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justament.de, 30.1.2023: Der Schick des Ostens

Recht cineastisch, Teil 41: “In einem Land, das es nicht mehr gibt” von Aelrun Goette

Thomas Claer

Gerade erst dreieinhalb Jahrzehnte liegt das alles nun zurück, und doch kommt es einem vor, als ob die alte DDR, der selbsternannte erste Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden, den realsozialistischen Einheitsbrei-Löffel schon vor einer halben Ewigkeit abgegeben hätte. Und so wirken heute Filme, die in jener Epoche spielen, auf den Betrachter ähnlich entrückt wie Wildwest- oder Mantel- und Degen-Filme – oder wie die Landschaften aus verwunschenen Königreichen in Grimms Märchen. Eine Mischung aus Historienschinken und Kostümspektakel ist dann auch der neue Film der Berliner Regisseurin Aelrun Goette geworden, der erstmals eine bislang kaum beachtete Nische der damaligen ostdeutschen Gesellschaft ausleuchtet: die Modeszene der DDR. Doch, so etwas hat es sehr wohl gegeben, und sie hat in diesem sehr besonderen Biotop sogar ziemlich besondere Blüten getrieben.

Auf der einen Seite gab es da die streng formalistisch durchgestylte Welt rund um die einzige DDR-Modezeitschrift „Sibylle“, der die Staatsmacht ganz erstaunliche Freiheiten einräumte. Man kann sogar sagen, dass diese Ost-Mode, fernab von Popularitäts- oder gar Profitabilitätskriterien und im selbstbewussten Gegensatz zum durchkommerzialisierten Westen, eine ganz eigene Ästhetik hervorgebracht hat. Und auf der anderen Seite war da, wenn auch vornehmlich nur in Ost-Berlin, der wild-anarchische Underground, der sich aus diversen Subkulturen speiste, die dann wiederum doch sehr stark von westlichen und internationalen Vorbildern beeinflusst waren.

Was man allerdings auch als gebürtiger Ossi nicht gedacht hätte, ist, wie durchdrungen diese scheinbar so entgegengesetzten beiden Mode-Welten tatsächlich voneinander waren. So rekrutierte sich ein nicht unwesentlicher Teil der Sibylle-Fotografen aus subversiven Szene-Existenzen, die auch immer wieder mit der Staatsmacht in Konflikt gerieten. Dieser ganz ausgezeichnete Film erzählt nun ihre Geschichte – und ist dazu noch ein Riesenspaß mit all den schrillen und bunten Klamottenstilen, immer begleitet vom Soundtrack dieser Zeit zwischen internationaler Disco-Popmusik und alternativem Krach aus beiden Hälften der geteilten Stadt.

Aber wenn sich nun jemand fragt, wie es denn überhaupt so etwas wie Mode in der DDR geben konnte, wo es doch kaum etwas Ansehnliches zu kaufen gab: Es wurde gebastelt, geschneidert und improvisiert. Jedes Heft der „Sibylle“ enthielt Anleitungen dazu. Und das offenbar mit dem Segen der Partei…

In einem Land, das es nicht mehr gibt
D 2022
Länge: 100 Minuten
FSK: 12
Regie: Aelrun Goette
Drehbuch: Aelrun Goette
Darsteller: Marlene Burow, Sabin Tambrea, David Schütter u.v.a.

justament.de, 2.9.2022: Von roten Fahnen bis zum blau-gelben Plakat

Recht historisch: Justament-Autor Thomas Claer über sein Leben als Demonstrant

Wer bereits seit einem halben Jahrhundert auf der Welt ist, hat oftmals auch schon viel demonstriert, für oder gegen dieses oder jenes, wenn auch längst nicht immer nur freiwillig. Insbesondere wer zur Zeit der deutschen Teilung im Osten aufgewachsen ist, hat ganz sicher an mehr Demonstrationen teilgenommen, als ihm lieb sein kann. Es herrschte dort nämlich Demonstrationspflicht, zumindest für Schüler am 1. Mai und am 7. Oktober (wenn ich mich richtig erinnere), also am „Kampftag der Arbeiterklasse“ und am „Tag der Republik“, dem Gründungstag der DDR. Für Erwachsene war es seinerzeit hingegen deutlich einfacher, sich vor diesen unliebsamen propagandistischen Ritualen zu drücken. So haben meine Eltern, soweit mir bekannt ist, nur ein einziges Mal seit meiner Geburt an einer Maidemonstration teilgenommen, und das war gemeinsam mit mir noch vor meiner Einschulung, um mir mal ein unterhaltsames Spektakel vorzuführen, was in unserer kleinen Provinzstadt schließlich Seltenheitswert hatte. Doch hat es mir, glaube ich, schon damals nicht besonders gefallen…

