Category Archives: Über Musik

justament.de, 6.5.2024: Hart wie Mozart – gewesen

Scheiben Spezial: Zum Tod des Musikers, Krawall-Poeten und Erotomanen Kiev Stingl (1943-2024)

Thomas Claer

Als Musiker war er mindestens so talentiert wie seine Kollegen aus der ersten Generation der deutschsprachigen Rockmusik – damals in den Siebzigern. Und als Textdichter spielte er ohnehin in einer ganz anderen Liga: Kiev Stingl, bürgerlich Gerd Stingl, der sich – inspiriert von einem seiner frühen Theaterstücke, in dem alle Figuren die Namen von Städten trugen – nach der Hauptstadt der damals noch sowjetischen Ukraine benannte. Dass nach allerhand Skandalen, etwa einer während eines Rundfunkinterviews wütend von ihm gegen die Studiowand geworfenen Bierflasche, seine Lieder nicht mehr im Radio gespielt wurden, fand er völlig in Ordnung. Denn er, der sich sein Leben lang als stolzer Solitär sah, der sich mit niemandem aus seiner pöbelhaften Umgebung und am wenigsten mit seinem Publikum gemein machen wollte, legte stets Wert darauf, sich nie selbst um die Veröffentlichung seiner künstlerischen Werke bemüht zu haben. Entdeckt und gefördert wurde er von anderen, die ihn bewunderten: zuerst von Achim Reichel, auf dessen Ahorn-Label Stingls erste drei Platten “Teuflisch” (1975), “Hart wie Mozart” (1979) und “Ich wünsch den Deutschen alles Gute” (1981) erschienen; später vom Yello-Musiker Dieter Meier, der sein viertes und letztes Album “Grausam das Gold und jubelnd die Pest” (1989) produzierte, auf dem Mitglieder der Einstürzenden Neubauten mitwirkten. Neben einigen Gedichtbänden sind von ihm dann nur noch ein paar neu abgemischte frühe Musikstücke aus seiner Jugend erschienen (“X R I NUIT”, 2022).

Sein einziger Ehrgeiz, so bekannte Kiev Stingl einmal, sei es gewesen, seinen Lyriker-Kollegen Wolf Wondratschek (“Früher begann der Tag mit einer Schusswunde”) in der Auflage zu übertreffen. Doch nicht einmal das ist ihm gelungen. Außer einer kleinen verschworenen, durchaus auch prominenten Fan-Gemeinde (“Kiev Stingl war ein Gott für uns”, so der Rammstein-Keyboarder Flake), hat wohl kein größeres Publikum jemals Notiz von ihm genommen. Was für Kiev Stingl jedoch nie ein Malheur war, wie er in seinem letzten Interview auf laut.de verriet: “weil ich von Anfang an frei bleiben wollte und schon früh gemerkt hatte, wie andere in den Schlamassel dieses Vermarktens und Verbratens geraten. (…) Geltung bekam ich in kleineren Kreisen. Es gab ja früher nicht nur negative Kritik, sondern von intelligenterer Seite durchaus euphorische Kommentare” (siehe oben).

Da lag es natürlich nahe, ihn als “Underground-Poeten” zu klassifizieren, was Kiev Stingl dann aber auch wieder nicht recht war. Das Einzige, was ihm am Begriff “Underground” gefalle, sei der Kontext zur Band Velvet Underground, die er inbrünstig verehrte und der er erkennbar musikalisch nacheiferte – bis hin zum sehr an Lou Reed erinnernden Gesangsstil. “Ich war mir immer sicher, dass meine Sachen außergewöhnlich und einzigartig sind”, so Stingl weiter in besagtem Interview. Und: “In bestimmten Momenten des Schmerzes, der Wollust und ähnlichen exzessiven Gefühlszuständen fing ich an Lieder zu machen. Also ohne große Planung, das strömte so aus mir heraus.”

Zentrales Thema und zugleich Motiv seiner Textdichtung war vor allem die Erotik. “Möglicherweise trieben mich die Frauen ins Künstlertum… insofern, als sie meine Lust an geregelter Arbeit völlig zunichte machten.” Wobei sich sein ausgeprägter Hang zur Obszönität immer wieder Bahn brach: “Oh, du mit deinen lila Lippen / Du mit deinen Milchkuhtitten / Es riecht nach Blut / Alles was sie tut / Teuflisch, du bist so teuflisch!” (1975). Auch über sein lyrisches Werk lässt sich nämliches sagen: “Die Nacht fickt das Licht / Blut, Darling, vergiss mein nicht”. Rückblickend konterte Stingl die gegen ihn häufig vorgebrachten Sexismus-Vorwürfe mit den Worten: “Ich bin ja auch jemand, der zurückschlägt und die Wunden, die mir Frauen geschlagen haben, nicht vergisst. Wenn ich mir diese Lieder gestattet habe, heißt das, ich habe die Dinge nicht runtergeschluckt. Denn es ist ein großer Irrtum von Naiven, zu glauben, Frauen seien harmlose Wesen, die man nicht angehen dürfe. Das ist ein Trugschluss der neueren Zeit.”

