justament.de, 6.6.2022: War der Szenebezirks-Hype nur eine Blase?
Das Zahlenwerk aus dem aktuellen Wohnmarktreport Berlin unter der Lupe
Thomas Claer
Nach zwei Jahren gibt es nun endlich wieder einen „Wohnmarktreport Berlin“ mit ausführlichem Zahlenwerk über den Mietmarkt in allen 191 Postleitzahlgebieten unserer Hauptstadt. Im Vorjahr konnte nämlich nur eine beinahe zahlenlose Rumpfversion dieser traditionsreichen jährlichen Studie erscheinen, da es wegen des berüchtigten Berliner Mietendeckels, der mittlerweile vom Bundesverfassungsgericht gestoppt wurde, monatelang kaum noch Mietwohnungsinserate mehr gegeben hatte, die man hätte auswerten können… Vordergründig betrachtet scheint in diesen zwei Jahren aber gar nicht viel passiert zu sein, denn die Median-Miethöhe im gesamten Stadtgebiet ist zwischen 2019 und 2021 um gerade einmal 0,6% von 10,44 Euro auf 10,50 Euro gestiegen. Doch trügt dieser Schein gewaltig, denn schaut man genauer hin, was wir auch diesmal, siehe unten, getan haben, so erkennt man, dass es in den 23 Altbezirken von vor der Gebietsreform, die wir wegen ihrer größeren Genauigkeit abermals als Vergleichsmaßstab herangezogen haben, in den letzten 24 Monaten höchst heterogene Entwicklungen gegeben hat.
Zunächst fällt auf, dass die Innenstadt-Regionen, abgesehen von den massiv positiven Ausreißern Mitte (Alt), Wilmersdorf und südliches Charlottenburg, allesamt signifikante Rückgänge in der Angebots-Miethöhe zu verzeichnen hatten. Besonders gilt dies für die Gentrifizierungs-Lagen Neukölln-Nord und Wedding, die nach jahrelanger steiler Aufwärtsbewegung zuletzt einen erstaunlichen Absturz zu erleiden hatten. So liegen die beiden bisherigen Trend-Lagen inzwischen gerade einmal noch an der Oberkante des unteren Drittels aller Altbezirke. Einen fulminanten Sprung nach oben haben dafür mehrere vornehmlich östliche Peripherie-Bezirke hingelegt: Um fast schon sensationelle zweistellige Prozentsätze nach oben ging es in Treptow, Köpenick, Pankow, Hellersdorf und – ganz besonders – Weißensee, das mit einem Anstieg um 13,8% diesmal den Vogel abgeschossen hat.
Was ist da los?, so fragt man sich irritiert, und kommt nach einiger Überlegung auf mindestens drei mögliche Auslöser dieser bemerkenswerten Bewegungen. Zunächst einmal dürfte die im Beobachtungszeitraum grassierende Corona-Pandemie mit dafür gesorgt haben, dass Wohngebiete außerhalb der engen und überlaufenen Zentrallagen tendenziell an Beliebtheit gewonnen haben, während das Zentrum einen entsprechenden Bedeutungsverlust hinnehmen musste. Ausgenommen hiervon waren aber offenbar besonders repräsentative Lagen (Mitte sowie rund um den Ku’damm), die sogar teilweise noch deutlich anziehen konnten. Im relativen Abstieg der Szenebezirke spiegelt sich hingegen das pandemiebedingt stark ausgedünnte Freizeitangebot mit all den geschlossenen Bars und Clubs wider. Insofern sind aber starke Zweifel daran angebracht, ob dieser Trend nachhaltig ist, denn früher oder später dürfte der Party-Orkan in den Szenebezirken wieder anschwellen. Noch dazu könnten die mittlerweile kriegsbedingt und vermutlich auch auf lange Sicht höheren Transport- und Energiekosten dafür sorgen, dass sich die vorübergehende Tendenz zu großen Immobilien am Stadtrand (oder sogar außerhalb der Städte) rasch wieder umkehren wird.
Ein weiterer wichtiger Einflussfaktor liegt vermutlich im zunehmenden Wohnungs-Neubau in vielen östlichen Peripherie-Bezirken. Auch wenn nur ein geringerer Teil dieser Neubau-Projekte überhaupt Mietwohnungen beinhaltet und von diesen auch noch ein erheblicher Anteil zu öffentlich vorgeschriebenen Niedrigmieten vermietet werden muss, hat selbst dieses regulatorisch ausgebremste zusätzliche Wohnungsangebot wegen des Basiseffekts der überwiegend sehr niedrigen Bestandsmieten enorme Auswirkungen auf die gemessene Höhe der Angebotsmieten.
Schließlich lässt sich als dritter bedeutsamer Einflussfaktor die zunehmende politische Regulierung des Berliner Mietmarktes mit entsprechenden Ausweichreaktionen von der Vermieterseite ausmachen. Spätestens die lange Hängepartie mit dem schließlich vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig eingestuften Mietendeckel, um von zahllosen weiteren aktuell diskutierten Regulierungsvorschlägen gar nicht zu reden, dürfte einen nicht geringen Teil zumindest der Berliner Kleinvermieter zur strikten Vermeidung von unbefristeten Mietverträgen getrieben haben. Und nur solche Standard-Mietvertrags-Angebote werden für den Wohnmarktreport mitgezählt, nicht aber die gerade in den zentralen Lagen immer beliebter werdenden kurz- oder mittelfristigenmöblierten Vermietungen, deren Preisniveau in der Regel weitaus höher liegt.
Kurzum, trotz aller beschriebener Unschärfen liefert der aktuelle Wohnmarktreport wieder ein aufschlussreiches Bild – besonders für diejenigen, die zwischen den Zahlen zu lesen verstehen…
Wohnkosten in Berliner Bezirken (Angebotskaltmiete pro qm) gem. Wohnmarktreport 2021 (2019) nach Alt-Bezirken:
1. (1.) Mitte (Alt) 17,14 (15,47) +10,8% alternativ/repräsentativ
2. (4.) Wilmersdorf 14,21 (13,11) +8,4% großbürgerlich/bürgerlich
3. (3.) Friedrichshain 13,88 (13,28) +4,5% alternativ/lebendig
4. (2.) Tiergarten 13,85 (13,47) +2,8% gemischt/lebendig
5. (5.) Prenzlauer Berg 12,99 (13,04) -0,4% alternativ/neubürgerlich
6. (6.) Kreuzberg 12,62 (12,96) -2,6% alternativ/lebendig
7. (7.) Charlottenburg 12,58 (12,37) +1,7% großbürgerlich/lebendig
8. (9.) Zehlendorf 12,26 (11,54) +6,2% großbürgerlich/bürgerlich
9. (13.) Treptow 11,63 (10,31) +12,8% proletarisch/lebendig
10. (8.) Schöneberg 11,62 (12,07) -3,7% bürgerlich/lebendig
11. (14.) Pankow 11,34 (10,30) +10,1% bürgerlich/lebendig
12. (15.) Köpenick 10,87 (9,86) +10,2% bürgerlich/proletarisch
13. (18.) Weißensee 10,82 (9,51) +13,8% bürgerlich
14. (12.) Steglitz 10,52 (10,42) +1,0% bürgerlich/kleinbürgerlich
15. (10.) Wedding 10,17 (11,37) -10,6% proletarisch/lebendig
16. (11.) Neukölln 9,94 (10,52) -5,5% alternativ/proletarisch
17.(16.) Tempelhof 9,72 (9,62) +1,0% kleinbürgerlich/bürgerlich
18. (21.) Hellersdorf 9,42 (8,65) +8,9% proletarisch/gemischt
19. (17.) Lichtenberg 9,36 (9,60) -2,5% proletarisch/kleinbürgerl.
20. (19.) Reinickendorf 9,24 (9,25) -0,1% kleinbürgerlich/bürgerlich
21. (20.) Spandau 8,73 (8,81) +0,9% kleinbürgerlich/lebendig
22. (23.) Marzahn 7,78 (7,74) +0,5% proletarisch/gemischt
23. (22.) Hohenschönhausen 7,43 (8,23) -9,7% proletarisch/gemischt
Quelle: Wohnmarktreport Berlin 2022 (Berlin Hyp und CBRE) und eigene Berechnungen.
Informationen: https://www.cbre.de/de-de/research/CBRE-Berlin-Hyp-Berlin-Wohnmarktreport-2022
justament.de, 14.3.2022: Impressionen von der Anti-Kriegs-Demo
Justament-Reporter Thomas Claer berichtet aus Berlin
Es ändert vielleicht nicht viel, ist aber immerhin ein starkes Signal, wenn in diesen Tagen Menschen weltweit zu Tausenden auf die Straße gehen, um ihre Solidarität mit der überfallenen Ukraine auszudrücken und der Lügenpropaganda der russischen Führung etwas entgegenzusetzen. So auch an diesem sonnigen Vorfrühlingstag in Berlin, wo wir uns mit selbstgebasteltem Transparent in die Reihen der Demonstranten am Alexanderplatz begeben. Erfreulich ist ferner, welch ein breites Bündnis diese Kundgebung unterstützt. Selbst die Partei “Die Linke” ist mit wehenden roten Fahnen dabei. Womöglich plagt ja die zahlreichen Putin-Versteher in ihren Reihen nun doch ein schlechtes Gewissen… Auch sieht man viele der obligatorischen weißen Friedenstauben auf blauem Grund. Nur haben offenbar manche Vertreter der Friedensbewegung ganz buchstäblich den Schuss noch nicht gehört, oder wie soll man ein Banner mit der Aufschrift “Abrüstung jetzt! Europa ohne Atomwaffen!” sonst verstehen?! Fehlte nur noch, dass sie auch weiterhin, wie sie es jahrzehntelang getan haben, die Auflösung der NATO empfehlen. Noch deutlicher könnte man die Einladung an den Despoten im Kreml, sich noch weitere Länder aus dem früheren Sowjetimperium zurückzuholen, gar nicht formulieren.
