justament.de, 5.12.2022: Meerjungfrauen-Fetisch und Produktivität im Bett
Die letzten kleinen Schriften des verstorbenen Karl Heinz Bohrer sind eine fesselnde Lektüre
Thomas Claer
Dieser kleine rote Essay-Band mit „Dreizehn alltäglichen Phantasiestücken“ des großen Literaturwissenschaftlers und -kritikers Karl Heinz Bohrer (1932-2021) ist kurz nach seinem Tod erschienen und zeigt den Verfasser – man kann es nicht anders sagen – noch einmal in schriftstellerischer Bestform. Auf jeweils nur zehn bis fünfzehn Seiten widmet er sich darin ganz unterschiedlichen Themen, von der apokalyptisch anmutenden Sommerhitze auf einer Bahnfahrt von Köln nach London bis zur „Seuche von heute mit ihrem fast schon poetischen Namen Corona-Virus“. Viele der Texte sind sehr persönlich gehalten, fungieren gewissermaßen als Nachträge zu seiner zweibändigen Autobiographie und sind in der Summe eine Art von „Was ich noch sagen wollte“ geworden, wie Ex-Kanzler Helmut Schmidt vor einigen Jahren seine finalen Abhandlungen genannt hat, in denen er seinen Lesern quasi auf den letzten Metern noch einige durchaus heikle Dinge offenbarte. Dies tut nun auch Bohrer, indem er sich etwa über Freundschaften auslässt und noch einmal detailliert auf bestimmte Aspekte seiner Kindheit und Jugend zurückblickt: zum einen auf die „Kampfspiele“, d.h. seine Indianer- und Fußballbegeisterung, zum anderen auf sein sexuelles Erwachen.
Hier wird es natürlich besonders interessant, denn es passiert unendlich viel im Inneren des heranreifenden Jugendlichen, was auch in den buntesten Farben geschildert, jedoch – Spoiler – kaum jemals von entsprechenden „äußeren Ereignissen“ begleitet wird, bis der Bericht des Erzählers im Alter von 17 Jahren jählings abbricht… Karl Heinz Bohrers erste große Liebe war – wie könnte es anders sein – eine literarische Figur, genauer gesagt deren Abbildung. In seinem Märchenbuch befand sich eine hocherotische Darstellung von Hans Christian Andersens „Kleiner Meerjungfrau“, die er schon im frühen Kindesalter über lange Zeiträume hinweg mehrmals täglich ausgiebig betrachtete, dabei aber stets blitzschnell eine andere Seite aufschlug, sobald seine Mutter sein Zimmer betrat. Der Autor ist der Ansicht, dass seine lebenslange obsessive Fixierung auf weibliche Brüste letztlich aus dieser Märchenbuch-Illustration resultiere, wobei jedoch relativierend anzumerken ist, dass eine solche Vorliebe unter seinen Geschlechtsgenossen nicht gerade Seltenheitswert haben dürfte. Weitaus ungewöhnlicher ist da schon des Verfassers Begeisterung für den Fischschwanz der Meerjungfrau… Ein „reales“ Erlebnis, das ihn in jungen Jahren ähnlich tief geprägt hat, hatte er, als seine Mutter während der Abwesenheit des Vaters Besuch von einer Freundin erhielt, die dann gemeinsam mit der Mutter leicht bekleidet und Schokolade essend im Bett lag, wobei die Freundin der Mutter kurzzeitig vor dem Jungen ihre Brust entblößte… Karl Heinz Bohrers zweite große Liebe war dann einige Jahre später erneut eine Figur aus der Literatur, nämlich die feurige Gruschenka aus dem Roman „Die Brüder Karamasow“ von Fjodor Dostojewski. Bereits als Teenager schlägt ihm dann eine von ihm heiß begehrte Mitschülerin namens Helga einen gemeinsamen Waldspaziergang vor. Doch außer verstockten Gesprächen und heißen Blickwechseln geschieht dabei letztendlich nicht viel… Weitere Annäherungen an das weibliche Geschlecht verlaufen ähnlich ergebnislos.
