Category Archives: Über Filme

justament.de, 24.4.2023: Knallhärter

Recht cineastisch, Teil 42: “Sonne und Beton” von David Wnendt

Thomas Claer

Wer sich mal so richtig gruseln will, der sollte sich unbedingt “Sonne und Beton” ansehen, den neuen Film von Regisseur David Wnendt, der sich u.a. mit “Kriegerin” (2011), einer ausgezeichneten Milieustudie über die deutsche Neonazi-Szene, einen Namen gemacht hat. Nun widmet er sich kriminellen pubertierenden Heranwachsenden in Berlin-Neukölln kurz nach dem Millennium in der Literaturverfilmung “Sonne und Beton” nach dem autobiographischen Roman von Felix Lobrecht. Darin geht es ähnlich schockierend zu wie in Detlev Bucks “Knallhart” (2007) – und manchmal sogar noch etwas härter. Das war die Zeit, die frühen und mittleren Nullerjahre, als in Neuköllner Problemschulen der Sicherheitsdienst jeden Schüler zuerst nach Waffen durchsuchte, bevor ihm Einlass ins Schulgebäude gewährt wurde. Und die Klassen-Rowdys warfen dann auch gerne mal mit Schulbänken nach ihren Mitschülern oder gleich nach dem Lehrer. “Der Klügere gibt nach”, hört Lukas (Levy Rico Arcos) immer wieder von seinem Vater, doch sein älterer Bruder weiß es besser: “Der Klügere tritt nach”. Sehr eindringlich schildert der Film die verzweifelte Lage der jungen Menschen in einer von Bandengewalt, Rücksichtslosigleit und Verwahrlosung geprägten Umgebung, in der nur das Recht des Stärkeren zählt. Wer sich dort behaupten will, dem bleibt nicht viel anderes übrig, als früher oder später selbst auf die schiefe Bahn zu geraten.

Mittlerweile hat sich zum Glück vieles in Neukölln zum Besseren gewendet. Dank intensiver Sozialarbeit ist die eine oder andere Problemschule sogar zur Vorzeigeschule geworden. Doch gänzlich verschwunden sind die problematischen Strukturen trotz signifikanter Gentrifizierungstendenzen in mehreren Ecken des Bezirks noch lange nicht, was jüngst auch die Ereignisse der Neuköllner Silvesternacht gezeigt haben…

Sonne und Beton
Deutschland 2023
Länge: 119 Minuten
FSK: 12
Regie: David Wnendt
Drehbuch: David Wnendt, Felix Lobrecht
Darsteller: Levy Rico Arcos, Vincent Wiemer, Rafael Luis Klein-Hessling, Aaron Maldonado Morales u.v.a.

justament.de, 27.2.2023: Gespenstisches Vergnügen

Recht cineastisch Spezial: Die Ausstellung “Phantome der Nacht: 100 Jahre Nosferatu” in der Sammlung Scharf-Gerstenberg

Thomas Claer

Vampire haben Konjunktur – und das schon seit 1897, als der epochale Roman “Dracula” des irischen Schriftstellers Bram Stoker erschienen ist. Besonders für manche Frauen ist es offenbar eine erregende Vorstellung, von so einem finsteren Gesellen lustvoll in den Hals gebissen zu werden. Klar, dass sich bald darauf auch das damals junge Medium Film immer wieder dieses gruseligen Sujets angenommen hat. Der Prototyp des Vampir-Films allerdings kommt aus Deutschland und wurde vor einem Jahrhundert unter dem Titel “Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens” von Regisseur Franz Murnau erschaffen. Eine sehenswerte Ausstellung in der Sammlung Scharf- Gerstenberg” gegenüber dem Schloss Charlottenburg widmet sich nun (und noch bis zum 23. April) den vielfachen Bezügen dieses Films zur bildenden Kunst.

Die Vampir-Mode hat nämlich zu dieser Zeit auch in der Malerei allerhand Blüten getrieben – so wie auch viele weitere Nebenaspekte im Nosferatu-Film, die sich ebenfalls in zahlreichen bildnerischen Werken nachweisen lassen. Die auf Werke des Surrealismus spezialisierte Berliner Sammlung Scharf-Gerstenberg hat es sich daher nicht nehmen lassen, eine Fülle an Kunstobjekten sowie zeithistorischem Material rund um das Thema Vampirismus zusammenzutragen, um so diesem großen expressionistischen Stummfilm zu huldigen. Gekonnt spielen die Ausstellungsmacher dabei, ganz ähnlich, wie es bereits der Film getan hat, mit Licht- und Schatten-Effekten. Immer wieder zuckt man als Besucher zusammen, wenn sich plötzlich eine bedrohliche Schattengestalt vor, neben oder hinter einem aufbaut. Für Kinder und Heranwachsende dürfte dies von besonderem Reiz sein.

So, wie man es sich wünscht, lässt sich in der Ausstellung auch der Nosferatu-Film selbst noch einmal vollständig und auf großer Leinwand zu Gemüte führen. Die Handlung ist im Wesentlichen vom Dracula-Roman inspiriert, spielt aber statt in London in der fiktiven norddeutschen Kleinstadt Wisborg, hinter der unschwer das von seiner prächtigen Altstadt geprägte Wismar zu erkennen ist, wo auch der größte Teil der Dreharbeiten stattgefunden hat. (Einige Szenen wurden aber auch in Lübeck und Rostock gedreht.)

Im Zentrum der 1838 spielenden Handlung steht ein Immobilienkauf: Graf Orlok (Nosferatu) aus Siebenbürgen kauft sich ein Haus in der Ostsee-Hafenstadt, wozu es nach damaligem Recht aber offenbar nicht einmal eines Notartermins bedarf. Hingegen ist auch schon vor fast 200 Jahren ein geschäftstüchtiger Immobilienmakler im Spiel, der – was niemanden verwundern dürfte – mit dem Vampir gewissermaßen unter einer Decke steckt. Was einem aber schon reichlich seltsam vorkommen kann, ist der Umstand, dass Graf Orlok samt seinem Sarg, in dem er zu nächtigen pflegt, aus Transsilvanien ausgerechnet auf dem Seeweg bis nach Norddeutschland reist (über Schwarzes Meer, Mittelmeer, Atlantik, Nord- und Ostsee!), was schon ein sagenhafter Umweg ist. Aber das musste wohl so sein, denn andernfalls hätte es ja die phänomenalen Bilder von Nosferatu auf dem Segelschiff nie gegeben!

