Tag Archives: Tocotronic

justament.de, 23.1.2023: Beim Barte der Kassandren

Vor einem Jahr erschien “Nie wieder Krieg” von Tocotronic. Eine verspätete Rezension

Thomas Claer

Als im Januar 2022 die Band Tocotronic ihr 13. Studio-Album “Nie wieder Krieg” herausbrachte, da dachte man: Was soll denn das jetzt? Warum bloß ein so pathetischer und völlig aus der Zeit gefallener Titel?! Sind wir jetzt in den Achtzigern, oder was? Als ob irgendwo ein Krieg vor der Tür stünde… Na gut, es gibt natürlich schon eine Menge Kriege in der Welt, aber doch nicht hier bei uns, mitten in Europa…

Kurz darauf wurde man bekanntlich durch Putins Überfall auf die Ukraine aus allen Wolken gerissen und musste bei Tocotronic Abbitte leisten. Sie hatten es vielleicht nicht gerade kommen sehen, aber doch irgendwie… Wenn es nicht so despektierlich klänge, könnte man fast sagen: den richtigen Riecher gehabt. Kunstwerke sind ja, wie es so schön heißt, oftmals klüger als die Künstler, die sie in die Welt gesetzt haben. Und nicht nur der Titel- und zugleich Eröffnungssong trifft textlich den Nagel auf den Kopf (“Keine Verhetzung mehr!”), auch der darauffolgende Track “Komm mit in meine freie Welt” wirkt seltsam prophetisch, ebenso wie das Lied danach “Jugend ohne Gott gegen Faschismus”. Und es geht ja noch weiter mit Songtiteln wie “Ich gehe unter”, “Ich hasse es hier”, “Ein Monster kam am Morgen” und “Crash”. Noch mehr Zeitgeist auf einer Platte als hier lässt sich kaum vorstellen!

Soweit zur inhaltlichen Seite von Tocotronics aktuellem Album. Aber ist es denn auch künstlerisch gelungen? Nun, zumindest über weite Strecken. Musikalisch eher schwach geraten sind eigentlich nur der besagte Titelsong sowie die beiden letzten Stücke “Hoffnung” und “Liebe”. Der Rest ist ziemlich überzeugend, allen voran “Ich tauche auf”, das gesangliche Duett von Bandleader Dirk von Lowtzow mit Soap & Skin, worunter sich eine 33-jährige recht anmutige österreichische Sängerin verbirgt. Die beiden liefern hier den vielleicht schönsten und ergreifendsten Paargesang in der Popmusik seit Nick Cave und PJ Harvey ab. Andere würden vielleicht sagen: seit Nick Cave und Kylie Minogue… Und dies gilt ausdrücklich auch für das begleitende Musikvideo!

Es gibt aber auch noch weitere starke Titel auf “Nie wieder Krieg”, die interessanterweise auf jeweils unterschiedliche Schaffensphasen der einstigen Hamburger-Schule-Band verweisen. “Ich gehe unter” und “Leicht lädiert” klingen wirklich sehr nach ihrem Frühwerk, besonders letzteres in seiner ungelenken Fremdwörter radebrechenden Textdichtung. Ganz toll! “Crash” hingegen mit seinem Smiths-Gitarrenspiel erinnert deutlich an ihre entsprechend ausgerichtete Phase in den mittleren bis späten Nullerjahren mit dem Album “Kapitulation”. Vielleicht sind dies ja in Wirklichkeit auch Lieder von damals, die es seinerzeit nur nicht aufs jeweilige Album geschafft haben. Aber was macht das schon? Überaus raffiniert ist auch der Text von “Nachtflug”. Zuerst vermutet man darin eine üble Klima-Sauerei mitsamt Anwohner-Belästigung, bis sich allmählich herausstellt, dass das lyrische Ich wohl nur rein metaphorisch durchs Berliner Nachtleben fliegt…

Alles in allem also mal wieder eine reife Leistung der Tocos. Das Urteil lautet: gut (13 Punkte).