Ein ebenfalls großartiger Text widmet sich dem Thema Schlaflosigkeit. Diese muss für einen Geistesarbeiter, anders als für gewöhnliche Menschen, die oftmals sehr darunter leiden, gar kein Unglück sein: „Denn der Schlaflose unterscheidet sich von demjenigen, der bloß ohne Schlaf bleibt, durch seine reflexive Existenz. Er denkt in der Nacht über Phänomene und Eindrücke nach, über die er in alltäglich wachem Zustand vielleicht nicht nachdenken würde.“ Dabei kann er dann sogar überaus produktiv werden und all das schon vorab druckreif konzipieren, was er dann beim eigentlichen Schreibvorgang am Folgetag nur noch aus dem Gedächtnis abzurufen braucht. Dem kann man übrigens auch als kleiner Rezensent nur beipflichten: Der überwiegende Teil des Geschriebenen entsteht auch bei einem selbst keineswegs am Schreibtisch, sondern entweder beim Warten aufs Einschlafen in der Horizontalen oder während monotoner Tätigkeiten wie Wäsche aufhängen, Spülmaschine ausräumen, Staub saugen und dergleichen. Oder in der Schlange an der Supermarktkasse. Karl Heinz Bohrer jedenfalls nennt seine in schlaflosen Nächten entstandenen Texte in Anlehnung an E.T.A. Hoffmann „Phantasiestücke“, was den Untertitel dieser kleinen Schriftensammlung erklärt.
Weitere Aufsätze behandeln die Fragen, was gute Filme und was gute Literatur ausmacht. In letzterem findet sich Bohrers ästhetische Theorie komprimiert auf wenigen Seiten: Einen besseren Einstieg in sein Gesamtwerk wird man schwerlich finden. In „Schöne, hässliche, interessante Städte“ wiederum verrät der passionierte Großstadt-Flaneur seine Präferenzen und kommt zum Befund, dass schöne Städte oftmals nicht besonders interessant, interessante Städte hingegen oft nicht besonders schön seien. „Was Berlin betrifft, so kommt eben das Interessante ins Spiel. Doch warum ist diese Stadt, manchmal schön und meistens hässlich, so interessant? (…) Wohin man auch fährt oder geht, wo immer man aussteigt – man ist konfrontiert: mit Aussichten, die das Interesse entweder in historisch-politischer oder kultureller Hinsicht wecken.“ Und ganz ähnlich geht es einem auch beim Lesen in diesem wunderbaren Büchlein: Wohin man auch blättert, es wird nie langweilig.
Karl Heinz Bohrer
Was alles so vorkommt. Dreizehn alltägliche Phantasiestücke
Suhrkamp Verlag 2021
185 Seiten; 18,00 Euro
ISBN 978-3-518-47213-2
justament.de, 31.8.2020: Ich bin der Hass!
Karl Heinz Bohrers Studie zum literarischen Hass-Effekt “Mit Dolchen sprechen”
Thomas Claer
Hassgefühle können für Menschen ein starker Antrieb sein – und sind es ja auch nur allzu oft… Zwar dürfte zu den Grundvoraussetzungen jedes Gelingens im Leben die Kontrolle über die eigenen negativen Emotionen gehören, doch befinden sich nun einmal die meisten von uns in Lebensumständen, die immer wieder aufs Neue Empörung, Wut und Hass in ihnen erzeugen. Und wenn die Literatur das wahre Leben schildert – und dabei zudem imaginativ noch eins draufsetzt! -, dann greift sie natürlich immer wieder gerne zur Darstellung des zwischenmenschlichen Hasses, sonst würde es ja schließlich auch langweilig…
Nun hat sich also kein Geringerer als Karl Heinz Bohrer, der große alte Mann der deutschen Literaturwissenschaft im selbstgewählten Londoner Exil, in einer fast 500-seitigen Untersuchung dem “literarischen Hass-Effekt” gewidmet. Und es verwundert nicht, dass er hierzu in allen Epochen fündig geworden ist, vom Zorn des Achilles in der Antike bis zum gegenwärtigen “Hassen, um gehasst zu werden” bei Michel Houellebecq. Interessant und diskussionswürdig ist bereits die Auswahl der von ihm herangezogenen Literatur. So hätte man beispielsweise die Satire “Gullivers Reisen” von Jonathan Swift (1667-1745) eher nicht unter Hassliteratur eingeordnet. Aber Bohrer zeigt, dass sie sich, vom richtigen Blickwinkel aus betrachtet, sehr wohl als solche interpretieren lässt. Weniger überraschend ist der Schwerpunkt auf William Shakespeare (1564-1616) und hier vor allem auf Hamlet, dem angry young man par excellence. Dieser sagt “I will speak daggers to her” und meint damit ausgerechnet seine Mutter, die er verantwortlich für so manches macht, was in seinen Augen “faul” ist “im Staate Dänemark”… “Mit Dolchen sprechen” dann aber auch die Helden bei Heinrich v. Kleist (ganz besonders: Michael Kohlhaas), in Richard Wagners “Ring der Nibelungen” und natürlich bei Bohrers Hausgott Charles Baudelaire (1821-1867) in seinem Versepos “Die Blumen des Bösen”. Unter der Überschrift “Hass im Wohnzimmer” firmieren die bösen Dramen-Figuren bei August Strindberg (1849-1812). Ja klar, denkt man, den kennt man doch von “Hedda Gabler” – und merkt nach einigen Seiten, dass man ihn gerade mit Henrik Ibsen (1828-1906) verwechselt hat, den Bohrer aber als längst nicht so radikal wie Strindberg ansieht.