Überhaupt bekommt man den Eindruck, dass die bitteren neuen Realitäten die gewohnten politischen Positionen mächtig durcheinandergewirbelt haben. Das jüngst von Alt-Bundespräsident Joachim Gauck geforderte “Frieren für die Freiheit” wird heute von mehreren Plakatträgern unterstützt: “Kein russisches Öl und Gas!”, “Rather a cold ass than Putin’s gas!” So sieht es nach jüngstem Politbarometer auch eine Mehrheit von 55 Prozent der Wahlberechtigten hierzulande. Hingegen will Klima-Minister Robert Habeck im Einklang mit Bundeskanzler Scholz zunächst weiter an den russischen Importen festhalten, was vielleicht schon deshalb der vernünftigere Ansatz ist, weil man im (leider zu befürchtenden) Falle weiterer russischer Eskalationen dann noch genügend Pfeile im Köcher hat, um weiter schrittweise darauf reagieren zu können. Das “Frieren für die Freiheit” könnte uns eh noch früh genug blühen, wenn Russland uns aus eigenem Antrieb nicht mehr beliefern sollte…
Aus den Lautsprechern erschallt Rockmusik – und dann ein ukrainisches Freiheitslied. Jung und alt haben sich versammelt, man hört verschiedenste Sprachen, aber besonders häufig Russisch. Oder ist es Ukrainisch? Nur Eingeweihte können dies unterscheiden, was die Berichte über angebliche Diskriminierungen von Russischsprechenden wenig glaubhaft macht. Auch wenn man natürlich nichts ausschließen sollte, liegt es doch nahe, dass russische Trolle das ausgeheckt haben. Zumindest würde es bestens ins Bild passen… Der Demonstrationszug bewegt sich immer weiter in Richtung Westen. Wir schenken uns die Abschlusskundgebung an der Siegessäule, denn mittlerweile knurrt uns gewaltig der Magen…
justament.de, 20.12.2021: Berlin vor 40 Jahren
Sven Regeners sechster Roman „Glitterschnitter“
Thomas Claer
Wie es im Leben so kommt: Manchmal ist jahrelang alles nur Routine, und dann passiert plötzlich ganz viel in kurzer Zeit. Eine solche ereignisreiche Zeitspanne erlebt der junge Frank Lehmann, seit zwei Jahrzehnten die Hauptfigur in den Romanen des Berliner Autors und Musikers Sven Regener, um das Jahr 1980 herum, als er zunächst die elterliche Wohnung in der Bremer Neuen Vahr Süd verlässt, um während seines Bundeswehrdienstes in einer chaotischen WG im Szeneviertel am Steintor unterzukommen. Bald aber kehrt er der Armee und seiner WG den Rücken und flüchtet Hals über Kopf ins Aussteiger-Paradies West-Berlin, wo er eigentlich nur seinen Bruder besuchen will, dort jedoch ganz schnell hängenbleibt. Wie sich innerhalb weniger ereignisreicher Wochen alles ineinanderfügt, bis er auf die eingefahrenen Gleise gesetzt ist, auf denen er sich bis zum Mauerfall 1989 munter fortbewegt, wovon Sven Regeners gefeierter Debütroman „Herr Lehmann“ (2001) erzählt, davon handeln die vier aufeinander folgenden Romane „Neue Vahr Süd“ (2004), „Der kleine Bruder“ (2008), „Wiener Straße“ (2017) – und ganz aktuell: deren vor kurzem erschienene Fortsetzung „Glitterschnitter“. (Einen Ausreißer im Romanzyklus bildet nur der vierte Band „Magic Mysterie oder Die Rückkehr des Karl Schmidt“ (2013), der einen Zeitsprung ins Jahr 1995 wagt). Dass drei dieser vier zeitlich und inhaltlich direkt aneinander anknüpfenden Romane in Berlin spielen, zeigt, wie voraussetzungsreich Frank Lehmanns Achtzigerjahre-Existenz als Bierzapfer in Erwin Kächeles Kreuzberger Kneipe „Einfall“ zumindest in ihren Anfängen gewesen ist. Aber es liegt auch daran, dass hier über eine wirklich wilde Zeit berichtet wird – mit all ihren Ausbrüchen, Aufbrüchen und Experimenten.
Eine bunte Community hat sich da 1980 in Kreuzberg zusammengefunden. Lauter ganz überwiegend junge Leute, die fast alle irgendwelche Kunstprojekte am Laufen haben und nebenher ihren Brotjobs nachgehen: klassischerweise in der Kneipe oder im Taxi. Zwar ist die Szene noch längst nicht so international aufgestellt wie heute, doch immerhin schon aus dem gesamten deutschen Sprachraum zusammengewürfelt. Man hört die verschiedensten Dialekte, die dann mit den einheimischen Urberlinern um sprachliche Dominanz wetteifern. Man kommt mit sehr wenig Geld aus, viele sind schließlich auch Hausbesetzer und leben im ideologischen Biotop der Staatsverachtung und des „Bullen“-Hasses. Während „Der kleine Bruder“ wie seine Vorgänger noch durchgehend die Perspektive des Romanhelden einnahm, probierte Regener in „Wiener Straße“ erstmalig das von ihm so bezeichnete „multiperspektivische Erzählen“. Ohne allwissenden Erzähler wurde der Leser hier durch die jeweiligen Perspektiven und Gedankenströme einer Vielzahl von Romanfiguren geführt. Dieses Konzept setzt sich in „Glitterschnitter“ nun fort – und wird noch weiter radikalisiert. Auch vom Plot her ist der neue Roman deutlich ambitionierter als der vorherige. Es laufen durchweg mehrere Handlungsstränge parallel, die schließlich zu einem grandiosen Finale zusammenfinden. Wie in einem Wimmelbild – so hat es der Verfasser selbst bezeichnet – entfaltet sich so ein überaus lebendiges Panorama des kulturellen Lebens im westlichen Szenebezirk der damals geteilten Stadt. Man könnte sogar von einem alternativen Gesellschaftsroman sprechen, wäre das schöne Wort „alternativ“ nicht inzwischen auf so hässliche Weise vom Rechtspopulismus gekapert worden…
Das einzige, was man dem Roman vorwerfen kann, ist seine Geschwätzigkeit. Sicherlich haben die ausschweifenden Dialoge und nicht minder ausschweifenden inneren Monologe der Romanfiguren in diesem Konzept alle ihre Berechtigung. Aber 470 Seiten sind einfach zu viel des Guten. Hier hätte die Lektorin ihrem Autor vielleicht doch lieber etwas strenger in die Parade fahren sollen, denn ungefähr die Hälfte der endlosen Gesprächskaskaden zwischen den beiden liebenswerten Exil-Österreichern Kacki und P. Immel aus der „Arsch Art Gallery“ hätte es auch getan. Ferner hat das Lektorat auf S. 336 oben links übersehen, dass es richtigerweise: „…ein Heinzelmännchen, das die Arbeit macht…“ heißen muss – und nicht „…ein Heinzelmännchen, dass die Arbeit macht…”.
Ansonsten ist die Romanlektüre ganz überwiegend eine Freude. Im Zentrum der Handlung stehen das avantgardistische Bandprojekt Glitterschnitter mit Lehmann-Kumpel Karl Schmidt an der Bohrmaschine sowie das ausdauernde Ringen des Aktionskünstlers H.R. Ledigt mit seinem Manager Wiemer um den konzeptionell aussichtsreichsten Weg zur Kunstausstellung. Um Freundschaft und Verrat drehen sich die Gespräche nicht nur zwischen Kacki und P. Immel, sondern angesichts kollegialer Unstimmigkeiten hinsichtlich der Interpretation der Öffnungszeiten des Cafe Einfall auch zwischen Frank Lehmann und Karl Schmidt.
