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justament.de, 13.11.2023: Mops, Nudel, Badewanne – und früher war mehr Lametta

Zum 100. Geburtstag des großen Humoristen Vicco v. Bülow

Thomas Claer

Die Deutschen und der Humor, das ist zweifellos eine schon von jeher prekäre Beziehung. Doch muss man wohl sagen: So viel Lustiges auf höchstem Niveau wie heute gab es hierzulande noch nie in den Medien – und das in globalpolitisch gruseligen Zeiten wie diesen! Ein maßgeblicher Wegbereiter für alle unsere heutigen Meister des Komischen war einer, der als Offizier in der Deutschen Wehrmacht gewissermaßen selbst durch die Hölle gegangen ist und sich anschließend daranmachte, eine zutiefst erschütterte und traumatisierte Nachkriegsgesellschaft zu bespaßen. Vor allem hat er dabei immer wieder die naturgemäß ernsthafte Attitüde der damals zeittypischen “autoritären Persönlichkeit” aufs Korn genommen und der Lächerlichkeit preisgegeben. Dass ein nicht ganz kleiner Teil der Loriot-Sketche heute nicht mehr so ohne weiteres funktioniert, sollte uns aufatmen lassen, denn die heutige Gesellschaft ist – verglichen mit jener vor einigen Jahrzehnten, der Loriot den Spiegel vorgehalten hat, – erkennbar eine andere geworden: weitaus freier, lockerer und entspannter. Das Standesrenommee der Hotelbadewannen-Männer (“Sie wissen wohl nicht, wen sie vor sich haben?”), der fanatische Ordnungssinn des sich am schiefen Bild störenden Anzugträgers, die umständlich-verdruckste Vorgehensweise des Kavaliers mit der Nudel an der Nase – das alles gibt es in dieser Form wohl mittlerweile nicht mehr. Gleiches gilt vermutlich auch für die beiden Filmkritiker im Fernsehstudio, die sich so verbissen wie wortgewaltig über einen Klamauk-Kurzfilm in die Wolle kriegen.
Doch ist manches in Loriots Werken dann doch auch überzeitlich-universell. Das Auseinanderklaffen von Anspruch und Umsetzbarkeit, von Wunsch und Wirklichkeit, erzeugt nun einmal in jeder Gesellschaft Komik. Besonders Loriots grandiose Doppelbegabung als Zeichen- und Sprachkünstler – auf den Spuren von Wilhelm Busch sozusagen – lässt ihn unter Deutschlands Humoristen als Solitär erscheinen. Und dabei verkörperte er die neue Zeit nicht zuletzt auch in persona: als Angehöriger einer preußischen Adelsfamilie, der statt einer militärischen oder wenigstens gehoben administrativen Laufbahn letztendlich eine solche als Spaßmacher eingeschlagen hat. Gestern wäre Deutschlands witzigster Blaublütiger 100 Jahre alt geworden.

justament.de, 2.10.2023: Als die Welt rund war

Recht historisch: Vor 30 Jahren wurde die DDR-Fußballzeitschrift Fuwo eingestellt – nach fast viereinhalb Jahrzehnten

Thomas Claer

Damals, in meiner Kindheit und Jugend in den Achtzigern, hatte ich einen Lieblingswochentag, und das war der Dienstag. Warum gerade Dienstag? Weil Dienstag Fuwo-Tag war. Es erschien, von mir immer aufs Neue heiß ersehnt, die wöchentliche Ausgabe der “Neuen Fußballwoche”, kurz Fuwo. Sie enthielt beinahe alles, was mein kindliches und jugendliches Herz zu jener Zeit begehrte: nämlich die ausführliche Berichterstattung über die maßgeblichen Fußballspiele des zurückliegenden Wochenendes, zumindest über jene in der Deutschen Demokratischen Republik, dazu allerhand Zahlen und Statistik sowie – immerhin – die Ergebnisse und Tabellen aus den anderen Ländern Europas, darunter auch die von drüben aus der Bundesliga. Noch interessanter wären allenfalls Spielberichte über den West-Fußball gewesen, aber an so etwas Ausgefallenes war zu jener Zeit der deutschen Teilung natürlich nicht zu denken.

Für mich war seinerzeit die Fuwo – neben der Comic-Zeitschrift Mosaik – der prägende Lesestoff schlechthin. Seit meiner ersten Ausgabe, Heft 1/1981, habe ich bis zum bitteren Ende kein Heft verpasst. Wobei allerdings die Fuwo, man muss es leider so hart sagen, schon ab Mitte 1990 eigentlich gar nicht mehr sie selbst war. Mit Mauerfall und Wiedervereinigung wurde nämlich die einzige Fußballzeitschrift der DDR einer inhaltlichen, optischen und sprachlichen Modernisierung unterzogen, durch die leider alles von ihrem vormaligen Charme verlorenging. Dass dieses nun vorgeblich marktgängige kunterbunte Machwerk aus fetten Überschriften und reißerischer Aufmachung schließlich eingestellt wurde, war dann auch nicht mehr so schade. Der Verlust der alten DDR-Fuwo dagegen umso mehr.

Was sich heute sicherlich niemand mehr vorstellen kann: Das sprachliche Niveau der Fuwo war zu DDR-Zeiten, zumal aus heutiger Sicht, überragend. Mein schon in den unteren Schulklassen allgemein als bemerkenswert eingeschätztes Ausdrucksvermögen verdankte ich nicht zuletzt meiner ausdauernden und sorgfältigen Fuwo-Lektüre. Die Fußballberichte waren durch die Bank bildungssprachlich verfasst. “Dynamo wahrte den Nimbus”, “ergo: der Sieg war verdient”, “die Zuschauer waren konsterniert”, der Trainer musste konstatieren”, “das hieße Eulen nach Athen tragen”… Beinahe alle meine Fremdwörter und sonstigen Redewendungen hatte ich aus der Fuwo. Möglich war so etwas, weil dort eine Riege von studierten Journalisten und Germanisten in aller Seelenruhe vor sich hin werkeln durfte. Aktualität und Schnelligkeit? War nicht so wichtig. Es genügte völlig, dass die Berichte übers vergangene Fußballwochenende am Dienstag erschienen. Die Leser? Wurden nicht gefragt. Sie hatten ja auch keine Alternative, denn es war in der DDR nur eine Fußballzeitschrift vorgesehen – zum Preis von 50 Pfennigen, unverändert seit 1949 bis 1990, denn im Sozialismus durfte es ja keine Inflation geben. Das Kontingent der gedruckten Hefte dürfte sich über die Jahre auch kaum verändert haben. Stets war es in der DDR das Problem der Leser, noch ein Exemplar der begehrten Zeitschriften, zu denen auch die Fuwo gehörte, abzubekommen. Dafür türmten sich dann in den Zeitungskiosken so unverkäufliche, weil unfassbar langweilige Printerzeugnisse wie “Sowjetfrau” oder “Sputnik”. Jedenfalls bis Gorbatschow in der Sowjetunion das Ruder übernahm und dank Glasnost und Perestroika die übersetzten Sowjet-Magazine plötzlich super interessant und in der DDR somit doch noch zur Bückware wurden…

Natürlich hat es auch etwas sehr Ironisches, dass ausgerechnet in einem durch und durch unfreien Land jahrzehntelang einige besonders niveauvolle Zeitschriften erscheinen konnten (neben Fuwo und Mosaik auch die Wochenpost oder das Magazin), die unter marktwirtschaftlichen Bedingungen kaum überlebensfähig gewesen wären – und es nach der Wende dann ja überwiegend auch nicht waren. Aber so ist es nun einmal gewesen. Manchmal braucht es eben auch Biotope jenseits der Marktlogik, damit Außergewöhnliches entstehen kann. Der Preis, den etwa die Fuwo-Journalisten für ihre vielen Freiheiten zu zahlen hatten, war es, wöchentlich ein bis zwei Seiten des Blattes mit sozialistischem Propaganda-Quatsch zu füllen – um dafür auf den restlichen 22 Seiten von der Obrigkeit in Ruhe gelassen zu werden…

Besonders erfreute ich mich über die Jahre an den in der Fuwo so zahlreichen Statistiken – und an den Auslandsspielergebnissen und –tabellen, die – jedenfalls in der DDR – nur in der Fuwo und nirgends sonst abgedruckt waren. Bald hatte ich in jeder Liga und in jedem Land eine Lieblingsmannschaft, die ich nur aufgrund ihres wohlklingenden Namens ausgesucht hatte. Meine Vorliebe galt dabei besonders zungenbrecherischen Namen wie Videoton Székesfehérvár aus Ungarn oder Dnepr Dnepropetrowsk aus der Sowjetunion. Insofern war die Fuwo für mich immer auch eine Art Tor zur Welt.