Tocotronic
Nie wieder Krieg
Vertigo Berlin 2022

justament.de, 12.10.2020: Soundtrack einer Juristenausbildung

Vor 25 Jahren erschien “Digital ist besser” von Tocotronic

Thomas Claer

Muss man über das grandiose Frühwerk der Band Tocotronic, das vor einem Vierteljahrhundert seinen Anfang nahm, überhaupt noch große Worte verlieren? Ist denn nicht längst schon alles darüber gesagt? Das schon, ließe sich mit Karl Valentin einwenden, aber noch nicht von jedem. Meine persönliche Tocotronic-Geschichte begann bereits in den frühen Achtzigern, schon lange vor Gründung dieser Band, als ich zu meiner großen Freude eine Armbanduhr aus dem Westen geschenkt bekam, was für ein Ostkind jener Zeit so ziemlich das Größte war, was man sich vorstellen konnte. Entscheidend allerdings war, dass es sich dabei um eine Digitaluhr handelte. So altmodische Uhren mit Zeigern und Zifferblatt waren damals ja sowas von verpönt…

Lange Jahre trug ich fortan meine geliebte Digitaluhr und fühlte mich immer sehr cool damit. Bis ich im Mai 1989, nur wenige Monate vor dem Mauerfall, in den Westen kam und mich auf einem Bremer Gymnasium, umgeben von äußerst stilbewussten jungen Menschen, wiederfand. Schnell bemerkte ich, dass ich dort der einzige war, der eine solche Uhr trug, die noch dazu unter meinen Mitschülern mächtiges Naserümpfen hervorrief. Oh mein Gott, wie uncool war das denn? Wer trägt denn heute noch eine Digitaluhr?! Wahrscheinlich fehlte mir damals, im zarten Alter von 17 Jahren, auch einfach das Selbstbewusstsein, um mich über solche Verächtlichmachungen einfach hinwegzusetzen. Irgendwann gefiel mir meine alte Uhr dann selbst nicht mehr. Nach reiflicher Überlegung kaufte ich mir, ausdrücklich auch aus ökologischen Gründen, eine leuchtend blaue Solaruhr, die ebenfalls sehr schön war, natürlich mit Zeigern und Zifferblatt. Meine Digitaluhr ließ ich in einer Schublade verschwinden und hatte sie bald vergessen.

Mit meiner Solaruhr absolvierte ich das Abitur und bestritt ich auch meine gesamte Juristenausbildung. Aber es irritierte mich dann schon, als Mitte der Neunziger eine Band aus Hamburg in aller Munde war, deren erster Album- und auch Songtitel “Digital ist besser” lautete. Und diese drei Altersgenossen von mir trugen doch wirklich, was man vor kurzem noch für völlig unmöglich gehalten hätte, Trainingsjacken und, ja, tatsächlich auch Digitaluhren! Anfangs ging ich dem nicht weiter nach, auch wenn ich manchmal beim Durchzappen der Fernsehkanäle auf MTV oder Viva etwas davon mitbekam. Aber dann gab es einen in meiner Lern-AG, der Tocotronic-CDs besaß und von ihnen schwärmte. Von ihm lieh ich sie mir aus und überspielte sie mir auf Musikkassetten, die ich dann im Studentenwohnheim auf meinem alten Mono-Kassettenrecorder rauf und runter hörte.

Natürlich war es kein Zufall, dass die Band zu zwei Dritteln aus abgebrochenen Jura-Studenten bestand. Ihre Songs waren wild und eruptiv, oft auch laut und schnell. Die verstimmten Gitarren, das treibende Schlagzeug, die herausgebrüllte Wut in Dirk von Lowtzows Gesang, immer haarscharf neben dem Ton… Und dann diese parolenhaften und zugleich hintersinnigen Texte! So viele von ihnen sprachen mir sowas von aus dem Herzen: “Alles was ich will ist nichts mit euch zu tun haben!” oder “Ich bin viel zu lange mit euch mitgegangen!” Genau das hatte ich mir auch immer gedacht in all den Jahren, hatte aber irgendwie immer den Absprung verpasst, und irgendwann war es dafür dann zu spät. Ich wurde Volljurist und habe dennoch meinen Groll gegen die Juristenausbildung, gegen meine Juristenkollegen, ja gegen alles Juristische überhaupt nicht nur niemals abgelegt, sondern sogar heute noch tief verinnerlicht.

