Best of Jurastudium, Teil 5
Thomas Claer
Es gibt im Menschenleben Augenblicke, in denen entscheidet sich das eigene Schicksal. Jetzt umkehren oder doch den eingeschlagenen Weg fortsetzen? Lieber ein Ende mit Schrecken oder besser Augen zu und durch? Diese Fragen stellen sich dann – und niemand nimmt sie einem ab.
Der Tiefpunkt
Es muss wohl im vierten oder fünften Semester gewesen sein und war der Tiefpunkt meiner juristischen Karriere. Niemals hätte ich geglaubt, durch eine Hausarbeit fallen zu können. Eine gewisse Rest-Arroganz aus gymnasialen Tagen hatte sich bei mir noch erhalten. Wer nicht ganz blöd ist und vernünftig arbeitet, der muss es doch irgendwie schaffen, nicht zu den dreißig oder vierzig Prozent Losern zu gehören, dachte ich, zumal es bei den kleinen Scheinen ja auch irgendwie geklappt hatte. Aber weit gefehlt! Diesmal waren es nicht einmal 15 Prozent der insgesamt vielleicht fünfhundert Teilnehmer, die das Klassenziel nicht erreicht hatten, und unter meiner großen Hausarbeit im Zivilrecht stand: mangelhaft (2 Punkte). Was es noch schlimmer machte: Ich hatte viereinhalb Wochen lang wirklich mein Bestes gegeben. Da tröstete es wenig, dass zwei Kommilitonen aus meiner Lerngruppe, in der wir uns nach langer Diskussion auf einen gemeinsamen Lösungsweg geeinigt hatten, das gleiche Schicksal ereilt hatte. Genau genommen waren es jene beiden, die wie ich zur ersten Hälfte der zweigeteilten Übung (Nachnamens-Buchstaben A-K) gehörten. Die beiden anderen Mitstreiter, die unter L-Z fielen, lagen mit jeweils 5 Punkten über dem Strich. Ich glaubte zuerst an ein Missverständnis, was sich doch sicherlich noch irgendwie aufklären lassen würde. In der Fallbesprechung vor Rückgabe der Arbeiten hatten wir doch alle mit großer Befriedigung festgestellt, im Ergebnis exakt die Musterlösung des Falles getroffen zu haben. Doch stand unter meiner Arbeit (wie unter denen meiner Leidensgenossen) etwas von schwerwiegenden Mängeln im Aufbau. Tatsächlich, die Punkte drei und vier der Prüfung des entscheidenden Anspruchs – es war irgendwas mit einer Hypothek – hatten wir andersherum bearbeitet, als es in der offiziellen Musterlösung stand. Aber unser Prüfungsschema hatten wir uns doch nicht ausgedacht, sondern auch nur irgendwo angelesen! Noch am selben Abend schrieb ich, wie meine zwei unglücklichen Mitstreiter, ein ausführlich begründetes Bittgesuch an den Dozenten, der für die Buchstaben A-K verantwortlich war. Mit dieser Methode hatte ich früher bei einer “kleinen” BGB-Klausur schon einmal Erfolg gehabt. Doch nach einer Woche kam das niederschmetternde Ergebnis: Es bleibe dabei wegen schwerer Mängel im Aufbau. Unsere Prüfung sei unlogisch. Fand ich nicht, aber das half ja nun auch nicht mehr.
Die Zweifel
Bevor ich mir den neuen Sachverhalt für die Wiederholer abholte, kamen mir sehr grundsätzliche Zweifel, ob ich mir das überhaupt noch antun sollte. Ich war auch einfach wütend. Was ist das für eine merkwürdige Wissenschaft, fragte ich mich, für die man wegen einer blöden Abweichung vom Schema F mehrere Wochen umsonst gearbeitet hat? Damals kam es mir noch nicht in den Sinn, dass es sich bei der juristischen Ausbildung auch um ein mentales Training handeln könnte, um die Vermittlung von Härte im Nehmen, von Steher- und Wiederaufsteher-Qualitäten. Das Jurastudium, so sehe ich es heute, lehrt einen, die Kontingenz und Absurdität der Welt zu ertragen. Wer sich von solchen Dingen (die wohl jeder Jurist in ähnlicher oder schlimmerer Form schon erlebt haben wird) nicht entmutigen lässt, wer da durchkommt, den wirft so schnell nichts mehr um. Dass aber das Studium der Rechte, wie böse Zungen sagen, den Charakter verdirbt, dass es egoistisch und verschlagen mache, wer wollte da widersprechen? Schon weil niemals alle bestehen können und es immer Lerngruppen gibt, die anderen deshalb wichtige Informationen vorenthalten und die entscheidenden Bücher in der Bibliothek verstecken oder wichtige Seiten herausreißen. Und dann werden die jeweils hübschesten Mädchen zum Spionieren in die anderen Gruppen geschickt. Perfide! Zum Intriganten wird man im Jurastudium also auch ausgebildet.
Schade um die schönen Scheine
Ich glaube, ich fand es letztlich nur schade und verschwenderisch, meine bereits erworbenen Scheine einfach verfallen zu lassen. Viele andere Semester-Kollegen, mit denen wir das Studium begonnen hatten, waren schließlich schon auf der Strecke geblieben. Nur deshalb machte ich wohl damals überhaupt noch weiter.
Die Nachschreibe-Arbeit schrieben wir also zu dritt, parallel zu den regulären Lehrveranstaltungen. Verbunden mit dem ständigen Gedanken, sich keinen weiteren Fehltritt mehr erlauben zu können, brachte mich das am Abend vor dem Abgabetermin in einen Zustand völliger Erschöpfung. Und auf dem Weg von der Bibliothek ins Wohnheim, es war ein Uhr nachts (In Bielefeld sind die Öffnungszeiten vorbildlich extensiv!), da bemerkte ich am Himmel drei kleine Lichtpunkte, die sich in Zickzacklinien bewegten. War es eine Sinnestäuschung infolge der Überanstrengung oder eher eine Spätfolge meiner ausgiebigen Lektüre der Bücher des Erich von Däniken in Teenagertagen? Ich weiß es bis heute nicht mit Bestimmtheit zu sagen. Schnell ging ich ins Wohnheim und schlief sofort ein. In der Hausarbeit bekam ich 10 Punkte. Es gibt eben Dinge zwischen Himmel und Erde, die gibt’s gar nicht.