Am 24.2.2024 ist das verkannte Genie Kiev Stingl gleichsam von seiner kleinen exklusiven Bühne endgültig abgetreten.

justament.de, 25.3.2024: Sexiest Oma of Arab Pop

Scheiben Spezial: Natacha Atlas zum Sechzigsten

Thomas Claer

Zuerst war es nur ein Plattencover, das mich magisch angezogen hat. Damals in den Neunzigern, während meiner Studienzeit in Bielefeld. Es stand wohl für längere Zeit in der Kiste mit den Neuerscheinungen nahe dem Eingang meines favorisierten Schallplattenladens “Ween” am Jahnplatz. Immer, wenn ich diesen Laden aufsuchte, und das kam zu jener Zeit nicht selten vor, durchblätterte ich als erstes diese Kiste. Und immer blieb ich dann hängen an einer bunten LP namens “Diaspora” der belgisch-arabischen Sängerin Natacha Atlas, die auf der Coverabbildung im Stil der Königin Cleopatra posierte – in einem ägyptischen Palast, umgeben von allerlei Säulen mit geheimnisvollen Hyroglyphen-Zeichen, in einem langen blauen Gewand auf einem roten Sofa liegend. Als ich dann irgendwann später auch noch im Musikfernsehen (denn mit dem Internet war es seinerzeit noch nicht so weit her) auf ein Video stieß, in dem ebenjene Natacha Atlas zu orientalischen Klängen mit dezenten elektronischen Einsprengseln kunstvoll den Bauchtanz zelebrierte, war es endgültig um mich geschehen. Von nun an machte ich Jagd auf die Tonträger dieser kurvenreichen morgenländischen Schönheit. Ihre ersten vier CDs konnte ich kostengünstig im Second-Hand-Shop in der Jahnplatz-Passage erstehen, womit mein Begehren fürs Erste gestillt war. Die Musik war schon sehr speziell, sehr traditionell arabisch. Und ich beschloss, diese vier Alben in Ehren zu halten, meiner Sammlung aber keine weiteren von dieser Art mehr hinzuzufügen.

Dabei blieb es für lange Zeit, und so verlor ich Natacha Atlas allmählich aus den Augen. Doch dann, mehr als zwei Jahrzehnte später, konnte ich endlich wieder mehr Muße für meine musikalischen Leidenschaften finden – und kam noch einmal auf Natacha Atlas zurück. Eine große Zahl an Veröffentlichungen, so stellte ich fest, hatte sie über die Jahre herausgebracht und sich dabei in ganz unterschiedliche Genres vorgewagt: mehr und mehr weg vom temperamentvollen Ethno-Pop, hin zu meditativ-spirituellen Klängen, zu traditionellen Gesängen und schließlich, in den letzten Jahren, auch zunehmend zum Jazz. Ich fand das ganz großartig und wollte nun alles, aber wirklich alles!, von ihr haben. Und was soll ich sagen? Dank Medimops, Rebuy und Co. bekam ich es sogar noch zum kleinen Preis. Nicht weniger als 15 CDs, einschließlich Remix-, Best of- und Raritäten-Album, habe ich mittlerweile von ihr angehäuft. Und jede von ihnen bereitet mir auf ganz eigene Art Vergnügen. Am Donnerstag letzter Woche ist die verführerischste Stimme des arabischen Folk-Pop nun 60 Jahre jung geworden.

justament.de, 19.2.2024: Reichels Riffs mit 80

Achim Reichel auf “Schön war es doch! Das Abschiedskonzert”

Thomas Claer

Will ein gealterter Rockmusiker nicht irgendwann auf der Bühne tot umfallen, so wie der sprichwörtliche Cowboy, der am Lebensende beim Reiten aus dem Sattel kippt, so muss er den passenden Zeitpunkt für einen würdigen Abgang finden. Achim Reichel, deutscher Rockstar der ersten Stunde und seitdem über sechs Jahrzehnte im Musikgeschäft gut dabei, hat nun seinen 80. Geburtstag zum Anlass genommen, gewissermaßen die Gitarre an den Nagel zu hängen. Allerdings nicht ohne zuvor noch ein letztes Mal auf Tournee zu gehen und seinen Fans eine Doppel-CD mit seinem Abschiedskonzert zu bescheren.

Aber schon wieder eine Live-Platte von ihm? Es gab doch zuvor schon drei, nämlich zum 50., 60. und 70. Geburtstag. Was soll denn da jetzt noch drauf sein, was man nicht schon zur Genüge kennt?! Ein wenig skeptisch hört man also rein in “Schön war es doch! Das Abschiedskonzert”, um dann doch erleichtert festzustellen: So haben wir seine Songs noch nicht gehört – nämlich eingespielt unter Hinzuziehung eines Bläserensembles, das seine Band nicht nur bei bestimmten einzelnen, sondern bei mehr oder weniger allen Liedern unterstützt. Heraus kommt dabei ein weitgehend anderes Gewand seiner bekannten Gassenhauer. Es ist schon ziemlich mutig, Seemannslieder wie “Kuddel Daddel Du” oder “Halla Ballu Balle” mit ausgiebigen Trompeten-Soli auszuschmücken. Selbst “Aloha Heja He, das jüngst zum Überraschungs-Hit in China avancierte, kriegt nun Bläserklänge verpasst. Und man muss schon sagen: Achim Reichel beweist auch noch auf seinen mutmaßlich letzten musikalischen Metern, dass er immer für eine unerwartete Wendung gut ist.