Überhaupt, die Radikalen jeder Couleur haben es Bohrer besonders angetan (die Moderaten findet er künstlerisch eher langweilig): vom bekennenden Rassisten und Antisemiten Louis-Ferdinand Celine (“Die Reise ans Ende der Nacht”, 1933) bis hin zur Nobelpreisträgerin und Brachialfeministin Elfriede Jelinek. Auch im Roman “Der Ekel” und im Drama “Die Fliegen” des frühen Jean-Paul Sartre (1905-1980) erblickt Bohrer veritable Hass-Dichtungen. Gleiches gilt begreiflicherweise für “Auslöschung” und “Heldenplatz” von Thomas Bernhard (1931-1989), aber auch für einige Werke des heutigen Nobelpreisträgers Peter Handke. Nur zwei Nachkriegsliteraten aus Deutschland können in Bohrers Augen mit den Österreichern Bernhard, Handke und Jelinek mithalten: Raimund Goetz und Wolf-Dieter Brinkmann. Am Ende dieser Parade des Hasses steht dann der mittlerweile zum Groß-Autor avancierte Michel Houellebecq mit seinen gesammelte Obszönitäten, die Bohrer genüsslich ausbreitet…
Abschließend noch die einschlägige Selbstbefragung des Rezensenten: Wann in meinem Leben hatte ich die stärksten Hass-Gefühle? Wenn mich nicht alles täuscht, war das während meiner Juristenausbildung…
Karl Heinz Bohrer
Mit Dolchen sprechen. Der literarische Hass-Effekt
Suhrkamp Verlag 2019
493 Seiten; 28 Euro
ISBN: 978-3-518-42881-8
www.justament.de, 25.9.2017: Der Gegenpapst
Die zweibändige Autobiographie des Literatur-Professors und Großintellektuellen Karl Heinz Bohrer
Thomas Claer
Es war wohl das Großereignis des Jahres im deutschen Kulturbetrieb: die vor einigen Monaten erschienenen Lebenserinnerungen Karl Heinz Bohrers (geb. 1932), des immer streitbaren und notorisch umstrittenen Homme de lettres, der insbesondere als FAZ-Literaturblatt-Redakteur in Frankfurt und Kulturkorrespondent in London, als Literatur-Professor in Bielefeld und später in Stanford und nicht zuletzt als langjähriger Herausgeber und scharfzüngiger Kolumnist des „Merkur. Zeitschrift für europäisches Denken“ brillierte. Und da ich seinerzeit in den Neunzigern an der Uni Bielefeld, wo er neben Luhmann (Soziologie), Wehler und Koselleck (Geschichte) zu den Superstars der Professorenzunft gehörte, oftmals und gerne seine Seminare besucht hatte, die ich all den trockenen juristischen Lehrveranstaltungen bei weitem vorzog, und mir das alles noch lebhaft in Erinnerung geblieben ist, lag nichts näher, als diesen Sommer der Lektüre ebendieser Autobiographie namens „Jetzt. Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie“ zu widmen, mitsamt den schon 2012 erschienenen, aber bislang von mir noch nicht gelesenen Jugenderinnerungen „Granatsplitter“. Nach 862 Seiten Karl Heinz Bohrer kann ich sagen: Es war interessant und abwechslungsreich, es hat sich gelohnt.