In den darauffolgenden Jahren habe ich dann eine sich immer weiter verstärkende Abneigung gegen diese Jubelparaden mit den roten und schwarzrotgoldenen Fahnenmeeren ausgebildet, die stets von unvorstellbar langweiligen hölzernen Propagandareden irgendwelcher Parteifunktionäre begleitet wurden. Und es kam ja noch schlimmer: Je älter man wurde, desto mehr aktive Mitwirkung wurde von einem gefordert. Es muss wohl in der neunten Klasse gewesen sein, als erstmals jeder von uns am 1. Mai selbst eine Fahne auf der Demonstration tragen musste. Immerhin hatten wir aber die Wahl zwischen einerseits rot und andererseits schwarz-rot-gold mit Hammer-Zirkel-Ehrenkranz. Damals lief bereits der Ausreiseantrag meiner Familie, und entsprechend kritisch stand ich „unserem“ Staat mittlerweile gegenüber. Also legte ich großen Wert darauf, die rote Fahne tragen zu dürfen, die mir als das bei weitem geringere Übel erschien. Denn schließlich hatte die Arbeiterbewegung, so sah ich es damals schon, eine durchaus ehrenwerte Demonstrations-Tradition, die nichts für ihre spätere real-sozialistische Uminszenierung zur bloßen Propagandafeier konnte.

Insofern erlebte ich es als große Befreiung, als Anfang Mai 1989, also vor genau 33 Jahren, endlich von den „zuständigen Organen“ unsere Ausreise in den Westen genehmigt wurde und ich, nunmehr siebzehnjährig, fortan niemals mehr demonstrieren gehen musste, sondern es von nun an ausdrücklich durfte, wie oder wann und wofür oder wogegen ich es wollte. Bitter war nur, dass ich durch unsere Übersiedlung die wenige Monate später einsetzende Wende im Osten mit ihren nun endlich auch dort freiwilligen Demonstrationen verpasste, die ich sehr gerne direkt vor Ort und nicht nur vor dem Fernseher miterlebt hätte…

Stattdessen sammelte ich aber nun Erfahrungen als Demonstrant im Westen. Noch im Mai (oder Juni?) 1989 erlebte ich meine Premiere auf einer Kundgebung vor dem Bremer Rathaus, wo der Revolutions-Präsident Nicaraguas, der damals vor allem im linken Lager hochgeschätzte Commandante Daniel Ortega, eine kurze Ansprache hielt. Ich hatte die Ankündigung in der Zeitung gelesen und war natürlich gleich hingegangen. Und ich traute dann meinen Augen und Ohren kaum, denn dort standen lauter cool gekleidete junge Leute mit roten Fahnen, die lauthals „Hoch die internationale Solidarität!“ riefen, also in etwa das, was, abgesehen von den coolen abgerissenen Klamotten der Demonstranten, auch auf den Zwangs-Demonstrationen im Osten zu sehen und zu hören war. Nur, dass diese Leute hier offenbar vollkommen freiwillig und sogar mit heißem Herzen dabei waren. Für mich war das in höchstem Maße irritierend und faszinierend zugleich. Ich war sogar kurz davor, die Parolen mitzurufen, hatte schon den Mund geöffnet, aber ich brachte es dann doch nicht fertig. Irgendwie war mir wohl auch der damals als großer Freiheitskämpfer angesehene Daniel Ortega nicht ganz geheuer, so wie er da in militärischer Uniform auf der Bühne stand und auf mich seltsam autoritär wirkte. Aus heutiger Sicht muss man sich eigentlich dafür schämen, ihm jemals zugejubelt zu haben, denn dieser Mann hat sich bekanntlich längst zum Diktator gewandelt, der zuletzt als einer der Ersten Präsident Putin seine Unterstützung bei der „Spezialoperation“ in der Ukraine erklärte. Aber die Welt und die Zeiten ändern sich nun einmal, und auch Putin ist einst im Bundestag beklatscht worden; Erdogan war einmal ein Reform-Präsident, der die Demokratisierung der Türkei vorantrieb und Gerhard Schröder ein Reform-Kanzler, der durch seinen mutigen Umbau des Sozialstaates in die Geschichtsbücher eingegangen ist.