Eine ganz andere, überraschende Seite der Fuwo lernte ich allerdings in ihren Silvesterausgaben, d.h. im jeweils letzten Heft eines Jahres, kennen. Während es in der Fuwo nämlich ansonsten eher ernsthaft und betulich zuging, gab es am Jahresende immer vier Seiten mit ausgelassenem Frohsinn und erstaunlich freizügigen Fotos, unter denen dann auch noch anzügliche Sprüche standen. So fragte etwa in der Ausgabe 52/1981 eine splitternackte junge Dame am Strand mit einem Holzpfosten in der Hand: “Hast du noch ‘ne Querlatte, Benno?” Im Heft 52/1986 erklärte eine barbusige Schönheit sogar: “Gleich wird er mit meinen Bällen spielen.” Tja, im Westen gab es Vergleichbares täglich in der BILD-Zeitung, in der DDR hingegen nur einmal im Jahr in der Fuwo.

justament.de, 9.1.2023: Ein Kind der Sesamstraße

Justament-Autor Thomas Claer gratuliert zum 50. Geburtstag ihrer deutschen Version 

Wodurch ist ein DDR-Kind in den Siebzigerjahren am nachhaltigsten beeinflusst worden? Das mag bei jedem anders gewesen sein. Für mich jedenfalls kann ich voll Dankbarkeit sagen: nicht nur durch die nach heutigen Maßstäben ziemlich autoritäre Erziehung in Elternhaus und staatlichen Einrichtungen, wo es immer nur hieß “Du sollst…”, “Du musst… oder “Du darfst nicht…”, sondern mindestens ebenso durch die tägliche “Sesamstraße” aus dem Westfernsehen, deren Motto etwa im grandiosen “Egal-Song” lautete: “Es ist egal, du bist, wie du bist.” Man könnte das auch übersetzen mit “Die Würde des Kindes ist unantastbar.”

Tatsächlich jeden Tag eine halbe Stunde lang lief in meiner Kindheit die Sesamstraße, außer donnerstags, da kam die ähnlich gute “Sendung mit der “Maus”. Und dieser fröhlich-bunte Spaß mit Puppen und Monstern und lustigen Liedern war ein ziemlicher Kontrast zum Kinderfernsehen Ost, das schon rein quantitativ nicht mit seinem westlichen Pendant mithalten konnte. Nun hatte das DDR-Programm für den Nachwuchs zweifellos auch seine Vorzüge, doch spielte es sich bezeichnenderweise zumeist in einer Parallelwelt zum Alltagsleben ab – im “Märchenwald”, und der lag wiederum im “Märchenland”. Anders die ganz überwiegend im damaligen “Hier und Jetzt” angesiedelte Sesamstraße. Ironischerweise waren nämlich in der Zeit nach 1968 die westlichen Kindersendungen oftmals politischer als die östlichen. Bürgte unter den ideologisch strengen DDR-Verhältnissen vor allem der unpolitische Charakter des Kinderprogramms für dessen Qualität, war es im freien Westen genau andersherum. In der “Sesamstraße” wehte ein neuer frischer Wind, der nicht zuletzt auch die überkommenen deutschen Erziehungskonzepte infrage stellte. Man muss betonen, dass es zu jener Zeit noch gang und gäbe war, im Osten wie im Westen, zu sagen: “Eine ordentliche Tracht Prügel hat noch keinem Kind geschadet.” Und dass Kinder grundsätzlich den Mund zu halten hatten, das ist wohl noch bis zum Ende der DDR so geblieben.

Für mich jedenfalls war das westliche Reformpädagogik-Fernsehen ganz großartig. Zumal die Macher der deutschen “Sesamstraße” gewissermaßen auch der ersten Generation dieser besagten Erziehung im neuen Geiste angehörten. Alles wirkte so frisch und unbekümmert, so experimentell und improvisiert. Und wie liebte ich die Puppen und Darsteller, besonders eine ganze Reihe von Nebenfiguren. Vor Graf Zahl, das muss ich zugeben, hatte ich in jüngeren Jahren noch richtig Angst, aber natürlich war es ein wohliges Gruseln. Umwerfend komisch war z.B. Don Schnulze, der genialische Sänger und Pianist, der immer wieder verzweifelt mit dem Kopf auf die Tasten schlug, wenn ihm zu seinen Kompositionen die passende Textzeile nicht einfallen wollte. Nicht minder witzig war Schlemihl, der zwielichtige Geschäftsmann, der die Verlautbarungen seines Gegenübers vorzugsweise mit einem “Psssst, genau!” kommentierte. Oder Herbert Leichtfuß, der freundliche Erfinder, der immer geduldig seine neuesten technischen Werke erklärte und sich nicht einmal durch unkontrollierte Aktionen des Krümelmonsters aus dem Konzept bringen ließ. Auch Sherlock Humbug, der sich am Ende seiner Ermittlungen meistens selbst als Übeltäter überführte, sich für diese Erkenntnis aber anschließend noch von seinen jeweiligen Auftraggebern bezahlen ließ, war eine großartige Figur. Und dann natürlich Ernie und Bert, die beiden grundverschiedenen alterslosen Freunde eindeutig männlichen Geschlechts, die ohne Eltern oder sonstige Erzieher in einer gemeinsamen Wohnung zusammenlebten und sogar das Bett miteinander teilten. Kein Wunder, dass sie Jahrzehnte später zu Ikonen der Schwulenbewegung avancierten…

Was für ein Vergnügen es mir heute bereitet, mich durch die alten Sesamstraßen-Filmchen auf YouTube zu klicken! Sieht man sich dagegen mal eine heutige Sesamstraßen-Folge an, dann ist das eine fast schon schmerzhafte Erfahrung. Die neuen Puppen sind längst nicht mehr so gut wie die alten! Und die Puppen, die es früher schon gab, haben jetzt alle andere Stimmen, die überhaupt nicht zu ihnen passen. Auch inhaltlich ist das alles gar nicht mehr mit früher zu vergleichen. Nein, die Sesamstraße war früher wirklich um Längen besser! Die armen heutigen Kinder! Aber es ist ja schließlich auch kein Wunder, dass sich sowohl die Sesamstraße als auch man selbst in fünf Jahrzehnten ein wenig verändert hat. Alles Gute zum Jubiläum!

justament.de, 26.8.2019: Erst Extremsparen – und dann Rente mit 40?