Besonders gut gelungen ist diesmal auch die Darstellung sowohl des männlichen als auch weiblichen sexuellen Begehrens, das zumal unter diesen jungen Menschen natürlich zurecht eine so bedeutsame Rolle spielt, und das am Ende des Tages genau dahin führt, wohin so etwas meistens führt, nämlich nirgendwohin. Der 21-jährige Frank Lehmann monologisiert in seinem Inneren ausführlich, wenn auch lustigerweise auf recht verdruckste und verschämte Weise, über seine nächtlichen erotischen Träume, in denen genau drei Frauen eine prominente Rolle spielen: neben der angehenden Glitterschnitter-Saxophonistin Lisa sind dies seine WG-Mitbewohnerin Chrissie (Erwin Kächeles Nichte) sowie deren 37-jährige Mutter Kerstin (Erwin Kächeles Schwester). Besonders schämt sich Frank für einen Traum, in dem er mit Mutter und Tochter gemeinsam zugange ist…
Bleibt noch die Frage, wie es im Romanzyklus weitergehen wird, denn dass Sven Regener von weiteren Fortsetzungen in Zukunft absehen wird, kann man sich zum Glück nicht vorstellen. Da nun aber Frank Lehmann endlich seinen Kneipenjob bekommen hat, könnte nun auch endlich einmal ein Zeitsprung fällig sein: vielleicht ins Jahr 1989 nach dem Mauerfall, hier hatte der Debut-Roman „Herr Lehmann“ geendet. Oder ins Jahr 1995 nach der Rückkehr Karl Schmidts von der Magical-Mystery-Tour. Denkbar wäre aber auch ein noch späterer Zeitpunkt, denn welcher Leser wollte nicht erfahren, wie es mit den Romanhelden auch auf lange Sicht weitergegangen ist. In ein paar Jahren werden wir hoffentlich schlauer sein.
Sven Regener
Glitterschnitter. Roman
Galiani Berlin
480 Seiten; 24,00 Euro
ISBN-10: 3869712341
justament.de, 13.9.2021: Berlin vor 90 Jahren
Berlin vor 90 Jahren
Recht cineastisch, Teil 38: „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ von Dominik Graf
Thomas Claer
Als Filmkritiker nimmt man sich ja gerne den unvergessenen Hellmuth Karasek zum Vorbild, der einmal unmittelbar nach einem Kinobesuch, wie seine Begleiterin später zu berichten wusste, sich bei ihr entschuldigte, er müsse mal ganz kurz telefonieren, dabei der SPIEGEL-Kulturredaktion seine bereits im Kinosaal gedanklich druckfertig getextete Filmrezension in den Hörer diktierte und sodann mit seiner Gefährtin ins Restaurant ging. Aber so etwas geht natürlich nicht bei jedem Film und keinesfalls bei einer spektakulären Literaturverfilmung, die im Nachgang eine intensive Auseinandersetzung sowohl mit jener selbst als auch mit der literarischen Vorlage verlangt.
Klare Sache, die neue „Fabian“-Verfilmung von Dominik Graf ist, obwohl sie bei der Berlinale leer ausging, ein cineastisches Großereignis. Vielleicht ist sie sogar, wie es in der Süddeutschen Zeitung hieß, die wichtigste deutsche Literaturverfilmung seit Schlöndorffs „Blechtrommel“ von 1979. Und in der Tat haben Graf und sein Team bei der Adaption von Erich Kästners Berlin-Roman aus dem Jahr 1931, die erkennbar auf der „Babylon Berlin“-Welle reitet, eine Menge richtig gemacht.
Zu frei nach Kästner?
Schon die Besetzung lässt sich als ein Glücksfall bezeichnen. Tom Schilling, der leptosome Schönling, ist natürlich geradezu prädestiniert für die Rolle des Fabian, des jungen promovierten Werbetexters, der Anfang der Dreißiger durchs Berliner Nachtleben streunt und dem alle Frauen zu Füßen liegen. Auch gibt Saskia Rosendahl eine mehr als passable Cornelia Battenberg, Fabians ehrgeizige bildhübsche Freundin, die – obgleich promovierte Juristin – eine große Filmkarriere als „neuer Frauentyp“ mit akademischer Bildung einschlägt, die sie allerdings schnurstracks durch das Bett des Filmproduzenten führt. Wirklich toll ist ferner Meret Becker als nymphomanische Anwaltsgattin Irene Moll, die die ganze Zeit hinter Fabian her ist. Und auch alle anderen Rollen sind durchweg überzeugend besetzt.
Ebenfalls kann sich die filmische Umsetzung sehen lassen, wenngleich hier und da vielleicht doch eine Spur zu viele technische Mätzchen eingebaut worden sind, aber zumindest stören sie den Filmgenuss nicht weiter. Selbst die Länge von mehr als drei Stunden geht in Ordnung, da eine noch stärkere Kürzung des Romaninhalts dem ganzen Unterfangen zweifellos geschadet hätte. Doch genau hier, beim Drehbuch, beginnt die Problematik dieser Verfilmung. Gewiss, schon im Vorspann heißt es „Frei nach Erich Kästner“, womit sich die Drehbuch-Autoren gewissermaßen Absolution für alle ihre inhaltlichen Eingriffe verschaffen. Dagegen ist auch grundsätzlich nichts zu sagen. Schwierig wird es nur, wenn dann, wie es hier leider oft der Fall ist, so manches hinten und vorne nicht mehr zusammenpasst. Die inhaltlichen Merkwürdigkeiten treten dann, besonders zum Ende hin, so gehäuft auf, dass einem gar nichts anderes übrig bleibt, als sich nach dem Film noch einmal den Roman vorzunehmen, dessen erstmalige Lektüre bei mir allerdings schon mehr als ein Vierteljahrhundert zurückliegt…
Lies nach im Roman!
Das wiederum erweist sich dann aber auch als Glücksfall, denn man liest das Buch naturgemäß mit ganz anderen Augen als damals im Studentenwohnheim. „Fabian“, soviel ist sicher, darf man getrost zu den großen deutschen Gesellschaftsromanen rechnen. Es ist ein überaus kluges Buch, womöglich sogar klüger als es sein damals 32-jähriger Autor gewesen ist, als er es zu Papier gebracht hat. Und es gibt so unendlich vieles darin, was einem, zumal aus heutiger Perspektive, ins Auge springt. Eine Welt im Umbruch mit modernen Institutionen, aber reichlich antiquierten Verhaltensweisen. Junge alleinstehende Menschen wohnen in aller Regel bei Hauswirtinnen, die für sie kochen, waschen und sogar ihre Zimmer aufräumen. Von Datenschutz oder Privatsphäre hat man damals überhaupt keinen Begriff. Dass plötzlich die besorgte Mutter des Protagonisten im Zimmer steht, weil dieser ihr einige Tage lang nicht geschrieben hat, wird von niemandem als übergriffig empfunden. Hingegen sind regelmäßige Bordell-Besuche für Männer jeden Alters mehr oder weniger sozial akzeptiert, ebenso der Umstand, dass sich ärmere Frauen und insbesondere Künstlerinnen prostituieren.
Besonders spannend ist auch die detaillierte Schilderung der wirtschaftlichen Aspekte des damaligen Alltagslebens. Man erfährt sehr genau, was alles so kostet, die Miete und der Kaffee, und wieviel ein Angestellter verdient. Wer damals in Berlin lebte, hatte demnach schon erhebliche Ausgaben. Für die täglichen Einkäufe gab es ja auch noch keine preisgünstigen Discounter. Daran gemessen waren die Einkünfte durch Erwerbsarbeit äußerst bescheiden, so etwas wie regelmäßige Urlaubsreisen für breite Bevölkerungsschichten kaum erschwinglich. (Woran man gut erkennt, auf welch hohem Niveau heute so gejammert wird…) Dennoch pulsierte das Nachtleben schon ganz ähnlich wie heute, nur dass sich darin noch so viel Ständisches erhalten hatte. Und es war weitgehend einer relativ kleinen, sehr gut verdienenden akademischen Oberschicht vorbehalten. Längst nicht jeder, der wollte, konnte mitmachen. Fabian mit seinem kleinen Einkommen profitiert hier von seinem aus großbürgerlichem Hause (Villa in Grunewald!) stammenden Freund Labude, der ihm immer wieder mit ein paar Scheinen behilflich ist.
Vier „Dinge“, mindestens
Sehr aufschlussreich ist auch, was man über das – wie man es heute nennt – „Männer-Frauen-Ding“ erfährt. Einerseits treten im Roman vielfach sehr selbstbewusste und moderne Frauenfiguren auf. Die erotomanische Anwaltsgattin Irene Moll verwirklicht schließlich ihren Jugendtraum und eröffnet ein Männer-Bordell. Die Mutter von Fabians Freund Labude, ebenfalls die Frau eines Anwalts, lebt die längste Zeit des Jahres in der Schweiz (während ihr Mann, ein berühmter Strafverteidiger, sich zu Hause in Berlin allen nur denkbaren erotischen Eskapaden hingibt). Doch andererseits droht den jungen Frauen noch sehr real die gesellschaftliche Ächtung durch ungewollte Schwangerschaft, und viele zeigen ein großes Interesse an Ehelichung einer in ihren Augen guten Partie. Wer wie Fabians große Liebe Cornelia eine akademische Ausbildung durchlaufen hat (sie ist promovierte Juristin!), träumt dennoch den Traum von der großen Filmkarriere als Schauspielerin und lässt sich dafür bereitwillig vom Filmproduzenten, Typ Harvey Weinstein, erotisch benutzen.