Sammlung Scharf-Gerstenberg, Schloßstraße 70, 14059 Berlin. Sonderausstellung: “Phantome der Nacht: 100 Jahre Nosferatu”. Noch bis 23. April 2023.

justament.de, 30.1.2023: Der Schick des Ostens

Recht cineastisch, Teil 41: “In einem Land, das es nicht mehr gibt” von Aelrun Goette

Thomas Claer

Gerade erst dreieinhalb Jahrzehnte liegt das alles nun zurück, und doch kommt es einem vor, als ob die alte DDR, der selbsternannte erste Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden, den realsozialistischen Einheitsbrei-Löffel schon vor einer halben Ewigkeit abgegeben hätte. Und so wirken heute Filme, die in jener Epoche spielen, auf den Betrachter ähnlich entrückt wie Wildwest- oder Mantel- und Degen-Filme – oder wie die Landschaften aus verwunschenen Königreichen in Grimms Märchen. Eine Mischung aus Historienschinken und Kostümspektakel ist dann auch der neue Film der Berliner Regisseurin Aelrun Goette geworden, der erstmals eine bislang kaum beachtete Nische der damaligen ostdeutschen Gesellschaft ausleuchtet: die Modeszene der DDR. Doch, so etwas hat es sehr wohl gegeben, und sie hat in diesem sehr besonderen Biotop sogar ziemlich besondere Blüten getrieben.

Auf der einen Seite gab es da die streng formalistisch durchgestylte Welt rund um die einzige DDR-Modezeitschrift „Sibylle“, der die Staatsmacht ganz erstaunliche Freiheiten einräumte. Man kann sogar sagen, dass diese Ost-Mode, fernab von Popularitäts- oder gar Profitabilitätskriterien und im selbstbewussten Gegensatz zum durchkommerzialisierten Westen, eine ganz eigene Ästhetik hervorgebracht hat. Und auf der anderen Seite war da, wenn auch vornehmlich nur in Ost-Berlin, der wild-anarchische Underground, der sich aus diversen Subkulturen speiste, die dann wiederum doch sehr stark von westlichen und internationalen Vorbildern beeinflusst waren.

Was man allerdings auch als gebürtiger Ossi nicht gedacht hätte, ist, wie durchdrungen diese scheinbar so entgegengesetzten beiden Mode-Welten tatsächlich voneinander waren. So rekrutierte sich ein nicht unwesentlicher Teil der Sibylle-Fotografen aus subversiven Szene-Existenzen, die auch immer wieder mit der Staatsmacht in Konflikt gerieten. Dieser ganz ausgezeichnete Film erzählt nun ihre Geschichte – und ist dazu noch ein Riesenspaß mit all den schrillen und bunten Klamottenstilen, immer begleitet vom Soundtrack dieser Zeit zwischen internationaler Disco-Popmusik und alternativem Krach aus beiden Hälften der geteilten Stadt.

Aber wenn sich nun jemand fragt, wie es denn überhaupt so etwas wie Mode in der DDR geben konnte, wo es doch kaum etwas Ansehnliches zu kaufen gab: Es wurde gebastelt, geschneidert und improvisiert. Jedes Heft der „Sibylle“ enthielt Anleitungen dazu. Und das offenbar mit dem Segen der Partei…

In einem Land, das es nicht mehr gibt
D 2022
Länge: 100 Minuten
FSK: 12
Regie: Aelrun Goette
Drehbuch: Aelrun Goette
Darsteller: Marlene Burow, Sabin Tambrea, David Schütter u.v.a.

justament.de, 7.11.2022: Godfather der Sexfilm-Klamotte

Recht cineastisch Spezial: 50 Jahre „Lass jucken, Kumpel“. Zur Kulturgeschichte des deutschen Klamauk-Sexfilms

Thomas Claer

Für bestimmte kulturelle Erzeugnisse gibt es ein enges Zeitfenster: Ein paar Jahre früher hätten sie noch nicht entstehen können, einige Zeit später aber auch schon nicht mehr. Aus heutiger Sicht erscheint es als geradezu unglaublich, dass damals, in den frühen Siebzigern, vier Millionen bundesdeutsche Kino-Zuschauer einen Film sehen wollten, dessen weitgehend schwachsinnige Handlung nur eine untergeordnete Bedeutung hatte und in dem es hauptsächlich um die gelegentliche Zurschaustellung von nackter Haut, unterlegt mit reichlich derb-anzüglichen Sprüchen, ging. Und doch wurde „Lass jucken, Kumpel“ von Franz Marischka (1918-2009), die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Hans Henning Claer (1931-2002), der darin auch selbst in einer Nebenrolle zu sehen war, wegen seines großen Erfolgs mit dem Preis „Goldene Leinwand“ ausgezeichnet und in diesem Genre nur vom noch populäreren ersten Teil des „Schulmädchenreports“ (1970) übertroffen. In den Jahren darauf erschienen dann noch zahlreiche weitere Fortsetzungen und Abwandlungen dieser so überaus populären Klamauk-Sexfilme. Schon Anfang der Achtziger dünnte deren Produktion dann aber merklich aus und kam bald darauf zum Erliegen.

Sex-Welle währte nur ein Jahrzehnt

So können wir heute vor allem auf die Siebzigerjahre als das Jahrzehnt der Sexfilm-Klamotte zurückblicken. Am Anfang hatte es – neben einigen rechtlichen Liberalisierungen – den emanzipatorischen Geist der 1968er Bewegung gebraucht, der dafür sorgte, dass alle Hemmungen und Geschmacksgrenzen zumindest auf der Kino-Leinwand fallen sollten. Doch die fortschreitende technische Entwicklung grub dieser Entwicklung schon bald wieder das Wasser ab: „‘nen Videorecorder hab ich mir bestellt / Mit so schweinische Filme – was kostet die Welt?“, heißt es im Song „Sex“ von Marius Müller-Westernhagen aus dem Jahr 1981. Seit immer explizitere Werke in großer Zahl verfügbar waren, deren öffentliche Aufführung freilich nur in schmuddeligen „Sex-Kinos“ erlaubt war, konnte man mit Softcore-Produktionen irgendwann keinen Blumentopf mehr gewinnen. So ebbte die cineastische Sex-Welle nach nur einem Jahrzehnt schon wieder ab und verlagerte sich nun dank zeitgemäßer technischer Ausstattung der Konsumenten vor allem ins Private.