Porträt eines Lebenskünstlers jenseits der „Fire-Bewegung“

Thomas Claer

Davon träumt wohl so mancher, der sein Leben im ewigen Hamsterrad von Job und Karriere verflucht: Einfach damit aufhören und trotzdem weiter gut leben können. Also nicht mit Hartz IV am Existenzminimum knapsen und auch nicht als Eremit und Selbstversorger ohne Geld in einer Berghütte leben. Nein, einfach so weiter machen wie bisher, sich auch mal etwas gönnen können, nur ohne Arbeit bzw. ohne Erwerbsarbeit. Denn etwas tun möchte man ja schon noch, nur nicht mehr für seinen Chef oder seine Firma und auch nicht als Selbständiger, wo einem alles über den Kopf wächst. Kurz gesagt, ein freies und selbstbestimmtes und unabhängiges und dabei auch noch entspanntes Leben führen. So etwas gibt es nicht? Oder wenn, dann nur im Schlaraffenland?

Die einen, die von so etwas träumen, streiten für ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle und jeden. Utopisch zwar, aber auf lange Sicht vielleicht doch nicht ganz ausgeschlossen, wenn unserer Gesellschaft durch den digitalen Wandel irgendwann einmal die Arbeit ausgehen sollte. Die anderen wollen darauf nicht warten und nehmen es selbst in die Hand. Die sogenannte „Fire-Bewegung“ propagiert seit 2011 den individuellen Weg zur finanziellen Unabhängigkeit durch – vorübergehendes – extremes Sparen, einen minimalistischen Lebensstil und kluges Investieren. Ihr Gründer ist der kanadischer Programmierer Mr. Money Mustache, dem es auf diese Weise sogar gelungen ist, bereits mit Anfang 30 in Rente zu gehen, und der über die näheren Umstände eifrig in seinem Blog berichtet.

Vier-Prozent-Regel

Grundannahme dieser sonderbaren Befreiungsbewegung ist die Vier-Prozent-Regel: Sie geht davon aus, dass sich bei kluger Geldanlage auf lange Sicht eine jährliche Rendite von 4 Prozent des angelegten Kapitals erzielen lässt. Das heißt, ein solcher Anteil kann den eigenen Rücklagen Jahr für Jahr entnommen werden, ohne dass die Substanz angegriffen würde. Wenn man nun weiß, wie viel Geld man pro Jahr bei sparsamer Lebensführung benötigt, um über die Runden zu kommen, dann kennt man bereits 4 Prozent der Summe seines zum Leben als Müßiggänger erforderlichen Vermögens. Und multipliziert mit 25 ergibt sich demnach genau der Betrag, den man zum sorgenfreien Leben braucht. Wer also 24.000 Euro pro Jahr zum Leben benötigt (dies entspricht 2.000 Euro pro Monat), der braucht gerade einmal 625.000 Euro Vermögen, um nicht mehr arbeiten zu müssen. Wer dagegen großzügiger mit monatlich 3.000 Euro kalkuliert, schließlich fallen ja auch noch Steuern und Sozialabgaben an, kommt auf einen Jahres-Bedarf von 36.000 Euro und benötigt folglich ein Vermögen i.H.v. 900.000 Euro. Kurzum, mit einer Summe von einer Million Euro sollte man in jedem Falle auf der sicheren Seite sein.

Wer wird Millionär?

Doch wie kommt man an solche Beträge, wenn es doch nur den wenigsten gelingt, den Lotto-Jackpot zu knacken oder bei „Wer wird Millionär?“ zu gewinnen? Die Antwort lautet: sparen und investieren. Wer einen gut bezahlten Job hat, verfügt über beste Voraussetzungen. Für alle anderen ist es zwar deutlich schwerer, aber auch nicht unmöglich. Jahrelang wird eisern jeden Monat etwas zur Seite gelegt und lukrativ an der Börse investiert. So lange, bis man die gewünschte Summe zusammen hat und seinen ungeliebten Job an den Nagel hängen kann.

Ach herrjeh, so etwas klappt doch nie im Leben, meinen Skeptiker. Und doch haben Journalisten-Kollegen (von SPIEGEL bis Süddeutsche Zeitung) im Rahmen ihrer Berichterstattung über die „Fire-Bewegung“ in den letzten Monaten schon eine Hand voll Vertreter dieser Weltanschauung ausfindig gemacht und porträtiert, bei denen diese Methode offenbar gut funktioniert hat. Nicht jeder allerdings, der auf diese Weise zu einem solchen (relativen) Reichtum gekommen ist, möchte dies auch öffentlich offenbaren. Kapital ist, wie jeder weiß, scheu wie ein Reh…

Ein Lebenskünstler erzählt

Wir treffen in Berlin jemanden, der ebenfalls nicht namentlich bekannt zu werden wünscht und der sich auch nicht unbedingt als Vertreter der „Fire-Bewegung“ sieht, da er sich, wie er sagt, alles ganz allein und ohne solche Einflüsse überlegt habe. Aber im Grunde genommen, das räumt er ein, habe er es schon ganz ähnlich gemacht. Johannes K. (Name von der Redaktion geändert) ist jetzt 47 Jahre alt. Seit drei Jahren ist er Millionär und somit finanziell unabhängig. Er ist weiterhin berufstätig, allerdings nur in geringfügigem Umfang. Sein heutiges Vermögen schätzt er auf ca. 1,5 Millionen Euro. „Vielleicht sind es auch zwanzig Prozent weniger oder mehr.“ So genau könne er es nicht sagen, da inzwischen über 90 Prozent davon in Immobilien steckten. Und dann erzählt er seine Geschichte.

„Als meine Frau und ich vor 17 Jahren nach Berlin kamen, hatten wir Ersparnisse von etwa 30.000 Euro“, berichtet er. Schon im Zivildienst und später im Studium habe er jeden Monat etwas zur Seite gelegt, meistens ein paar hundert Euro. Erst im Jahr 2000, zum ungünstigsten Zeitpunkt, hat er angefangen, einen Teil seiner Rücklagen in Aktien zu investieren und ist damit zunächst voll auf die Nase gefallen. Dann begann er aber, sich mit Value Investing zu beschäftigen, und hatte immerhin nach ein paar Jahren die Verluste aufgeholt. „Seitdem ging es im Wesentlichen nur noch aufwärts.“ Dennoch habe er wegen seines relativ niedrigen Einsatzes in all den Jahren insgesamt „nur“ gut 100.000 Euro an der Börse verdient, was einer Rendite von gut 550 Prozent aufs eigesetzte Kapital entspreche.

Freiberufler im Niedriglohn-Sektor

Aber wie hat er dann den Rest seines Vermögens verdient? Hatte er einen gut bezahlten Job? „Nein, überhaupt nicht“, winkt Johannes K. gleich ab. „Ich war anfangs Verlagspraktikant, später prekärer Freiberufler im Niedriglohn-Sektor.“ Zwischendurch habe er aber von 2003 bis 2006 einen Ich-AG-Gründer-Zuschuss in Höhe von insgesamt 14.000 Euro bezogen, den er komplett an der Börse investiert habe. Dennoch konnte er durch seinen ausgesprochen asketischen Lebensstil (sehr zum Leidwesen seiner Frau!) auch weiter jeden Monat ein paar hundert Euro zur Seite legen. Heute hat er – aber auch erst seit etwa einem Jahr – einen relativ gut bezahlten Job, den er allerdings nur stundenweise ausübt. „Eigentlich wäre ich ja jetzt nicht mehr darauf angewiesen“, schmunzelt Johannes K.