Ist das Buch also, was ihm ja manchmal vorgeworfen wird, insofern frauenfeindlich, weil die Frauenfiguren in ihm so negativ gezeichnet sind? Gegenfrage: Warum sollten Frauenfiguren sich immer als positive Rollenvorbilder eignen? Die männlichen Figuren tun dies doch schließlich auch nicht. Womit wir beim „Moral-Ding“ wären. Die „Geschichte eines Moralisten“ ist natürlich auch ein Stück weit ironisch aufzufassen. Ja, Fabian und erst recht sein Freund Labude sind stets hochmoralisch argumentierende Weltverbesserer (mit interessanten Unterschieden in ihren Weltbildern), aber in ihrem Verhalten dann keineswegs besonders menschenfreundlich, wenn es etwa um die Inanspruchnahme sexueller Dienstleistungen geht. Zwar schlägt Fabian, obwohl er nach seinem Jobverlust eigentlich dringend darauf angewiesen wäre, gleich mehrmals lukrative berufliche Offerten seitens Irene Molls aus, da er spürt, dass diese ihre auf ihn gerichteten amourösen Ambitionen noch längst nicht aufgegeben hat. Aber tut er dies wirklich aus grundsätzlicher Treue zu seiner Freundin Cornelia? Später im Roman beginnt er eine Affäre mit einer verheirateten Dame im Wedding, noch später lässt er sich in einem Bordell in Dresden auf die Zudringlichkeit einer jungen Prostituierten ein, die ihm ihre Dienste gratis zukommen lässt. (Diese beiden Episoden bleiben im Film jeweils ausgespart.) Aber woanders tut er auch eine Menge Gutes, verhilft einem Obdachlosen zu einer Mahlzeit im Restaurant, lässt sogar einen Wohnungslosen zu Hause auf seinem Sofa schlafen, bis hin zur verunglückten Rettungsaktion eines kleinen Jungen, bei der er selbst ums Leben kommt. Aber wer handelt schon immer konsequent?
Was hingegen in diesem Buch sehr überzeugend beschrieben wird, ist das, was man das „Angry-Young-Man-Ding“ nennen könnte. Die jungen Leute sind empört über die von ihnen beobachteten Missstände und fühlen sich ihrem gesellschaftlichen Umfeld moralisch überlegen, ohne dabei zu bemerken, wie fragwürdig sie sich selbst in ihrem Alltag verhalten. Zwar haben sie, Fabian und Labude, mit ihrer Gesellschaftskritik in vieler Hinsicht recht. Aber gerade in der Spätphase der Weimarer Republik wäre es eigentlich darauf angekommen, mit viel Pragmatismus das zarte Pflänzchen der Demokratie zu schützen und das Schlimmstmögliche zu verhindern; was dann aber prompt eingetreten ist, auch weil eine aufgeklärte junge Generation mit ihrem übersteigerten Moralismus und Sozialromantizismus der Demokratie noch fortwährend Knüppel zwischen die Beine geworfen hat…
Und dann natürlich – eng damit verbunden – das „Verletzter-Stolz-Ding“. Fabian glaubt als promovierter Germanist quasi einen Anspruch darauf zu haben, dass ihm der Arbeitsmarkt einen exzellenten und gutbezahlten Job offerieren möge. Dass dies nicht der Fall ist, sieht er als Systemversagen an und sinniert über die Vorzüge staatlicher Planwirtschaft, statt die historischen Besonderheiten der großen Depression, die Weltwirtschaftskrise zu berücksichtigen… Aber woher soll er so etwas wissen? Die unentwegt an jeder Ecke zu vernehmenden „So wie jetzt kann es nicht mehr weitergehen“ und „Es muss bald einen großen Knall geben“ lesen sich jedenfalls wie düstere Vorzeichen der bald erfolgenden Machtergreifung der Nazis.
Kurzum, dieser zumeist unterschätzte kleine Roman breitet ein sehr lebendiges und buntes Panorama Deutschlands und insbesondere Berlins vor 90 Jahren aus. Zwar war Erich Kästner nicht unbedingt der ganz große sprachliche Stilist, aber das wollte er vermutlich gar nicht sein. Vielmehr agierte er, der sich ja vor allem auch als Kinderbuchautor einen Namen gemacht hat, eher aus einer journalistisch-satirischen Ecke heraus. Und das Buch ist glänzend durchkomponiert, die Handlung sehr durchdacht, was sich vom Drehbuch zum Film hingegen nur eingeschränkt sagen lässt. Wobei der Film teilweise auch auf die vor acht Jahren aus der Versenkung hervorgeholte (damals wegen sittlich anstößiger Stellen vom Verlag abgelehnte) Urversion des Romans zurückgegriffen hat, die sich aber nur relativ geringfügig von der späteren Version unterscheidet, wie sich dem einschlägigen Wikipedia-Eintrag hierzu entnehmen lässt.
Eingriffe ohne Not
Womit wir also wieder beim Film angelangt wären. Dass ihm manche Kritiker den Vorwurf machten, er hätte Längen, lässt sich nur mit fehlender Lektüre der Romanvorlage durch die Betreffenden erklären. Wer den Roman kennt, dem wird der Film eher arg zusammengekürzt vorkommen. Dass das Drehbuch die Reihenfolge vieler Ereignisse auf den Kopf stellt, lässt sich vielleicht noch aus Gründen der Erzählökonomie rechtfertigen, denn so ein Film sollte nach Möglichkeit nicht vier oder fünf Stunden lang sein.
Viel gravierender sind aber die zahlreichen inhaltlichen Eingriffe ohne erkennbare Not dazu. Hier nur ein paar besonders krasse Beispiele: Fabian kauft ein teures Geschenk für Cornelia, nämlich ein schönes Kleid, und übergibt es ihr im Beisein seiner finanziell wie er selbst nicht auf Rosen gebetteten Mutter. Das ist ohne Frage sehr taktlos gegenüber der Mutter und passt überhaupt nicht zu Fabians Persönlichkeit. Im Buch findet sich auch nichts davon, dort erbittet sich lediglich Cornelia von Fabian einen Zuschuss zur Anschaffung eines Kleides fürs Vorsprechen für die Filmrolle. Zum Ende des Filmes heißt es plötzlich, Cornelia, die promovierte Juristin, sei im Wedding aufgewachsen, im sprichwörtlich roten Berliner Arbeiterbezirk. Was vollkommen unplausibel ist, denn dann würde sie niemals so sprechen und sich so verhalten, wie sie es tut. Im Buch ist sie wie Fabian eine Zugezogene aus der Provinz, vermutlich aus Süddeutschland, die in der Liebesszene bayrischen Schuhplattler tanzt. Das wiederum tut sie aber auch im Film, obwohl sie angeblich aus dem Wedding stammen soll… Der Geheimrat, der Ordinarius der Fakultät, der über Labudes Habilitationsschrift, zu befinden hat, wird im Film kurzerhand zum Nazi gemacht, der eine neue autoritäre Führung herbeisehnt. Im Buch kann davon keine Rede sein. Hier verkörpert der Geheimrat eher die besseren Tendenzen an der Universität, die es ja damals auch noch gegeben hat. Für die NS-Strömung steht hingegen dessen Assistent, was den Filmemachern aber wohl nicht genügt hat…
Gruß von Schillers “Taucher”
Und schließlich noch der schwerwiegendste Eingriff: Noch als Fabian nach zahlreichen Schicksalsschlägen Berlin den Rücken gekehrt hat und sich bereits wieder in seiner Heimatstadt Dresden aufhält, hält er im Film Kontakt mit Cornelia, die in der Wohnung lebt, die der Filmproduzent für sie angemietet hat, und verabredet sich mit ihr. Und während Fabian bei der oben erwähnten Rettungsaktion im Fluss ertrinkt, wartet Cornelia sehr lange und vergeblich in einem Berliner Café auf ihn. Das ist natürlich eine charmante Anspielung auf die Ballade „Der Taucher“ von Friedrich Schiller:
Da bückt sich’s hinunter mit liebendem Blick:
Es kommen, es kommen die Wasser all,
Sie rauschen herauf, sie rauschen nieder,
Den Jüngling bringt keines wieder.
Doch verkehrt dies die literarische Situation, wie sie aus der vorhergehenden Handlung entstanden ist, geradezu in ihr Gegenteil. So abgebrüht ist Fabian im Buch natürlich nicht, dass er es dauerhaft erträgt, wie Cornelia sich, um die begehrte Rolle zu bekommen, dem Filmproduzenten hingibt. Der Roman-Fabian, seinem Anspruch nach schließlich ein Moralist, ist weit davon entfernt, sich mit dieser Situation zu arrangieren, sondern ihm dient die Ausweglosigkeit seiner von Cornelia enttäuschten Liebe vielmehr als Anlass, Berlin zu verlassen. Durch diese Abweichung von der Romanhandlung schlägt der Film am Ende eine völlig andere Richtung ein, die auch seine Gesamtaussage entsprechend beeinflusst und zumindest beim aufmerksam mitdenkenden Zuschauer für nicht geringe Verärgerung sorgt.