Dennoch wäre ich nie auf die Idee gekommen, meine Solaruhr, die mir immer gute Dienste geleistet hatte, wieder gegen eine Digitaluhr, die nun durch Tocotronic zum Symbol des Slackertums und einer misanthropisch-individualistischen Gegenkultur geworden war, auszutauschen. Erst lange Zeit später, es muss wohl vor sieben oder acht Jahren gewesen sein, gab meine Solaruhr mit einem Mal ihren Geist auf. Das war so plötzlich geschehen, dass ich auf die Schnelle keine Zeit hatte, um mir Gedanken über eine neue Uhr zu machen. Ich musste dringend zu meinen Privatschüler-Terminen und musste dabei vor allem immer wissen, wie spät es war. Hektisch kramte ich in Schränken und durchwühlte Schubladen, und dann hielt ich tatsächlich meine alte Digitaluhr in den Händen. Immerhin, sie lief noch… Mit ihr fuhr ich also zu meinen Nachhilfestunden. Doch was dann geschah, hatte ich nicht erwartet. “Wow, coole Uhr!”, rief mir mein arabischer Schüler in Schöneberg zu. “Sie haben aber eine hübsche Uhr”, fand meine Siebtklässlerin in Mitte. Da wusste ich, dass ich mir das Geld für die Anschaffung einer neuen Uhr sparen konnte. Am selben Abend hörte ich nach langer Zeit wieder den Song “Digital ist besser” – und trage seitdem nur noch Digitaluhren. Als meine alte aus den Achtzigern nach einigen Monaten dann doch nicht mehr funktionieren wollte, kaufte ich mir eine identische neue.

Aber zurück zu Tocotronic: Fünf fantastische Alben in fünf Jahren haben Tocotronic von 1995 bis 1999 herausgebracht. Von beinahe allem, was später von ihnen kam, muss man, ehrlich gesagt, dringend abraten, das war dann fast nur noch weichgespülter Mist. Aber das Frühwerk von “Digital ist besser” bis zu “K.o.o.k.” ist und bleibt gigantisch. Und zu ihren Texten muss man sagen, dass sie keineswegs schlechter sind als die von, sagen wir, Bob Dylan. Und auch gewiss nicht schlechter als die Lyrik dieser Frau Glück, die bis vor wenigen Tagen noch niemand kannte.

Das Urteil für Tocotronics Frühwerk kann daher nur lauten: Gebt ihnen den Nobelpreis!

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Tocotronic

Digital ist besser

L’age d’ or 1995

www.justament.de, 19.2.2018: Der aus dem Reihenhaus

Tocotronic auf ihrer zwölften Platte „Die Unendlichkeit“

Thomas Claer

Das Problem bei Tocotronic ist: Ihr Sänger Dirk v. Lowtzow hat einen weichen, mitunter larmoyanten Gesangsstil. Das passt sehr gut (kontrapunktisch) inmitten eines lärmenden Gitarrensounds, und noch besser passte es in Verbindung mit jugendlicher Unbekümmertheit (oder auch jugendbedingter Bekümmertheit) und sehr direkten, griffigen, parolenhaften Texten wie auf den ersten Tocotronic-Alben vor zwei Jahrzehnten. Weit weniger gut passt dieser Gesangsstil allerdings zu glatten, überproduzierten Songs mit abstrakten Texten. Und hier war bereits das weiße Album aus dem Jahr 2000 mit Songzeilen wie „Eines ist jetzt sicher/ Eins zu eins ist jetzt vorbei“ eine Art Sündenfall, von dem sich die Band bis heute nicht erholt hat. Denn das textliche „Eins zu eins“ konnten und können sie entschieden besser. Zwar gab es auch in den Jahren danach immer mal wieder Höhepunkte: „Pure Vernunft darf niemals siegen“ (2005) war nicht ganz schlecht, sogar recht ansprechend war das Album „Kapitulation“ (2007) mit musikalischen Anklängen an The Smiths / Morrissey (wobei sich letzterer längst in einer ähnlichen künstlerischen Falle wie Tocotronic befindet, um von seinen aktuellen politischen Verirrungen gar nicht erst zu reden). Auch „Wie wir leben wollen“ (2013) hatte gelungene Momente. Doch hätten diese Platten – wie eigentlich alle Tocotronic-Veröffentlichungen seit dem Jahr 2000 – weitaus mehr überzeugt, wären sie ohne all den überflüssigen Zuckerguss, gleichsam in der Garage eingespielt worden. Mit Tocotronic ist es wie mit einer alten Geliebten, die man gelegentlich noch trifft und die einem in immer neuen und aufwendigeren Outfits und Zurechtmachungen begegnet; dabei hätte man sie doch viel lieber pur und ungeschminkt.