Wenn man angesichts von immerhin 22 Songs auf den beiden Scheiben dennoch sein großes Bedauern darüber ausdrücken muss, dass so viele tolle Lieder von ihm leider wieder ausgespart wurden, dann spricht das zweifellos auch für die hohe Qualität seines Schaffens. Andererseits fragt man sich aber schon, warum es ausgerechnet seine recht mäßige Version des Volkslieds “Der Mond ist aufgegangen” aufs Album geschafft hat. Aber na gut, dafür gibt es diesmal sogar einen ganz neuen Song dazu, dessen Titelzeile zugleich für den Namen des Albums steht – und sicherlich auch ein passendes Fazit für Reichels Rückblick auf seine Musiker-Laufbahn abgibt: “Aber schön war es doch”, im Original ein alter Schlager von Hildegard Knef, wird – unterlegt mit Reichels unverwechselbaren Gitarrenriffs – zum gelungenen Schlusspunkt dieses stimmigen zweifachen Silberlings. Und vermutlich ja auch zum Schlusspunkt seiner Musikerkarriere – aber wer weiß das schon in diesem Business? Womöglich folgt ja 2034 auch noch das fünfte Live-Album zum 90. Geburtstag…

Achim Reichel
Schön war es doch! Das Abschiedskonzert (2CD)
Tangram / BMG 2024
ASIN: B0CPHGPP9C

justament.de, 15.1.2024: Die Liebe kommt nicht aus Berlin

Scheiben Spezial: Die Songs des Jahres 2023

Thomas Claer

So etwas haben wir noch nie gemacht: einen Rückblick auf die besten Songs des abgelaufenen Jahres. Doch damit an dieser Stelle nicht immer nur jahraus, jahrein von unseren altbekannten Lieblingen wie Element of Crime, Tocotronic, Björk oder Udo Lindenberg die Rede ist, gehen wir nun auch einmal neue Wege. Aber hoppla: Udo Lindenberg ist, ob man es glaubt oder nicht, auch bei den Hits des Jahres 2023 mit dabei! Dazu gleich unten mehr…

Die Kollegen von der Musikzeitschrift “Diffus” haben also eine Liste der “Top 10 Songs national” mit den dazugehörigen Musikvideos zusammengestellt. Und wir hören uns da einfach mal durch. Unter den Top 10 des Jahres, da sollte doch bestimmt etwas Gutes dabei sein, denkt man sich – und wird bitter enttäuscht. Eigentlich wollte ich zu jedem der zehn Songs ein paar Sätze verlieren, aber das ginge hier nun wirklich entschieden zu weit. Sagen wir es lieber allgemeiner: Damit ein Lied als gut bezeichnet werden kann, darf es zunächst einmal nicht zu vulgär und auch nicht zu sentimental sein. Dieses Kriterium stellt schon eine ziemlich große Hürde dar, denn die meisten Lieder auf der Welt (und auch in dieser Liste) sind wohl entweder das eine oder das andere. Und noch dazu sollte ein gutes Lied einen gewissen Wiedererkennungswert haben, sollte also originell sein, etwa von einer eingängigen Melodie getragen werden, die aber andererseits auch nicht zu gefällig sein darf, denn das wäre dann schon wieder banal…

Um es kurz zu machen, in diesen Top 10 gibt es manchmal ein paar gute Ansätze. Gleich mehrere Songs transportieren sehr unterstützenswerte inhaltliche Botschaften. In “Baba” von Apsilon geht es um eine Vater-Sohn-Beziehung im migrantischen Kontext. Und dabei wird den bekannten und berüchtigten toxischen Männlichkeitsbildern in der Rap-Szene hier zweifellos etwas Positives entgegengesetzt, was natürlich schon per se lobenswert ist.

In “3 Sekunden” von Celine feat. Paula Hartmann wird die immer wieder viel diskutierte männliche Übergriffigkeit gegenüber Frauen angeprangert. Damit haben die beiden jungen Damen natürlich vollkommen recht. Dennoch nimmt man ihnen ihr “Wir wollen einfach nur von Männern in Ruhe gelassen werden” am Ende doch nicht so ganz ab… In zwei weiteren Songs breitet jeweils ein empfindsamer junger Mann mit großer Ausführlichkeit sein Innerstes aus, wobei der vulgäre Rapsong dabei fast noch erträglicher ist als die kitschtriefende Ballade…

Womit wir bei Udo Lindenberg wären. Der große Meister hat sich doch in seinen alten Tagen tatsächlich noch einmal zu einem Duett mit einem Gangsta-Rapper namens Apache 207 herabgelassen. Das war wohl ein Riesen-Hit im letzten Jahr. Ist aber ein ziemlich schwacher Song. Im begleitenden Video steht der Gangsta-Rapper vor Gericht und wird dort wegen Diebstahls und einiger Straßenverkehrsdelikte zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, die er aber im Hausarrest absitzen darf, egal wo. Und daraufhin nimmt Udo Lindenberg seinen Kumpel kurzerhand mit ins Hotel, in dem er schon seit Jahrzehnten wohnt und sein Geld verprasst, und raucht mit ihm dort auf dem Balkon Zigarren. Nun ja…

Zwei Lieder erinnern ziemlich an die selige Neue Deutsche Welle und werden auch ausdrücklich als “NNDW” kategorisiert. Doch leider fehlt ihnen vollkommen die Frische und das Anarchische der alten NDW. Ein weiterer Song einer jungen Sängerin wird als “Indie” angepriesen, ist aber beim besten Willen nur gähnend langweilig.