Aber na gut, es ist nicht mehr zu ändern. So könnte dieser trotz allem sehr sehenswerte Film immerhin auch dafür sorgen, dass der eine oder andere Zuschauer vielleicht noch einmal die Romanvorlage aus dem Regal hervorzieht…
Fabian oder Der Gang vor die Hunde
Deutschland 2021
186 Minuten / FSK 12
Regie: Dominik Graf
Drehbuch: Dominik Graf / Christian Lieb
Darsteller: Tom Schilling (Jakob Fabian), Saskia Rosendahl (Cornelia Battenberg), Albrecht Schuch (Stephan Labude), Meret Becker (Irene Moll) u.v.a.
justament.de, 16.8.2021: 60 Jahre Mauerbau, 40 Jahre Verunzierung eines Fotos
Eine Geschichte aus der Schulzeit
Thomas Claer
Vor 60 Jahren und drei Tagen hat die DDR die Berliner Mauer errichtet. Vor fast 50 Jahren bin ich hinter dieser Mauer in der DDR geboren worden. Und vor ca. 40 Jahren, so ganz genau kann ich es nicht mehr sagen, jedenfalls muss ich wohl damals in der 3. oder 4. Klasse gewesen sein, wäre mir ein ikonisches Schwarzweiß-Foto vom Mauerbau beinahe zum Verhängnis geworden. Es war in unserem Heimatkunde-Buch abgedruckt und zeigte vier uniformierte Männer mit sehr entschlossenem Gesichtsausdruck, die jeweils ihren Finger am Abzug ihrer bedrohlich großen Gewehre hatten. Vor allem aber standen sie direkt vor dem Brandenburger Tor und schienen dieses zu bewachen. Es waren, wie die unter dem Bild stehende Beschriftung verriet, keine Soldaten, sondern Angehörige der „Kampfgruppen“, einer zusätzlich rekrutierten, heute würde man vielleicht sagen: paramilitärischen Einheit neben Polizei und Armee, die dort im Einsatz waren und – wie uns von unserer Lehrerin eingeschärft wurde – heldenhaft die Staatsgrenze unserer Deutschen Demokratischen Republik gegen westliche imperialistische Provokateure verteidigten.
Tatsächlich habe ich dieses Bild sofort wiedererkannt, als es vor einigen Tagen in einer Rückblende im „Heute Journal“ gezeigt wurde. Und es war auch gar nicht schwer, es aus dem Internet zu fischen. Wenn ich es heute, mit so großem zeitlichen Abstand, noch einmal betrachte, dann wirft es bei mir allerdings Fragen auf, die ich mir früher begreiflicherweise nie gestellt habe. Auf welcher Seite des Brandenburger Tores stehen diese Kampfgruppen denn eigentlich? Und auf wen richten sie ihre Gewehre? Entweder stehen sie auf der Ost-Seite und drohen der eigenen fluchtwilligen Bevölkerung, dann wäre das Bild aber ein grandioses propagandistisches Eigentor gewesen… Oder sie stehen auf der West-Seite und drohen dem Westen. Aber dann würden sie doch noch hinter den ganzen östlichen Grenzschutzanlagen stehen, und wie konnte überhaupt ein Fotograf auf dieses verminte Gelände gelangen?
Damals, als Dritt- oder Viertklässler, lagen mir solche Überlegungen natürlich noch fern. Und es hatte auch ganz bestimmt keinen politischen Hintergrund, dass ich frecherweise den Männern auf diesem Foto während des langweiligen Unterrichts mit dem Bleistift Bärte und Brillen gemalt hatte. (Schon seinerzeit hatte ich offenbar eine besondere Vorliebe für die kreative Bearbeitung von Fotomaterial…) Woraufhin unsere überaus strenge und politisch ultra-linientreue Klassenlehrerin ein riesiges Fass aufmachte, so dass ich gar nicht mehr wusste, wie mir geschah. Entrüstet und bebend vor Zorn hielt sie das Heimatkunde-Buch mit meiner Foto-Collage vor der Klasse in die Höhe, machte dabei ein angewidertes Gesicht und schimpfte mit schneidender Stimme, dass ich diese Männer, die heldenhaft unseren Sozialismus verteidigten, ins Lächerliche zöge und wie ich mich nur erdreisten könnte. Dabei hatte ich mir wirklich überhaupt nichts dabei gedacht. Erschrocken griff ich nach meinem Radiergummi und wollte meine Verunzierungen der Helden schnell wieder beseitigen, aber so leicht kam ich natürlich nicht davon.
Wie immer, wenn jemand von uns etwas ausgefressen hatte, forderte unsere Lehrerin die anderen Schüler auf, dazu Stellung zu nehmen. Und natürlich nutzten einige meiner Mitschüler die Gelegenheit, um sich von meiner abscheulichen Tat aufs Schärfste zu distanzieren. Nachdem ich mich dann aber auch noch kleinlaut für meinen bedauerlichen Fehltritt entschuldigt hatte, war die Sache zum Glück für mich erledigt. Es hätte auch schlimmer für mich ausgehen können. Andere hatten sich für vergleichbar geringfügige Verfehlungen auch schon mal einen Tadel eingehandelt.
justament.de, 14.9.2020: Kritik der Kollateralschäden
Maike Rosa Vogel auf ihrer sechsten CD “Eine Wirklichkeit”
Thomas Claer
Leidenschaftlich, kraftvoll und energisch sind die Frauen des Jahrgangs 1978, geboren im Jahr des Pferdes nach dem chinesischen Horoskop. So wie Franziska Giffey oder Charlotte Roche – oder wie Maike Rosa Vogel, deren mittlerweile sechste CD wir gerade glücklich in den Händen halten. Und alles, was diese wort- und klanggewaltige Liedermacherin aus Prenzlauer Berg ausmacht, findet sich in der gewohnten Fülle auch auf diesem Tonträger. Zwar ist sie, man muss es immer wieder betonen, eigentlich am besten, wenn sie nur mit ihrer Gitarre bewaffnet auf der Bühne steht, weshalb ihr neues, aufwendig instrumentiertes Album mit Auftritten mehrerer Gastmusiker streckenweise ein wenig überproduziert wirkt. Und doch ist ihr manches, und gar nicht so weniges, auf “Eine Wirklichkeit” sogar auf besondere Weise gelungen. So enthält diese Platte selbst nach ihren Maßstäben eine ungewöhnliche Vielzahl herausragender Songs: das feurige Liebeslied “Nie genug”; das melancholisch-tiefsinnige “Die gleichen Stümper”; das dank Sven Regeners Jazz-Trompete und auch sonst bemerkenswert groovende “Baby & Johnny” (noch dazu mit einem so anrührenden Text!); das ein – für ihre Verhältnisse – erstaunlich realistisches Menschenbild textlich und musikalisch umsetzende “Der allerletzte Grund” (es geht um die Schönheit des Angebeteten, die von außen und die von innen, wobei diese natürlich ganz maßgeblich im Auge der Betrachterin liegt…) und – nicht zu vergessen – “Einfach so”, das heitere Duett mit dem Kollegen Felix Meyer, das einen schon ziemlich an das Lied “Herz ist Trumpf” von Achim Reichel erinnert, was aber keineswegs ein Einwand sein soll. So wie auch der Refrain im Lied “Heimat” schwer nach “Watt?” von Torfrock klingt, was aber ebenfalls nicht schlimm ist…
Doch nun zum stärksten Song des Albums, der schon zwei Jahre alt ist und auf dieser Platte in einer (musikalisch) anderen Version erscheint als auf YouTube: “Unser Geld ist wichtiger als ihr”. Ein rigoroser und kompromissloser antikapitalistischer Protestsong, wie er im Buche steht! Er richtet sich mit aller Wucht gegen “die Autoindustrie” und “die Vermieter”. In (selbst-)gerechtem Zorn klagt das lyrische Ich über letztere wie folgt:
“In Deutschland nehmen Menschen
Mieten von den anderen Menschen,
Die nicht die Sorge haben, sich zu überlegen,
Wie sie ihr Erbe investieren in Immobilien in Berlin
Denn bei der Bank gibt es gerade viel zu wenig Zinsen.
Und damit die mit so viel Geld überhaupt noch was verdienen,
Zahlen andere die immer höheren Mieten.
Selber kaufen können sie nichts,
Denn aus kapitalistischer Sicht
Bist du frei genug zum Miete zahlen,
Aber gehören tut dir dadurch nichts.
Und immer dann, wenn einer etwas kann,
Was andere nie können,
Nur weil er Geld hat
Und er hat es nicht verdient.
Ist das ein Fuckyou an die Menschheit,
Jeden einzelnen von uns,
Das sagt: unser Geld ist wichtiger als wir.
…
Und immer dann, wenn einer nimmt von Menschen, die kaum etwas haben,
Damit der große Haufen Geld von ihm noch etwas größer wird,
Ist das ein Fuckyou an die Kinder dieser Menschen,
Das sagt: Unser Geld ist wichtiger als ihr.”