Das neue, inzwischen zwölfte Album der Band, „Die Unendlichkeit“, stellt nun immerhin einen Schritt in die richtige Richtung dar. In jedem Falle gilt dies inhaltlich, denn diese Platte ist eine Art gesungene Autobiographie des Sängers Dirk v. Lowtzow. In chronologischer Reihenfolge erzählen die Songs dieser Platte von Lowtzows Werdegang, und das fast so direkt und unverblümt wie früher, wenn auch (natürlich) leider nicht mehr so unbekümmert wie im Frühwerk der Band. Und die Texte lassen tief blicken, berichten von den schweren Anfängen dieser Künstlerexistenz. Nicht etwa in einem Schloss, wie man glauben könnte, oder wenigstens in einem angesagten Szeneviertel einer Großstadt ist dieser spätere Coolness-Trendsetter aufgewachsen, nein – horribile dictu – in einem Reihenhaus in einer süddeutschen Kleinstadt. Auch der anschließende Studienort Freiburg kommt auf dem Album nicht gut weg und wird als „Schwarzwaldhölle“ geschmäht. Die Erlösung wird dann im Song „1993“ beschrieben bzw. besungen: das Ankommen in Hamburg – und in der dortigen „Schule“, versteht sich. Der spätere Ortswechsel nach Berlin war dann nur noch das Sahnehäubchen.
Musikalisch lässt „Die Unendlichkeit“ ebenfalls einen Aufwärtstrend erkennen. Solides Songwriting, eingängige Melodien. Nur leider haben sie sich auch diesmal in der Produktion verhoben und dadurch einmal mehr ihre Musik verschlimmbesssert. „Alles, was ich immer wollte, war alles“ heißt es im letzten Song. Dabei wäre weniger wirklich mehr gewesen. Jeder Albumtitel soll im musikalischen Gewand seiner jeweiligen Zeit erscheinen und ist zu diesem Zwecke endlos durch diverse Studio-Klangmühlen gedreht worden. Nun ja, irgendwie müssen sie die Millionen-Einnahmen aus ihren Plattenverkäufen wohl auch wieder unter das Volk bringen…

Was allerdings unerträglich ist, ist das ausufernde Geschwätz der Musikpresse und der Feuilletons über diese angeblich so kluge Band und ihren „Diskursrock“. Man tut den Tocos sicherlich keinen Gefallen damit, sie zu tiefsinnigen Intellektuellen aufzublasen. „Es ist einfach Rockmusik“ heißt ein Songtitel aus den frühen Jahren. Das trifft es besser. Das Urteil lautet: voll befriedigend (10 Punkte).