Ein letzter Song ist noch übrig: “Die Liebe kommt nicht aus Berlin” von Brutalismus 3000 – eine trashige, schnelle Elektropopnummer, man könnte auch Techno dazu sagen. Dieses Lied ist immerhin ziemlich originell, wenn auch nicht unbedingt überragend. Hat es hierzulande schon jemals einen Hit-Song in (teilweise) slowakischer Sprache gegeben? Es ist wohl das einzige Lied in der Liste, das musikalisch noch halbwegs etwas taugt. Also wenn das die Hits des Jahres sein sollen…

P.S.: Vor einem Jahr habe ich in der entsprechenden Liste für 2022 allerdings ein Lied gefunden, das mir sehr gefallen hat: “Wildberry Lillet” von Nina Chuba. Das ist zwar auch durchaus vulgär, aber dabei angenehm selbstironisch – und so witzig: “Ich will haben, haben, haben!” Warum gibt es nicht mehr Lieder von dieser Sorte?

justament.de, 11.12.2023: Feucht-fröhlicher Radaubruder

Scheiben Spezial: Zum Tod des großen Folkpunk-Pioniers Shane MacGowan

Thomas Claer

Es lag ja damals, Mitte der Achtziger, ja schon seit längerem in der Luft, dass auch einmal so etwas wie Folk-Punk entstehen könnte. Beinahe seit es Rockmusik gab, gab es auch schon folkloristischen Rock. Doch dass es dabei lauter, härter und schräger zur Sache ging, das blieb zunächst die Ausnahme, etwa hierzulande auf Achim Reichels rockigen Seemannslied-Platten “Dat Shanty Alb`m” (1976) und “Klabautermann” (1977). Erst knapp ein Jahrzehnt später vollzog sich dann die längst überfällige Fusion aus anarchischem (Post-)Punk und traditioneller Folklore, als der laute, harte und schräge Folkrock auch noch schnell wurde und von wilden Pogotänzen seiner Fans begleitet wurde. Der Prototyp dieser Richtung war die irische Sauf-Combo “The Pogues” mit ihrem charismatischen Sänger und Songwriter Shane MacGowan (1957-2023). Ihre ersten beiden Platten “Red Roses for me” (1984) und “Rum, Sodomy and the Lash” (1985) galten in der aufgewühlten Londoner Indie-Szene zunächst noch als Geheimtipps. Der kommerzielle Durchbruch gelang ihnen dann erst mit dem ebenso famosen dritten Album “If I Should Fall from Grace with God” (1988). Bemerkenswerterweise finden sich darauf nicht mehr nur Volksweisen und Eigenkompositionen irischer Provenienz, sondern mit “Fiesta” auch ein spanische Folklore adaptierendes Lied und noch dazu sogar ein orientalisch anmutender “Turkish Song of the Damned”. Natürlich war das alles ganz großartig. Man kann wohl sagen, dass es keinen besseren und überzeugenderen Folkpunk in der Welt gibt als auf diesen drei frühen Platten der Pogues.

Doch so ungestüm und unbeschwert konnte es natürlich nicht weitergehen. Mit zunehmendem Ruhm der Band wurden ihre weiteren Platten zusehends schwächer und der Alkoholismus insbesondere ihres Frontmanns Shane MacGowan immer virulenter. Schließlich ging es bei ihm nicht mehr – und ihre letzten beiden Platten “Waiting for Herb” (1993) und Pogue Mahone” (1995) machte die Band dann notgedrungen ohne ihn. Bald darauf fielen die Pogues auseinander. Doch nur, um 2001 mit einem triumphalen Wiedervereinigungskonzert mitsamt dem vorläufig genesenen Shane MacGowan am Mikrophon wieder aufzuerstehen. Fortan tourten sie mit dem grandiosen Repertoire ihrer frühen Jahre munter um die Welt und unterließen es klugerweise, noch weitere Tonträger mit etwaigem neuem Material zu veröffentlichen. Erst 2014 war dann endgültig Schluss, als mehrere Bandmitglieder gesundheitlich nicht mehr zur Fortsetzung ihrer Musikerkarrieren in der Lage waren. Shane MacGowan war dann auch noch einige Jahre lang drogensüchtig, was ausgerechnet seine Nachbarin und Musikerkollegin Sinead O’Connor (1966-2023) publik gemacht hatte, die ihm in einer Art Hassliebe bis zu ihrem Lebensende eng verbunden geblieben ist. Nur wenige Monate nach seiner suizidalen Freundfeindin hat am letzten Novembertag dieses Jahres nun auch Shane MacGowan das Zeitliche gesegnet. Er wurde 65 Jahre alt, was gemessen an seinem Lebensstil als durchaus beachtlich angesehen werden kann.

