenschaftsbereiche gilt, jedoch den angehenden Juristen deutlich härter trifft, da er in den Staatsexamina das gesamte Wissen auf einen Schlag parat haben muss. Zudem weist der (Massen-) Studiengang Rechtswissenschaft an den Universitäten die schlechteste Betreuungsrelation auf. Nur wenige Mutige trauen sich daher ins erste Staatsexamen, ohne zuvor ein teures privates Repetitorium besucht zu haben (und beim zweiten Examen ist es später auch nicht viel anders). Teuer kommen die jungen Juristen aber auch den Staat, der sie auf der zweiten Ausbildungsstufe, dem Referendariat, zwei Jahre lang für insgesamt stolze 500 Millionen Euro p.a. aushält, um sie – wie es Tradition ist – zu Generalisten zu formen, die dann – was in dieser Dramatik relativ neu ist – den Arbeitsmarkt überschwemmen.
Das zweite Staatsexamen verleiht die einheitliche Befähigung für alle juristischen Berufe: “Ein guter Jurist muss alles können.” hieß es früher. Heute beweisen das zahlreiche “Halbtags-Rechtsanwälte” (wobei diese Bezeichnung noch ein Euphemismus ist) beim Taxifahren, der Schüler-Nachhilfe oder an der Aldi-Kasse. Als entscheidendes strukturelles Problem erweist sich, dass der Alleskönner-Jurist in den rechtlichen Berufen, die sich immer mehr auseinander entwickeln, nicht mehr so recht gefragt ist. Vielmehr werden Spezialisten benötigt. Wer Wirtschaftsrecht an der Fachhochschule studiert, ist in der Hälfte der Zeit “fit for business”, die ein Volljurist für seine Ausbildung benötigt – und hat auf dem Arbeitsmarkt bessere Karten als 80 Prozent der staatsexaminierten Juristen.
Man fragt sich, welche Verschwendung die schlimmere ist, die der Staatsgelder für die Vermittlung von auf dem Arbeitsmarkt zu wenig nachgefragten Fähigkeiten an einen viel zu großen Personenkreis im Referendariat oder die gigantische persönliche Fehlinvestition von Zeit und Mühe eines erheblichen Anteils der jungen Juristen. Dabei sind noch gar nicht diejenigen berücksichtigt, die unterwegs auf der Strecke geblieben sind. Bundesweit fallen durchschnittlich fast dreißig Prozent durch die Prüfungen zum ersten Staatsexamen – nach mindestens vierjährigem Studium. Einigen von ihnen gelingt immerhin noch die Korrektur im Wiederholungsversuch.
Selbst die “High Potentials”, die derzeit ca. 14 Prozent der Absolventen, welche ein Prädikatsexamen erreichen, was praktisch den Eintritt in die Spitzenjobs und -gehaltsebenen garantiert, klagen über Wettbewerbsnachteile gegenüber ihren Berufskollegen im Ausland: Die deutschen Juristen sind beim Einstieg ins Berufsleben meist schon Ende Zwanzig, was im internationalen Vergleich relativ alt ist. Daran ist allerdings auch die ca. einjährige Wartezeit auf eine freie Referendarstelle nicht ganz unschuldig. Nur zu erahnen sind schließlich die psychischen Deformationen, welche die permanente Angst- und Konkurrenzsituation in den Köpfen der heutigen jungen Juristen hinterlässt.
Endlich eine Reform
Natürlich haben sich diese Missstände herumgesprochen und am 1. Juli ist es auch schon soweit: Eine Reform der Juristenausbildung tritt in Kraft und sieht u.a. vor, dass in Studium und Referendariat die Anwaltsorientierung stärker als bisher zu berücksichtigen ist. Die Rechtsanwaltsstation soll nun 9 statt 4 Monate dauern und die Universität – was wirklich revolutionär ist – Rhetorik und Kommunikationsfähigkeit vermitteln. Das Gewicht der Wahlfächer, die künftig an den Universitäten zu prüfen sind, steigt im ersten Examen von 10 auf 30 Prozent. Und auch aus eigenem Antrieb heraus hat sich an den Universitäten in den letzten Jahren schon manches gebessert. Vielerorts machen dort etwa didaktisch aufgerüstete Examens vorbereitende Wiederholungskurse den kommerziellen Repetitorien Konkurrenz.
Wer seine Examina vor ein paar Jahren abgelegt hat, kann fast neidisch werden auf die jungen Kollegen, die in den Genuss dieser Neuerungen kommen. Doch angesichts der Dramatik der eingangs geschilderten Probleme sind die Veränderungen kaum mehr als ein oberflächliches Herumdoktern an den Symptomen und eben nicht die eigentlich angezeigte “Wurzelbehandlung”.