Tocotronic
Die Unendlichkeit
Vertigo Berlin 2017
ASIN: B0775ZP3VC

www.justament.de, 18.5.2015: Dirk mag sich einfach nicht mehr so

Tocotronic mit ihrem elften, dem „roten“ Album

Thomas Claer

tocoRein optisch ist das neue Tocotronic-Album in seinem knallroten Cover ja eine durchaus runde Sache geworden, und auch die Marketing-Abteilung hat ganze Arbeit geleistet, wie das Erscheinungsdatum 1. Mai samt abendlichem Konzert im Kreuzberger SO36 beweist. Doch geht es inhaltlich auf der elften Platte der Tocos in über 20 Jahren Bandgeschichte mitnichten um den politischen Kampf oder gar die Arbeiterbewegung. (Man hätte es den Männern um Bandleader Dirk v. Lowtzow, seines Zeichens der Spross eines alten deutschen Landadelsgeschlechts mit Stammsitz in Mecklenburg, trotz mancher Flirts mit dem Salonbolschewismus in der Vergangenheit auch nicht so recht abgenommen.) Nein, das Thema des „roten Albums“ soll nicht weniger sein als: „die Liebe“.
Um gleich mit dem Positiven zu beginnen: Die Texte enthalten hin und wieder einige recht gelungene Passagen wie  „Unter deiner Decke fasst mich das Chaos an“ oder auch „Ein Geheimnis vertraue ich dir noch an: Ich bin leicht zu haben / Nimm dir, was du kriegen kannst!“. Doch leider lässt die musikalische Umsetzung mal wieder sehr zu wünschen übrig. Man kann es ja verstehen, dass sich die Band nach all den Jahren nicht mehr ständig wiederholen, sondern ab und zu auch etwas Neues ausprobieren will. Aber musste sie wirklich solche Unmengen Weichspüler in ihre Songs schütten, dass man glauben muss, man hätte sich auf ein Schlagerfestival verirrt? Mit traumwandlerischer Sicherheit wurde auch diesmal wieder ausgerechnet einer der schwächsten Titel des Albums zur Single gemacht: „Die Erwachsenen“. Nicht der aus der Feder eines 44-Jährigen reichlich alberne, wenn auch in der Sache nicht ganz unzutreffende Text („Man kann den Erwachsenen nicht trauen“) ist hier das Problem, sondern die unerträglich kitschige Musik, wie ironisch sie auch immer gemeint sein mag. Es ist wirklich nur zum Weglaufen. Eine besonders schlimme Vorstellung ist es, dass sich davon womöglich junge Leute angesprochen fühlen könnten, die ja inzwischen bekanntlich eher wieder die seichten Klänge lieben, während sie z.B. krachenden Punkrock als die altmodische Musik ihrer Großeltern verspotten.
Allenfalls dem Auftaktsong, dem elektronisch instrumentierten, wenn auch textlich etwas rätselhaften „Prolog“, lässt sich noch etwas abgewinnen. Einen überraschenden Lichtblick gibt es dann aber immerhin ganz am Ende der CD – oder besser gesagt: nach ihrem regulären Ende: den „hidden Track“ „Ich hab ein Date mit Dirk“. Der ist zwar nicht weniger weichlich und verrätselt als die meisten anderen Stücke dieses Tonträgers, doch sorgen hier zielsichere Selbstironie und -kritik endlich einmal für einen überzeugenden Kontrapunkt. Der volle Text lautet: „Ich hab ein Date mit Dirk am ersten Frühlingstag/ Ich will wissen, ob er mich noch mag“. Die naheliegendste Interpretation dieser Zeile ist selbstverständlich die, dass das lyrische Ich hier gedanklich seinem früheren jugendlichen „alter ego“ begegnet (angeregt von Proust, das ist ja klar) und sich die bange Frage stellt, ob es von diesem wohl noch gemocht wird. Im Song bleibt es offen, aber wir kennen die Antwort schon: Nein, Dirk, dein früheres Ich würde dir angesichts dieser Platte vermutlich ein „Ich mag dich einfach nicht mehr so“ entgegennölen. Das Urteil lautet: 7 Punkte (befriedrigend).

Tocotronic
Tocotronic („Das rote Album“)
Vertigo Berlin (Universal Music) 2015
ASIN: B00U9XT7MK

PS: Ohne jede Einschränkung empfehlen wir jedoch weiterhin das grandiose Frühwerk der Band aus den Neunzigern, also die Scheiben „Digital ist besser“, „Nach der verlorenen Zeit“, „Wir kommen um uns zu beschweren“, „Es ist egal aber“ und „K.O.O.K.“, sowie ihre stärkste Platte aus den Nullerjahren „Kapitulation“.