justament.de, 20.11.2023: Aha, aha, aha

Scheiben vor Gericht Spezial: Vor 40 Jahren hatte die Neue Deutsche Welle ihren Höhepunkt

Thomas Claer

Zu meinen prägendsten kulturellen Kindheitserlebnissen gehörte zweifellos die Rezeption der Neuen Deutschen Welle, die eine grundlegende Neubestimmung aller Hörgewohnheiten in der populären Musik in Deutschland mit sich brachte. Und das längst nicht nur im Geltungsbereich der Freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Auch wir im Osten bekamen übers Westfernsehen und –radio im Wesentlichen alles mit, jedenfalls das von der NDW, was zum Medienhype wurde, was aber, wie ich später erfahren sollte, eigentlich nur die Spitze des Eisbergs war. Tatsächlich war die Neue Deutsche Welle, wie es z.B. in der Dokumentationsreihe zur deutschen Musikgeschichte “Pop 2000” eindrucksvoll herausgearbeitet wurde, ursprünglich ein Underground-Phänomen, als sich Ende der Siebzigerjahre plötzlich in allen Teilen der alten BRD Musikschaffende dazu aufschwangen, anarchische Rock- und Popmusik mit deutschen Texten entstehen zu lassen. Natürlich ist dann alles dort hineingeflossen, was seinerzeit ohnehin schon en vogue war: Das ganze Punk-Ding war noch nicht lange her, da kam auch schon New Wave – und solche Sachen gab es nun plötzlich auch mit deutschen Texten. Auch wenn es stilistisch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen war, was damals alles unter dem NDW-Label firmierte. Die Gemeinsamkeit war der ungestüme Dilettantismus, mit dem die Protagonisten allesamt zu Werke gingen. Und gerade dadurch waren sie so gut. Doch witterten die Puristen dieser Bewegung spätestens ab 1982/83 den großen Ausverkauf ihrer Ideale, als immer mehr NDW-Bands und –Stars in Unterhaltungssendungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens auftraten und so zusehends um die Gunst eines Massenpublikums buhlten.

Für mich als noch nicht einmal Teenager im abgeschotteten Teil Deutschlands hinter der Mauer war aber genau diese NDW-Präsenz im westdeutschen Unterhaltungsfernsehen ein großer Glücksfall, denn wie sonst hätte ich diese aufregend bunten, schrillen und lauten Musikrevolutionäre sonst kennenlernen sollen? Trio mit “Da Da Da”, Nena mit “99 Luftballons”, Peter Schilling mit “Major Tom”, die Spider Murphy Gang mit “Peep Peep”, Geier Sturzflug mit dem Song vom Bruttosozialprodukt, Hubert Kah mit “Sternenhimmel” – sie alle wurden zu meinen Kindheitshelden, weil ich sie in der “Hitparade im ZDF” bei Dieter Thomas Heck gesehen und mit unserem Kassettenrekorder aus dem Westen aufgenommen hatte. Niemand kann sich heute mehr vorstellen, welche Wirkung eine solche Musik beim Stammpublikum dieser Schlagersendung hatte – und natürlich ebenso bei den Zuschauern am Bildschirm, zumal bei uns im Osten. Ich erinnere mich noch genau daran, wie sich mein Vater über das Erscheinungsbild von Trio-Sänger Stephan Remmler aufregte. Wie könne man denn nur so rumlaufen, wenn man ins Fernsehen kommt? In solch einem abgewetzten T-Shirt auf der Bühne stehen und dabei auch noch Kaugummi kauen? Der habe ja wohl überhaupt kein Benehmen! Dabei war mein Vater gerade einmal 13 Jahre älter als der NDW-Star. Aber genau hier verlief der Riss zwischen den Generationen, zwischen der Wiederaufbau-Generation auf der einen und den Achtundsechzigern und Postachtundsechzigern auf der anderen Seite. Für meinen Vater jedenfalls war diese ganze NDW-Musik, wie er sich ausdrückte, “der letzte Husten”. Meine Mutter war da schon aufgeschlossener und erst recht unsere Nachbarin, Frau G. Sie sang sogar begeistert im Treppenhaus “Aha, aha, aha, ich lieb dich nicht, du liebst mich nicht, aha, aha, da, da, da”, während mein Vater darüber nur den Kopf schüttelte…

Ungefähr 1983 erlebte die Neue Deutsche Welle mit zahlreichen Superhits ihren medialen und kommerziellen Höhepunkt. 1984 kamen dann nur noch “Engel 07” von Hubert Kah und “Terra Titanic” von Peter Schilling – dann war aber endgültig die Luft raus. Spätestens 1985 redete niemand mehr von der Neuen Deutschen Welle.

justament.de, 16.10.2023: Er hat das Loch in der Welt geseh’n

Scheiben Spezial: Vor 25 Jahren erschien die zweite Platte von Fink

Thomas Claer

Dass Element of Crime einzigartig sind und es nichts Vergleichbares unter dem deutschen Musikhimmel gibt, weiß mittlerweile wohl jeder, der es wissen will. Doch ist das längst nicht immer so gewesen, denn es gab einmal, ungefähr von Mitte der Neunziger bis Mitte der Nullerjahre, eine Band aus Hamburg, die den Elements nicht nur in vielfacher Hinsicht das Wasser reichen konnte, sondern auch eine beachtliche stilistische Nähe zu ihnen aufwies. Kenner wissen das alles schon lange. Die Rede ist natürlich von Fink, der etwas schrägen Country-Combo des leider viel zu früh verstorbenen Texters, Sängers und Gitarristen Nils Koppruch (1965-2012). Eine Zeit lang waren Fink passenderweise sogar die Vorgruppe von EoC. Und dann spielte auch noch Sven Regener in mehreren Fink-Stücken Trompete.