Aber wie ist er denn nun zu einem solchen Vermögen gekommen? Hat er geerbt? „Ja, auch das war nicht ganz unwesentlich“, räumt er ein, „wenn auch keineswegs alleinentscheidend.“ Im Jahr 2016 sind kurz nacheinander seine Eltern verstorben, bald darauf auch ein Onkel. „Ich schätze alle Zuschüsse, die mir meine Eltern zu ihren Lebzeiten nach und nach für Wohnungskäufe gegeben haben, auf insgesamt um die 100.000 Euro. 2016 kamen dann durch die Erbfälle, auch durch den Verkauf des Reihenhäuschens meiner Eltern, noch weitere 400.000 Euro hinzu.“ Erst dadurch konnte er Millionär werden. Bis dahin lag sein Vermögen bei „nur“ ca. 600.000 Euro. Doch seit den Erbschaften 2016 ist es durch die rasanten Preissteigerungen seiner Wohnungen bis heute um beinahe 50 Prozent angewachsen.

Rettung durch Immobilien

Letztlich ist er also durch Immobilieninvestments reich geworden. Aber wie konnte er die dafür notwendigen Kredite bekommen, so ohne gut bezahlten Job? „Gar nicht, wir haben beinahe alles ohne Kredite finanziert“, erinnert sich Johannes K. Nur ein einziges Mal, vor zwei Jahren, als für einen weiteren günstigen Wohnungskauf die Liquidität nicht ganz ausreichte, habe er sich von seinem Studienfreund 10.000 Euro für ein Jahr geliehen und das Darlehen dann noch vorfristig wieder zurückgezahlt. „Ansonsten hatten wir immer eine Eigenkapitalquote von 100 Prozent.“

Aber wie konnte das denn gelingen mit den Immobilien-Investments? So etwas kostet doch viel Geld? „Nicht damals, in den Nullerjahren, in Berlin.“ Und auch noch bis vor wenigen Jahren habe man am Berliner Stadtrand wahre Schnäppchen machen können. „Wir haben unsere selbstgenutzte Wohnung in Charlottenburg (3 Zi, 77 qm, sanierter Altbau) im Jahr 2007 für 97.000 Euro gekauft, finanziert je zur Hälfte aus Aktienverkäufen und durch den Zuschuss meiner Eltern. Heute ist sie das Vierfache wert.“ Seine weiteren Wohnungen, ausschließlich kleinere Einheiten in relativen Randlagen, kaufte er ab 2012 und lebt heute weitgehend von den Mieteinnahmen. „Alle unsere Wohnungen in Berlin – außer unserer zuletzt gekauften – sind heute schon mindestens das Doppelte von dem wert, was wir für sie bezahlt haben. Und sie steigen – zumindest noch – immer weiter und weiter im Wert.“ Um die 15 Prozent jährlich haben die Immobilienpreise in Berlin in den letzten Jahren zugelegt. Wohl denen, die voll investiert sind.

Kann das so weitergehen?

Doch fürchtet Johannes K. nicht, dass irgendwann die Blase platzen und er dann womöglich weitaus ärmer als derzeit dastehen könnte? Natürlich könne das irgendwann passieren, sagt er. „Aber wie es jetzt aussieht, wohl frühestens in ferner Zukunft. Vermutlich werden uns die Niedrigzinsen noch sehr lange Zeit erhalten bleiben, sodass auch weiterhin viel Geld in den deutschen Immobilienmarkt und insbesondere nach Berlin strömen wird. Und das trotz der schon ambitionierten Bewertungen.“

Das schöne Leben

Aber wie lebt es sich denn nun, so ohne finanzielle Nöte? „Eigentlich nicht viel anders als vorher. Es ist nur sehr beruhigend zu wissen, dass man nicht mehr jeden Cent umdrehen muss“, resümiert Johannes K. „Und ich genieße es sehr, immer ausreichend Freizeit zu haben, jeden Tag ausschlafen und viel Sport treiben zu können“, fügt er hinzu. Dennoch sei eine grundlegende Sparsamkeit so tief in ihm verwurzelt, dass er sich jetzt nicht mehr rundherum ändern könne. „Zum Verschwender werde ich also ganz sicher nicht mehr werden“, sagt er lachend. Mal irgendwann in einem Einfamilienhaus wohnen? Sich ein Auto kaufen? Oder teure Klamotten? „Nein, nie im Leben. Dann würde ich eher mein Geld an Bedürftige spenden.“Auch komme für ihn extrem umweltschädigendes Verhalten wie häufiges Reisen mit dem Flugzeug schon aus ethischen Gründen nicht infrage. Man müsse sich allerdings fortwährend um seine Geldanlagen kümmern. „Fast immer ist irgendwo irgendetwas zu organisieren oder zu bedenken. Aber genau das macht mir – jedenfalls bis jetzt noch – großen Spaß.“ Und schließlich legt Johannes K. auch Wert darauf, ein sozialer Vermieter zu sein, der sich, wann immer es erforderlich ist, für seine Mieter engagiert.

Lebensziele

Doch welche Ziele kann man sich noch setzen, wenn man eigentlich, zumindest finanziell gesehen, schon alles im Leben erreicht hat? „Das ist in der Tat ein Problem, ein Luxusproblem natürlich“, lacht Johannes K. Er habe sich erst langsam daran gewöhnen müssen, dass die Geldvermehrung nun nicht mehr an erster Stelle stehen müsse. „Was sollte das denn bringen, immer noch mehr Vermögen anzuhäufen, wenn man zu seinen Lebzeiten doch niemals alles ausgeben kann?“ Er versuche daher lieber, etwas Kreatives zu tun, für seine anderen Hobbies und Interessen zu leben, die es ja neben der Geldvermehrung auch noch gebe.

Könnte das jeder schaffen?

Aber glaubt er, dass auch anderen so etwas gelingen könnte wie ihm, die Erlangung finanzieller Unabhängigkeit durch Sparsamkeit und kluges Investieren? Johannes K. ist skeptisch. Er weiß, dass er zwar so manches richtig gemacht, vor allem aber auch sehr viel Glück gehabt hat. Das ganz entscheidende Glück, zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen zu sein. Denn all das, da gibt sich Johannes K. keinen Illusionen hin, sei so nur in Berlin möglich gewesen. Und das auch nur in den letzten anderthalb Jahrzehnten, in dieser völlig verrückten Zeit.

MDR-Umschau, 4.12.2018: Westpakete als Stütze der DDR-Planwirtschaft

Thomas Claer als Zeitzeuge im Fernsehen befragt…

www.justament.de, 26.12.2016: Schule fürs Leben

Vor 25 Jahren erschien das Computerspiel „BMP – Bundesligamanager Professional“. Ein persönlicher Rückblick

Thomas Claer

bmp-bildAlle Welt spielt irgendwelche Spiele auf dem Computer oder Handy. Leider kann ich dabei nicht mitreden, weil ich davon nichts verstehe. Ich spiele nie. Doch das war nicht immer so. In meiner Jugend, genauer: in meiner Zivildienst- und Studentenzeit, bin ich ein leidenschaftlicher Spieler gewesen. Und das kam so: Wir trafen uns schon seit der Oberstufe in den frühen Neunzigern oft bei meinem Freund S., der als einziger von uns allen einen Computer besaß. Überhaupt war er technisch exzellent ausgerüstet. Er verfügte auch über einen CD-Player, nicht jedoch über einen Fernseher und Videorekorder, weil seine Eltern ihm das nicht erlaubten. Videos guckten wir dafür immer bei mir. Ich war der mit dem Videorekorder, mein Freund S. war der mit dem Computer.