Justament April 2013: Was wir (nicht) hören wollen

Das neue Tocotronic-Album „Wie wir leben wollen“

Thomas Claer

Cover TocoMan will ja kein Ewiggestriger sein, der sich seine verflossene Jugend und den Jungs von Tocotronic die Trainingsjacken zurückwünscht. Aber etwas mehr Anknüpfungspunkte zu ihrem famosen Frühwerk hätte man sich von dieser Mutter aller Hamburger-Schule-Bands, die überdies zur Hälfte aus abgebrochenen Jura-Studenten besteht, in den letzten Jahren schon erhofft. Und nun dies: Mit ihrem neuen Album „Wie wir leben wollen“ kehren sie, zumindest was den Titel angeht, zurück zur alten Parolenhaftigkeit. Doch das ist noch nicht alles. Den 17 Songs mitgeliefert werden nicht weniger als 99 Thesen (http://www.tocotronic.de/99thesen) dazu, wie man sich das mit der gewollten Lebensführung so vorzustellen hat. Und damit haben Tocotronic mal eben jenen berühmten Reformator übertroffen, der es seinerzeit nur auf vier Thesen weniger gebracht hatte, welche er vor 496 Jahren medienwirksam an die Wittenberger Kirchentür nagelte. So operieren sie, wie es sich für anständige Diskurs-Rocker gehört, auf Augenhöhe mit dem abendländischen Geistes-Kanon. Nur eine gewisse inhaltliche Unschärfe dieser 99 zum Teil sehr knapp gehaltenen Lehrsätze, die mitunter ziemlich im Ungefähren bleiben, ließe sich bemängeln.
Ansonsten verwalten die Tocos diesmal souverän ihren Ruhm. Und wie sie wieder aussehen! Hipster-Bärte wie die späten Beatles, noch immer die charakteristischen Frisuren. Aber liegt es nur an der Lichteinstellung oder durchziehen Dirk von Lowtzows wilde Mähne inzwischen tatsächlich graue Strähnen? Der Titelsong „Im Keller“ lässt daran keinen Zweifel: „Hey, ich bin jetzt alt!“, lauten die ersten Worte des Albums. Was die Texte angeht, so bewegen sie sich eigentlich allesamt an der Grenze zur Peinlichkeit, die manchmal zwar durchaus überschritten, oft aber auch nur auf gekonnt ironische Weise touchiert wird („Mein Sex ist desolat!“). Gelegentlich landen sie sogar Volltreffer wie in alten Zeiten:“Erfolgreiche Freunde – Geißel der Menschheit“. Verbessert gegenüber dem relativ schwachen Vorgängeralbum, das es dennoch auf Platz 1 der deutschen Verkaufscharts geschafft hat, hat sich auf alle Fälle die Musik. Weniger langatmig und schwulstig, dafür pointierter und hin und wieder sogar etwas rockiger. Das Urteil lautet: Es lässt sich hören. Oder anders gesagt: voll befriedigend (10 Punkte). Plus ein Zusatzpunkt für die Idee mit den 99 Thesen.

Tocotronic
Wie wir Leben wollen
Vertigo Berlin (Universal) 2013
Ca. € 15,-
ASIN: B00AFARJ4A

Justament Okt. 2010: Tiefpunkte und Kleinode

Die neue Tocotronic-Platte „Schall und Wahn“

Thomas Claer

24 SCHEIBEN Tocotronic-cover 51wjS4zEq2L._SL500_AA300_Es ist einfach nur zum Grausen, was Tocotronic, unsere einstigen Trainingsjacken-Helden der Neunziger, auf ihrer neunten regulären Studioplatte über weite Strecken abliefern. Dafür möchte man sie am liebsten schlagen, aber so richtig. Was haben sie sich bloß dabei gedacht, uns mit solch einem schwülstigen Bombast zu kommen wie im Opener „Eure Liebe tötet mich“ und im Schlussstück „Gift“? Diese jeweils geschlagene acht Minuten langen Zumutungen bilden gleichsam den Rahmen eines von Anfang bis Ende völlig missratenen Albums voller Tiefpunkte. So müsste man sagen, wären da nicht doch noch ein paar – in diesem Umfeld jedenfalls überraschende – Songs eines ganz anderen Kalibers, namentlich das Titelstück „Schall und Wahn“ und vor allem das überaus feine „Im Zweifel für den Zweifel“. Man wollte diese Stücke, wäre das Wort nicht schon so abgenudelt, gerne als musikalische Kleinode bezeichnen. Nur hier kann die Band aus der „Hamburger Schule“ an das vergleichsweise starke Vorgängeralbum „Kapitulation“ (2007) anknüpfen. In ihren besten Momenten erinnern die reifen Tocotronic im akustischen Gitarrenspiel an die seligen Smiths aus den Achtzigern mit ihrem genialen Gitarrero Johnny Marr, wohingegen jedoch Dirk von Lowtzow gesanglich nur einen recht gequälten Morrissey abgibt. Ein Wort zu den Texten der Band, die früher einmal die Welt aus den Angeln zu heben sich anschickten: Heute kann man bestenfalls sagen, dass sie nicht allzu sehr stören. Das stümperhaft plumpe literarische Zitieren kam in ihrem Frühwerk noch regelrecht charmant rüber, heute hingegen wirkt es eher peinlich. Auch dort, wo sie sich in der alten Parolenhaftigkeit versuchen, wie im Single-Stück „Macht es nicht selbst“, geht der Schuss nach hinten los. Was vermutlich als kritisch linkes Statement gegen den Neoliberalismus mit seiner Ich-AG-Mentalität, aber auch gegen die in seinem Schlepptau chronisch selbstausbeuterische digitale Boheme gedacht war, klingt aus dem gutsituiert-aristokratischen Mund eines Dirk von Lowtzow wie reaktionärer Hohn gegenüber denen, die sich ein gewiss anstrengendes, aber immerhin selbstbestimmtes Leben organisiert haben.
So lassen sich die Parolen-Songs der Tocos aus den Neunzigern heute mit Leichtigkeit gegen sie selbst wenden: „Alles, was ich will, ist, nichts mit euch zu tun haben“, „Ich bin viel zu lange mit euch mitgegangen“ oder – leicht abgewandelt –  „Tocotronic – ihr habt mein Leben zerstört!“ Hier stockt der Rezensent: Woher eigentlich diese Grobheit? Warum nicht einfach, wie bei anderen, das Gute herausstellen und den Rest überhören, es tut doch keinem weh. Halt, das tut es doch! Und wie! Vielleicht ist es ja enttäuschte Liebe. Das Urteil lautet: befriedigend (7 Punkte). Damit seid ihr noch gut weggekommen, Saubande!