Renaissance im Privatfernsehen

Doch erlebten die Sexfilm-Klamotten aus den Siebzigern seit Mitte der Achtzigerjahre einen zweiten Frühling im Nachtprogramm der jungen Privatfernsehsender, namentlich bei RTL plus und SAT 1. Hier waren sie insbesondere für jene Zuschauer relevant, die entweder nur ein flüchtiges und oberflächliches Interesse an sexuellen Inhalten mitbrachten oder denen es am Zugang zu härterem Material fehlte. Zu letzteren gehörten vor allem auch die Bewohner der damaligen DDR, soweit sie überhaupt das Glück hatten, in der Nähe der innerdeutschen Grenze zu leben, wo allein sich die neuen westlichen Privatfernsehsender empfangen ließen. Für damalige Pubertierende mit den alterstypischen hormonellen Aufwallungen konnten solche Filme mit Titeln wie „Frau Wirtin bläst Trompete“ oder „Beim Jodeln juckt die Unterhose“, von denen jeden Samstag um 23.00 Uhr jeweils einer zeitgleich auf RTL plus und Sat 1 ausgestrahlt wurde, leicht zu besonderen Wochenend-Höhepunkten werden, denen man die ganze Woche lang vorfreudig entgegenfieberte, vorausgesetzt, man hatte einen eigenen Fernseher im Zimmer. Praktisch war, dass sich die Längen dieser Filme zwischen den interessanten Szenen leicht dadurch überbrücken ließen, dass man währenddessen zum jeweils anderen Film im konkurrierenden Sender switchten konnte. Nur ganz selten hatte man für einige Minuten die Qual der Wahl, weil es auf beiden Kanälen gleichzeitig zur Sache ging. Dass man von der Handlung der Filme nicht viel mitbekam, zumal man sie ja aus Vorsichts- und Diskretionsgründen auch nur in stark gedämpfter Lautstärke verfolgen konnte, störte wenig, da es nicht viel Bedeutsames gab, das man hätte verpassen können. Ganz anders standen die Dinge allerdings bei den faktischen Konkurrenzprodukten der deutschen Klamotten-Sexfilme, den erotischen Filmen des italienischen oder französischen Kinos der Siebziger- und Achtzigerjahre, in denen es oft sehr freizügig zuging. Nur waren das in der Regel „richtige“ Filme mit „ernsthaften“ Inhalten, mitunter überaus kunstvoll gemacht. Hier hätte man schon gerne Genaueres vom Inhalt mitbekommen, doch leider wäre es viel zu peinlich gewesen, solche Filme in normaler Lautstärke anzusehen. Es hätte ja überraschend jemand ins Zimmer kommen können…

Nische für Nostalgiker

Nach der deutschen Wiedervereinigung konnten sich dann alle Deutschen in West und Ost, die das wollten (und alle sonstigen Zugezogenen und deren Abkömmlinge natürlich ebenso), einen Videorecorder anschaffen, denn diese wurden nun immer besser und preiswerter. Als bald darauf auch noch die DVD ihren Siegeszug antrat und gestochen scharfe Bilder lieferte (so glaubte man es zumindest, bis lange Jahre später das HD-Format erfunden wurde), schossen sogenannte Erotik-DVD-Videotheken wie Pilze aus der Erde, die das alte Schmuddel-Image ihrer VHS-Vorgänger allmählich ablegten und sich schon bald immer größerer Beliebtheit erfreuten. Oftmals gab es in diesen Häusern zusätzlich noch ganze Etagen nur mit Spitzenunterwäsche und Sexspielzeugen für Frauen, um auch das weibliche Geschlecht „abzuholen“, wie man heute sagen würde. Für die Klamauk-Sexfilme aus den Siebzigern jedoch war die Zeit damit abgelaufen, denn sie waren nun angesichts der niedrigschwelligen, für jedermann leicht zugänglichen Fülle von explizitem Material endgültig nicht mehr konkurrenzfähig. Doch gab es offenbar eine Menge Nostalgiker, die ihrem Verschwinden aus dem Fernsehprogramm nachtrauerten, denn seitdem sind unzählige DVD-Sammeleditionen wohl nahezu aller Sex-Klamotten-Filme erschienen, nach denen offenbar bis heute eine erstaunlich große Nachfrage besteht… Was aber in den Erotik-Videotheken der Neunziger- und Nullerjahre noch vom alten Geist des Klamotten-Sexfilms überlebt hatte, waren die Beschriftungen der Leih-DVD-Hüllen mit durchweg beträchtlichem humoristischen Potenzial. Jede war mit einem einschlägigen Begleittext versehen nach dem Motto: „Uschi ist ein geiles Luder, das nie an etwas anderes denken kann als immer nur…“

Große Freiheit der Lüste

Der bis heute überaus schlechte Ruf der Pornografie in feministischen Kreisen (und ganz besonders in alt-feministischen, versteht sich) resultiert vermutlich noch aus der mittlerweile vergangenen Epoche der quasi-industriellen Fertigung pornographischen Materials. Denn mit dem immer besser und schneller werdenden Internet begann vor anderthalb Jahrzehnten die große Freiheit der Lüste, die die alte „Porno-Industrie“, in der gerne noch überkommene Geschlechter-Klischees und ausbeuterische Strukturen gepflegt wurden, inzwischen längst marginalisiert hat (womit dann auch die Videotheken obsolet wurden). Stattdessen ist seitdem im Netz eine Porno-Industrie ganz neuen Typs entstanden, die nur noch aus den Betreibern der einschlägigen Portale (mitsamt ihren ausgefeilten Algorithmus-Systemen) besteht, welche aber mit den dort gezeigten Inhalten kaum noch etwas zu tun haben. Vielmehr sind es inzwischen die „User“ selbst, die den „Content“ liefern: Jeder und jede kann sich dank kinderleicht beherrschbarer Technik nach Belieben selbst ausstellen und/oder anderen dabei zuschauen. Manche verfolgen damit eigene kommerzielle Interessen, andere nicht. Die einen sind bereit, dafür zu bezahlen, für andere käme das nie infrage. Doch jede und jeder Suchende dürfte am Ende irgendwo fündig werden – außer vielleicht diejenigen, deren Vorlieben sich angesichts der permanenten Reizüberflutungen so hochgradig ausdifferenziert haben, dass ihr erotischer Hunger schlichtweg nicht mehr zu stillen ist…

Kritik vom Papst

Kritisch beäugt wird diese Entwicklung heute – außer von den besagten Altfeministinnen und besorgten Psychiatern – wohl nur noch von religiöser Seite. So warnte Papst Franziskus jüngst eindringlich vor „den Versuchungen der digitalen Pornografie“, auch vor der „einigermaßen normalen“. Es handele sich um ein Laster, das auch viele Priester und Nonnen hätten, denn „so tritt der Teufel ein.“ „Das reine Herz, das Jesus jeden Tag empfängt, darf solche pornografischen Informationen nicht empfangen.“ Es sei „eine Sache, die den Geist schwächt“. Immerhin hat er nicht gesagt, dass dadurch das Rückenmark geschädigt oder dass man davon blind wird. Doch befindet er sich mit dieser Haltung ganz im Einklang mit dem – wie Dieter Nuhr einmal treffend sagte – ungeschriebenen ersten Gebot aller Religionen: „Du sollst keinen Spaß haben.“