Angefangen hatte es mit Fink-Veröffentlichungen 1997, als ihr Debütalbum “Vogelbeobachtung im Winter” erschien, das zwar schon durchaus bemerkenswert war, doch hatte die Band darauf ihren Stil noch nicht endgültig gefunden. Dies geschah dann erst ein Jahr später, 1998, vor 25 Jahren, auf dem Album “Loch in der Welt”, das damals, genau wie seine Interpreten, noch ein echter Geheimtipp war. Wunderbar lakonisch kamen diese Songs daher, voll poetischer Tiefe und schwärzester Romantik: “Werft mich in einen Fluss, und wenn ihr Pech habt, hab ich Glück/ Und komm mit einem Fisch im Maul zurück.” Sven Regeners obligatorischer Trompeten-Einsatz ertönt im vierten Stück der Platte mit dem programmatischen Titel “Als einer einmal nicht kam”. Eine wirklich sehr düstere Stimmung durchzieht beinahe das ganze Album: “Wir werden seh’n, ob das Warten sich lohnt/ Und irgendwann… und irgendwann bin ich tot.” Das mit der Frage, ob das Warten sich lohne, textete Nils Koppruch übrigens drei Jahre vor Regener, der es im Song “Es regnet” auf der EoC-Platte “Romantik” wieder aufgreift, allerdings ohne die buchstäblich tödliche Konsequenz seines Kollegen Koppruch.

Ja, das tragisch frühe Ende des so begabten Songwriters Nils Koppruch kam bei Lichte betrachtet keineswegs aus heiterem Himmel. Immer wieder, wohl mindestens einmal auf jeder Fink-Platte, kreisten seine Texte um Sterben und Tod. Und dass es auch auf fast jeder ihrer Platten ausgerechnet 13 Titel sein mussten, hat sich offenbar auch nicht gerade als Glücksbringer erwiesen… Noch zwei weitere zumindest punktuell sehr starke Alben folgten aufs überragende “Loch in der Welt” (1998), nämlich “Mondscheiner” (1999) und das selbstbetitelte rote Album “Fink” (2001). Dann hellte sich, wohl auch bedingt durch den zunehmenden Ruhm und Verkaufserfolge, die Stimmung auf den beiden darauffolgenden Platten zusehends auf, was denen aber nicht unbedingt gutgetan hat. Auch die Band schien mit “Haiku Ambulanz” (2003) und “Bam Bam Bam” (2005) nicht mehr richtig glücklich gewesen zu sein und löste sich schließlich auf. Es folgten noch zweieinhalb Soloalben von Nils Koppruch, und dann… und dann war er tot. Das Urteil für “Loch in der Welt” lautet: gut (14 Punkte).

Fink
Loch in der Welt
XXS Records/Indigo 1998

justament.de, 23.9.2023: Ganz die alte Ewigjunge

PJ Harvey auf “I Inside the Old Year Dying”

Thomas Claer

Welch eine Freude es doch ist, endlich wieder etwas Neues von PJ Harvey zu hören! Einige Jahre lang hat sie sich rar gemacht und, so heißt es, u.a. an ihrem zweiten Gedichtband gearbeitet. Genau genommen, so verrät uns Wikipedia, handelt es sich hierbei um einen Versroman im Dialekt ihrer Heimat Dorset, einer “traditionellen und zeremoniellen Grafschaft” (Wikipedia) im Südwesten Englands, die schon viele bedeutende Schriftsteller hervorgebracht hat. So wie auch die großartige Sängerin und Songwriterin PJ Harvey, deren herausragende letzte Klangwerke “Let England Shake” (2011) und “The Hope Six Demolition Project” (2016) wir noch in allerbester Erinnerung haben. Nun also ist mit “I Inside the Old Year Dying” ihr mittlerweile zehntes Studioalbum erschienen. Zählt man noch die beiden Kooperationen mit John Parish von 1996 und 2009 dazu, was man unbedingt tun sollte, denn John Parish war bei mehreren anderen PJ-Harvey-Platten ja schließlich auch mehr als nur unwesentlich beteiligt, ohne darauf eigens als Co-Hervorbringer zu firmieren, wie übrigens auch diesmal, dann ist die neue Platte bereits ihre zwölfte. Um von weiteren John-Peel-Sessions- und Raritäten-CD gar nicht erst zu reden… Kurzum, die in wenigen Tagen 54-jährige PJ kann auf eine nicht unerhebliche Anzahl an Veröffentlichungen zurückblicken und klingt dennoch auf ihrem neuen Album unverändert wie ein junges Mädchen, oder sagen wir: wie das eigensinnige und etwas kratzbürstige junge Mädchen, als das wir sie schon auf ihren ersten Platten Anfang der 90er kennengelernt haben. Und, nur ganz nebenbei: Auch optisch hat sich Polly Jean über die Jahre hinweg bemerkenswert gut gehalten. Auf dem Rückseitenfoto versprüht sie jedenfalls im engen weißen Kleid und in High Heels, dabei ihr rechtes Bein und ihren linken Unterarm entblößend, mehr Sex-Appeal als alle heutigen 21-jährigen Superstars zusammen.