Anfangs blickte ich noch relativ verständnislos auf dieses große Teil, das da bei ihm im Zimmer stand. Hausarbeiten wie später im Studium hatten wir noch nicht zu schreiben, das Internet war noch nicht erfunden. Aber irgendwann, als wir schon Zivis im Krankenhaus und unsere Nachmittage und Abende nicht mehr durch Schulaufgaben belastet waren, da präsentierte uns S. stolz seine neueste Anschaffung: ein Computerspiel, das die Fußball-Bundesliga simulierte, wo man selbst als Vereinspräsident, Manager und Trainer in Personalunion eine virtuelle Mannschaft zusammenstellen und mit ihr virtuelle Spiele gegen virtuelle Gegner bestreiten konnte. Und was besonders reizvoll war: Es konnten bis zu vier Spieler gleichzeitig mitwirken, die jeweils einen Verein übernahmen und dann auch jeweils zweimal pro Saison, einmal zu Hause und einmal auswärts, gegen jeden anderen Mitspieler anzutreten hatten. Die Fußballspiele selbst waren von der Grafik her noch recht simpel (am gelungensten waren die bunten Vereinswappen), aber es gab doch allerhand Möglichkeiten, um vor und während der einzelnen Meisterschaftsspiele auf diese Einfluss zu nehmen. Man wählte eine bestimmte Taktik, die sich je nach Spielverlauf auch intervenierend verändern ließ. Man konnte das Training nach Ausrichtung, Umfang und Intensität frei gestalten. Man konnte bestimmte Spieler aufstellen und andere nicht, man konnte während des Spiels Auswechslungen vornehmen. Die virtuellen Spieler hatten alle Namen, die es seinerzeit in den deutschen Fußballigen wirklich gab, sie hatten ein bestimmtes Alter und eine – etwa durch gezieltes Training – veränderbare Spielstärke auf einer Skala von null bis hundert. (Nur ein Gesicht hatten sie noch nicht, das sollte erst in späteren Versionen des Spiels dazukommen.)

Nach jedem Spieltag wurden alle Ergebnisse und die aktuelle Tabelle der Liga auf dem Bildschirm präsentiert. Sodann folgte der Zeitungsartikel zum eigenen Spiel, der sich auf geniale Weise aus den bekannten Phrasen und Satzbausteinen zusammensetzte, die auch noch heute die Sportberichterstattung ausmachen. Je nach Spielverlauf und Ergebnis zeigte sich der Trainer (dort stand dann immer der echte Name des Mitspielers) mit dem Spiel seiner Mannschaft mehr oder weniger zufrieden. Es wurde die Moral der Mannschaft gelobt oder ihre Chancenverwertung bemängelt, manchmal auch daran erinnert, dass der Ball rund sei und ein Spiel immer 90 Minuten dauere. Sehr realitätsnah war das Spiel so programmiert, dass längst nicht immer die Mannschaften mit den teuersten Spielern gewannen. Vielmehr erwiesen sich solche Teams als besonders spielstark, deren Spieler schon lange zusammenspielten und die von ihren Trainern taktisch gut auf den jeweiligen Gegner eingestellt worden waren. Auf unglücklich verlorene Spiele folgten oft regelrechte Pechsträhnen, auf überzeugende Siege hingegen kaum zu erklärende Glückssträhnen. Die Programmierer des Spiels müssen ausgezeichnete Psychologen gewesen sein. Kurz gesagt, dieses Spiel war damals für jeden jungen Menschen, der sich schon jahrelang für Fußball interessierte, eine wahre Freude. Wir jedenfalls waren hellauf begeistert.

Eine große Schwierigkeit gab es jedoch: Man musste im Spiel mit seinem knapp bemessenen Budget auskommen, damals natürlich noch in DM. Es galt, sich lukrative Sponsorenverträge zu angeln, die Eintrittspreise im Stadion vernünftig zu gestalten, das Stadion gezielt auszubauen und wenn nötig zu sanieren, bei den Gehaltsverhandlungen mit den Spielern, deren Verträge ausliefen, auf dem Teppich zu bleiben und bei der Verpflichtung neuer teurer Spieler, die einem sportlich weiterhelfen konnten, mit Augenmaß vorzugehen. Denn man konnte zur Finanzierung auch bei der virtuellen Bank einen Kredit aufnehmen, der musste aber am Ende der Laufzeit pünktlich und ohne Wenn und Aber zurückgezahlt werden. Vor allem musste man also gut wirtschaften können. Ich erinnere mich noch sehr genau daran, wie der eine oder andere von uns hier den Bogen überspannte und schließlich in der Schuldenfalle landete. Dann musste Spieler für Spieler verkauft werden, nur um die Forderungen der Bank noch bedienen zu können, was unausweichlich den vollkommenen sportlichen Absturz zur Folge hatte. Irgendwann, glaube ich, da bin ich mir aber nicht mehr ganz sicher, wurde in solchen Fällen, zwangsweise der Spielbetrieb dieser Mannschaft eingestellt.

Besonders wenn mehrere Mitspieler beteiligt waren, konnte sich das Spiel manchmal über Wochen und Monate hinziehen. Es ließ sich ja im Prinzip auch endlos fortsetzen. Jederzeit bestand die Möglichkeit, den aktuellen Spielstand abzuspeichern und später, sobald alle Beteiligten mal wieder Zeit hatten, weiterzuspielen. Doch irgendwann, spätestens nach sieben oder acht virtuellen Spieljahren, stürzte das laufende Spiel ständig ab. Dann wussten wir, dass es wieder Zeit war, ein neues zu beginnen.

Zurückblickend kann ich feststellen, dass die langen Abende und manchmal auch Nächte, die ich damals mit meinen Freunden vor dem Computer verbracht habe, alles andere als Zeitverschwendung waren. Vor allem lernte man in diesem Spiel, immer sehr viele Dinge gleichzeitig im Auge zu behalten, sich auch bei widrigen Verläufen nicht aus dem Konzept bringen zu lassen und geduldig auf bessere Zeiten zu warten. Mein Freund S., der als Gastgeber natürlich über den vorrangigen Zugriff auf seinen Computer verfügte, erwies sich hier nicht immer als fairer Sportsmann, sondern reagierte oft sehr empfindlich und manchmal auch jähzornig auf eigene „sportliche“ Misserfolge. Gefürchtet von uns waren seine Wutausbrüche, in denen er nach verlorenen Matches, insbesondere wenn es sich um „Derbys“ gegen uns, seine Mitspieler, handelte, kurzerhand den Stecker aus der Steckdose zog und somit das Spiel zum Absturz brachte. Wir mussten dann dort weitermachen, wo die automatische Speicherung (die es immerhin gab), zuletzt eingesetzt hatte, also meistens drei bis vier Spieltage in der Vergangenheit, was für uns ärgerliche Deja-vue-Situationen mit sich brachte. Abgesehen davon, dass es im richtigen Leben keinen solchen Stecker und keine Reset-Taste gibt, durch die sich mal eben die Zeit zurückdrehen lässt, war dieses Spiel für mich eine Schule fürs Leben. Was ich darin gelernt habe, vor allem eine mentale Grundeinstellung aus Disziplin und Kontinuität in wirtschaftlicher Hinsicht, kam mir in meinem späteren Leben sehr zupass, ob beim Verwalten meines Aktien- oder später meines Immobilienportfolios. Mir ist bewusst, dass ich hier nur für mich selbst sprechen kann und meine Erfahrungen keineswegs repräsentativ sind, aber ich würde behaupten, dass ich aus diesem Spiel mehr mitgenommen habe als aus meiner gesamten Juristenausbildung. Vor ein paar Jahren traf ich auf einem Geburtstag einen meiner einstigen Mitspieler. Er schlug vor, dass wir uns alle nach über zwei Jahrzehnten doch mal wieder treffen und gemeinsam unser Lieblingsspiel von einst spielen sollten. Ich glaube, irgendwann machen wir das wirklich.