Die Zukunft der Pornografie

Was aber wird passieren, wenn dank der weiter fortschreitenden technischen Entwicklung in einigen Jahren jeder Mensch mit jedem beliebigen anderen lebensechten virtuellen Sex haben kann (ohne dass der jeweils andere davon erfahren würde)? Der jetzige Zustand der bislang lediglich visuellen Verfügbarkeit einer beinahe unendlich großen Zahl an optisch mehr oder weniger reizvollen Mitmenschen erführe dann noch einmal – vielleicht zum letzten Mal? – eine bedeutsame Steigerung ins Monströse. Und was hieße hier schon „lebensechter Sex“? Es wäre natürlich viel, viel besser und intensiver… Wie bescheiden wirken dagegen etwa die gerade einmal 72 Jungfrauen im Märtyrer-Paradies der Muslime (die noch dazu für eine Ewigkeit genügen sollten!). Vermutlich droht uns wohl schon in absehbarer Zeit ein allgemeines Verhungern in der Fülle.

justament.de, 19.9.2022: Zum Tod von Jean-Luc Godard (1930-2022)

Ein persönlicher Rückblick

Thomas Claer

Mein erster Godard-Film war für mich zugleich auch der eindrucksvollste und inspirierendste. Als ich im jugendlichen Alter zum ersten Mal „Prénom Carmen“ (dt. Vorname Carmen“) aus dem Jahr 1983 sah, war ich zugegebenermaßen hauptsächlich an den opulenten Nacktszenen mit der unvergleichlichen Maruschka Detmers interessiert, die dann auch weiterhin die favorisierte Sex-Göttin meiner Träume bleiben sollte. Darüber hinaus machte ich in diesem Film aber auch Bekanntschaft mit der Musik von Tom Waits und den späten Streichquartetten Ludwig van Beethovens. Und mir wurden die Augen dafür geöffnet, wie vollendet und poetisch ein Film sein kann. Diese betörend schönen Bilder haben mich nie wieder losgelassen: das Rauschen der Meeresbrandung, das Streichquartett beim Üben und natürlich die hüllenlose Maruschka Detmers mit üppiger Schambehaarung im selbstvergessenen Liebesspiel. Vom Inhalt des Films allerdings habe ich bis heute nicht viel verstanden. Eine ziemlich verworrene Geschichte ist das, auf die es aber auch nicht so entscheidend ankommt. Jean-Luc Godard ist selbst darin aufgetreten, hat in einer nicht unbedeutenden Nebenrolle sich selber gespielt – als Onkel von Carmen (Maruschka Detmers), der er u.a. seine Wohnung am Meer zur Verfügung stellt, wo sie sich dann mit ihrem jungen schönen Geliebten vergnügt, der eigentlich der Polizist ist, der auf sie aufpassen soll, denn sie ist eine Bankräuberin; aber vielleicht ist das ja auch nur der Plot des Films, den sie gerade mit ihren Freunden dreht, wobei sie ihr Onkel unterstützen soll. Es bleibt alles in der Schwebe, und so erinnert man sich rückblickend vor allem an die schönen Bilder in ihrer Verbindung mit der schönen Musik…

Später habe ich mir dann auch noch ganz viele andere Godard-Filme angeschaut: „Außer Atem“, „Die Chinesin“, „Lemmy Caution gegen Alpha 60“… Toll waren sie alle, hintergründig und raffiniert, mal subversiv, mal plakativ. Wie er die großen Filmdiven in Szene setzen konnte – von Anna Karina bis Brigitte Bardot – das war schon einmalig. Schon möglich, dass mit seinem Tod auch der Tod des ganz großen Kinos zusammenfällt. Denn wie es scheint, hat die Streamingdienst-Serie inzwischen das Kino schon beinahe an den Rand der Bedeutungslosigkeit verdrängt. Für mich jedenfalls bleibt der große Jean-Luc Godard ganz besonders mit diesem einen Film verbunden, der mir so viel bedeutet.

justament.de, 18.7.2022: “Ich stech dich ab, du Scheißhausfotze!”

Recht cineastisch Spezial: 50 Jahre „Rocker“ vom jüngst verstorbenen Klaus Lemke

Thomas Claer

Manches Großartige lernt man leider erst dann richtig kennen, wenn sein Erschaffer ins Gras gebissen hat. Aber lieber spät als nie, wie es bei Shakespeare heißt. Der große Trash-Filmemacher Klaus Lemke (1940-2022), hat neben allerhand genialem Schund, den er offenbar fortwährend so hingeschludert hat, auch ein paar unvergessliche Glanzstücke fabriziert, darunter vor genau einem halben Jahrhundert den Film „Rocker“, der als einer der ersten das deutsche (und vor allem das Hamburger) Rocker-Milieu ziemlich authentisch eingefangen hat. Der Song „Ich bin Rocker“ von Udo Lindenberg kam erst vier Jahre später, noch ein paar Jahre darauf folgten etwa Brösels Werner-Bücher und der erste Otto-Waalkes-Film mit der legendären Szene im „Chrome de la Chrome“ („Werner, stell ihm mal die Frage!“). Das alles kannte ich natürlich, nicht aber das „Original“, worauf sich dann alles Weitere lose bezogen hat. Zwar hatte ich schon oft von Klaus Lemkes „Rocker“ gehört, mir den Film aber aus unerfindlichen Gründen niemals angesehen. Dabei gibt es ihn, wie ich nun festgestellt habe, sogar frei und in voller Länge auf YouTube.
In Lemkes Filmen spielen ja oftmals gar keine richtigen Schauspieler mit, sondern nur auf der Straße angequatschte Laiendarsteller – zuletzt für 50 Euro Tagesgage. So ähnlich war es auch schon bei „Rocker“, der noch heute „Kultstatus“ genießt und regelmäßig in einem Hamburger Kino gezeigt wird, wobei die Zuschauer dabei viele seiner Dialoge mitzusprechen pflegen, die längst zu geflügelten Worten geworden sind („Hast du schon mal gebumst? So wie du aussiehst, hast du schon mal gebumst.“) Vor allem ist der Film auch handwerklich gut gemacht, von der Kameraführung bis zur Dramaturgie. Was hingegen völlig fehlt, ist eine Moral. Auf damalige Betrachter könnte er noch schockierender gewirkt haben als auf heutige. Im hier präsentierten harten Kern des damaligen Hamburger Rocker-Milieus regelt man alles unter sich und mit sehr viel roher Gewalt. Die harmlos-folkloristische Note, die später in die Rocker-Szene einziehen sollte, spielt hier noch keine Rolle. Vielmehr werden die Figuren sehr ernsthaft in ihren mitunter auch existentiellen Nöten gezeigt. Ein Film, den man gesehen haben sollte.