Zur Musik auf “I Inside the Old Year Dying” ist zu sagen, dass sie zwar nicht ganz an die der beiden glänzenden Vorgängeralben herankommt, aber alles in allem doch wieder sehr überzeugend geraten ist. Ein paar schwächere Songs fallen wenig ins Gewicht angesichts der Vielzahl an sehr starken Titeln. Zu Beginn der Platte erinnert PJs Stimmakrobatik etwas an ihre frühere CD “White Chalk” (2007), die wir seinerzeit an dieser Stelle ebenfalls mit Lob überschüttet haben. Im weiteren Verlauf, vor allem im in der Mitte des Albums platzierten Titelstück und bei dessen Variation “I Inside the Old I Dying”, klingt es dann doch wieder ganz ähnlich wie auf den gefeierten Vorgängern: ziemlich folkig und melodisch, fast schon hymnisch und dabei doch PJ-typisch rau und ungeschliffen. Besonders hervorzuheben ist noch, dass sie mitunter auch ganz neue Wege geht – wie auf dem wahrhaft gespenstischen “All Souls”. Das Urteil lautet: gut (13 Punkte).

PJ Harvey
I Inside the Old Year Dying
Partisan Records LLC / Knitting Factory Records Inc. 2023
PTKF3032-2

justament.de, 11.9.2023: Die blaue Reise

Scheiben Spezial: Vor 25 Jahren erschien „Shrink“ von The Notwist

Thomas Claer

Es beginnt mit rhythmisch klappernden Geräuschen wie auf einer Zugfahrt, aber gleichzeitig frickelt es auch schon ein wenig im Hintergrund. Dazu ein monoton surrender synthetischer Klang und dabei schleift, kratzt und scheuert es unentwegt. Nach einigen Sekunden dann setzen wiederholte Schläge auf irgendwelche Rohre ein, und noch etwas später mischen sich dezente Gitarrenklänge dazu. Irgendetwas blubbert unterschwellig. Erst nach mehr als zwei Minuten tritt unvermittelt der leise, immer etwas klagende Gesang von Markus Acher hinzu – und der Zuhörer ist angekommen im Kosmos des blauen Albums der bayrischen Band The Notwist mit dem rätselhaften Titel „Shrink“, was soviel wie „Schrumpfen“ bedeutet. Es ist so überaus raffiniert und fein arrangiert, was die Weilheimer Indie-Kapelle auf ihrem vierten Album alles entworfen hat, dass man auch heute noch, 25 Jahre später, aus dem Staunen nicht herauskommt. Im weiteren Verlauf, so ab dem dritten der zehn Stücke, bekommt die Platte dann auch noch eine sehr jazzige, mitunter sogar freejazzige und bläserlastige Note. Keineswegs ratsam wäre es, sich die Tracks einzeln anzuhören. Nein, so unterschiedlich sie auch sein mögen, sie bilden gemeinsam ein künstlerisches Gesamtwerk, wozu auch unbedingt das tiefblaue Album-Cover gehört, das gleichsam die melancholische Grundstimmung vorgibt, von der sich allein der beschwingte zweite Track „Chemicals“ ein wenig abhebt.

Man kann „Shrink“, das einer von vielen Wendepunkten im Schaffen dieser enorm einflussreichen Band gewesen ist, als einen Trip, als eine Art Reise begreifen – durch die (damals) neuen und revolutionären Landschaften multipler technischer Klang- und Geräuscherzeugung einerseits und durch die gedämpften inneren Erregungszustände frustrierter zeitgenössischer Individuen andererseits. Die sich in dieser Musik ausdrückende Haltung könnte in etwa dem alten Tocotronic-Motto: „Ich bin alleine, und ich weiß es, und ich find es sogar cool“ entsprechen. Nur dass es bei The Notwist natürlich unendlich viel subtiler anklingt… Für mich war „Shrink“, das legendäre blaue Album, so etwas wie mein Soundtrack durchs Erste Juristischen Staatsexamen und die bedrückende Zeit danach, wobei sich bald darauf auch noch das nachfolgende, ebenfalls ausgezeichnete, rote Album „Neon Golden (2002) hinzugesellen sollte – um von der Entdeckung des phänomenalen Vorgängers, des bunten Albums „12“ (1995), gar nicht zu reden… Das Urteil für „Shrink“ lautet „sehr gut“ (16 Punkte).