Damals in Bielefeld erlebte ich, als ich meine heutige Frau, die damals Literaturwissenschaft studierte, erstmals in ein Bohrer-Seminar begleitete, einen zunächst griesgrämig wirkenden Mann jenseits der 60 mit extravaganter Frisur, der jedoch, sobald er zu reden begann, gleichsam erstrahlte und aus dem feurige Begeisterung sprühte für all das, was er seinen Zuhörern mitzuteilen hatte: Das absolute Präsens! Die radikale Melancholie! Das dionysische Prinzip! Die Ästhetik des Schreckens! Die Imagination! Die Plötzlichkeit! Und immer wieder warf er große Namen in den Ring: Baudelaire! Malarmé! Maupassant! Friedrich Nietzsche! Walter Benjamin! Es war schwindelerregend. Nun muss ich einräumen, dass sich meine literarischen Kenntnisse damals, mit Mitte zwanzig, in dem erschöpften, was ich – immerhin – aus der Fernsehsendung „Das Literarische Quartett“ und der Lektüre einiger gewichtiger Romane, hauptsächlich von Thomas Mann und Fjodor Dostojewski, mitgenommen hatte. Von Marcel Reich-Ranicki, der sich, wie ich heute weiß, vor allem an Georg Lukacs und dem literarischen Realismus orientierte, hatte ich gelernt, dass die literarische Moderne maßgeblich aus Thomas Mann und Bertolt Brecht bestand. Nun traf ich aber auf jemanden, der das ganz anders sah, und mir öffnete sich eine neue Welt. Fast noch interessanter allerdings, als die bedeutende Literatur selbst zu lesen, das muss ich zugeben, war es, Karl Heinz Bohrer zuzuhören, wenn er darüber redete. (Das war mir zuvor mit Reich-Ranicki aber auch schon so ähnlich gegangen…) Und auch vom Charisma her stand Bohrer dem alten Ranicki in nichts nach, nur dass er inhaltlich mitunter schwerer zu verstehen war. Alles war komplizierter und auch manchmal nebulöser als bei MRR, aber so ungefähr verstand man schon, was er meinte. Es wurde erzählt, Prof. Bohrer sei nur dienstags bis donnerstags an der Uni anwesend und fahre danach immer gleich wieder zurück an seinen Wohnort Paris. Ja, Paris! Darunter machte er es nicht. Ein Leben in der ostwestfälischen Provinz, so habe er sich mal geäußert, komme für ihn nicht in Frage. Eine Stadt wie Bielefeld sei ihm unerträglich! Klar, als Herausgeber einer „Zeitschrift für europäisches Denken“!
Ich begann, Karl Heinz Bohrers frühere Kolumnen im Merkur zu lesen. Obwohl er immer eine radikale Autonomie der Kunst befürwortete und insbesondere deren politische Vereinnahmung entschieden bekämpfte – wer etwa Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“ für üble Kriegsverherrlichung hielt, sei borniert und habe die einzigartige poetische Wucht dieser Sprache nicht verstanden! – hielt ihn das umgekehrt nicht davon ab, ästhetische Maßstäbe auf Fragen der Politik anzuwenden. In seinen köstlichen Glossen ließ er vernichtende Donnerschläge auf Deutschland hinabfahren, das er für zutiefst provinziell, sein Lieblingsbegriff war der Provinzialismus, in jeder Hinsicht hielt – mit einem so mittelmäßigen und konturlosen Mann wie Helmut Kohl an der Spitze, den er nach all dessen Jahren an der Macht einfach nicht mehr ertragen konnte. Verglichen mit Bohrers Wohnorten London und Paris erschien dann selbst die deutsche Hauptstadt Berlin nur als ländlich, beschränkt und zurückgeblieben. Die Politiker ohne Format, die Menschen ohne Stil und Manieren. Dass etwa die Bielefelder Studenten mit angebissenen Pizzastücken in seine Vorlesung kamen, so etwas gäbe es in England oder Frankreich nicht! Und besonders schlimm fand er den gesinnungsethischen (also verantwortungslosen) deutschen Pazifismus, mit dem sich die Deutschen wohl, so sein Verdacht, von ihrer verbrecherischen Vergangenheit reinwaschen wollten, aber sich stattdessen bei ihren Nachbarn – vor allem in London und Paris – nur erneut und erst recht verdächtig machten.
Als Symbolfiguren für das angebliche west- und später gesamtdeutsche Nachkriegselend hatte er die Mainzelmännchen ausgemacht, jene harmlosen, jämmerlich winselnden Pausenclowns aus dem ZDF-Werbefernsehen, die stellvertretend für die ganze deutsche Malaise stünden. Nun ja, mit solchen Tiraden hat Karl Heinz Bohrer sich natürlich nicht gerade überall beliebt gemacht. Und auch ich fühlte mich beim Lesen oftmals zum Widerspruch herausgefordert. Dennoch gefielen mir seine Texte sehr. Es war eine gänzlich andere Sichtweise auf die Dinge. Sicherlich war das, wie es ein Journalist einmal genannt hat, „intellektueller Stammtisch“, aber immer auf hohem Niveau und überaus originell. Auch seine Aversionen gegen die Friedens- und Umweltbewegung, die sich mit ihren omnipräsenten Bannern und Transparenten (gerade an der Uni Bielefeld) in seinen Augen als Gesinnungskitsch der schlimmsten Sorte ausnahm, konnte ich auf einer ästhetischen Ebene durchaus nachvollziehen, obgleich ich inhaltlich sogar streckenweise mit ihr sympathisierte.