„Rocker“
BRD 1972
Regie: Klaus Lemke
Drehbuch: Klaus Lemke
Darsteller: Hamburger Rocker und sonstige Laiendarsteller

justament.de, 8.11.2021: Wider die Chauvis vom Bundestag

Recht cineastisch, Teil 40: „Die Unbeugsamen“ von Torsten Körner

Thomas Claer

Lohnt es sich überhaupt, ins Kino zu gehen, wenn bloß ein Dokumentarfilm läuft? Und ob, wenn es ein Film wie dieser ist! „Die Unbeugsamen“ erzählt die Geschichte von 14 Frauen unterschiedlicher politischer Couleur im Deutschen Bundestag in Zeiten, als sie in der Politik noch einen Exotenstatus innehatten. Eigentlich ist das ja alles noch gar nicht so lange her, und ich selbst kann mich an vieles, was hier gezeigt wird, noch lebhaft erinnern. Vor allem der Einzug der Grünen in den Bundestag vor fast vierzig Jahren, den man durchaus auch als einen Wendepunkt in Sachen Feminismus in der deutschen Politik ansehen kann, hat auf mich als Kind einen unvergesslichen Eindruck gemacht. Auch wenn ich damals noch nicht so recht begreifen konnte, was Waltraud Schoppe in ihrer legendären Rede am 5. Mai 1983 da über Sexismus im Bundestag und rücksichtslos-lustfeindliche Eherituale in deutschen Betten erzählte. Noch weniger verstand ich die Reaktionen der männlichen Abgeordneten auf diese Rede, ihr hämisches Gelächter und Schenkelklopfen.
Dieser Film setzt nun endlich all jenen tapferen Frauen ein mehr als verdientes Denkmal, die sich dieser unsäglichen, jahrzehntelang niemals hinterfragten Chauvi-Kultur entgegenstellten. Die hochgeachteten männlichen Parlamentarier jener Zeiten, die sich eine solche empörende Herablassung gegenüber ihren forschen jungen Kolleginnen erlauben zu können glaubten, sind mittlerweile alle nicht mehr unter uns. Was für viele der Betreffenden ein Glück ist angesichts der mitunter haarsträubenden Geschichten, die dieser Film über sie erzählt…
Was besonders gelungen ist: Der Film kommentiert und bewertet nichts. Er stellt nur die bewegten Bilder von damals aus und lässt die z.T. hochbetagten Protagonistinnen auf jene Zeiten zurückblicken. Das alles spricht für sich.

Die Unbeugsamen
Deutschland 2021
Länge: 100 Minuten
FSK: 0
Regie: Torsten Körner
Drehbuch: Torsten Körner
Mitwirkende: Herta Däubler-Gmelin, Ingrid Matthäus- Maier, Renate Schmidt, Rita Süssmuth, Christa Nickels u.v.a.

justament.de, 18.10.2021: Autosexualität

Recht cineastisch, Teil 39: Cannes-Sieger „Titane“ von Julia Docournau

Thomas Claer

In dem großartigen Udo Lindenberg-Song „I love me selber“ aus den frühen Achtzigern heißt es: „Ja, der Trick ist, das begreif ich schnell: nicht hetero-, nicht homo-, sondern autosexuell.“ Nun, nach fast vierzig Jahren, wurde diese Textdichtung erstmals beim Wort genommen: im Film „Titane“ von Julia Ducournau, der tatsächlich die explizite sexuelle Vorliebe einer Frau für Automobile zum Thema hat. Und diese seltsame Dame praktiziert darin ihre absonderliche Neigung auch sehr ausschweifend und geräuschvoll mit diversen Fahrzeugen. (Ja, mit Fahrzeugen und nicht nur in ihnen; wenn auch keineswegs, wie man vielleicht denken könnte, unter Benutzung ihrer, ähem, Stoßstangen…)

Die Rede ist übrigens, das sollte man besser gleich betonen, nicht etwa von einem abseitigen Nischenprodukt der Filmbranche, sondern vom diesjährigen Gewinner der Filmfestspiele von Cannes. Es handelt sich um eine Art Fantasy-Gewalt-Horror-Thriller-Erotik-Drama, oder wie wollte man dieses irrwitzige Erzeugnis sonst bezeichnen? Die letzten Zuckungen des Verbrennungsmotor-Automobilzeitalters treffen hier gleichsam auf die Morgenröte des nichtbinären fetischgetriebenen Menschen, der genau dies auch sein darf…

Die aus gut situierten Verhältnissen stammende 32-jährige Alexia (Agathe Rousselle) arbeitet als laszive Tänzerin bei Verkaufsgalas in Autohäusern. Ein total sexistischer Scheißjob eigentlich, den Alexia aber gleichwohl sehr gerne ausübt aufgrund ihrer bereits erwähnten Zuneigung zu den Fahrzeugen, die wohl auch damit zusammenhängt, dass ihr als Kind nach einem Verkehrsunfall eine Titanplatte in den Kopf eingesetzt worden ist. Vermutlich hat dieser Umstand auch dazu beigetragen, dass man Alexia wohl oder übel als Psychopathin bezeichnen muss, denn sie spricht nicht nur während des ganzen Films so gut wie kein Wort, sondern gibt durch ihr gesamtes Verhalten auch allen ihren Mitmenschen immer wieder neue Rätsel auf. Ferner ist noch von Bedeutung, dass Alexia als äußerst androgyner Typ mit männlichen Gesichtszügen, aber durchaus femininem Körperbau zwar keinem konventionellen Schönheitsideal entsprechen mag, doch bei manchen Menschen mit speziellen Vorlieben wahre Begeisterungsstürme entfacht.

Als sie nun eines Tages von einem aufdringlichen Fan verfolgt wird, begeht sie ihren ersten Mord: Sie durchbohrt ihr Opfer mit einer Haarnadel. Und diesem Tötungsdelikt folgen dann in der Absicht, dieses zu vertuschen, noch mehrere weitere. Um sich zu tarnen, nimmt Alexia schließlich eine neue Identität an und gibt sich erfolgreich als der seit Jahren vermisste Sohn eines älteren Feuerwehrmanns (Vincent Lindon) aus. Und diesem bricht sie schließlich das Herz, was aber erstaunlicherweise auch auf Gegenseitigkeit beruht. Selbst als Alexia ihre fortgeschrittene Schwangerschaft (der Erzeuger ist ein roter Cadillac) nicht mehr verbergen kann, bleibt ihr der Feuerwehrmann in bedingungsloser Liebe zugetan. Am Ende bringt sie mit seiner Hilfe statt eines Kindes einen monströsen Basilisken zur Welt, was sich zuvor bereits dadurch angekündigt hat, dass ihr fortwährend aus allen Körperöffnungen und selbst aus ihren Brüsten Maschinenöl tropft…

So manches kann man diesem Film vorhalten: die abstoßende Brutalität seiner Gewaltszenen etwa, auch seine stilistische Bombastik. Doch erleben wir auch eine umwerfend spielende Agathe Rousselle, die mit dieser Rolle zu einem der ersten nichtbinären Superstars der Filmbranche aufgestiegen sein dürfte. Und nicht zuletzt feiert der Film in starken Bildern die Schönheit ihres nackten schwangeren Körpers. Die reichlich schräge Handlung tritt dagegen in den Hintergrund… Kurzum, wer „Titane“ nicht kennt, hat wirklich etwas verpasst.