Seitdem bin ich aber nur noch relativ selten auf Demonstrationen gewesen, was wohl auch daran liegt, dass ich so leicht friere und mich unter freiem Himmel lieber schnell bewege als lange stillzustehen oder im Trippelschritt zu marschieren. 1991 war ich natürlich bei den riesigen Schüler-Demos gegen den Golfkrieg der USA dabei, worauf ich aber schon bald danach nicht mehr besonders stolz gewesen bin, denn schließlich war dies eine begrenzte Militäraktion mit UN-Mandat, um einen Aggressor zu stoppen, der in sein kleines Nachbarland eingefallen war… Einen gewissen Stolz empfinde ich hingegen darauf, dass ich mit gerade einmal zwanzig oder dreißig Mitstreitern in Bremen gegen das Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens demonstriert habe. Irgendwann in den Neunzigern war ich mit Studienfreunden in Bielefeld auf einer Demo gegen Rechtsextremismus, was natürlich immer gut und richtig ist. Noch dazu war ich deutlich auf dem Foto von dieser Demonstration in der Lokalzeitung „Neue Westfälische“ (auf der ersten Seite!) zu erkennen.

Nach vermutlich mehr als zwanzigjähriger Demonstrations-Unterbrechung fand ich dann vor drei Jahren endlich einmal wieder Zeit und Kraft, um mal bei „Fridays for Future“ hier in Berlin vorbeizuschauen. Und für die Anti-Kriegs-Demo vor kurzem auf dem Alexanderplatz habe ich sogar extra ein blau-gelbes Ukraine-Plakat gebastelt. Kurzum, das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit ist gar nicht hoch genug einzuschätzen. Aber zu einem verantwortungsvollen Umgang damit sollte auch immer die Abwägung gehören, wofür sich der Gang auf die Straße wirklich lohnt.

justament.de, 31.1.2022: Die Tochter Ernst Thälmanns

Recht historisch Spezial: Eine Geschichte aus der Schulzeit in der DDR

Thomas Claer

Vor 40 Jahren bin ich der Tochter Ernst Thälmanns begegnet. So lange dürfte das nun ungefähr zurückliegen, denn ich muss damals in der vierten Klasse gewesen sein. Wir waren schon Thälmann-Pioniere und trugen daher rote Halstücher zu unseren weißen Pionierhemden, nicht mehr die blauen Halstücher der Jung-Pioniere. Aber es war noch unter unserer alten strengen Klassenlehrerin, noch nicht unter der neuen, deutlich netteren Lehrerin, die erst ab der fünften Klasse für uns verantwortlich werden sollte.

Im Refrain eines Pionierlieds, das wir zu jener Zeit häufig und nicht nur im Musikunterricht singen mussten, hieß es:

„Seid bereit, ihr Pioniere! Lasst die jungen Herzen glühn!
Seid bereit, ihr Pioniere, wie Ernst Thälmann, treu und kühn!“

Auch wurde uns immer wieder auf den Fahnenappellen das „Gelöbnis der Thälmann-Pioniere“ eingetrichtert, das da lautete:

“Ernst Thälmann ist mein Vorbild. Ich gelobe, zu lernen, zu arbeiten und zu kämpfen, wie es Ernst Thälmann lehrt. Ich will nach den Gesetzen der Thälmannpioniere handeln. Getreu unserem Gruß bin ich für Frieden und Sozialismus immer bereit.”

