Justament Juni 2003: Mehr Reformen!
Die Neuerungen in der Juristenausbildung sind begrüßenswert, aber keineswegs ausreichend. Um eine radikale Strukturreform, die mit der preußischen Tradition des Einheitsjuristen bricht und sich stärker an den Systemen anderer Länder orientiert, werden wir wohl nicht herumkommen.
Thomas Claer
Es ist schon ein Kreuz mit der deutschen Juristenausbildung. Jahr für Jahr durchlaufen hierzulande Tausende hoffnungsvolle junge Menschen ein äußerst strapaziöses und zeitaufwendiges Ausbildungssystem, in dem sie in erster Linie für einen Beruf geschult werden, den 93 Prozent von ihnen niemals ausüben werden: das Richteramt. Der Umfang und die Komplexität des Prüfungsstoffs sind in den vergangenen Jahren exponentiell gewachsen, was zwar grundsätzlich für fast alle Wissenschaftsbereiche gilt, jedoch den angehenden Juristen deutlich härter trifft, da er in den Staatsexamina das gesamte Wissen auf einen Schlag parat haben muss. Zudem weist der (Massen-) Studiengang Rechtswissenschaft an den Universitäten die schlechteste Betreuungsrelation auf. Nur wenige Mutige trauen sich daher ins erste Staatsexamen, ohne zuvor ein teures privates Repetitorium besucht zu haben (und beim zweiten Examen ist es später auch nicht viel anders). Teuer kommen die jungen Juristen aber auch den Staat, der sie auf der zweiten Ausbildungsstufe, dem Referendariat, zwei Jahre lang für insgesamt stolze 500 Millionen Euro p.a. aushält, um sie – wie es Tradition ist – zu Generalisten zu formen, die dann – was in dieser Dramatik relativ neu ist – den Arbeitsmarkt überschwemmen.
Das zweite Staatsexamen verleiht die einheitliche Befähigung für alle juristischen Berufe: “Ein guter Jurist muss alles können.” hieß es früher. Heute beweisen das zahlreiche “Halbtags-Rechtsanwälte” (wobei diese Bezeichnung noch ein Euphemismus ist) beim Taxifahren, der Schüler-Nachhilfe oder an der Aldi-Kasse. Als entscheidendes strukturelles Problem erweist sich, dass der Alleskönner-Jurist in den rechtlichen Berufen, die sich immer mehr auseinander entwickeln, nicht mehr so recht gefragt ist. Vielmehr werden Spezialisten benötigt. Wer Wirtschaftsrecht an der Fachhochschule studiert, ist in der Hälfte der Zeit “fit for business”, die ein Volljurist für seine Ausbildung benötigt – und hat auf dem Arbeitsmarkt bessere Karten als 80 Prozent der staatsexaminierten Juristen.
Man fragt sich, welche Verschwendung die schlimmere ist, die der Staatsgelder für die Vermittlung von auf dem Arbeitsmarkt zu wenig nachgefragten Fähigkeiten an einen viel zu großen Personenkreis im Referendariat oder die gigantische persönliche Fehlinvestition von Zeit und Mühe eines erheblichen Anteils der jungen Juristen. Dabei sind noch gar nicht diejenigen berücksichtigt, die unterwegs auf der Strecke geblieben sind. Bundesweit fallen durchschnittlich fast dreißig Prozent durch die Prüfungen zum ersten Staatsexamen – nach mindestens vierjährigem Studium. Einigen von ihnen gelingt immerhin noch die Korrektur im Wiederholungsversuch.
Selbst die “High Potentials”, die derzeit ca. 14 Prozent der Absolventen, welche ein Prädikatsexamen erreichen, was praktisch den Eintritt in die Spitzenjobs und -gehaltsebenen garantiert, klagen über Wettbewerbsnachteile gegenüber ihren Berufskollegen im Ausland: Die deutschen Juristen sind beim Einstieg ins Berufsleben meist schon Ende Zwanzig, was im internationalen Vergleich relativ alt ist. Daran ist allerdings auch die ca. einjährige Wartezeit auf eine freie Referendarstelle nicht ganz unschuldig. Nur zu erahnen sind schließlich die psychischen Deformationen, welche die permanente Angst- und Konkurrenzsituation in den Köpfen der heutigen jungen Juristen hinterlässt.
Endlich eine Reform
Natürlich haben sich diese Missstände herumgesprochen und am 1. Juli ist es auch schon soweit: Eine Reform der Juristenausbildung tritt in Kraft und sieht u.a. vor, dass in Studium und Referendariat die Anwaltsorientierung stärker als bisher zu berücksichtigen ist. Die Rechtsanwaltsstation soll nun 9 statt 4 Monate dauern und die Universität – was wirklich revolutionär ist – Rhetorik und Kommunikationsfähigkeit vermitteln. Das Gewicht der Wahlfächer, die künftig an den Universitäten zu prüfen sind, steigt im ersten Examen von 10 auf 30 Prozent. Und auch aus eigenem Antrieb heraus hat sich an den Universitäten in den letzten Jahren schon manches gebessert. Vielerorts machen dort etwa didaktisch aufgerüstete Examens vorbereitende Wiederholungskurse den kommerziellen Repetitorien Konkurrenz.