Die seit 1998 regierende rot-grüne Koalition beurteilte Bohrer dann aber überraschend wohlwollend, vor allem wohl, weil deren Repräsentanten in seinen Augen gestandene Persönlichkeiten waren. Einmal betonte er im Seminar, die deutschen Grünen an der Regierung würden in Paris und London sehr misstrauisch beobachtet, da sie irrationale ideologische Wurzeln hätten, die manchen an ungute deutsche Traditionen erinnerten. Doch würde er, Bohrer, sie dort dann immer verteidigen, denn in ihren Reihen gäbe es hervorragende Leute, die unser Land ausgezeichnet repräsentierten, z.B. „Wie heißt sie noch gleich? Jutta…?“ Ich saß ganz vorne im Seminarraum und schlug vor: „Jutta Ditfurth?“ Darauf Bohrer empört: „Nein, um Gottes willen!! Wie heißt denn unsere Bundestagsvizepräsidentin??“ Ich legte nach: „Antje Vollmer?“ Ja, genau die meinte er.
In einer seiner Merkur-Kolumnen schrieb er über Physiognomie und behauptete, dass sich aller politischer Korrektheit zum Trotz sehr wohl vom Aussehen und insbesondere dem Gesicht eines Menschen auf dessen Persönlichkeit schließen lasse, der beste Beleg dafür seien doch die Politiker der Bundesregierung (damals noch der schwarz-gelben). Natürlich stehe Kohl seine ganze Mittelmäßigkeit ins Gesicht geschrieben, und Blüm sei ein Kassenbrillenmodell kleinbürgerlich-rechter Sozialdemokratie in der CDU u.s.w. Hingegen erkenne man an der soignierten Vornehmheit eines Klaus v. Dohnanyi doch gleich, aus welch guter Familie er komme…
Eine besondere Feindschaft pflegte Karl Heinz Bohrer zum SPD-Intellektuellen Peter Glotz, der ihn wegen seines entschiedenen Eintretens für die deutsche Wiedervereinigung als Vertreter eines neuen deutschen Nationalismus geschmäht hatte. Bohrer konterte daraufhin, Glotz sei ein Ideologe und „bornierter Parteimann“ und empfahl ihm die Lektüre eines Aufsatzes von Friedrich Schlegel…
In den letzten anderthalb Jahrzehnten hat Karl Heinz Bohrer sich dann wieder mehr auf seine literaturtheoretischen Themen konzentriert, weshalb ich ihn etwas aus dem Blick verloren habe. Umso erfrischender war für mich nun die Lektüre seines ausführlichen Lebensberichts.
Zunächst seine Jugenderinnerungen „Granatsplitter“, benannt nach den bunten glänzenden Absplitterungen von Flak-Granaten, die bei den Bombenangriffen auf seine Heimatstadt Köln vom Himmel regneten und von den Kindern aufgehoben und gesammelt wurden. Schon in frühem Alter ist Karl Heinz Bohrer, der aus einer großbürgerlich-liberalen Familie stammt, von seinem Vater, einem Ökonomen, auf den verbrecherischen Charakter der NS-Regierung hingewiesen worden. Der Vater steckte seinen Sohn, um ihm eine exzellente Erziehung zukommen zu lassen, in ein Elite-Internat nahe Freiburg im Breisgau. Dort machte er Bekanntschaft mit Kindern der Oberschicht, Sprösslingen von Adligen und Großbürgern, aber auch neureicher Industrieller, auf die in diesen Kreisen allerdings eher herabgeblickt wurde. Diese Sozialisation sollte sich als prägend für sein ganzes Leben erweisen. Als Anfang der fünfziger Jahre eine Delegation junger FDJler aus Ost-Berlin sein Internat besucht und die Jugendlichen aus Ost und West miteinander diskutieren, ist der junge Bohrer nach der Lektüre von Arthur Koestlers „Sonnenfinsternis“ bereits glühender Anti-Kommunist. Die FDJler attestieren ihm, der die westliche Freiheit verteidigt, ein falsches Bewusstsein, da es im Westen doch nur eine Freiheit für die Reichen gäbe, was man doch im Übrigen schon an diesem Elite-Internat sehen könne, in dem man sich gerade befinde. Da entgegnet der junge Bohrer, sein Vater sei keineswegs reich und habe als Universitätsassistent nur ein so kümmerliches Gehalt, dass er, der Vater, sogar sein Familienerbe habe angreifen müssen, um ihm den Aufenthalt im Internat bezahlen zu können… Politisch verortet sich Karl Heinz Bohrer zwar als eher liberal als konservativ, pflegt