Nostalgiker finden alle Informationen zum kostenlosen Download des Spiels und zu dessen Anpassung an heutige Betriebssysteme in einem YouTube-Video:
https://www.youtube.com/watch?v=UNoar8beRQ0

Eine ausführliche Anleitung für das Spiel gibt es hier: https://www.youtube.com/watch?v=i5A87FiQ1IQ

P.S. am 10.4.2020: Hier ist noch ein weiterer nostalgischer Erlebnisbericht über dieses Spiel nach fast 30 Jahren…

https://11freunde.de/artikel/ich-als-verein-musste-reagieren/1733193?position=seiteninhalt&seite=1#seiteninhalt

 

www.justament.de, 19.10.2015: Faulpelze und Workaholics

Manche Ameisen sind gar nicht fleißig, haben Wissenschaftler herausgefunden. Was sagt uns das?

Thomas Claer

AmeiseWer hätte das gedacht? Die sprichwörtlich so fleißigen Ameisen sind manchmal regelrecht faul, zumindest einige von ihnen. Drei Wochen lang beobachteten zwei Entomologen (d.h. Insektenforscher) der Universität Arizona das Verhalten von 250 Ameisen in fünf verschiedenen Kolonien. Um die Individuen zu unterscheiden, wurden die einzelnen Tiere markiert und mit speziellen Kameras beobachtet. Das Ergebnis der Untersuchung: 2,6 Prozent der so markierten Individuen erwiesen sich als wahre Workaholics, sie schufteten nahezu pausenlos. Weitere 72,6 Prozent waren etwa zur Hälfte des Beobachtungszeitraums beschäftigt, in der anderen Hälfte der Zeit ruhten sie sich aus. Die restlichen knapp 25 Prozent hingegen hockten einfach nur herum, ohne einer irgendwie zielgerichteten Tätigkeit nachzugehen. Eine Erklärung für das bemerkenswerte Verhalten der Ameisen konnten die Forscher bislang noch nicht finden. Weder handelte es sich bei den Müßiggängern um besonders junge, alte oder kranke Tiere noch bestätigte sich die anfängliche Vermutung der Wissenschaftler, dass die Arbeitsscheuen für die Tätigen Nahrung bereithielten. Auch bei ähnlichen früheren Untersuchen von Bienenstöcken, Wespennestern und Termitenhügeln ergab sich, dass bis zur Hälfte der beobachteten Individuen anscheinend ohne besonderen Grund dauerhaft inaktiv blieben.

Aha, werden sich nun viele denken. In der Natur geht es also ähnlich zu wie bei uns Menschen. Einige reißen sich den Hintern auf, während andere einfach nur so herumhängen. Die meisten aber, das muss man ausdrücklich betonen, zumindest ist es offenbar bei fast drei Vierteln der Ameisen so, haben ihre Work-Life-Balance gefunden bzw. machen Dienst nach Vorschrift. Nun ist es natürlich immer etwas heikel, aus Naturbeobachtungen irgendwelche Schlüsse auf die menschliche Gesellschaft zu ziehen. Rechtsphilosophen sprechen hier vom „naturalistischen Fehlschluss“ vom Sein auf das Sollen oder gleich vom drohenden Sozialdarwinismus. Und doch sind einige Parallelen einfach zu offensichtlich, um ihren Erkenntniswert ignorieren zu können.

Zunächst einmal sind über 70 Prozent Arbeitende in einer Population schon eine ganze Menge. So ist gegenwärtig in Deutschland nur gut die Hälfte der menschlichen Bevölkerung berufstätig (wobei aber noch zusätzlich die unbezahlte Haus- und Familienarbeit berücksichtigt werden muss), in früheren Zeiten waren es jedoch auch schon mal deutlich mehr, zuletzt beispielsweise in der DDR. In anderen Teilen der Welt liegt der Anteil der Arbeitenden an der Gesamtbevölkerung mitunter ebenfalls signifikant höher – mancherorts (v.a. in wirtschaftlich weniger entwickelten Regionen) aber auch viel niedriger. Könnte sich aus dem beobachteten Beschäftigungsgrad der staatenbildenden Insekten also vielleicht eine Art diesbezüglicher staatsorganisatorischer Optimalzustand ableiten lassen, nicht in ethisch-moralischer oder gar gerechtigkeitstechnischer Hinsicht, versteht sich, sondern unter rein ökonomischen Gesichtspunkten wie Effektivität oder Effizienz? Schließlich haben sich die Insektenstaaten evolutionär bewährt, andernfalls gäbe es sie heute ja gar nicht mehr, während in menschlichen Gesellschaften immerhin auch zivilisatorische, eben humane Faktoren eine Rolle spielen, die sich – glücklicherweise – nicht nur am Erfolg, d.h. an der bloßen Bestandssicherung ausrichten, sondern auch an sozialen Motiven. Demnach sollte in den – allein der natürlichen Selektion unterworfenen – Insektenstaaten eine Beschäftigungsquote nahe am evolutionären Optimum bestehen, was eigentlich eine nur geringe Zahl an Müßiggängern erwarten ließe, denn es wäre doch eine immense Ressourcenverschwendung, auf die Arbeitskraft so vieler Individuen zu verzichten. Doch warum liegt dann der Anteil der Untätigen hier zwischen einem Viertel und der Hälfte der Population? Womöglich tendiert ja in staatlichen Gebilden aller Art stets ein relevanter Teil an widerspenstigen Individualisten dazu, sich nicht vollständig in alle Abläufe einbinden zu lassen. Ihr evolutionärer Nutzen könnte darin bestehen, sich in Umbruchzeiten als von allem Althergebrachten unbelastete kreative Erneuerer anzubieten, die eigentlich immer schon irgendwie dagegen gewesen sind. Und vielleicht ist es für eine komplexe Arbeitsgesellschaft tatsächlich effektiver, diese Unangepassten einfach links liegen zu lassen, statt sie mit großem Aufwand zur Mitarbeit zu zwingen. Möglicherweise ist ja aus solchen populationsstrukturellen Gründen gerade eine Beschäftigungsquote von 50 bis 75 Prozent das besagte Optimum für eine Gesellschaft, damit sie langfristig überlebensfähig ist. Und wenn dann noch zwei bis drei Prozent Highpotentials hinzukommen, die pausenlos arbeiten und niemals müde werden, dann kann eigentlich nicht mehr viel schiefgehen…

www.justament.de, 23.9.2013: Zum Tod von Otto Sander und Marcel Reich-Ranicki

Thomas Claer empfiehlt – Spezial –

Das Leben ist immer auch eine Verkettung verpasster Gelegenheiten. Aber endgültig verpasst sind sie erst dann, wenn die Person, um die es sich handelt, oder man selbst unter der Erde liegt.

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Otto Sander (Foto: Wikipedia)

Bis vor einigen Jahren saß der große Schauspieler Otto Sander bei schönem Wetter oft vor dem Bistro unter den Lexxion-Verlagsräumen in der Güntzelstraße in Berlin-Wilmersdorf. Er wohnt hier gleich um die Ecke, erzählte man sich. Damals kam ich zeitweise täglich in den Verlag und sah ihn dort häufig sitzen, immer mit einem Glas Rotwein und brennender Zigarette. Manchmal klingelte sein Handy, und dann sprach er mit seiner unverkennbaren tiefen olympischen Stimme ein “Ja, hallo?” ins Gerät, so wie man es gerade noch bei einem seiner Auftritte in einer Fernsehkrimi-Reihe gehört zu haben glaubte. Seine Stimme hatte in den letzten beiden Jahrzehnten eine Art Solo-Karriere gemacht. Nachdem er auf ganz und gar großartige Weise einige Hörbücher eingelesen hatte, konnte er sich vor Anfragen gar nicht mehr retten,  sprach in historischen Fernsehsehsendungen ebenso wie auf Audio-Guides zu Sonderausstellungen in Berliner Museen. Allein durch die einzigartige Aura seiner Stimme verlieh er den Dingen, die er da vorlas, ein Gewicht, das sie sonst vielleicht gar nicht gehabt hätten.