Tocotronic
Schall und Wahn
Vertigo Berlin (Universal) 2010
Ca. € 17,-
ASIN: B002ZHIPT4

www.justament.de, 30.3.2009: Es muss auch mal gut sein

Phantom Ghost auf ihrem zwiespältigen vierten Album

Thomas Claer

Cover PhantomIrgendwann in den Neunzigern kam das auf: Eine Reihe mehr oder weniger etablierter Bands wollte mal was ganz Anderes machen und dabei auch noch ihr gesamtes Umfeld samt Fangemeinde verstören, wenn nicht gar schockieren. Dabei muss das Verstörendste, der schlimmste auslösbare Schock für jede Band, die etwas auf sich hält, immer der Flirt mit dem Seichten, der Oberfläche sein. Was hier aber noch Ironie und was schon blinde Adaption des hohlen Pathos ist, das hält man bewusst in der Schwebe. Solche Platten hießen dann „Hauptsache Musik“ oder „Old Nobody“.
Begreiflich ist es schon, wenn eine erfolgreiche Band mit großer Fangemeinde so etwas tut. Denn die Verzückung der Anhängerschar über jedes noch so ausgefallene Werk ihrer Lieblinge braucht manchmal auch ungewöhnliche Nahrung. Die Protagonisten zeigen damit schließlich auch, dass sie sich nicht auf die ewig gleiche Rolle festlegen lassen wollen.
Aber: Man muss es in aller Deutlichkeit sagen: Es muss dann auch irgendwann mal gut sein. Und wenn ein Nebenprojekt, um dass sich niemand kümmern würde, gebe es das überaus erfolgreiche Hauptprojekt nicht, wenn also das elektronische Freakprojekt „Phantom Ghost“ des Tocotronic-Sängers Dirk von Lowtzow und des Keyboarders Thies Mynther, von dem ohne den Erfolg von „Tocotronic“ keiner Notiz genommen hätte, nun auf seinem vierten Album plötzlich auf Nur-Stimme-und-Klavier-mit-Operetten-und-Musicalsongs macht, dann ist die Grenze des Erträglichen, sagen wir, zumindest über weite Strecken, überschritten.
Es ist, das ist einzuräumen, nicht alles schlecht auf der CD. Das stimmliche Zusammenwirken Dirk von Lowtzows mit der Berliner Künstlerin Michaela Meise in einigen Stücken kann schon eine gewisse Attraktivität entfalten. Und das eine oder andere Lied lässt sich auch durchaus hören. Doch verlieren sich so viele andere eben leider in Albernheiten und Belanglosigkeiten. Missraten ist die im Ansatz ambitionierte Literaturvertonung “The Process (after Brion Gysin)“. Hier haben die heute leider fast vergessenen „Kastrierten Philosophen“ in den Neunzigern weit Besseres geleistet. Und auch das Stück „Meshes of the Afternoon“, wohl vom gleichnamigen surrealistischen Film inspiriert, kann nur enttäuschen.
“Thrown Out Of Drama School” ist daher wohl nur etwas für alle jene Hardcore-Tocotronic-Fans, die um keinen Preis der Welt einen Ton ihres Dirk von Lowtzow versäumen möchten. Das Urteil lautet: ausreichend (6 Punkte).