Die Wurzeln in Preußen
Wo die Wurzeln des deutschen Juristenausbildungssystems liegen, dürfte niemanden, der durch dieses hindurchgegangen ist, überraschen. Im Jahre 1781 bestimmte das von Friedrich dem Großen, dem “alten Fritz”, verordnete “Corpus Iuris Fridericianum” erstmals gesetzlich und einheitlich die preußische Juristenausbildung. 1793 erfuhr das “Corpus” eine Überarbeitung und wurde als “Allgemeine Gerichtsordnung” verkündet. Die Justiz wurde in Preußen fortan zur unangefochtenen – wie es damals hieß – “Pflanzschule” (Der Nazi-Lehrer in der “Feuerzangenbowle” lässt grüßen!) des gesamten Juristenstandes.
Das Gesetzbuch enthielt Anweisungen, nach welchen die sich der Justiz widmenden Kandidaten durch “scharfe Examina” geprüft und mehrere Jahre als Referendare in den Gerichten angeleitet und ihre “Denkungsart und Conduite” genau erforscht werden sollten. Die Anforderungen an das dem Referendariat vorangehende Universitätsstudium beschränkten sich auf ein Zeugnis über “Fleiß und Wohlverhalten” des abgehenden Studenten. Das Studium endete – wie es noch heute ist – nicht mit einer Universitätsprüfung, sondern einer Justizeingangsprüfung, dem ersten von damals noch drei Staatsexamen. Bis zur erfolgreich absolvierten zweiten Staatsprüfung war der junge angehende Jurist für ein Jahr lediglich ein Akten lesender und hospitierender “Auskultator”, fortan erst – und für weitere drei Jahre – ein aktiv in die juristischen Tätigkeiten eingebundener Referendar. Die dritte “Große Staatsprüfung” erfolgte dann beim Chef der Justiz in Berlin. Der anschließende Lebensweg der Juristen richtete sich dann hauptsächlich nach der letzten Examensnote: Den Spitzenkräften stand der Weg in die exzellent besoldete Verwaltung offen, die zweite Reihe ging zur Justiz, die weniger Erfolgreichen wurden Justizkommissare (staatlich angestellte Advokaten) und die Erfolglosen wurden als Sekretäre, Archivare und im unteren Dienst untergebracht.
Auf diese Weise gelang es in Preußen, eine moderne, flächendeckende und effektive Verwaltung und einen ebensolchen Justizapparat zu errichten. Die Beamten wurden nicht mehr – wie es anderswo noch lange üblich war – (nur) nach Standesprivilegien bestimmt, sondern nach bürokratischem Fachwissen und unbedingter Loyalität zur Obrigkeit. Während der gesamten vier Ausbildungsjahre beim Staate wurden die jungen (damals nur) Männer daraufhin genauestens beurteilt, ohne dass ihnen jemals Einblick in ihre immer dicker werdende Personalakte gewährt wurde. (Dieses Recht erkämpften sich die Referendare dann im 19. Jahrhundert.) Voraussetzung für die Aufnahme in die staatliche Juristenschulung war allerdings ein vom Bewerber zu erbringender “Subsistenznachweis”, der belegen konnte, dass genügend Vermögen vorhanden war, um sich während der langen Ausbildung selbst ernähren zu können. (Die staatliche Bezuschussung der Referendare wurde erst in den 1950er Jahren eingeführt.) Der soziale Status der preußischen Juristen war immerhin so hoch, dass selbst Bismarck ein Leben lang Komplexe gegenüber seinen juristischen Mitarbeitern gehabt haben soll, da er selbst 1839 nach nur wenigen Monaten sein Referendariat abgebrochen hatte …
In den folgenden Epochen bewies das preußische Juristenausbildungssystem eine sagenhafte Resistenz gegenüber sämtlichen politischen Veränderungen, überstand 1848er Revolution, Restaurationsphasen und Staatskrisen nahezu unbeschadet und avancierte schon vor der Reichsgründung 1871 zum Exportschlager in andere deutsche Länder. Das Gerichtsverfassungsgesetz des Reiches von 1877 schrieb dann das preußische Modell für ganz Deutschland fest, allerdings mit der Einschränkung, dass fortan eine zweiphasige Ausbildung (Universität und auf drei Jahre verkürztes Referendariat) die bislang dreiphasige ersetzte. Der Rest ist bekannt: Weder in Nazizeit noch 50 Jahren Grundgesetz wurde am Erfolgsmodell gerüttelt, nur wurde es jeweils moderat den politischen Verhältnissen angepasst. Die Diplom-Juristen-Ausbildung der ehemaligen DDR wurde nach dem Untergang letzterer auf dem Schrottplatz der Geschichte als Sondermüll entsorgt.
Wie ist es woanders?