Er saß dort also damals öfter, als ich in den Verlag ging, und einmal bin ich sogar mit ihm zusammen in der U-Bahn gefahren. (Die U-Bahn-Station Güntzelstraße kommt ja auch im Film “Der Himmel über Berlin” vor, in dem Otto Sander eine der Hauptrollen spielt.) Immer, wenn ich ihn sah, dachte ich mir, ich könnte ihn doch einmal darum bitten, mir meine von ihm eingelesene Montaigne-CD zu signieren. Aber dazu ist es nie gekommen. Da hätte man zumindest die CD und einen Stift immer dabei haben müssen. Einen Prominenten einfach nur blöd anquatschen will man ja auch nicht. Aber das schöne blaue, von keinem Kratzer verunstaltete Papp-CD-Cover ständig mit sich herumtragen für den Fall, dass einem Otto Sander mal wieder begegnet, das war auch keine Lösung. Denn das Cover hätte ja dabei Schaden nehmen können. Und so ist meine Montaigne-CD bis heute unsigniert geblieben – und wird es auch für alle Zeiten bleiben.

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Marcel Reich-Ranicki (Foto: Wikipedia)

Zufälligerweise hat in besagter Güntzelstraße in Berlin-Wilmersdorf aber auch ein anderer berühmter Mann seine Kindheit verbracht, der nur wenige Tage nach Otto Sander gestorben ist. Es ist ja wirklich ein sonderbares Gesetz der Serie, dass auf einen verstorbenen Prominenten kurz darauf noch mindestens ein weiterer folgt. So war es zumindest in den letzten Jahren, wenn ich da nicht einer optischen Täuschung unterliege. Nun kann man gegen Marcel Reich-Ranicki sicherlich eine Menge einwenden, ihn selbst als rachsüchtigen Machtmenschen und sein “Literarisches Quartett” als oberflächliches Spektakel ansehen. Doch weiß ich wirklich nicht, ob ich ohne seine theatralische Aufbereitung der Klassiker der Weltliteratur überhaupt jemals zu einem Roman gegriffen hätte. Es war Anfang der 90er Jahre gewissermaßen mein postpubertärer Teenagertraum, einmal selbst mit einem eigenhändig verfassten Buch in dieser scharfzüngigen Fernsehrunde besprochen zu werden. Genüsslich malte ich mir aus, wie Reich-Ranicki mit grimmigem Gesicht, lispelnd und zischend und mit dramatisch rollendem R meinen Namen skandierte, um dann erst einmal Frau Löffler, die sich ohnehin ständig irrte, und Hellmuth Karasek nach ihrer Meinung zu befragen, bevor er schließlich selbst sein unumstößliches Urteil fällte.

Ursprünglich zog ich es sogar in Erwägung, wie Thomas Mann bereits im Alter von 25 Jahren ein ganz großes Meisterwerk vorzulegen, doch je näher mein 25. Geburtstag rückte, desto bewusster wurde mir, dass es eng werden würde, denn ich hatte noch nicht einmal damit angefangen. Als ich dann schon deutlich über 25 war und noch immer kein einziges Buch zustande gebracht hatte, sorgte ein Eklat zwischen Ranicki und Frau Löffler für das Ende des “Literarischen Quartetts”, von dem ich nie auch nur eine einzige Folge versäumt hatte. Der Traum, im “Quartett” besprochen zu werden, war damit ausgeträumt. Doch es gab ja noch die ganz kleine Hoffnung, eines Tages, wenn der erste Roman abgeschlossen sein würde, diesen an den greisen Reich-Ranicki zu schicken, auf dass er sich seiner erbarme und anfange ihn zu lesen – und damit, weil es so interessant wäre, gar nicht mehr aufhören könne. Auch diese letzte verbliebene Hoffnung ist nun also geplatzt. Doch sollte ich irgendwann doch noch einen Roman verfassen, werde ich ständig daran denken, was ER wohl dazu sagen würde.

Justament April 2010: Die bewegten Nullerjahre

Rückblick auf ein sonderbares Jahrzehnt

Thomas Claer

05 TITEL 10 Jahre TC Rückblick Schneeballschlacht

Damals noch ohne Flashmob: Die “Schneeballschlacht” von Fritz Freund (1859-1936), deutscher Maler und studierter Jurist.

Die Welt hat sich, so Altkanzler Helmut Schmidt in einem seiner zahlreichen Interviews, in den letzten zwei Jahrzehnten stärker verändert als in den 80 Jahren zuvor. Und besonders rasant verlief, wer wollte da widersprechen, die just abgelaufene Dekade, die so genannten Nullerjahre. Zunächst einmal sorgte die sich vor unseren Augen vollziehende IT-Revolution für eine neue tiefe Kluft zwischen den Generationen.

Generationen driften auseinander
Denn wie schon vielfach beschrieben wurde, stehen sich heute zwei relativ klar trennbare Teilpopulationen weitgehend verständnislos gegenüber: die Digital Natives und die Digital Immigrants. Die ersteren, die bereits mit dem ganzen Kram des digitalen Zeitalters aufgewachsen sind, also die Jahrgänge ab 1980, können Informationen schneller empfangen und verarbeiten, arbeiten bevorzugt im Multitasking, fühlen sich unwohl, wenn sie nicht vernetzt sind, und brauchen ständig sofortige und häufige Belohnungen, sonst ist ihre Aufmerksamkeit gleich wieder perdu. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass sie aufgrund ihrer fundamental anderen Denkmuster auch andersartige Hirnstrukturen ausgebildet haben als frühere Jahrgänge. Die  Digital Immigrants hingegen, welche die digitalen Techniken erst in fortgeschrittenem Alter erlernt haben, die Geburtenjahrgänge vor 1970 also, erkennt man daran, dass sie sich E-Mails gerne ausdrucken und am liebsten immer eins nach dem anderen machen, allerdings zumeist auch weniger vergesslich sind als die Jüngeren. Bestenfalls eine Vermittlerrolle können in diesem Szenario die Übergangsjahrgänge der zwischen 1970 und 1980 Geborenen einnehmen. Sie sollte man zur besseren Verständigung zwischen den Generationen heranziehen, wenn es in einigen Jahren nach Eintritt der Digital Natives in die Führungsebenen zum prognostizierten radikalen Umdenken in Unternehmensführungen kommt und die Älteren dann endgültig nicht mehr mitkommen. Eine vergleichbar tiefe Generationenkluft, wie sie zwischen den heute 30- und 40-Jährigen besteht, gab es wohl letztmals zwischen den heute 75- und 65-Jährigen, also der Wiederaufbau- und der Protestgeneration nach dem zweiten Weltkrieg. “Trau keinem über dreißig”, hieß es 1968. Heute sind es wohl eher die unter 30-Jährigen, die allen anderen nicht mehr ganz geheuer sind.

Rasender Stillstand
Gemessen an diesen epochalen Veränderungen tritt seit zehn Jahren aber auch so allerhand auf der Stelle. Kulturjournalisten haben dafür das Wort vom “rasenden Stillstand” geprägt. Bin Laden ist noch immer nicht gefasst, der Kampf gegen den Terror – wie die jüngsten Moskauer Explosionen zeigen – natürlich auch noch lange nicht gewonnen. Auf ein wirksames globales Klimaschutzabkommen warten wir ebenfalls seit Jahren vergeblich. Dank zahlreicher effizienzsteigernder Sozialreformen ist Deutschland vom “kranken Mann Europas” zum ökonomischen Musterschüler aufgestiegen, der inzwischen den Neid und die Missgunst seiner Nachbarn weckt. Doch gerade die stark verbesserte Wettbewerbsfähigkeit erwies sich für die immer exportlastigere deutsche Wirtschaft in der weltweiten Finanz- und Wirtschafskrise 2007-2009 als ein Handicap. Und erinnert sich noch jemand daran, wie vor zehn Jahren ein Finanzminister namens Eichel den völlig überschuldeten deutschen Staatshaushalt sanieren wollte? Heute wären wir froh, wenn wir “nur” die Schuldenlast von damals hätten.