Und neben den Ständern mit den Mikrophonen für die Ansprachen war dann immer ein ziemlich großes Bild aufgebaut, das sonst im Treppenhaus unserer Schule hing und Ernst Thälmann (1886-1944), den von den Nazis im KZ ermordeten kommunistischen Arbeiterführer, mit stolzem strahlenden Blick zeigte. Zwar glaubte ich damals längst nicht mehr alles von der Propaganda, die uns in der Schule so aufgetischt wurde. Aber die Geschichten über Ernst Thälmann und vor allem das besagte Porträt von ihm hatten ihre Wirkung auf mich nicht verfehlt. Sehr charismatisch kam er mir auf diesem Foto vor, das natürlich reichlich geschönt war, wenn man es heute mit den anderen Fotos von ihm vergleicht, die einem auf „Google Bilder“ angezeigt werden. Doch warum hätten es die damaligen Agitatoren der Weltrevolution schlechter machen sollen als die heutigen Influencer auf Instagram?

So kam es, dass ich mit freudiger Erregung reagierte (und wohl nicht nur mir ging es so), als uns unsere strenge Lehrerin eines Tages verkündete, dass unsere Schule, die den Namen „Ernst-Thälmann-Oberschule“ trug, prominenten Besuch erwartete: Die leibhaftige Tochter Ernst Thälmanns hatte sich angekündigt. Und das Beste daran war: Sie sollte ausgerechnet in unsere Klasse kommen. Welch eine Ehre für uns! Wir stellten uns Irma Gabel-Thälmann, wie sie mit vollständigem Namen hieß, als eine Art Lichtgestalt vor. Unsere Lehrerin erklärte uns, dass sie mit einem Herrn Gabel verheiratet sei, daher ihr Doppelname. Immer wieder lasen wir im Unterricht die Auszüge aus ihrer Autobiographie in unserem Lesebuch: Wie sie ihren Vater im KZ besucht hat und es ihr gelungen ist, ihn dabei heimlich zu fotografieren. Solche Sachen… Als der große Tag näher rückte, sorgte unsere strenge Lehrerin dafür, dass alles bis ins kleinste Detail vorbereitet wurde. Einige von uns sollten im Gespräch mit Irma Gabel-Thälmann Fragen an sie richten. Ich meldete mich und schlug vor, sie zu fragen, wie es ihr gelungen sei, ihren Vater heimlich im KZ zu fotografieren. Das fand unsere strenge Lehrerin sehr gut, woraufhin sie mir ihre Erlaubnis dazu erteilte, unserem berühmten Gast diese Frage zu stellen.

Endlich war der Tag gekommen. Doch welche Enttäuschung war es für mich (und bestimmt auch für viele meiner Mitschüler), als dann Irma Gabel-Thälmann unser Klassenzimmer betrat und das Wort an uns richtete. „Das soll die Tochter Ernst Thälmanns sein?!“, raunte mein Freund Olli mir zu. Und er fügte noch hinzu: „Das kann ich nicht glauben.“ Mir ging es ganz ähnlich. Vor uns stand eine korpulente ältere Dame mit blecherner Stimme in Begleitung eines noch älteren Herrn. Das war Herr Gabel, der wohl auf allen ihren Vortragsreisen mit dabei war. Anschließend erzählte sie uns dann noch einmal all das, was wir schon wussten. Wie alle anderen Fragesteller konnte auch ich meine vorbereitete Frage anbringen, wie es ihr gelungen sei, ihren Vater heimlich im KZ zu fotografieren, woraufhin sie uns jedoch nicht mehr erzählte, als wir zuvor schon darüber gelesen hatten, nämlich nur, dass sie ihren Vater heimlich im KZ fotografieren konnte, aber nicht, wie genau sie dies angestellt hatte.

Doch dann passierte etwas Unerwartetes. Herr Gabel, für den es offenbar schrecklich langweilig war, immer wieder aufs Neue die immer gleichen Geschichten von seiner Frau anhören zu müssen, hatte sich in die letzte Bankreihe neben Michi gesetzt, der einer unserer schwächsten Schüler war, aber gerne mal den Unterricht störte. Und nun machten doch tatsächlich Herr Gabel und Michi fortwährend gemeinsam Faxen und störten den Vortrag der Tochter Ernst Thälmanns. Und unsere strenge Lehrerin machte dabei ein wütendes Gesicht, durfte aber nichts dagegen sagen, da es ja der Ehemann der Tochter Ernst Thälmanns war, der da zusammen mit Michi unablässig herumkasperte. Wir alle, außer unserer strengen Lehrerin, fanden das sehr lustig.