Wer seine Examina vor ein paar Jahren abgelegt hat, kann fast neidisch werden auf die jungen Kollegen, die in den Genuss dieser Neuerungen kommen. Doch angesichts der Dramatik der eingangs geschilderten Probleme sind die Veränderungen kaum mehr als ein oberflächliches Herumdoktern an den Symptomen und eben nicht die eigentlich angezeigte “Wurzelbehandlung”.
Die Wurzeln in Preußen
Wo die Wurzeln des deutschen Juristenausbildungssystems liegen, dürfte niemanden, der durch dieses hindurchgegangen ist, überraschen. Im Jahre 1781 bestimmte das von Friedrich dem Großen, dem “alten Fritz”, verordnete “Corpus Iuris Fridericianum” erstmals gesetzlich und einheitlich die preußische Juristenausbildung. 1793 erfuhr das “Corpus” eine Überarbeitung und wurde als “Allgemeine Gerichtsordnung” verkündet. Die Justiz wurde in Preußen fortan zur unangefochtenen – wie es damals hieß – “Pflanzschule” (Der Nazi-Lehrer in der “Feuerzangenbowle” lässt grüßen!) des gesamten Juristenstandes.
Das Gesetzbuch enthielt Anweisungen, nach welchen die sich der Justiz widmenden Kandidaten durch “scharfe Examina” geprüft und mehrere Jahre als Referendare in den Gerichten angeleitet und ihre “Denkungsart und Conduite” genau erforscht werden sollten. Die Anforderungen an das dem Referendariat vorangehende Universitätsstudium beschränkten sich auf ein Zeugnis über “Fleiß und Wohlverhalten” des abgehenden Studenten. Das Studium endete – wie es noch heute ist – nicht mit einer Universitätsprüfung, sondern einer Justizeingangsprüfung, dem ersten von damals noch drei Staatsexamen. Bis zur erfolgreich absolvierten zweiten Staatsprüfung war der junge angehende Jurist für ein Jahr lediglich ein Akten lesender und hospitierender “Auskultator”, fortan erst – und für weitere drei Jahre – ein aktiv in die juristischen Tätigkeiten eingebundener Referendar. Die dritte “Große Staatsprüfung” erfolgte dann beim Chef der Justiz in Berlin. Der anschließende Lebensweg der Juristen richtete sich dann hauptsächlich nach der letzten Examensnote: Den Spitzenkräften stand der Weg in die exzellent besoldete Verwaltung offen, die zweite Reihe ging zur Justiz, die weniger Erfolgreichen wurden Justizkommissare (staatlich angestellte Advokaten) und die Erfolglosen wurden als Sekretäre, Archivare und im unteren Dienst untergebracht.
Auf diese Weise gelang es in Preußen, eine moderne, flächendeckende und effektive Verwaltung und einen ebensolchen Justizapparat zu errichten. Die Beamten wurden nicht mehr – wie es anderswo noch lange üblich war – (nur) nach Standesprivilegien bestimmt, sondern nach bürokratischem Fachwissen und unbedingter Loyalität zur Obrigkeit. Während der gesamten vier Ausbildungsjahre beim Staate wurden die jungen (damals nur) Männer daraufhin genauestens beurteilt, ohne dass ihnen jemals Einblick in ihre immer dicker werdende Personalakte gewährt wurde. (Dieses Recht erkämpften sich die Referendare dann im 19. Jahrhundert.) Voraussetzung für die Aufnahme in die staatliche Juristenschulung war allerdings ein vom Bewerber zu erbringender “Subsistenznachweis”, der belegen konnte, dass genügend Vermögen vorhanden war, um sich während der langen Ausbildung selbst ernähren zu können. (Die staatliche Bezuschussung der Referendare wurde erst in den 1950er Jahren eingeführt.) Der soziale Status der preußischen Juristen war immerhin so hoch, dass selbst Bismarck ein Leben lang Komplexe gegenüber seinen juristischen Mitarbeitern gehabt haben soll, da er selbst 1839 nach nur wenigen Monaten sein Referendariat abgebrochen hatte …
In den folgenden Epochen bewies das preußische Juristenausbildungssystem eine sagenhafte Resistenz gegenüber sämtlichen politischen Veränderungen, überstand 1848er Revolution, Restaurationsphasen und Staatskrisen nahezu unbeschadet und avancierte schon vor der Reichsgründung 1871 zum Exportschlager in andere deutsche Länder. Das Gerichtsverfassungsgesetz des Reiches von 1877 schrieb dann das preußische Modell für ganz Deutschland fest, allerdings mit der Einschränkung, dass fortan eine zweiphasige Ausbildung (Universität und auf drei Jahre verkürztes Referendariat) die bislang dreiphasige ersetzte. Der Rest ist bekannt: Weder in Nazizeit noch 50 Jahren Grundgesetz wurde am Erfolgsmodell gerüttelt, nur wurde es jeweils moderat den politischen Verhältnissen angepasst. Die Diplom-Juristen-Ausbildung der ehemaligen DDR wurde nach dem Untergang letzterer auf dem Schrottplatz der Geschichte als Sondermüll entsorgt.