So sieht es aus Mieterperspektive also aus, ein Schlag voll in die Fresse der Kleinvermieter. Und damit hat das erzählende Ich in diesem Song zweifellos (s)eine subjektive Wahrheit ausgesprochen – und das in meisterhafter Zuspitzung. Aber… Eigentlich könnte und müsste man eine längere Abhandlung, ja einen ganzen Roman über die Einseitigkeit und himmelschreiende Ungerechtigkeit dieser Haltung schreiben! Hier nur so viel in aller Kürze: Wirklich abenteuerlich wäre es, Berliner Vermietern maßlose Gier und Gewinnstreben vorzuwerfen, wenn sie mit den Wohnungen, in die sie investiert haben, Renditen von weit weniger als drei Prozent einfahren (was heute die Regel ist), während das Vermieten auch noch mit einem erheblichen Kraft- und Zeitaufwand verbunden ist, insbesondere was die oft äußerst mühsame Organisation von Reparaturen und Renovierungen betrifft. (Jene Vermieter hingegen, die heute Renditen zwischen vier und sechs Prozent erzielen, haben ihre Berliner Wohnungen bereits in Zeiten gekauft, als noch ein signifikantes Leerstandsrisiko bestand. Sie sind also ein unternehmerisches Risiko eingegangen und werden dafür nun belohnt; es hätte für sie aber auch schiefgehen können…) Und wer sich das Vermieten bei so begrenztem Anreiz nicht mehr antun möchte, kann seine Wohnungen doch jederzeit auch an Selbstnutzer verkaufen und sie somit dem Mietmarkt entziehen, was die Wohnungsnot weiter vergrößern würde. Es wäre also völlig verfehlt, kleinen Vermietern die Schuld an der Wohnungsmisere zuzuschreiben. Man sollte ihnen eher Anerkennung zollen, dass sie die Mühen (und oftmals auch den Ärger!) des Vermietens weiter auf sich nehmen. Wer wirklich viel Geld hat, würde seine Wohnungen doch niemals vermieten (bei im Verhältnis zu den eingesetzten Mitteln so überschaubaren Erträgen), sondern sie nur als Geldparkplatz behalten und leer stehen lassen bzw. vielleicht einmal im Jahr ein paar Tage darin verbringen.
Aber das lyrische Ich wälzt ja auch keineswegs alle Schuld auf die einzelnen Vermieter ab, sondern beschreibt sehr zutreffend den Anlagenotstand aufgrund der Niedrigzinspolitik der Zentralbanken. Trifft dann also EZB, Fed & Co., diese Erfüllungsgehilfen des Finanzkapitals, die Hauptschuld? Wer das glaubt, sollte sich vor Augen halten, dass die entschlossene Niedrigzinspolitik der Notenbanken als Reaktion auf die Finanzkrise 2008f. und aktuell als Reaktion auf den Corona-Lockdown entscheidend dazu beigetragen hat, eine Weltwirtschaftskrise zu verhindern, wie wir sie vor knapp einem Jahrhundert erlebt haben, die Millionen von Menschen in den wirtschaftlichen Ruin getrieben hat und den Zweiten Weltkrieg mit seinen vielen Millionen Toten mit herbeigeführt hat. Nur weil die Zentralbanken – geleitet von fachwissenschaftlichem Sachverstand – diesmal die angemessenen Lehren aus der Geschichte gezogen und die Geldmenge erhöht statt wie damals gedrosselt haben, sind uns Massenarbeitslosigkeit, Not und Elend erspart geblieben. Allerdings führt eine solche jahrelange Politik des billigen Geldes zwangsläufig zu einer Inflation der Vermögenspreise, lässt also den Wert von Immobilien und Aktien (sofern es grundsätzlich eine Nachfrage für sie gibt) bedeutend steigen, was “Kollateralschäden” wie den im Lied beschriebenen (“immer höhere Mieten”) mit sich bringt.
Natürlich ist es legitim und sogar außerordentlich verdienstvoll, dies anzuprangern, da hier ein politisches Gegensteuern nötig ist, das allerdings zielführend und intelligent sein sollte, was eine gesetzliche Deckelung der Miethöhe ganz sicher nicht ist, da sie Anreize zum Investieren abwürgt und die Wohnungsnot dadurch nur verschlimmert… Und noch dazu erscheint das aktuelle Mietniveau in Berlin – trotz der rasanten Anstiege der letzten Jahre – sowohl im nationalen als auch im internationalen Vergleich noch als äußerst moderat. (Wir reden über die Hauptstadt der viertgrößten Volkswirtschaft der Welt und die fünftgrößte Stadt Europas!) Und niemand sollte die Augen davor verschließen, was die Bewirtschaftung einer Immobilie auf lange Sicht kostet und wie wenig von den Einnahmen der Vermieter als deren Gewinn übrig bleibt. Das Problem in Berlin sind jedenfalls eher die ungewöhnlich niedrigen Löhne als die angeblich zu hohen Mieten!
Ist dann also letzten Endes doch wieder “der Kapitalismus” schuld mit seiner perversen Logik der Gewinnmaximierung, die alle Beteiligten nur zu Getriebenen macht? So suggerieren es ja die beiden letzten zitierten Strophen des Songs. Und auch hier kann man nur sagen: Die Kritik dieser Kollateralschäden des Kapitalismus – wer Geld hat, kann etwas, was andere nicht können – ist aller Ehren wert. Aber wäre es ohne Kapitalismus wirklich besser? Wenn nicht das Portemonnaie, sondern eine Partei bestimmt, wer etwas darf und wer nicht und wer eine Wohnung bekommt und wer nicht? Denn die Wohnungsnot wäre ja auch nach einer Abschaffung des Kapitalismus keineswegs beseitigt, solange die Nachfrage nach Wohnungen in bestimmten Lagen das bestehende Angebot bedeutend überschreitet… Bis vor dreißig Jahren hat man westlichen Kapitalismuskritikern immer gesagt: “Geh doch nach drüben!” Bis sich die Grenzen öffneten und die Menschen mit den Füßen abgestimmt haben, in umgekehrter Richtung. Heutigen Kapitalismus-Kritikern könnte man stattdessen sagen: “Geh doch ins rot-rot-grüne Mietendeckel-Berlin und versuch dort mal, eine Wohnung zu finden!” Nur dass diesmal ironischerweise die Abstimmung mit den Füßen genau in diese Richtung erfolgt. Alle wollen nach Berlin, obwohl es so schwer ist, dort eine Wohnung zu finden…
Aber nun habe ich doch wieder so viel geschrieben, was ich eigentlich gar nicht wollte. Es ist einfach so aus mir herausgebrochen… Doch was kann man Besseres über den Song einer Liedermacherin sagen, als dass er profunde Denkanstöße gibt und zu tiefschürfenden Diskussionen und ausschweifenden Betrachtungen einlädt. Ein paar schwächere Stücke sind auch noch auf dem Album, aber die fallen nicht weiter ins Gewicht. Einen Extrapunkt gibt es für das prachtvoll gestaltete Booklet mit z.T. atemberaubenden Fotos aus Maikes wilder Jugendzeit. Das Gesamturteil lautet: gut (13 Punkte).
Maike Rosa Vogel
Eine Wirklichkeit
Eigenvertrieb 2020
www.maikerosavogel.com
justament.de, 20.7.2020: Systemkrieger mit Instrumenten
Scheiben vor Gericht Spezial: 50 Jahre Ton Steine Scherben
Thomas Claer
Die Geburtsstunde der deutschsprachigen Rockmusik war nicht „Alles klar auf der Andrea Doria“ von Udo Lindenberg. Schon drei Jahre zuvor, im Sommer 1970, vor genau einem halben Jahrhundert, brachten ein paar Westberliner Theatermusiker eine Single heraus mit dem parolenhaften Titel: „Macht kaputt, was euch kaputtmacht!“ Sie nannten sich Ton Steine Scherben – und ihr Name war Programm. Umstritten ist bis heute, ob der seltsame Bandname auf ein Schliemann-Zitat bei der Entdeckung Trojas („Was ich fand, waren Ton, Steine, Scherben.“) oder auf die westdeutsche Industriegewerkschaft Bau-Steine-Erden zurückgeht. Gemeint war jedenfalls, und so wurde es auch von allen verstanden: Unsere Töne sind wie geworfene Steine aufs verhasste System, das bald in Scherben liegen wird. Das war keine Unterhaltungsmusik, sondern politischer Kampf mit den Mitteln der Kunst. Bald wurden Ton Steine Scherben mit ihrer ein Jahr später erschienenen Debüt-LP „Warum geht es mir so dreckig?“ und dem Folgewerk „Keine Macht für niemand!“ zum populären Sprachrohr der Kreuzberger linksalternativen Szene. In erster Linie lag das natürlich an ihrer unglaublich guten, eruptiven, explosiven Musik und ihren brachial herausgebrüllten Texten, in denen sich ihr Publikum wiedererkannte: die (relativ) wenigen Hausbesetzer und Schwarzfahrer, Sachbeschädiger und Polizistenverprügler und die vielen, die damit irgendwie sympathisierten. Als Jurist ist man allerdings einigermaßen fassungslos darüber, was sie da in ihren Texten alles propagiert haben. Klar, dass ihnen das damals keine Plattenfirma abnehmen wollte. Also gründeten die Musiker kurzerhand ihr eigenes Label: die David Volksmund Produktion – und wurden so auch noch zu Gründungsvätern der deutschen Independent-Musik.
