Justament März 2008: Land der Extreme

Eine vergleichende rechtskulturelle Betrachtung

Thomas Claer

28 DRUM HERUM TC Land der Extreme FotoEin wenig vereinfachend könnte man sagen: Das heutige Deutschland zerfällt rechtskulturell gesehen in zwei heterogene Teile, nämlich in seine Hauptstadt Berlin einerseits und den Rest der Republik andererseits. Exemplarisch soll zum Beleg dieser These ein punktueller Vergleich der Bundeshauptstadt mit der – wie man sagt – durchschnittlichsten aller deutschen Städte dienen, in welche es den Verfasser während seines Jurastudiums so zufälliger- wie unglücklicherweise verschlagen hatte. Die Rede ist von Bielefeld, der Stadt am Teutoburger Wald, wo meine heutige Frau und ich die Wohnzeit im Studentenwohnheim irgendwann nicht mehr weiter verlängern konnten und uns eine Genossenschaftswohnung am Stadtrand suchten.

Putzorgien in Bielefeld
Man hatte uns gewarnt, die Gegend sei ein sozialer Brennpunkt, hieß es. Aber die schöne, große und billige Wohnung und die Lage direkt am Wald waren doch zu verführerisch. Schon bald nach dem Einzug mussten wir feststellen, dass in jenem Hause eine weit über siebzigjährige Dame, nennen wir sie Frau Kurz, als Hausordnungsverantwortliche der Genossenschaft ein gar strenges Regiment führte. Von Anbeginn nahm sie uns unter ihre Fittiche und erklärte uns genau, was wir laut Hausordnung nun alles im Hause und drum herum zu tun haben würden. Und das war weiß Gott nicht wenig: Alle zwei Wochen war man jeweils mittwochs und samstags dran mit dem Treppenhausdienst, der aus Treppefegen, Treppe feucht wischen und dazu noch Fensterputzen bestand. Mit Huschhusch war es da nicht getan. Auch die zumeist offensichtliche Sauberkeit des Treppenhauses und erst recht die der Fenster war nicht ausschlaggebend. Frau Kurz wachte unerbittlich darüber, dass alle Arbeiten umfassend und gründlich ausgeführt wurden. Es gehe ja nicht allein um den Schmutz, sondern vor allem um den Staub, belehrte sie uns. Recht häufig klingelte sie auch an unserer Wohnungstür, um uns ihre Beanstandungen unserer Arbeiten mitzuteilen oder uns zu verdächtigen, diese nicht oder nicht fristgerecht ausgeführt zu haben. Und noch viel grotesker war es mit den anderen Verpflichtungen: Zweimal im Jahr musste jeder Wohnungsbesitzer den gesamten Gemeinschaftskeller auswischen. Nie konnte ich einen Unterschied zwischen Vorher- und Nachherzustand feststellen. Frau Kurz aber merkte sofort, wenn man sich auch nur einmal drücken wollte. Und dann die Gehwege vor dem Haus: Da war man alle sechs Wochen dran. Ein einziges Mal in vier Jahren fand ich ein weggeworfenes Stück Papier, ansonsten fegten wir jeweils fast eine Stunde lang vereinzelte Sandkörner zusammen. Und alle Nachbarn machten mit bei der wöchentlichen Reinigung des ohnehin immer wie geleckt aussehenden Umfelds. Niemand außer uns schien sich an diesem Irrsinn zu stören. Hilfe, wo waren wir gelandet?

Schmuddelkram in Berlin
Das vollständige Kontrastprogramm erleben wir seit unserem Umzug nach Berlin vor gut fünf Jahren. Auch hier zogen wir in eine einfache Wohnlage: schöne große Wohnung, billige Miete. Zuerst staunten wir, dass der Hauswart der Genossenschaft die Treppe selbst putzte: “Sonst macht det ja keener”, antwortete er auf unsere Anfrage. Auch andere Putzverpflichtungen der Mieter waren hier unbekannt. Wie schön, dachten wir, und genossen unsere neue Freiheit. Doch bemerkten wir schon bald, dass man hier – anders als in Bielefeld – nun wirklich mal häufiger die Gehwege fegen müsste. Überall lagen weggeworfene Plastikbeutel, Werbezettel, Imbisstüten, Essensreste und sonstiger Müll auf den Straßen und Wegen – im reinen Wohngebiet wohlgemerkt. Wenn die Stadtreinigung, zu deren Aufgaben die Säuberung der Gehwege gehörte, wieder mal da war, war es sauber – aber das hielt, vor allem im Sommer, höchstens für einen Tag. Und manchmal sah man sogar Ratten, die sich an den Essensresten erfreuten. Wenn das unsere Frau Kurz sehen würde, die fiele sofort in Ohnmacht, dachten wir oft. Wer macht das bloß, fragten wir uns, bis wir einmal eine Gruppe südländisch aussehender Jugendlicher sahen, die ihre Plastikbecher vom Imbiss einfach fallen ließen. Politische Korrektheit hin oder her, nun glaubten wir, die Schuldigen gefunden zu haben: Die Türken mussten es sein. Doch in unserem anschließenden Türkeiurlaub konnten wir feststellen: überall nur strahlende Sauberkeit. Und in den zentralen Berliner Ostbezirken registrierten wir schließlich ebenfalls öfter Bilder der Verwüstung. Auch fiel uns ein, dass es damals in Bielefeld ein türkischer Mann vom Nebenaufgang gewesen war, der uns energisch dazu aufgefordert hatte, auch noch die andere saubere Hälfte des Gehwegs zu fegen, da sie noch zu unserem Gebiet gehöre. Dann sind es eben ganz allgemein die Jugendlichen, meinten wir nun, bis wir in einem angesagten Szeneviertel, allerdings spät am Abend, Zeuge wurden, wie ein gar nicht schlecht gekleideter, gewiss über vierzigjähriger Mann mitten auf den Gehweg einen großen braunen Haufen setzte. Einfach so. Langsam wurde uns nun auch klar, dass der penetrante Uringeruch in unserem Kellereingang nicht, wie wir anfangs glaubten, zwangsläufig von einem Hund stammen musste. Und auch am S-Bahnhof der nicht mehr ganz so schlechten Gegend, in die wir vor einem Jahr gezogen sind, sieht man täglich Männer jeden Alters und jeder Herkunft am helllichten Tage urinieren. Einmal hielt ein Taxifahrer dort, stieg aus, pinkelte gegen die Hecke und fuhr anschließend weiter. Alle hier finden das ganz normal. Als ein offensichtlicher Berlin-Neuling sich abfällig über die Vermüllung eines S-Bahn-Wagens äußerte, wies ihn ein anderer Fahrgast zurecht: “Det is hier die S-Bahn und keen Museum. Wo jehobelt wird, da fallen Späne.”  Nur selten stört sich jemand daran, wenn z.B. wieder einer ins Treppenhaus gepinkelt hat, und hängt einen bösen Zettel an die Wand (siehe Foto).
Bielefeld und Berlin – der Gegensatz könnte nicht stärker sein. Deutschland ist ein Land der Extreme.

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