Titane
Frankreich/Belgien 2021
Regie: Julia Docournau
Drehbuch: Julia Docournau
Länge: 108 Minuten
FSK: 16
Darsteller: Agathe Rousselle (Alexia/Adrien), Vincent Lindon (Vincent) u.v.a.

justament.de, 13.9.2021: Berlin vor 90 Jahren

Berlin vor 90 Jahren

Recht cineastisch, Teil 38: „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ von Dominik Graf

Thomas Claer

Als Filmkritiker nimmt man sich ja gerne den unvergessenen Hellmuth Karasek zum Vorbild, der einmal unmittelbar nach einem Kinobesuch, wie seine Begleiterin später zu berichten wusste, sich bei ihr entschuldigte, er müsse mal ganz kurz telefonieren, dabei der SPIEGEL-Kulturredaktion seine bereits im Kinosaal gedanklich druckfertig getextete Filmrezension in den Hörer diktierte und sodann mit seiner Gefährtin ins Restaurant ging. Aber so etwas geht natürlich nicht bei jedem Film und keinesfalls bei einer spektakulären Literaturverfilmung, die im Nachgang eine intensive Auseinandersetzung sowohl mit jener selbst als auch mit der literarischen Vorlage verlangt.

Klare Sache, die neue „Fabian“-Verfilmung von Dominik Graf ist, obwohl sie bei der Berlinale leer ausging, ein cineastisches Großereignis. Vielleicht ist sie sogar, wie es in der Süddeutschen Zeitung hieß, die wichtigste deutsche Literaturverfilmung seit Schlöndorffs „Blechtrommel“ von 1979. Und in der Tat haben Graf und sein Team bei der Adaption von Erich Kästners Berlin-Roman aus dem Jahr 1931, die erkennbar auf der „Babylon Berlin“-Welle reitet, eine Menge richtig gemacht.

Zu frei nach Kästner?

Schon die Besetzung lässt sich als ein Glücksfall bezeichnen. Tom Schilling, der leptosome Schönling, ist natürlich geradezu prädestiniert für die Rolle des Fabian, des jungen promovierten Werbetexters, der Anfang der Dreißiger durchs Berliner Nachtleben streunt und dem alle Frauen zu Füßen liegen. Auch gibt Saskia Rosendahl eine mehr als passable Cornelia Battenberg, Fabians ehrgeizige bildhübsche Freundin, die – obgleich promovierte Juristin – eine große Filmkarriere als „neuer Frauentyp“ mit akademischer Bildung einschlägt, die sie allerdings schnurstracks durch das Bett des Filmproduzenten führt. Wirklich toll ist ferner Meret Becker als nymphomanische Anwaltsgattin Irene Moll, die die ganze Zeit hinter Fabian her ist. Und auch alle anderen Rollen sind durchweg überzeugend besetzt.

Ebenfalls kann sich die filmische Umsetzung sehen lassen, wenngleich hier und da vielleicht doch eine Spur zu viele technische Mätzchen eingebaut worden sind, aber zumindest stören sie den Filmgenuss nicht weiter. Selbst die Länge von mehr als drei Stunden geht in Ordnung, da eine noch stärkere Kürzung des Romaninhalts dem ganzen Unterfangen zweifellos geschadet hätte. Doch genau hier, beim Drehbuch, beginnt die Problematik dieser Verfilmung. Gewiss, schon im Vorspann heißt es „Frei nach Erich Kästner“, womit sich die Drehbuch-Autoren gewissermaßen Absolution für alle ihre inhaltlichen Eingriffe verschaffen. Dagegen ist auch grundsätzlich nichts zu sagen. Schwierig wird es nur, wenn dann, wie es hier leider oft der Fall ist, so manches hinten und vorne nicht mehr zusammenpasst. Die inhaltlichen Merkwürdigkeiten treten dann, besonders zum Ende hin, so gehäuft auf, dass einem gar nichts anderes übrig bleibt, als sich nach dem Film noch einmal den Roman vorzunehmen, dessen erstmalige Lektüre bei mir allerdings schon mehr als ein Vierteljahrhundert zurückliegt…

Lies nach im Roman!

Das wiederum erweist sich dann aber auch als Glücksfall, denn man liest das Buch naturgemäß mit ganz anderen Augen als damals im Studentenwohnheim. „Fabian“, soviel ist sicher, darf man getrost zu den großen deutschen Gesellschaftsromanen rechnen. Es ist ein überaus kluges Buch, womöglich sogar klüger als es sein damals 32-jähriger Autor gewesen ist, als er es zu Papier gebracht hat. Und es gibt so unendlich vieles darin, was einem, zumal aus heutiger Perspektive, ins Auge springt. Eine Welt im Umbruch mit modernen Institutionen, aber reichlich antiquierten Verhaltensweisen. Junge alleinstehende Menschen wohnen in aller Regel bei Hauswirtinnen, die für sie kochen, waschen und sogar ihre Zimmer aufräumen. Von Datenschutz oder Privatsphäre hat man damals überhaupt keinen Begriff. Dass plötzlich die besorgte Mutter des Protagonisten im Zimmer steht, weil dieser ihr einige Tage lang nicht geschrieben hat, wird von niemandem als übergriffig empfunden. Hingegen sind regelmäßige Bordell-Besuche für Männer jeden Alters mehr oder weniger sozial akzeptiert, ebenso der Umstand, dass sich ärmere Frauen und insbesondere Künstlerinnen prostituieren.

Besonders spannend ist auch die detaillierte Schilderung der wirtschaftlichen Aspekte des damaligen Alltagslebens. Man erfährt sehr genau, was alles so kostet, die Miete und der Kaffee, und wieviel ein Angestellter verdient. Wer damals in Berlin lebte, hatte demnach schon erhebliche Ausgaben. Für die täglichen Einkäufe gab es ja auch noch keine preisgünstigen Discounter. Daran gemessen waren die Einkünfte durch Erwerbsarbeit äußerst bescheiden, so etwas wie regelmäßige Urlaubsreisen für breite Bevölkerungsschichten kaum erschwinglich. (Woran man gut erkennt, auf welch hohem Niveau heute so gejammert wird…) Dennoch pulsierte das Nachtleben schon ganz ähnlich wie heute, nur dass sich darin noch so viel Ständisches erhalten hatte. Und es war weitgehend einer relativ kleinen, sehr gut verdienenden akademischen Oberschicht vorbehalten. Längst nicht jeder, der wollte, konnte mitmachen. Fabian mit seinem kleinen Einkommen profitiert hier von seinem aus großbürgerlichem Hause (Villa in Grunewald!) stammenden Freund Labude, der ihm immer wieder mit ein paar Scheinen behilflich ist.