Wie ist es woanders?
Dabei ist das deutsche System im Vergleich zu den anderen großen westlichen Industrieländern (zu denen Deutschland ja trotz aller desaströsen Tendenzen immer noch gehört) ziemlich einzigartig.
In Frankreich absolvieren die Jurastudenten schon nach dem zweiten Studienjahr Prüfungen, die den Zugang zum weiteren Studium ermöglichen oder nicht. Nach erneuten Zwischenprüfungen ein Jahr später erfolgt im vierten Studienjahr eine fachliche Spezialisierung, ohne die Fächer weiterbelegen zu müssen, die zuvor bereits geprüft worden sind. Auch in der Abschlussprüfung der Universitäten zum “Maitre en Droit” wird nicht das gesamte Studienwissen verlangt. Die zweite Phase der Juristenausbildung wird dann von den jeweiligen Berufsständen angeboten, die nur nach ihrem quantitativen Bedarf ausbilden und über Aufnahmeprüfungen eine Auswahl unter den Bewerbern treffen. Für den Rechtsanwaltsberuf muss man einen zwölfmonatigen Kurs absolvieren (der selbst zu finanzieren ist) und zwei Jahre unter Aufsicht eines Anwalts praktisch tätig sein.
In England erfolgt nach dreijähriger Studienzeit mit jährlichen Prüfungen ohne Zertifikate, ab dem 2. Jahr mit einer Reihe von Wahlmöglichkeiten, die Abschlussprüfung zum Bachelor of Laws, die in den meisten Fällen noch durch weitere Kurse und Prüfungen um die Qualifikation zum “Master of Laws” ergänzt wird. Im Anschluss daran lassen sich die Juristen dann ähnlich wie in Frankreich von den Berufsständen nach deren Bedarf praktisch schulen, etwa als “Solicitor” (einfacher Rechtsberater) von der “Law Society” oder als Barrister” (höherer Rechtsberater) vom “Bar Council”. Es erfolgt keinerlei staatliche Finanzierung der Ausbildung.
In den USA hat der angehende Jurist zunächst nach der High School ein College-Studium zur Komplettierung seiner Allgemeinbildung zu absolvieren. Daran schließt sich ein dreijähriges Studium an einer “Law School” an, die von der “American Bar Association” akkreditiert sein muss. Das Studium ist sehr praxisorientiert. In den Sommerferien arbeiten die Studenten bei Anwaltsfirmen. Nach dem Studium gibt es keinerlei Vorbereitungsdienst, doch wird die Praxiserlaubnis für Rechtsanwälte erst bei Zulassung zur Anwaltsorganisation des jeweiligen Bundesstaates verliehen. Dazu bedarf es weiterer Prüfungen (educational, character and competence requirements) mit recht hohen Anforderungen. Und natürlich ist in den USA alles selbst zu finanzieren.
Was tun?
Schon ein flüchtiger vergleichender Blick lässt erkennen, in welchem Umfang die deutschen -Missstände hausgemacht und systembedingt sind. Aus Wohltat ist Plage geworden. Will es sich Deutschland angesichts einer Rekordverschuldung der öffentlichen Hand weiter leisten, seine Juristen auf Kosten der Allgemeinheit konsequent am Markt vorbei auszubilden und dabei die Akteure durch sinnlose Paukerei und einen absurden Selektionsdruck während der Ausbildung zu verschleißen?
Warum also nicht ein Studium der Rechte, das – wie in anderen Fächern auch – im Grundstudium Allgemeines behandelt und im Hauptstudium bereits eine Spezialisierung ermöglicht, in welcher dann auch die Abschlussarbeit verfasst wird? Das Staatsexamen bliebe dann denen vorbehalten, die wirklich auf eine Stelle im Staatsdienst spekulieren. Bestehen würden es exakt so viele, wie dort freie Stellen zu erwarten sind. Auch die Rechtsanwaltskammern könnten dann so viele junge Juristen zu Anwälten ausbilden, wie sie es nach der Marktlage für opportun hielten, d.h. derzeit wahrscheinlich nur sehr wenige. Und die anderen Absolventen? Sie hätten durch Spezialisierungen bereits im Studium ein eigenes Profil erworben und könnten sich anderen Branchen andienen.
Natürlich kann eine Ausbildungsreform nur begrenzt zur Lösung der Probleme auf dem Arbeitsmarkt beitragen. Vielleicht verschieben sich die Probleme nur. Und doch würde der Abschied vom alten Zopf des staatlichen Juristenmonopols, diesem mittlerweile versteinerten System von anno dunnemals, einer unverantwortlichen Verschwendung von Kapazitäten ein Ende machen und einem rauen Arbeitsmarkt im Zweifel jüngere und unverbrauchtere Absolventen zuführen. Die Zeit ist reif.