The Notwist
Shrink
Big Store / Cargo 1998
ASIN: B018N37V3Y

justament.de, 7.8.2023: Offenbarung (nur) auf Vinyl

Element of Crime auf ihrer phänomenalen Bonus-Single “The Next Voice You Hear”

Thomas Claer

Als Abonnent des E-Mail-Newsletters von Element of Crime ist man, was die Veröffentlichungen dieser Band betrifft, immer auf dem neuesten Stand. Zumindest glaubte ich das, bis ich vor kurzem auf der Raritäten-Seite Discogs ungläubig staunend eine 10 ‘’-Single meiner Berliner Lieblingsformation mit dem Titel “The Next Voice You Hear” aus dem Jahr 2023 aufgelistet fand. Wieso war mir deren Existenz bisher entgangen?! Warum hatte mich niemand auf deren Erscheinen hingewiesen?! Meine anschließende Recherche ergab dann, dass es diese nur zwei Lieder umfassende Veröffentlichung eigentlich gar nicht separat zu kaufen gibt, sondern nur als limitierte Bonus-Zugabe zur limitierten Digipak-CD-Version des Albums “Morgens um vier” sowie zu dessen limitierter lilaner Vinyl-Version. Dafür musste wohl niemand noch extra Werbung machen, denn unter den verschworenen EoC-Fans war das alles natürlich ratzfatz ausverkauft. Und nun gibt es die rare Single also nur noch auf dem Sekundärmarkt zu stolzen Sammlerpreisen. Bei 42 Euro (zuzüglich Portokosten, versteht sich) liegt laut Discogs-Seite der durchschnittlich Transaktionspreis dieser Scheibe, was dafür, dass sie gerade einmal zwei Lieder enthält, schon nicht von Pappe ist. Kann man sich die beiden Lieder denn nicht einfach auf YouTube anhören? Nein, da gibt es sie leider nicht – und auch sonst nirgendwo außer auf diesem limitierten Vinyl. Schließlich wurde ich dann bei Ebay fündig und sicherte mir mit etwas Runterhandeln ein Exemplar für noch vergleichsweise moderate 20 Euro plus 5 Euro Porto. Damit sich so etwas lohnt, muss die Musik dann aber auch wirklich bombastisch sein. Und um es gleich vorwegzunehmen: Sie ist es auch.

“The Next Voice You Hear” ist die Coverversion eines alten Songs von Jackson Browne. Jackson wer?, wird jetzt vermutlich mancher fragen? Nun, Jackson Browne ist ein amerikanischer Rockmusiker und Songwriter, geboren übrigens 1948 in Heidelberg als Sohn eines Zivil-Angestellten der US-Army, der aber bereits drei Jahre später mitsamt seinem Sohn nach Los Angeles abgezogen wurde. In den Siebzigern und frühen Achtzigern war Jackson Browne dann laut Wikipedia “einer der bedeutendsten amerikanischen Songautoren neben Joni Michell und James Taylor”. Man sollte ihn also unbedingt kennen. Ich kannte ihn aber leider nicht, hatte ehrlich gesagt noch nie von ihm gehört, bis ich nun auf seinen Song “The Next Voice You Hear” gestoßen bin. Immerhin die Jackson Browne-Version, also seine eigene Version seines Liedes, gibt es auf YouTube, und sie ist schon ziemlich toll. Doch was die Elements dann daraus machen, ist nochmals eine Steigerung. Es ist ein langsames, schweres, getragenes Lied, sehr vom Blues und von charakteristischen Bassläufen und Gitarrenriffs geprägt – und Element of Crime fügen dann noch Sven Regeners fabelhafte Jazz-Trompete hinzu. Darin ist diese Band wirklich ganz groß: sich Songs von anderen einzuverleiben, als wären es die eigenen. Aber so gut wie hier hat es selten gepasst. So atmosphärisch dicht, so vollkommen ist dieses Lied. Es hilft, sich den Songtext einmal auf Google herauszusuchen und von Deepl übersetzen zu lassen. Aber es hilft andererseits auch wieder nur begrenzt, denn der Text ist zwar vielsagend, aber doch reichlich unbestimmt und nebulös – und harmoniert gerade dadurch perfekt mit der Songstruktur und Sven Regeners eindringlichem Gesang. Es klingt nach Desillusionierung, nach Mühe und Vergeblichkeit. Ein großartiges Lied in einer unwiderstehlichen Aufnahme, die übrigens durch das leise Knistern der Schallplatte erst so richtig zur Geltung kommt.

Es gibt auch noch eine B-Seite. Und darauf ist eine Coverversion des Songs “You Know More Than I Know” von John Cale. Natürlich, John Cale ist ein ganz Großer. Jedenfalls, was seine prägende Mitwirkung bei The Velvet Underground angeht. Seine Solo-Karriere war dann eher durchwachsen. Na gut, so genau kenne ich mich damit jetzt auch nicht aus. Ein paar sehr schöne Songs für Nico auf ihren frühen Solo-Alben hat er auch geschrieben. Aber seine späteren Solo-Sachen… Die sind, zumindest nach meinem Eindruck, eher so lala… “You Know More Than I Know” ist dann… Sagen wir es so: Nur für diesen Song hätte man sich die teure Vinyl-Rarität sicherlich nicht kaufen müssen, für “The Next Voice You Hear” auf der A-Seite hingegen ganz unbedingt!

Element of Crime
The Next Voice You Hear
45 rpm Vinyl-Single 10 ‘’
Vertigo / Universal Music 2023