Sieben Jahre später fiel dann die Mauer, und die DDR war bald darauf Geschichte. Irma Gabel-Thälmann (1919-2000), die in der DDR hauptberuflich als Funktionärin des Demokratischen Frauenbundes der DDR (DFD) tätig war, trat nach der Wende enttäuscht aus der SED-Nachfolgepartei PDS aus und schloss sich der 1990 wiedergegründeten KPD an, für die sie bei der Bundestagswahl 1994 im Wahlkreis Berlin-Lichtenberg kandidierte und immerhin 266 Stimmen gewann. Schließlich wurde sie am 9. Januar 2001, wie es sich für eine zünftige Altkommunistin gehört, auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde in der Gedenkstätte der Sozialisten bestattet.

justament.de, 16.8.2021: 60 Jahre Mauerbau, 40 Jahre Verunzierung eines Fotos

Eine Geschichte aus der Schulzeit

Thomas Claer

So ähnlich hat es ausgesehen… (Collage: TC)

Vor 60 Jahren und drei Tagen hat die DDR die Berliner Mauer errichtet. Vor fast 50 Jahren bin ich hinter dieser Mauer in der DDR geboren worden. Und vor ca. 40 Jahren, so ganz genau kann ich es nicht mehr sagen, jedenfalls muss ich wohl damals in der 3. oder 4. Klasse gewesen sein, wäre mir ein ikonisches Schwarzweiß-Foto vom Mauerbau beinahe zum Verhängnis geworden. Es war in unserem Heimatkunde-Buch abgedruckt und zeigte vier uniformierte Männer mit sehr entschlossenem Gesichtsausdruck, die jeweils ihren Finger am Abzug ihrer bedrohlich großen Gewehre hatten. Vor allem aber standen sie direkt vor dem Brandenburger Tor und schienen dieses zu bewachen. Es waren, wie die unter dem Bild stehende Beschriftung verriet, keine Soldaten, sondern Angehörige der „Kampfgruppen“, einer zusätzlich rekrutierten, heute würde man vielleicht sagen: paramilitärischen Einheit neben Polizei und Armee, die dort im Einsatz waren und – wie uns von unserer Lehrerin eingeschärft wurde – heldenhaft die Staatsgrenze unserer Deutschen Demokratischen Republik gegen westliche imperialistische Provokateure verteidigten.

Tatsächlich habe ich dieses Bild sofort wiedererkannt, als es vor einigen Tagen in einer Rückblende im „Heute Journal“ gezeigt wurde. Und es war auch gar nicht schwer, es aus dem Internet zu fischen. Wenn ich es heute, mit so großem zeitlichen Abstand, noch einmal betrachte, dann wirft es bei mir allerdings Fragen auf, die ich mir früher begreiflicherweise nie gestellt habe. Auf welcher Seite des Brandenburger Tores stehen diese Kampfgruppen denn eigentlich? Und auf wen richten sie ihre Gewehre? Entweder stehen sie auf der Ost-Seite und drohen der eigenen fluchtwilligen Bevölkerung, dann wäre das Bild aber ein grandioses propagandistisches Eigentor gewesen… Oder sie stehen auf der West-Seite und drohen dem Westen. Aber dann würden sie doch noch hinter den ganzen östlichen Grenzschutzanlagen stehen, und wie konnte überhaupt ein Fotograf auf dieses verminte Gelände gelangen?