aber zeitlebens eine besondere Abneigung gegen die politische Linke. Nichts interessiert diesen vielseitig interessierten jungen Mann nach eigener Aussage weniger als die Verbesserung der Situation armer Menschen. Diese „asoziale Grundhaltung“, die er sich selbst ohne Anflüge von Reue bescheinigt, erstaunt umso mehr, als er die entfesselte Phantasie, wie es auch der Untertitel des zweiten Bandes verrät, zu seinem Lebensprinzip erhoben hat. Doch bringt er offenbar keinerlei Phantasie dafür auf, sich vorzustellen, wie er sich wohl ohne diese familiäre Prägung und elitäre Erziehung entwickelt hätte. Auf diesem Auge sieht er rein gar nichts, wohingegen sein Blick auf die Kunst, vor allem die Literatur, und auf alles Schöne schon in früher Jugend ungeheuer scharf ist. Freimütig berichtet er von seinen jugendlichen Leiden unter der mangelnden Gelegenheit zum Ausleben der eigenen Sexualität. Aus heutiger Sicht muss man wohl sagen, zum Glück, denn wie so viele andere Intellektuelle ist offenbar auch er zum großen Teil – so weiß es zumindest die einschlägige Küchenpsychologie – durch sexuelle Frustration zu dem geworden, der er ist. (Ob aus der heutigen „Generation Tinder“ überhaupt noch jemals Intellektuelle hervorgehen werden, möchte man fast bezweifeln…)
Im zweiten Band ist Karl Heinz Bohrer dann schon Leiter des Literaturteils der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. In der Redaktion dieser Zeitung sitzen nur Leute „aus den besten Familien“. Wichtiger für seine Einstellung als alle akademischen Abschlüsse war nach eigener Einschätzung sein früherer Besuch des richtigen Internats. Auch wenn er dort, wie wir im ersten Band erfahren haben, beinahe von der Schule geflogen wäre, nachdem er einmal wutentbrannt einen Lehrer geohrfeigt hatte. Und in seiner Studentenzeit saß er sogar zwei Wochen im Gefängnis – wegen Unfallflucht nach einem Verkehrsunfall (verursacht als Radfahrer, Bohrer hatte nie einen Führerschein).
Die späten Sechzigerjahre erlebt er als eine berauschende Zeit. Die revolutionäre Stimmung, die mit allem Althergebrachten aufräumt, findet er großartig, obgleich ihm alles Marxistische herzlich zuwider ist. Kurioserweise ist er sogar ziemlich eng mit der späteren Terroristin Ulrike Meinhof befreundet, wobei er aber allen Gerüchten entgegentritt, er hätte „etwas mit ihr gehabt“. Sie habe ihn einfach gemocht, weil er ihr so interessiert zugehört habe, vermutet Bohrer. Allerdings habe sie noch kurz vor ihrer Verhaftung bei ihm übernachtet, was ihm einigen Ärger mit seinen Herausgebern bereitete…
Als FAZ-Literaturchef bringt Karl Heinz Bohrer dann aber immer wieder so komplizierte Texte, die kein Mensch versteht, dass er – nach ein paar Jahren im Amt – unter dem neuen Herausgeber Joachim Fest kurzerhand abgesetzt und – ausgerechnet – durch den weniger akademischen Marcel Reich-Ranicki ersetzt wird. Für Bohrer bricht eine Welt zusammen. Wer soll nun den Lesern die „wahre literarische Moderne“ nahebringen, wo doch dieser Ranicki genau die in seinen Augen falschen Autoren hochschätzt und die eigentlichen Heroen verschmäht? So hält Reich-Ranicki Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ für ein missratenes Werk, während er für Bohrer das non plus ultra ist. Stattdessen bevorzugt Reich die großen Gesellschaftsromane des 19. und 20. Jahrhunderts, die Bohrer nur zum Gähnen bringen…
