Justament Okt. 2010: Tiefpunkte und Kleinode

Die neue Tocotronic-Platte „Schall und Wahn“

Thomas Claer

24 SCHEIBEN Tocotronic-cover 51wjS4zEq2L._SL500_AA300_Es ist einfach nur zum Grausen, was Tocotronic, unsere einstigen Trainingsjacken-Helden der Neunziger, auf ihrer neunten regulären Studioplatte über weite Strecken abliefern. Dafür möchte man sie am liebsten schlagen, aber so richtig. Was haben sie sich bloß dabei gedacht, uns mit solch einem schwülstigen Bombast zu kommen wie im Opener „Eure Liebe tötet mich“ und im Schlussstück „Gift“? Diese jeweils geschlagene acht Minuten langen Zumutungen bilden gleichsam den Rahmen eines von Anfang bis Ende völlig missratenen Albums voller Tiefpunkte. So müsste man sagen, wären da nicht doch noch ein paar – in diesem Umfeld jedenfalls überraschende – Songs eines ganz anderen Kalibers, namentlich das Titelstück „Schall und Wahn“ und vor allem das überaus feine „Im Zweifel für den Zweifel“. Man wollte diese Stücke, wäre das Wort nicht schon so abgenudelt, gerne als musikalische Kleinode bezeichnen. Nur hier kann die Band aus der „Hamburger Schule“ an das vergleichsweise starke Vorgängeralbum „Kapitulation“ (2007) anknüpfen. In ihren besten Momenten erinnern die reifen Tocotronic im akustischen Gitarrenspiel an die seligen Smiths aus den Achtzigern mit ihrem genialen Gitarrero Johnny Marr, wohingegen jedoch Dirk von Lowtzow gesanglich nur einen recht gequälten Morrissey abgibt. Ein Wort zu den Texten der Band, die früher einmal die Welt aus den Angeln zu heben sich anschickten: Heute kann man bestenfalls sagen, dass sie nicht allzu sehr stören. Das stümperhaft plumpe literarische Zitieren kam in ihrem Frühwerk noch regelrecht charmant rüber, heute hingegen wirkt es eher peinlich. Auch dort, wo sie sich in der alten Parolenhaftigkeit versuchen, wie im Single-Stück „Macht es nicht selbst“, geht der Schuss nach hinten los. Was vermutlich als kritisch linkes Statement gegen den Neoliberalismus mit seiner Ich-AG-Mentalität, aber auch gegen die in seinem Schlepptau chronisch selbstausbeuterische digitale Boheme gedacht war, klingt aus dem gutsituiert-aristokratischen Mund eines Dirk von Lowtzow wie reaktionärer Hohn gegenüber denen, die sich ein gewiss anstrengendes, aber immerhin selbstbestimmtes Leben organisiert haben.
So lassen sich die Parolen-Songs der Tocos aus den Neunzigern heute mit Leichtigkeit gegen sie selbst wenden: „Alles, was ich will, ist, nichts mit euch zu tun haben“, „Ich bin viel zu lange mit euch mitgegangen“ oder – leicht abgewandelt –  „Tocotronic – ihr habt mein Leben zerstört!“ Hier stockt der Rezensent: Woher eigentlich diese Grobheit? Warum nicht einfach, wie bei anderen, das Gute herausstellen und den Rest überhören, es tut doch keinem weh. Halt, das tut es doch! Und wie! Vielleicht ist es ja enttäuschte Liebe. Das Urteil lautet: befriedigend (7 Punkte). Damit seid ihr noch gut weggekommen, Saubande!

Tocotronic
Schall und Wahn
Vertigo Berlin (Universal) 2010
Ca. € 17,-
ASIN: B002ZHIPT4

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