Natürlich stellt sich auch hier die Frage, ob man angesichts der künstlerischen und kulturhistorischen Bedeutung der „Scherben“ über die textlichen Entgleisungen in ihrem Frühwerk – etwa dass „Bullen die Köppe eingeschlagen” werden sollen, wie es im Rauch-Haus-Song heißt – hinwegsehen kann. Nun gut, das haben zornige junge Männer mit Anfang zwanzig getextet… Aber müsste man dann nicht auch den Bösen Onkelz ihre Jugendsünden wie das ähnlich wütend herausgebrüllte unsägliche Lied „Türken raus!“ durchgehen lassen (von dem sie sich noch dazu später wiederholt distanziert haben)? Doch wie weit tragen schon moralistische Einwände in der Kunst? Andererseits: Darf die Kunst alles legitimieren? Verdienen pseudorevolutionäre Gewaltphantasien mehr Nachsicht als völkische Ressentiments? All das ist schwer zu sagen. Sicher ist nur: Vor 50 Jahren entstand in Berlin-Kreuzberg die erste Rockmusik in deutscher Sprache aus dem Geiste einer empörten Gegenkultur.
Ton Steine Scherben
Warum geht es mir so dreckig?
David Volksmund Produktion 1971
Ton Steine Scherben
Keine Macht für niemand!
David Volksmund Produktion 1972
justament.de, 13.7.2020: Fernbeziehung fällt ins Wasser
Fernbeziehung fällt ins Wasser
Recht cineastisch, Teil 37: „Undine“ von Christian Petzold
Thomas Claer
Endlich mal wieder ins Kino nach der langen Corona-Pause. Da kommt „Undine“, das neue Werk von Christian Petzold, doch gerade richtig. Denn diesmal hat sich der Altmeister der „Berliner Schule“ einem besonders reizvollen Gegenstand gewidmet: dem alteuropäischen Undinen-Mythos, wonach jene Wassernymphen, deren bezaubernder Gesang mitunter nachts über unseren Gewässern zu hören sein soll, eine Seele bekommen, wenn sie sich mit einem Menschen vermählen. Wird derjenige seiner Undine jedoch untreu, dann tötet sie ihn und kehrt sodann wieder ins Wasser zurück.
Die Film-Undine (Paula Beer) allerdings lebt zunächst einmal im Hier und Jetzt, genau genommen am Hackeschen Markt in Berlin-Mitte in einem winzigen Mikro-Apartment. Als junge Freelancerin arbeitet die promovierte Historikerin in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen und macht Führungen für Reisegruppen zum Thema Stadtgeschichte. Der Industrietauscher Christoph (Franz Rogowski) hört Undines Vortrag und ist gleich hin und weg von ihr. Dass Undine gerade von ihrem Mann (Jacob Matschenz) verlassen worden ist, macht sie besonders empfänglich für Christophs Verliebtheit, und die beiden erleben wie im Rausch eine beglückend intensive Zeit, der auch die unvermeidliche Pendelei – Christoph lebt und arbeitet in NRW – nichts anhaben kann. Dramatische Abschiede auf Bahnsteigen, das fortwährende Warten aufeinander, ein kleines Geschenk als Liebespfand – das volle Programm einer romantischen Fernbeziehung. Aber dann kommt es knüppeldick: Undine wird von ihrem Ex umgarnt, der sie zu sich zurückholen will, Christoph bemerkt das und verunglückt bald darauf beim Tauchen. Aber Undine opfert sich für ihn, der bereits hirntot im Krankenhaus liegt, indem sie den Mythos wahr macht, ihren nur vorübergehend reumütigen verräterischen Ex erwürgt und anschließend für immer in einen See abtaucht. In diesem Moment wird Christoph wundersamerweise wieder gesund. Später beginnt er, da er Undine nicht mehr finden kann, eine Partnerschaft mit seiner Kollegin Monika (Maryam Zaree), die zwei Jahre später ein Kind von ihm erwartet. Dennoch bleibt er weiter besessen von Undine, die ihm unversehens bei einem Taucheinsatz unter Wasser begegnet und seine Hand ergreift. Fortan zieht es ihn immer wieder zu diesem See, an dem Undine ihm auch weiterhin als Wassergeist erscheint. Und so behält Christoph am Ende gleich zwei Partnerinnen: aus Fleisch und Blut an seiner Seite die eine, ein irreales Fabelwesen unter Wasser die andere. Und wieder einmal ist Christian Petzold ein ergreifender Film voller schöner Bilder gelungen.
Undine
Deutschland/Frankreich 2020
Regie: Christian Petzold
Drehbuch: Christian Petzold
Länge: 90 min
FSK: 12
Darsteller: Paula Beer (Undine Wibeau), Franz Rogowski (Christoph), (Monika), Jacob Matschenz (Johannes) u.v.a.
justament.de, 1.6.2020: Die Rache der Wilmersdorfer Witwen
Tiergarten macht den größten Sprung, Szenekieze rutschen ab, aber Gentrifizierung 2.0 in Geheimtipp-Lagen: Überraschendes und Erwartbares im neuen Wohnmarktreport Berlin
Thomas Claer
Da haben Berlin Hyp und CBRE mal wieder ganze Arbeit geleistet, denn unter all den Mietmarkt- und Immobilienmarkt-Erhebungen über das Wohnen in unserer Hauptstadt nimmt der inzwischen schon traditionsreiche „Wohnmarktreport Berlin“ eine Sonderstellung ein. Nirgendwo sonst lässt sich ein so immenses – frei zugängliches – Zahlenwerk finden, das von den Angebots-Mietpreisen des zurückliegenden Jahres über die durchschnittlichen Wohnungsgrößen bis hin zum mittleren Einkommen pro Haushalt reicht – und all das für jeden der 190 Postleitzahlbezirke dieser Stadt! Auch in diesem Jahr gräbt man sich als thematisch affiner Leser also gespannt durch die 168 Seiten, auf denen es wie immer eine Menge zu entdecken gibt.
Und zunächst einmal ist festzustellen: Die Zeiten rasant steigender Mieten sind wohl erst einmal vorbei. Mietpreisbremse und Berliner Mietendeckel haben ihre Wirkung nicht verfehlt – wenn auch in mancher Hinsicht anders als von ihren Urhebern beabsichtigt. Das Angebot an Bestandswohnungen der Baujahre vor 2014 dünnt aus. Der Mietmarkt verlagert sich offenbar zunehmend in rechtliche Grauzonen, oder die Eigentümer sind es leid und verkaufen an Selbstnutzer. Deren Nachfrage nimmt, wie die anhaltend steigenden Kaufpreise beweisen, weiter zu, was auch daran liegen könnte, dass Wohnungssuchende, die es sich leisten können, regelrecht zum Kaufen gezwungen werden, denn zum Mieten fehlt es infolge der öffentlichen Regulierungen schlicht an Angeboten. Kurzum, für Wohnungssuchende wird es künftig wohl eher noch schwieriger werden…
So ist zwar aus den genannten Gründen bei den gemessenen Mietpreisen von einem reichlich verzerrten Bild auszugehen. Und dennoch fehlt es den neuesten Erhebungen nicht an Aussagekraft, zeigen sie doch einige bemerkenswerte Trends auf: Der Mythos der Szenekieze scheint langsam zu verblassen. Während sich Friedrichshain und Prenzlauer Berg noch halbwegs halten können, geht es mit Nord-Neukölln und insbesondere Kreuzberg – nach jahrelangen rasanten Mietanstiegen – im Stadtteil-Ranking (siehe unten) doch signifikant bergab. Dafür erlebt der gutbürgerliche (zentrale) Westen eine Renaissance. Wilmersdorf springt von Platz 6 auf Platz 4, Tiergarten sogar von Platz 5 auf Platz 2 (den noch vor einem Jahr Kreuzberg innehatte, das nun aber bis auf Platz 6 durchgereicht wird). Einzig der fulminante Aufwärtstrend im neu-alternativen Bezirk Wedding, der jetzt nur noch knapp hinter dem großbürgerlichen Zehlendorf liegt, ist voll intakt.
Charlottenburg verharrt gut behauptet auf Platz 7 in Lauerstellung, profitiert dabei aber auch von einem neuartigen Trend in seinem Nordosten: Die noch vor wenigen Jahren als langweilig geschmähte Gegend um den Mierendorff-Platz (wo die Einkommensstruktur noch immer unterdurchschnittlich ist) hat nunmehr den Sprung auf Platz 22 der Kieze mit dem stärksten Mietpreis-Anstieg der letzten 11 Jahre geschafft – und das weitgehend ohne den sonst typischerweise preistreibenden Zuzug von Künstlern und Alternativen. Vielmehr erlebte diese Gegend zuletzt eine Ansiedlung von kleinen Start-Up-Büros in großer Zahl, die sich in den z.T. seit Jahren leer stehenden Ladenlokalen einquartierten. Ihnen folgte dann die entsprechende Gastronomie – eine Art Gentrifizierung 2.0 also…
Nun bleibt freilich abzuwarten, wie sich die Corona-Krise auf den Berliner Miet- und Kaufimmobilienmarkt auswirken wird. Wird sie angesichts von wirtschaftlicher Rezession und zunehmender Arbeitslosigkeit zu einer allgemeinen Abkühlung führen? Oder wird sich womöglich wiederholen, was schon in den Jahren nach der Finanzkrise zu beobachten war: Dass nämlich Deutschland schneller und besser als andere aus der Talsohle herauskommt und es dadurch erneut scharenweise junge Leute aus Süd- und Osteuropa in seine Hauptstadt zieht, deren Bevölkerungswachstum sich zuletzt deutlich abgeschwächt hat? Wie auch immer, es bleibt spannend auf Deutschlands „heißestem Immobilienmarkt“.