Bohrer wird also Anfang der 1970er Jahre bei der FAZ zum Kulturkorrespondenten degradiert und – immerhin! – nach London versetzt, von wo aus er großartige Berichte und Reportagen über alles Mögliche schreibt. Er interessiert sich neben dem hochkulturellen Leben in dieser Stadt aber auch sehr für Fußball und die Gesänge der Fans oder die Popmusik aus den Einwanderer-Vierteln. Als Maggie Thatcher an die Macht kommt, findet Bohrer sie als Person mit kleinbürgerlicher Handtasche völlig unmöglich (wie hatte er bis dahin von den englischen Politikern geschwärmt!), wenngleich er ihrer neoliberalen Politik gegen die damals noch mächtigen Gewerkschaften einiges abgewinnen kann. So interessant aber das Leben in London für ihn ist, sehnt er sich doch nach einer größeren geistigen Herausforderung – und das wird 1982 die Professur in Bielefeld! Ausgerechnet an dieser linksversifften Reform-Uni! Nur durch eine Verkettung glücklicher Zufälle und eine exzellente Probe-Vorlesung bekommt er den begehrten Lehrstuhl. Zuvor war er vom Leiter der Auswahlkommission, einem marxistischen Literatur-Historiker in zerschlissener Kleidung und mit einer Dose Bier in der Hand, mit den Worten begrüßt worden: „Du siehst hier heute keinen Stich!“
Der notorische Einzelgänger Bohrer hält sich fern von seinen Professoren-Kollegen und fährt nach den Vorlesungen lieber schnell zu seiner Geliebten in Wuppertal, der unehelichen Tochter eines bekannten Literatur-Professors mit einer Lyrikerin. Diese betörend schöne und 20 Jahre jüngere Dame namens Undine ist ein großer Fan seiner Werke, hat alle seine Bücher gelesen. Sie wird Karl Heinz Bohrers zweite Ehefrau. (Von seiner langjährigen ersten ist im Buch nur ganz am Rande die Rede gewesen.) Mit ihr geht er für ein Gastsemester nach Paris – und Undine gefällt es dort so gut, dass sie gar nicht mehr weg will! Fortan pendelt Ehemann Karl Heinz wöchentlich mit dem Zug nach Bielefeld und wieder zurück nach Paris in die prächtige Wohnung am Montmartre. Undine, die ihre literaturwissenschaftliche Promotion längst abgebrochen hat, wird freie Schriftstellerin und verfasst von der Kritik und ganz besonders von ihrem Ehemann hochgelobte Romane und Erzählungen. Die gut dotierte Professur erlaubt ihnen ein ausschweifendes Leben in Paris, obwohl Undine mit ihren Werken, wie beiläufig bemerkt wird, „keinen Cent verdient“. So verleben sie wunderbare Jahre. Doch dieses Glück ist nicht von Dauer. Undine wird krank, sehr krank, und stirbt schließlich mit kaum fünfzig Jahren an einem seltenen Nervenleiden. Ihr inzwischen in Bielefeld emeritierter Mann pflegt sie jahrelang hingebungsvoll – und steht nach ihrem Tod ziemlich alleine da. Doch mittlerweile hat sich sein exzellenter wissenschaftlicher Ruf in aller Welt herumgesprochen. Mit fast siebzig Jahren tritt Karl Heinz Bohrer noch eine Professur in Stanford/Kalifornien an. Angebote aus London lehnt er ab, weil sein Englisch dafür nicht gut genug sei. Für Amerika findet er es hingegen völlig ausreichend.
Am Ende siedelt sich Karl Heinz Bohrer, der sich absolut nicht vorstellen kann, noch einmal in Deutschland zu leben, dann wieder in London an, wo er abermals sein privates Glück gefunden hat. Seine dritte Ehefrau ist die Enkeltochter eines der Attentäter des 20. Juli 1944, alter preußischer Adel, was ja genau seinem Geschmack entspricht. Sie ist ebenfalls auf dem besagten Elite-Internat gewesen und hat als kleines Mädchen den einige Jahre älteren Karl Heinz als Schauspieler in einem Theaterstück bewundert. Ihre Mutter war dort Lehrerin, Karl Heinz Bohrers Lieblingslehrerin genau genommen, die bei ihm erotische Träume hervorgerufen hat… Als Pensionär und Buchautor in London wird der alte Bohrer nun allerdings in seinen Ansichten zunehmend reaktionärer. Habe er früher noch Wert darauf gelegt, nicht als Teil der konservativen Opposition zu gelten, sei ihm das nach den Anschlägen des 11. September 2001 egal geworden. Jedes Appeasement gegenüber dem radikalen Islam hält er für verfehlt. Auch habe ihn schon als Teenager das Stück „Nathan der Weise“ nicht wirklich überzeugt. Klar, dass er Angela Merkels Flüchtlingspolitik im Jahr 2015 für eine Katastrophe hält. Und er ist auch der Meinung, dass zu viele Schwarze in London leben, die sich doch ganz überwiegend überhaupt nicht integrieren könnten. Andererseits habe er aber