Vier „Dinge“, mindestens

Sehr aufschlussreich ist auch, was man über das – wie man es heute nennt – „Männer-Frauen-Ding“ erfährt. Einerseits treten im Roman vielfach sehr selbstbewusste und moderne Frauenfiguren auf. Die erotomanische Anwaltsgattin Irene Moll verwirklicht schließlich ihren Jugendtraum und eröffnet ein Männer-Bordell. Die Mutter von Fabians Freund Labude, ebenfalls die Frau eines Anwalts, lebt die längste Zeit des Jahres in der Schweiz (während ihr Mann, ein berühmter Strafverteidiger, sich zu Hause in Berlin allen nur denkbaren erotischen Eskapaden hingibt). Doch andererseits droht den jungen Frauen noch sehr real die gesellschaftliche Ächtung durch ungewollte Schwangerschaft, und viele zeigen ein großes Interesse an Ehelichung einer in ihren Augen guten Partie. Wer wie Fabians große Liebe Cornelia eine akademische Ausbildung durchlaufen hat (sie ist promovierte Juristin!), träumt dennoch den Traum von der großen Filmkarriere als Schauspielerin und lässt sich dafür bereitwillig vom Filmproduzenten, Typ Harvey Weinstein, erotisch benutzen.

Ist das Buch also, was ihm ja manchmal vorgeworfen wird, insofern frauenfeindlich, weil die Frauenfiguren in ihm so negativ gezeichnet sind? Gegenfrage: Warum sollten Frauenfiguren sich immer als positive Rollenvorbilder eignen? Die männlichen Figuren tun dies doch schließlich auch nicht. Womit wir beim „Moral-Ding“ wären. Die „Geschichte eines Moralisten“ ist natürlich auch ein Stück weit ironisch aufzufassen. Ja, Fabian und erst recht sein Freund Labude sind stets hochmoralisch argumentierende Weltverbesserer (mit interessanten Unterschieden in ihren Weltbildern), aber in ihrem Verhalten dann keineswegs besonders menschenfreundlich, wenn es etwa um die Inanspruchnahme sexueller Dienstleistungen geht. Zwar schlägt Fabian, obwohl er nach seinem Jobverlust eigentlich dringend darauf angewiesen wäre, gleich mehrmals lukrative berufliche Offerten seitens Irene Molls aus, da er spürt, dass diese ihre auf ihn gerichteten amourösen Ambitionen noch längst nicht aufgegeben hat. Aber tut er dies wirklich aus grundsätzlicher Treue zu seiner Freundin Cornelia? Später im Roman beginnt er eine Affäre mit einer verheirateten Dame im Wedding, noch später lässt er sich in einem Bordell in Dresden auf die Zudringlichkeit einer jungen Prostituierten ein, die ihm ihre Dienste gratis zukommen lässt. (Diese beiden Episoden bleiben im Film jeweils ausgespart.) Aber woanders tut er auch eine Menge Gutes, verhilft einem Obdachlosen zu einer Mahlzeit im Restaurant, lässt sogar einen Wohnungslosen zu Hause auf seinem Sofa schlafen, bis hin zur verunglückten Rettungsaktion eines kleinen Jungen, bei der er selbst ums Leben kommt. Aber wer handelt schon immer konsequent?

Was hingegen in diesem Buch sehr überzeugend beschrieben wird, ist das, was man das „Angry-Young-Man-Ding“ nennen könnte. Die jungen Leute sind empört über die von ihnen beobachteten Missstände und fühlen sich ihrem gesellschaftlichen Umfeld moralisch überlegen, ohne dabei zu bemerken, wie fragwürdig sie sich selbst in ihrem Alltag verhalten. Zwar haben sie, Fabian und Labude, mit ihrer Gesellschaftskritik in vieler Hinsicht recht. Aber gerade in der Spätphase der Weimarer Republik wäre es eigentlich darauf angekommen, mit viel Pragmatismus das zarte Pflänzchen der Demokratie zu schützen und das Schlimmstmögliche zu verhindern; was dann aber prompt eingetreten ist, auch weil eine aufgeklärte junge Generation mit ihrem übersteigerten Moralismus und Sozialromantizismus der Demokratie noch fortwährend Knüppel zwischen die Beine geworfen hat…

Und dann natürlich – eng damit verbunden – das „Verletzter-Stolz-Ding“. Fabian glaubt als promovierter Germanist quasi einen Anspruch darauf zu haben, dass ihm der Arbeitsmarkt einen exzellenten und gutbezahlten Job offerieren möge. Dass dies nicht der Fall ist, sieht er als Systemversagen an und sinniert über die Vorzüge staatlicher Planwirtschaft, statt die historischen Besonderheiten der großen Depression, die Weltwirtschaftskrise zu berücksichtigen… Aber woher soll er so etwas wissen? Die unentwegt an jeder Ecke zu vernehmenden „So wie jetzt kann es nicht mehr weitergehen“ und „Es muss bald einen großen Knall geben“ lesen sich jedenfalls wie düstere Vorzeichen der bald erfolgenden Machtergreifung der Nazis.

Kurzum, dieser zumeist unterschätzte kleine Roman breitet ein sehr lebendiges und buntes Panorama Deutschlands und insbesondere Berlins vor 90 Jahren aus. Zwar war Erich Kästner nicht unbedingt der ganz große sprachliche Stilist, aber das wollte er vermutlich gar nicht sein. Vielmehr agierte er, der sich ja vor allem auch als Kinderbuchautor einen Namen gemacht hat, eher aus einer journalistisch-satirischen Ecke heraus. Und das Buch ist glänzend durchkomponiert, die Handlung sehr durchdacht, was sich vom Drehbuch zum Film hingegen nur eingeschränkt sagen lässt. Wobei der Film teilweise auch auf die vor acht Jahren aus der Versenkung hervorgeholte (damals wegen sittlich anstößiger Stellen vom Verlag abgelehnte) Urversion des Romans zurückgegriffen hat, die sich aber nur relativ geringfügig von der späteren Version unterscheidet, wie sich dem einschlägigen Wikipedia-Eintrag hierzu entnehmen lässt.

Eingriffe ohne Not

Womit wir also wieder beim Film angelangt wären. Dass ihm manche Kritiker den Vorwurf machten, er hätte Längen, lässt sich nur mit fehlender Lektüre der Romanvorlage durch die Betreffenden erklären. Wer den Roman kennt, dem wird der Film eher arg zusammengekürzt vorkommen. Dass das Drehbuch die Reihenfolge vieler Ereignisse auf den Kopf stellt, lässt sich vielleicht noch aus Gründen der Erzählökonomie rechtfertigen, denn so ein Film sollte nach Möglichkeit nicht vier oder fünf Stunden lang sein.