Damals, als Dritt- oder Viertklässler, lagen mir solche Überlegungen natürlich noch fern. Und es hatte auch ganz bestimmt keinen politischen Hintergrund, dass ich frecherweise den Männern auf diesem Foto während des langweiligen Unterrichts mit dem Bleistift Bärte und Brillen gemalt hatte. (Schon seinerzeit hatte ich offenbar eine besondere Vorliebe für die kreative Bearbeitung von Fotomaterial…) Woraufhin unsere überaus strenge und politisch ultra-linientreue Klassenlehrerin ein riesiges Fass aufmachte, so dass ich gar nicht mehr wusste, wie mir geschah. Entrüstet und bebend vor Zorn hielt sie das Heimatkunde-Buch mit meiner Foto-Collage vor der Klasse in die Höhe, machte dabei ein angewidertes Gesicht und schimpfte mit schneidender Stimme, dass ich diese Männer, die heldenhaft unseren Sozialismus verteidigten, ins Lächerliche zöge und wie ich mich nur erdreisten könnte. Dabei hatte ich mir wirklich überhaupt nichts dabei gedacht. Erschrocken griff ich nach meinem Radiergummi und wollte meine Verunzierungen der Helden schnell wieder beseitigen, aber so leicht kam ich natürlich nicht davon.

Wie immer, wenn jemand von uns etwas ausgefressen hatte, forderte unsere Lehrerin die anderen Schüler auf, dazu Stellung zu nehmen. Und natürlich nutzten einige meiner Mitschüler die Gelegenheit, um sich von meiner abscheulichen Tat aufs Schärfste zu distanzieren. Nachdem ich mich dann aber auch noch kleinlaut für meinen bedauerlichen Fehltritt entschuldigt hatte, war die Sache zum Glück für mich erledigt. Es hätte auch schlimmer für mich ausgehen können. Andere hatten sich für vergleichbar geringfügige Verfehlungen auch schon mal einen Tadel eingehandelt.

justament.de, 5.10.2020: Getrennt verbunden, vereint entfremdet

Das zwischenmenschliche Paradox der deutschen Wiedervereinigung

Thomas Claer

Manchmal funktionieren Fernbeziehungen ja deutlich besser als Nahbeziehungen. Durch ungünstige Umstände ist man voneinander getrennt, wartet aufeinander, denkt immer aneinander und freut sich auf die seltenen Gelegenheiten, sich zu treffen. Gleichzeitig ist man nicht ständig im Alltag mit den Macken des anderen konfrontiert… Für die Deutschen in Ost und West hatte die vierzigjährige Trennung, die der nun dreißigjährigen Zeit des Wiedervereintseins vorausging, insofern nicht nur schlechte Seiten. Denn so streng wie etwa im heute noch geteilten Korea – mit jahrzehntelanger Kontaktsperre zwischen Nord und Süd – ist es hierzulande ja nie gewesen.

So manches war erlaubt

Beinahe immer durften die Westdeutschen zu jener Zeit den Osten besuchen. Von der Staatsmacht im Osten war das sogar politisch erwünscht, da der Westbesuch ja schließlich über den obligatorischen Zwangsumtausch an der Grenze begehrte Devisen ins Land brachte. Die Ostdeutschen durften hingegen nur ausnahmsweise mal in den Westen reisen. Vielen wurden ihre Anträge auf Westreisen von den Behörden sogar immer und ohne Begründung abgelehnt (wobei Begründungen hier ohnehin nicht vorgesehen waren), vermutlich weil sie als politisch unzuverlässig oder der Republikflucht verdächtig galten. Erst im Rentenalter durften alle Ossis in den Westen, wie sie wollten. Denn kam ein Rentner nicht wieder zurück, konnte die DDR sich ja dessen Rentenzahlungen sparen.

Was aber allen in Ost und West damals ausdrücklich erlaubt war: einander Briefe zu schreiben und Pakete zu schicken. Und auch dieser vielpraktizierte Austausch kam der DDR keineswegs ungelegen. Über die Briefe in den und aus dem Westen erhielt sie wertvolle Informationen über das Meinungsbild in der Bevölkerung. (Ganze Stasi-Abteilungen waren nur damit beschäftigt, die täglich tausenden grenzüberschreitenden Briefe über Wasserdampf zu öffnen, gründlich zu lesen, abzulichten und einzuordnen. Man versteht leicht, warum es in der DDR so etwas wie Arbeitslosigkeit nie gegeben hat…) Und die berühmten Westpakete versorgten einen großen Teil der Ostbevölkerung mit begehrten westlichen Konsumartikeln. Besonders westpaketverwöhnte Ossis (wie meine Familie) mussten so niemals den scheußlich schmeckenden Ost-Kaffe trinken, nie die ebenso schlechte Ost-Schokolade essen und auch nicht auf Nylon-Strumpfhosen verzichten, denn sie waren ja immer bestens mit allem aus dem Westen versorgt.