Dabei ist das deutsche System im Vergleich zu den anderen großen westlichen Industrieländern (zu denen Deutschland ja trotz aller desaströsen Tendenzen immer noch gehört) ziemlich einzigartig.
In Frankreich absolvieren die Jurastudenten schon nach dem zweiten Studienjahr Prüfungen, die den Zugang zum weiteren Studium ermöglichen oder nicht. Nach erneuten Zwischenprüfungen ein Jahr später erfolgt im vierten Studienjahr eine fachliche Spezialisierung, ohne die Fächer weiterbelegen zu müssen, die zuvor bereits geprüft worden sind. Auch in der Abschlussprüfung der Universitäten zum “Maitre en Droit” wird nicht das gesamte Studienwissen verlangt. Die zweite Phase der Juristenausbildung wird dann von den jeweiligen Berufsständen angeboten, die nur nach ihrem quantitativen Bedarf ausbilden und über Aufnahmeprüfungen eine Auswahl unter den Bewerbern treffen. Für den Rechtsanwaltsberuf muss man einen zwölfmonatigen Kurs absolvieren (der selbst zu finanzieren ist) und zwei Jahre unter Aufsicht eines Anwalts praktisch tätig sein.
In England erfolgt nach dreijähriger Studienzeit mit jährlichen Prüfungen ohne Zertifikate, ab dem 2. Jahr mit einer Reihe von Wahlmöglichkeiten, die Abschlussprüfung zum Bachelor of Laws, die in den meisten Fällen noch durch weitere Kurse und Prüfungen um die Qualifikation zum “Master of Laws” ergänzt wird. Im Anschluss daran lassen sich die Juristen dann ähnlich wie in Frankreich von den Berufsständen nach deren Bedarf praktisch schulen, etwa als “Solicitor” (einfacher Rechtsberater) von der “Law Society” oder als Barrister” (höherer Rechtsberater) vom “Bar Council”. Es erfolgt keinerlei staatliche Finanzierung der Ausbildung.
In den USA hat der angehende Jurist zunächst nach der High School ein College-Studium zur Komplettierung seiner Allgemeinbildung zu absolvieren. Daran schließt sich ein dreijähriges Studium an einer “Law School” an, die von der “American Bar Association” akkreditiert sein muss. Das Studium ist sehr praxisorientiert. In den Sommerferien arbeiten die Studenten bei Anwaltsfirmen. Nach dem Studium gibt es keinerlei Vorbereitungsdienst, doch wird die Praxiserlaubnis für Rechtsanwälte erst bei Zulassung zur Anwaltsorganisation des jeweiligen Bundesstaates verliehen. Dazu bedarf es weiterer Prüfungen (educational, character and competence requirements) mit recht hohen Anforderungen. Und natürlich ist in den USA alles selbst zu finanzieren.
Was tun?
Schon ein flüchtiger vergleichender Blick lässt erkennen, in welchem Umfang die deutschen -Missstände hausgemacht und systembedingt sind. Aus Wohltat ist Plage geworden. Will es sich Deutschland angesichts einer Rekordverschuldung der öffentlichen Hand weiter leisten, seine Juristen auf Kosten der Allgemeinheit konsequent am Markt vorbei auszubilden und dabei die Akteure durch sinnlose Paukerei und einen absurden Selektionsdruck während der Ausbildung zu verschleißen?
Warum also nicht ein Studium der Rechte, das – wie in anderen Fächern auch – im Grundstudium Allgemeines behandelt und im Hauptstudium bereits eine Spezialisierung ermöglicht, in welcher dann auch die Abschlussarbeit verfasst wird? Das Staatsexamen bliebe dann denen vorbehalten, die wirklich auf eine Stelle im Staatsdienst spekulieren. Bestehen würden es exakt so viele, wie dort freie Stellen zu erwarten sind. Auch die Rechtsanwaltskammern könnten dann so viele junge Juristen zu Anwälten ausbilden, wie sie es nach der Marktlage für opportun hielten, d.h. derzeit wahrscheinlich nur sehr wenige. Und die anderen Absolventen? Sie hätten durch Spezialisierungen bereits im Studium ein eigenes Profil erworben und könnten sich anderen Branchen andienen.
Natürlich kann eine Ausbildungsreform nur begrenzt zur Lösung der Probleme auf dem Arbeitsmarkt beitragen. Vielleicht verschieben sich die Probleme nur. Und doch würde der Abschied vom alten Zopf des staatlichen Juristenmonopols, diesem mittlerweile versteinerten System von anno dunnemals, einer unverantwortlichen Verschwendung von Kapazitäten ein Ende machen und einem rauen Arbeitsmarkt im Zweifel jüngere und unverbrauchtere Absolventen zuführen. Die Zeit ist reif.