Viel gravierender sind aber die zahlreichen inhaltlichen Eingriffe ohne erkennbare Not dazu. Hier nur ein paar besonders krasse Beispiele: Fabian kauft ein teures Geschenk für Cornelia, nämlich ein schönes Kleid, und übergibt es ihr im Beisein seiner finanziell wie er selbst nicht auf Rosen gebetteten Mutter. Das ist ohne Frage sehr taktlos gegenüber der Mutter und passt überhaupt nicht zu Fabians Persönlichkeit. Im Buch findet sich auch nichts davon, dort erbittet sich lediglich Cornelia von Fabian einen Zuschuss zur Anschaffung eines Kleides fürs Vorsprechen für die Filmrolle. Zum Ende des Filmes heißt es plötzlich, Cornelia, die promovierte Juristin, sei im Wedding aufgewachsen, im sprichwörtlich roten Berliner Arbeiterbezirk. Was vollkommen unplausibel ist, denn dann würde sie niemals so sprechen und sich so verhalten, wie sie es tut. Im Buch ist sie wie Fabian eine Zugezogene aus der Provinz, vermutlich aus Süddeutschland, die in der Liebesszene bayrischen Schuhplattler tanzt. Das wiederum tut sie aber auch im Film, obwohl sie angeblich aus dem Wedding stammen soll… Der Geheimrat, der Ordinarius der Fakultät, der über Labudes Habilitationsschrift, zu befinden hat, wird im Film kurzerhand zum Nazi gemacht, der eine neue autoritäre Führung herbeisehnt. Im Buch kann davon keine Rede sein. Hier verkörpert der Geheimrat eher die besseren Tendenzen an der Universität, die es ja damals auch noch gegeben hat. Für die NS-Strömung steht hingegen dessen Assistent, was den Filmemachern aber wohl nicht genügt hat…

Gruß von Schillers “Taucher”

Und schließlich noch der schwerwiegendste Eingriff: Noch als Fabian nach zahlreichen Schicksalsschlägen Berlin den Rücken gekehrt hat und sich bereits wieder in seiner Heimatstadt Dresden aufhält, hält er im Film Kontakt mit Cornelia, die in der Wohnung lebt, die der Filmproduzent für sie angemietet hat, und verabredet sich mit ihr. Und während Fabian bei der oben erwähnten Rettungsaktion im Fluss ertrinkt, wartet Cornelia sehr lange und vergeblich in einem Berliner Café auf ihn. Das ist natürlich eine charmante Anspielung auf die Ballade „Der Taucher“ von Friedrich Schiller:

Da bückt sich’s hinunter mit liebendem Blick:
Es kommen, es kommen die Wasser all,
Sie rauschen herauf, sie rauschen nieder,
Den Jüngling bringt keines wieder.

Doch verkehrt dies die literarische Situation, wie sie aus der vorhergehenden Handlung entstanden ist, geradezu in ihr Gegenteil. So abgebrüht ist Fabian im Buch natürlich nicht, dass er es dauerhaft erträgt, wie Cornelia sich, um die begehrte Rolle zu bekommen, dem Filmproduzenten hingibt. Der Roman-Fabian, seinem Anspruch nach schließlich ein Moralist, ist weit davon entfernt, sich mit dieser Situation zu arrangieren, sondern ihm dient die Ausweglosigkeit seiner von Cornelia enttäuschten Liebe vielmehr als Anlass, Berlin zu verlassen. Durch diese Abweichung von der Romanhandlung schlägt der Film am Ende eine völlig andere Richtung ein, die auch seine Gesamtaussage entsprechend beeinflusst und zumindest beim aufmerksam mitdenkenden Zuschauer für nicht geringe Verärgerung sorgt.

Aber na gut, es ist nicht mehr zu ändern. So könnte dieser trotz allem sehr sehenswerte Film immerhin auch dafür sorgen, dass der eine oder andere Zuschauer vielleicht noch einmal die Romanvorlage aus dem Regal hervorzieht…

Fabian oder Der Gang vor die Hunde
Deutschland 2021
186 Minuten / FSK 12
Regie: Dominik Graf
Drehbuch: Dominik Graf / Christian Lieb
Darsteller: Tom Schilling (Jakob Fabian), Saskia Rosendahl (Cornelia Battenberg), Albrecht Schuch (Stephan Labude), Meret Becker (Irene Moll) u.v.a.

justament.de, 5.4.2021: Und wir schaffen es doch!

Recht cineastisch Berlinale Spezial (2): „Herr Bachmann und seine Klasse“ von Mara Speth

Thomas Claer

Er ist eine Mischung aus Späthippie und Sozialarbeiter, rein optisch, aber auch mit dem, was er so macht. Schlurfig angezogen, immer mit Pudelmütze, fläzt sich dieser freundliche ältere Herr hinter seinen Lehrertisch, und meistens macht er Musik mit seiner Klasse, spielt dazu Gitarre und singt selbstkomponierte Lieder. Solche Lehrer hat es früher bei uns in der DDR nie gegeben, später in Bremen habe ich sie ansatzweise erlebt und sehr gemocht. Herr Bachmann unterrichtet in der hessischen Kleinstadt Stadtallendorf Deutsch, Mathe, Englisch und Musik in einer Klasse, die fast nur aus Flüchtlings- und Migrantenkindern von überall her besteht. Natürlich ist es Schwerstarbeit, mit einem solchen Haufen fertigzuwerden. Aber so wie dieser Herr Bachmann es anstellt, wirkt es fast alles ganz mühelos. Er strahlt eine solche Herzenswärme aus, dass er von allen seinen Schülern gemocht wird. Und dabei gelingt es ihm ganz spielerisch, die Kinder immer wieder aufs Neue zu motivieren, ihr Möglichstes aus sich herauszuholen. Einen solchen Lehrer zu haben, ist so ziemlich das Beste, was jungen Menschen passieren kann. Und sie merken ja auch sehr genau, wie gut er es mit ihnen meint, und geben ihm ganz viel zurück.
Wer von sich denkt, dass er den Glauben an das Gute im Menschen verloren hat, sollte sich unbedingt diesen auf der (virtuellen) Berlinale völlig zurecht gefeierten Dokumentarfilm von Maria Speth ansehen, die den Lehrer Dieter Bachmann und seine Schüler jahrelang mit der Kamera begleitet hat. Auch wenn dieser Film 217 Minuten dauert, so hat er doch fast keine Längen, ist immer interessant, kurzweilig und nicht selten auch anrührend. Das schreibt übrigens jemand, der eigentlich gar keine Dokumentarfilme mag…

Herr Bachmann und seine Klasse
Deutschland 2021
Länge: 217 Minuten
Regie: Maria Speth
Drehbuch: Maria Speth, Reinhold Vorschneider
Darsteller als sie selbst: Dieter Bachmann, seine Klasse