Allerdings war es schon ein Unterschied, ob man sich all diese schönen Dinge täglich für kleines Geld an jeder Ecke kaufen konnte oder ob man sie – in unserer Familie mittels einer ausgedehnten Auspack-Zeremonie – aus einem leuchtend gelben (oder manchmal auch eintönig grauen) Westpaket fischte. Ständiger Überfluss sorgt nicht selten für Verdruss, aber vorübergehend überwundener Mangel erzeugt fast immer Freude. Für mich gehört das rituelle Auspacken der Westpakete im Familienkreis zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen…

Begegnungs- und Geschenkkultur

Überhaupt hat wohl nicht nur die eingeschränkte Begegnungs-, sondern auch die sehr spezifische Geschenkkultur das erstaunlich harmonische Miteinander zwischen Ost- und Westdeutschen zu jener Zeit geprägt. “Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft”, heißt es, aber in einer Überflussgesellschaft wie unserer heutigen (und ansatzweise auch schon der damaligen westlichen) hat das Schenken beinahe alles von seiner ursprünglichen Bedeutung verloren. Wenn einer etwas haben will, dann kann er es sich schließlich in aller Regel auch selbst kaufen. Unerbetene Zuwendungen werden dann eher als Belastungen, wenn nicht sogar als Belästigungen empfunden. Wie anders war das doch zur Zeit der deutschen Teilung! Damals konnten die Menschen des einen Teilstaates jenen im anderen Teilstaat mit ihren Geschenken und Mitbringseln noch wirklich eine Freude bereiten. Und das Beste daran war: Die Freude lag auf beiden Seiten. Wer aus dem Westen kommend mit solch kleinen Dingen für solch strahlende Gesichter bei seinen Ost-Gastgebern sorgen konnte (und das längst nicht nur bei den Kindern), der nahm es, zurück im Westen, gerne auf sich, mehrmals im Jahr seine Ost-Kontakte mit verschnürten Paketen zu beglücken (die sich sogar noch von der Steuer absetzen ließen).

Win-win-Situation

Nun sind Geschenke von gut Versorgten an weniger Bemittelte eigentlich ein zweischneidiges Schwert. Groß ist hier für den Schenker die Gefahr, sein Gegenüber zu beschämen, seinen Stolz zu verletzen. Der Beschenkte fühlt sich dann leicht als Versager, der auf Zuwendungen angewiesen ist, weil er es selbst zu nichts gebracht hat. Doch davon war zur Zeit der deutschen Teilung nichts zu spüren. Niemand im Osten wäre auf die Idee gekommen, sich wegen seiner im Vergleich zu den Westbesuchern relativ bescheidenen Lebensumstände beschämt zu fühlen. Es konnte ja auch keiner etwas dafür, dass es im Osten all die schönen Konsumartikel nicht zu kaufen gab. Es lag einzig und allein an den politischen Verhältnissen. Es war gewissermaßen höhere Gewalt, die dafür gesorgt hat, dass die Deutschen in Ost und West einander in jenen Jahren mit einfachen Mitteln so große Freude bereiten konnten. Heute würde man von einer klassischen Win-win-Situation sprechen.