Wohnkosten in Berliner Bezirken (Angebotskaltmiete pro qm) gem. Wohnmarktreport 2019 (2008) nach Alt-Bezirken
1. Mitte (Alt) 15,47 (9,54) +62,2% alternativ/repräsentativ
2. Tiergarten 13,47 (6,33) +112,8% gemischt/lebendig
3. Friedrichshain 13,28 (6,60) +101,2% alternativ/lebendig
4. Wilmersdorf 13,11 (8,06) +62,7% großbürgerlich/bürgerlich
5. Prenzlauer Berg 13,04 (7,32) +78,1% alternativ/neubürgerlich
6. Kreuzberg 12,96 (6,37) +103,5% alternativ/lebendig
7. Charlottenburg 12,37 (7,24) +70,9% großbürgerlich/lebendig
8. Schöneberg 12,07 (7,24) +66,7% bürgerlich/lebendig
9. Zehlendorf 11,54 (7,94) +45,3% großbürgerlich/bürgerlich
10. Wedding 11,37 (5,26) +116,2% neualternativ/proletarisch
11. Neukölln 10,52 (5,23) +101,1% alternativ/proletarisch
12. Steglitz 10,42 (6,45) +61,6% bürgerlich/kleinbürgerlich
13. Treptow 10,31 (5,53) +86,4% proletarisch/lebendig
14. Pankow 10,30 (6,28) +64,0% bürgerlich/lebendig
15. Köpenick 9,86 (6,14) +60,6% bürgerlich/proletarisch
16. Tempelhof 9,62 (5,82) +65,3% kleinbürgerlich/bürgerlich
17. Lichtenberg 9,60 (5,50) +74,5% proletarisch/kleinbürgerl.
18. Weißensee 9,51 (5,50) +72,9% bürgerlich
19. Reinickendorf 9,25 (5,76) +60,6% kleinbürgerlich/bürgerlich
20. Spandau 8,81 (5,43) +62,2% kleinbürgerlich/lebendig
22. Hellersdorf 8,65 (5,30) +63,2% proletarisch/gemischt
21. Hohenschönhausen 8,23 (5,96) +38,1% proletarisch/gemischt
23. Marzahn 7,74 (4,85) +59,6% proletarisch/gemischt
Quelle: Wohnmarktreport Berlin 2020 / eigene Berechnungen
Top 30 der Postleitzahlbezirke nach Höhe der Angebotskaltmiete pro qm 2019 (2008)
1. 10557 Moabit Südost / Hauptbahnhof / Bellevue (Tiergarten) 16,35 (6,50) +151,5%
2. 10785 Potsdamer Platz / Lützowstr. (Tiergarten) 16,32 (7,80) +109,2%
3. 10179 Jannowitzbrücke (Mitte) 16,00 (7,40) +116,2%
4. 10115 Chausseestraße (Mitte) 15,60 (8,40) +85,7%
5. 10178 Hackescher Markt/ Alexanderplatz (Mitte) 15,52 (10,30) +50,7%
6. 10963 Kreuzberg-West / Möckernbrücke (Kreuzberg) 15,23 (6,70) +127,3%
7. 10117 Unter den Linden (Mitte) 15,18 (12,60) +20,5%
8. 10119 Rosenthaler Platz (Mitte) 15,06 (9,00) +67,3%
9. 10623 Savignyplatz (Charlottenburg) 15,09 (9,00) +67,7%
10. 10719 Ludwigkirchplatz/ Kurfürstendamm (Wilmersdorf) 15,00 (9,70) +54,6 %
11. 10629 Sybelstraße/ Kurfürstendamm (Charlottenburg) 14,44 (9,00) +60,4%
12. 10707 Olivaer Platz / Kurfürstendamm (Wilmersdorf) 14,42 (8,40) +71,7%
13. 14193 Grunewald (Wilmersdorf) 14,31 (10,60) +35,0%
14. 10435 Kollwitzplatz (Prenzlauer Berg) 14,19 (8,60 ) +65,0%
15. 13355 Humboldthain/ Brunnenviertel (Wedding) 14,06 (5,00) +181,2%
16. 10405 Prenzlauer Allee (Prenzlauer Berg) 14,05 (7,80) +80,1%
17. 10245 Ostkreuz / Boxhagener Platz (Friedrichshain) 14,00 (6,80) +105,9%
18. 14057 Lietzensee (Wilmersdorf) 13,98 (7,60) +83,9%
19. 12047 Maybachufer („Kreuzkölln“)(Neukölln) 13,97 (5,50) +154,0%
20. 10965 Mehringdamm / Bergmannstraße (Kreuzberg) 13,91 (6,30) +120,8%
21. 10711 Halensee (Wilmersdorf) 13,91 (7,70) +80,6%
22. 10829 Schöneberger Insel / Julius-Leber-Brücke (Schöneb.) 13,80 (6,30) +119,0%
23. 10243 Ostbahnhof (Friedrichshain) 13,75 (6,60) +108,3%
24. 10787 Bahnhof Zoo/ Kurfürstenstraße (Tiergarten) 13,71 (8,30) + 65,2%
25. 10437 Helmholtzplatz (Prenzlauer Berg) 13,64 (7,70) +77,1%
26. 14195 Dahlem (Zehlendorf) 13,56 (9,40) +44,3%
27. 10439 Arnimplatz(Prenzlauer Berg) 13,52 (6,50) +108,0%
28. 12049 Hermannstraße West (Reuterkiez)(Neukölln) 13,41 (5,10) +162,9%
29. 10555 Alt-Moabit-West (Tiergarten) 13,39 (5,90) +126,9%
30. 10247 Samariterstraße (Friedrichshain) 13,36 (6,40) +108,8%
Quelle: Wohnmarktreport Berlin 2020 / eigene Berechnungen
Gebiete mit dem stärksten Anstieg der Angebotskaltmieten im Elfjahreszeitraum
1. 13355 Humboldthain/ Brunnenviertel (Wedding) 14,06 (5,00) +181,2%
2. 12049 Hermannstraße West /Reuterkiez (Neukölln) 13,41 (5,10) +162,9%
3. 12051 Hermannstraße Süd (Neukölln) 12,75 (5,00) +155,0%
4. 12047 Maybachufer („Kreuzkölln“) (Neukölln) 13,97 (5,50) +154,0%
5. 10557 Moabit SO/ Hauptbahnhof / Bellevue(Tiergart.) 16,35 (6,50) +151,5%
6. 12055 Richardplatz (Neukölln) 12,26 (5,00) +145,2%
7. 12053 Rollbergstraße (Neukölln) 12,01 (4,90) +145,1%
8. 12045 Sonnenallee Nord (Neukölln) 12,53 (5,20) +141,0%
9. 13359 Soldiner Straße (Wedding) 11,00 (4,70) +134,0%
10. 12059 Weigandufer (Neukölln) 11,57 (5,00) +131,4%
11. 10557 Moabit SO / Hauptbahnhof / Bellevue (Tierg.) 15,00 (6,50) +130,7%
12. 10553 Beusselstraße (Moabit/Tiergarten) 11,74 (5,10) +130,2%
13. 13347 Nauener Platz (Wedding) 11,63 (5,10) +128,0%
14. 10963 Kreuzberg-West / Möckernbrücke (Kreuzberg) 15,26 (6,70) +127,8%
15. 10555 Alt-Moabit-West (Tiergarten) 13,39 (5,90) +126,9%
16. 12435 Treptower Park (Treptow) 12,65 (5,70) +121,9%
17. 13351 Rehberge (Wedding) 11,05 (5,00) +121,0%
18. 10965 Mehringdamm / Bergmannstraße (Kreuzberg) 13,91 (6,30) +120,8%
19. 10829 Schöneberger Insel / Julius-Leber-Brücke 13,80 (6,30) +119,0%
20. 10179 Jannowitzbrücke (Mitte) 16,00 (7,40) +116,2%
21. 10551 Birkenstraße (Moabit/Tiergarten) 11,63 (5,40) +115,4%
22. 10589 Mierendorff-Platz (Charlottenburg) 12,90 (6,00) +115,0%
23. 13405 Kurt-Schumacher-Damm (Reinickendorf) 10,00 (4,70) +112,8%
24. 10969 Prinzenstraße (Kreuzberg) 12,76 (6,00) +112,7%
25. 12439 Niederschöneweide (Treptow) 10,81 (5,10) +112,0%
26. 12043 Rathaus Neukölln (Neukölln) 10,55 (5,00) +111,0%
27. 10247 Samariterstraße (Friedrichshain) 13,36 (6,40) +108,8%
28. 13357 Gesundbrunnen (Wedding) 10,64 (5,10) +108,6%
29. 10243 Ostbahnhof (Friedrichshain) 13,75 (6,60) +108,3%
30. 10559 Stephanstraße (Moabit/Tiergarten) 11,18 (5,30) +107,8%
Quelle: Wohnmarktreport Berlin 2020 / eigene Berechnungen