Phantom Ghost
Thrown Out Of Drama School
Dial (rough trade) 2009
Ca. € 17,-
ASIN: B00260YMXS

Justament Sept. 2007: Fast wie früher

Tocotronic mit ihrem neuen Album “Kapitulation”

Thomas Claer

21 SCHEIBEN VOR GERICHT Cover TocotronicFür die jüngeren Semester muss man es vielleicht erklären: Im Jahre 1994 fanden sich die Jurastudenten Dirk von Lowtzow und Jan Müller sowie der Kunststudent Arne Zank in Hamburg zusammen, um fortan in minimalistischer Besetzung (Gesang/Gitarre – Bass – Schlagzeug) als TOCOTRONIC – benannt nach einer japanischen Spielekonsole – Rockmusik zu betreiben. Bald war die alternative Boygroup damit so erfolgreich, dass alle Protagonisten ihr Studium an den Nagel hängten. TOCOTRONIC wurden neben BLUMFELD und den STERNEN zur bekanntesten Band der “Hamburger Schule” und begründeten en passant diverse Jugendmoden wie den Digitaluhren-, Cordhosen- und Trainingsjacken-Retroschick, dazu die charakteristische TOCOTRONIC-Frisur: lange Haare vorne und Seitenscheitel. Nicht zuletzt sind sie auch als Sprachrohr der Slacker-Bewegung wahrgenommen worden, jener gesellschaftlichen Strömung, die Coolness und Selbstverwirklichung in der konsequenten Vermeidung von Anstrengungen in von ihr als unwichtig eingeschätzten Bereichen sieht – unter Verzicht auf berufliche Karriere, sozialen Aufstieg und konventionelle Statussymbole. Soviel zur Historie. Nun haben TOCOTRONIC also ihr achtes Album veröffentlicht. Und zunächst ist augenfällig, dass ihnen so etwas wie ein Marsch durch die Institutionen geglückt ist – wie allein schon die positive Besprechung in der Wirtschaftswoche beweist, aber auch die hier vorgenommene in unserem Karrieremagazin. Und TOCOTRONIC haben sich nach einer längeren Durststrecke mit eher schwächeren Veröffentlichungen ganz offensichtlich wieder gefangen. Erfreulich rockig kommen die Stücke daher und auch textlich haben sie sich von den Ausflügen in die Esoterik des Vorgängeralbums (“Pure Vernunft darf niemals siegen”) gottlob verabschiedet. Wie in frühen Tagen feiert Dirk von Lowtzow, übrigens mit recht aristokratischer Attitüde, den müßiggängerischen Individualismus und erklärt den Zumutungen der Leistungsgesellschaft den Krieg (“Du musst nicht zeigen, was du kannst”). Es geht wieder richtig zur Sache, die Harmonien gelingen ihnen fast wie in alten Zeiten. Eine vergleichbare Homogenität der Stücke auf hohem Niveau haben wir von ihnen zuletzt 1998 auf K.O.O.K. gehört. Und doch wird jeder, der die Band schon lange kennt, wehmütig feststellen, dass ihr etwas Entscheidendes verloren gegangen ist, das sich wohl kaum wiederherstellen lässt: ihre dilettantische Unbefangenheit, ihr einfach so Drauflosrocken, die charmante Ungelenkheit ihrer Texte, die immer etwas an nervige Klugscheißer aus dem Deutschleistungskurs erinnerte. Vorbei! Heute spielen sie (leider!) sauberer und texten (leider!!) abgeklärter als früher, wo es auch mal hieß: “Gitarrenhändler, ihr seid Schweine!” Das Gesamturteil lautet: voll befriedigend (12 Punkte).

Tocotronic
Kapitulation
Vertigo Be / Universal Music Berlin 2007, CD, 54:06 Minuten
ca. EUR 15,00
ASIN: B000R7HYXM