vor kurzem zwei junge schwarze Frauen beobachtet, die sich ganz im Stile der englischen Oberschicht unterhielten. Und dann seien sie auch noch so überaus elegant gekleidet gewesen. Das habe ihm dann doch wiederum sehr gefallen… Und bei der letzten Bürgermeisterwahl in London habe er sogar für den pakistanischstämmigen Labour-Kandidaten gestimmt – aber nur, weil dieser ihm kompetenter erschien und um den Tory-Kandidaten zu verhindern, von dem er befürchtete, unter ihm würden noch mehr hässliche Hochhäuser in der Stadt errichtet. Er sieht nun einmal alles durch die ästhetische Brille…
Karl Heinz Bohrer
Granatsplitter: Eine Erzählung
Carl Hanser Verlag 2012
320 Seiten; 19,90 EUR
ISBN-10: 3446239723
Karl Heinz Bohrer
Jetzt: Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie
Suhrkamp Verlag 2017
542 Seiten; 26,00 EUR
ISBN-10: 351842579X
Justament Oktober 2003: Das vergessene Davor
Karl Heinz Bohrer beklagt die Fernerinnerungslosigkeit der Deutschen
Thomas Claer
Für den deutschen Juristen ist das Grundgesetz eine Art Heiligtum. Dies hat durchaus seine Berechtigung, wenn man bedenkt, dass wohl kein anderer Verfassungstext jemals von der politischen und akademischen Creme seines Landes jahrzehntelang als einzig legitimer Gegenstand kollektiven Stolzes propagiert worden ist. Mit Konzepten wie dem besagten Verfassungspatriotismus oder der Utopie eines vereinigten Europa dominierten die Sozialwissenschaftler Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel (und mit ihnen die Historiker Ulrich Wehler und Hans Mommsen) maßgeblich die Diskurse der alten Bundesrepublik und blieben einflussreich bis in die Gegenwart. Zu den kritischen Wegbegleitern dieser heimlichen Hausgötter des deutschen Establishments zählt Karl Heinz Bohrer (Jahrgang 1932), ehemals Leiter des FAZ-Literaturteils, emeritierter Bielefelder Literaturwissenschaftler und Herausgeber des “Merkur. Zeitschrift für europäisches Denken”. Vor allem im letztgenannten Blatt, dem Sprachrohr intellektueller Unabhängigkeit in Deutschland schlechthin, kommentiert er seit den 80er Jahren wortgewaltig und pointiert die deutschen Zustände und Befindlichkeiten und geißelt diese am liebsten als hoffnungslos provinziell – jedenfalls von seiner Wahlheimat Paris aus betrachtet. Auch in seiner neuesten Veröffentlichung “Ekstasen der Zeit”, einer Zusammenstellung von sechs Vorträgen aus den letzten fünf Jahren, darunter die viel beachteten Gadamer-Vorlesungen von 2001, geht er mit Deutschland hart ins Gericht. Er beklagt eine spezifisch deutsche “Erinnerungslosigkeit”, nämlich die Nichtexistenz eines Verhältnisses zur deutschen Geschichte jenseits des Nationalsozialismus, als ein fatales Defizit der gesellschaftskritischen Intelligenz: “Statt eine lange, oft düstere, immer interessante, ja beeindruckende Geschichte der Deutschen zu erinnern, glaubt man, sie unter normative Kontrolle stellen zu müssen, das heißt als Geschichte zu beseitigen.” Aus dieser Geisteshaltung resultiere auch der Erfolg des Verfassungspatriotismus, “konform gehend mit der radikalen Negierung von Fernerinnerung.” Ein “generalisierbares Recht” ohne historische Tiefendimension könne aber keine affektive kollektive Besetzung produzieren, wie sie für den Begriff Patriotismus nun einmal in Anspruch zu nehmen sei. Insbesondere bedeute die Fokussierung aller geschichtlichen Erinnerung auf den Holocaust bei Verschwinden jeder emotionalen Beziehung zu den Zeiträumen davor einen Eskapismus, der Moralismus an die Stelle von Geschichte setze, die Aufhebung von Geschichte, um den Folgen zu entkommen. Und all das, so Bohrer, löse bei europäischen Beobachtern Irritationen aus, um nicht zu sagen: mache die Deutschen ihnen erneut verdächtig.
Karl Heinz Bohrer
Ekstasen der Zeit. Augenblick, Gegenwart, Erinnerung
Hanser Verlag München Wien 2003,
132 Seiten, Euro 14,90
ISBN: 3-446-20320-6