Alles im Umbruch
Allerdings ist auch sehr vieles anders geworden in der letzten Dekade. Wie es sich für einen echten Epochenwechsel gehört, sterben ganze Wirtschaftszweige einen mal mehr, mal weniger qualvollen Tod oder schrumpfen auf Nischenformat. Ob Musikindustrie, Journalismus, Verlags-, Werbe- oder Erotikbranche: Wo früher noch regelmäßig gut bezahlt und verdient wurde, bedient sich heute einfach jeder kostenlos selbst im Netz. Wer da mit Urheberrechten kommt, kämpft letztlich gegen Windmühlen. Was früher qualifizierte Erwerbsarbeit war, wird tendenziell zum luxuriösen Hobby, das auszuüben man sich erst einmal leisten können muss. Die “digitale Boheme” ist vermutlich erst der Anfang.

Alles Retro außer Flashmob
Popkulturell gesehen werden die Nullerjahre wohl als das erste Jahrzehnt seit langem in die Annalen eingehen, das keine neue charakteristische Stilrichtung hervorgebracht hat. Und Besserung ist nicht in Sicht. Alles ist und bleibt Retro. Was an Formen der populären Musik oder auch in anderen Kunstrichtungen zu erfinden war, wurde bis zum Jahr 2000 erfunden. Seitdem erfreuen wir uns am ewig Altbekannten im immer neuen Gewand. Die Innovationen von heute kommen vielmehr aus der schönen neuen digitalen Welt. Das Twittern zum Beispiel ist eine neue Kulturtechnik, die in einer global vernetzten Welt auch viel subversives Potenzial entfalten kann. Die vielleicht einzig wahre Pop-Revolution des vergangenen Jahrzehnts ist aber der Flashmob. Wenn sich etwa in Berlin Hunderte junge Menschen spontan über Facebook zur Schneeballschlacht des Teams “Kreuzberg” gegen das Team “Neukölln” im Görlitzer Park verabreden und nach kurzer Zeit ebenso plötzlich wieder verschwunden sind, dann hat das einfach Klasse. Übrigens hat Kreuzberg gewonnen. Wie sagte der Poptheoretiker Diedrich Diederichsen: “Die Jugend hat immer recht.”

www.justament.de, 4.1.2010: Billard der Geschlechter

Recht dramatisch, Teil 1: Ibsens “Hedda Gabler” im Neuen Schauspielhaus in Bremen

Thomas Claer

Hedda Gabler, allseits beliebtes und begehrtes Partygirl aus gutem Hause, ehelicht nach Jahren des unbeschwerten Genusses (“Ich habe mich müde getanzt.”) den ambitionierten Staatsstipendiaten der Kulturgeschichte Jörgen Tesman, dem eine Professur winkt. Doch schon nach kurzer Zeit langweilt sie sich mit ihrem fleißigen und gutherzigen, aber farblosen Gatten. Ein sehr modernes Nebenwerk des Dramatikers Henrik Ibsen (1828-1906) gibt es im Bremer Schauspielhaus in der Inszenierung von Sebastian Schug zu entdecken: Mit großer Zielstrebigkeit verfolgen die Protagonisten des Stücks – drei weibliche und drei männliche Figuren, das von Ibsen eigentlich noch vorgesehene Dienstmädchen wurde eingespart – ihren jeweils spezifischen Willen zur Macht und spielen dabei auch munter über die Bande. Den Männern geht es dabei letztlich immer nur um das eine: die Gunst der schönen Hedda. Die Frauen hingegen streben vorrangig nach dem Mann, der ihnen gerade den höchsten sozialen Status verspricht. Und weil die Männer das merken, basteln sie eifrig an ihrer Karriere. Pikant wird die Konstellation dadurch, dass fast alle Beteiligten jeweils schon vormals “etwas miteinander gehabt” haben.
Das Unglück nimmt seinen Lauf, als bekannt wird, dass Ejlert Lövborg, ein Hallodri und Trinker, dabei Heddas früherer Geliebter und Jörgens früherer Kumpel, wieder in der Stadt ist. Er hat unter dem Einfluss von Thea Elvstedt, der einstigen Geliebten von Jörgen, die – für damalige Verhältnisse ein unerhörter Schritt – Kinder und Ehemann verlassen hat, um mit ihm, Ejlert Lövborg, zusammenzuleben, ein herausragendes wissenschaftliches Werk verfasst, durch das er zum aussichtsreichen Konkurrenten von Jörgen für die ausgeschriebene Professur wird. Daraufhin entdeckt Hedda ihre alte Liebe zu Ejlert aufs Neue (vielleicht auch, um ihrer alten Freundin Thea eins auszuwischen) und ist drauf und dran, sich von ihrem Ehemann ab- und Ejlert zuwenden. Dieser jedoch, der seine Lebensabschnittsgefährtin Thea mit den entwaffnend ehrlichen Worten “Ich brauche dich nicht mehr!” in die Wüste schickt, manövriert sich durch einige Ausraster im trunkenen Zustand auf der Privatparty des Richters Assessor Brack, der seinerseits um die Zuwendung der schönen Hedda buhlt und sie später sogar zu diesem Zweck erpresst, ins gesellschaftliche Abseits. Darauf verliert Hedda nicht nur blitzschnell wieder das Interersse an Ejlert, sondern verbrennt auch gleich noch sein Buchmanuskript (es gibt keine Kopie), um so die Professur ihres Mannes Jörgen vollends abzusichern. Am Ende geben sich zuerst Ejlert und dann auch Hedda die Kugel.
Sehr zeitgenössisch wirkt dieser faszinierende Plot in der Bremer Aufführung, die sich auf  einige optische und verbale Anpassungen ans Hier und Jetzt beschränkt. Mehr ist auch gar nicht nötig, um das erstmals vor 128 Jahren aufgeführte Drama in unsere Gegenwart  zu überführen. Die Akteure spielen durchweg exzellent. Der musikalische Rahmen mit dem leitmotivischen Popsong “Bang Bang” von Nancy Sinatra – besonders gelungen: am Klavier vorgetragen von Hedda-Darstellerin Franziska Schubert – rundet das Schauspiel ganz vortrefflich ab.
Und doch denkt man sich, die Geschichte ließe sich in ihrer Radikalität noch steigern. Stückeschreiber und Regisseure aufgepasst: Ein “Hedda Gabler reloaded 2010” könnte wie folgt aussehen: Die Protagonisten sind allesamt bisexuell und begehren einander zusätzlich noch von Frau zu Frau und von Mann zu Mann. Auch die Damen sind ihrerseits im Karrierewettstreit mit von der Partie und verschaffen sich so einen Wettbewerbsvorteil durch strategische Diversifizierung. Doch lassen sich die Akteure nicht so leicht entmutigen und die Pistolen folglich aus dem Spiel. Wenn schon, dann werfen sie sich vor einen Zug.

Hedda Gabler
von Henrik Ibsen, Deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel
Regie: Sebastian Schug, Bühne: Christian Kiel, Kostüme: Geraldine Arnold, Musik: Johannes Winde, Dramaturgie: Diana Insel.
Mit: Sven Fricke, Franziska Schubert, Gabriele Möller-Lukasz, Susanne Schrader, Guido Gallmann, Glenn Goltz.