Kulturschock nach der Wende

Doch damit war es dann schon bald nach Mauerfall und Wiedervereinigung vorbei. Nur kurz währte im Osten das Glücksgefühl, die ungeliebte diktatorische Mangelgesellschaft endlich hinter sich gelassen zu haben. Nun lebten Ost- und Westdeutsche plötzlich im selben Land und waren zu Konkurrenten in einer rauen Wettbewerbsgesellschaft geworden. Klar, wer hier die weitaus besseren Voraussetzungen hatte und wem der Klotz von vierzig Jahren Misswirtschaft und Bevormundung auf Lebenszeit am Bein hängen bleiben sollte. Millionen Ostdeutsche wurden arbeitslos, standen so zwar materiell zumeist besser als zu DDR-Zeiten, verloren aber vielfach ihre Selbstachtung. Nun gehörten sie nicht mehr zu denen, die nur durch unverschuldete politische Umstände hinter ihren westdeutschen Vettern und Kusinen wirtschaftlich zurückgeblieben waren, sondern sie mussten sich vor den oftmals als Kolonisatoren empfundenen “Besserwessis” als Versager fühlen, zu unflexibel, um sich auf dem nun gesamtdeutschen und globalen Arbeitsmarkt behaupten zu können.

Und überhaupt: Wo vor der Wende in den zwischenmenschlichen Ost-West-Beziehungen zumeist eitel Sonnenschein herrschte, sind nach Mauerfall und Wiedervereinigung nicht selten Streit und Missgunst an seine Stelle getreten. Erbstreitigkeiten, ungeklärte Besitz- und Restitutionsansprüche, es gab so vieles, was die Deutschen in Ost und West nun voneinander trennte. Manche verloren auch einfach das Interesse aneinander, besuchten sich nicht mehr wie früher, denn womit sollte man der anderen Seite jetzt noch eine Freude bereiten? Die Geschenkkultur hatte ihre mangelwirtschaftsbedingte Grundlage verloren, die Begegnungskultur ihre trennungsbedingte. So lässt einen das seit nunmehr dreißig Jahren wiedervereinigte Deutschland an ein altes Ehepaar denken, das oftmals lustlos nebeneinander her lebt, es aber dennoch ganz passabel miteinander aushält. Denn es gibt ja noch die schönen gemeinsamen Erinnerungen an die gute alte schlimme Zeit des Getrenntseins…

Arirang TV, Oktober 2019: Embracing Peace

Thomas Claer erneut als Zeitzeuge im Fernsehen befragt:

Drei Kurzauftritte in einer Dokumentation von Arirang TV, dem Sender der koreanischen Minderheit in den USA:

– 6:56 bis 7:39
– 9:40 bis 10:18
– 17:19 bis 17:41

Korrektur: Anders als es in diesem Beitrag fälschlicherweise eingeblendet ist, bin ich nicht an der Freien Universität Berlin beschäftigt, sondern an der Internationalen Universität Berlin.

Jahresende 2019: Ahnenforschung Claer, Teil 11

Leider bin ich auch im zurückliegenden Jahr nicht viel zum „Ahnenforschen“ gekommen. Irgendwie war ich wohl immer abgelenkt… Doch nehme ich den nun nicht mehr zu ändernden Mangel an recherchiertem Material zum Anlass, diesen „Forschungsbericht“ viel mehr als die bisherigen auf jene „Ahnen“ zu konzentrieren, an die es noch sehr lebendige Erinnerungen gibt oder noch bis vor wenigen Jahren gegeben hat. Diesmal dreht sich also alles um meinen Großvater Gerhard Claer (1905-1974), meinen Vater Joachim Claer (1933-2016) und meinen Großonkel zweiten Grades Erich Claer (1901-1950). Und diese drei Claers haben schließlich noch eine Menge Interessantes und Verwertbares hinterlassen, was nun zu seinem Recht kommen soll. Am Ende steht dann – vielleicht besonders spannend – ein optischer Vergleich im Hinblick auf äußerliche Ähnlichkeiten zwischen drei doch eigentlich recht weit voneinander entfernten Familienzweigen… Auch diesmal danke ich herzlich meiner 79-jährigen Tante dritten Grades Lorelies Claer-Fischer für ihre Unterstützung beim Entziffern der alten Schriften.

1. Mein Großvater Gerhard Claer (1905-1974)
Meinen Großvater Gerhard habe ich leider nicht mehr bewusst kennenlernen können. Zwar hatten er und meine Stief-Oma (meine leibliche Oma war bereits 1960 an Krebs verstorben) uns einmal 1974 vom Rheinland aus, wo sie seit 1956 nach ihrer Flucht aus der DDR wohnten, in Wismar besucht, als ich drei Jahre alt war, aber daran kann ich mich bedauerlicherweise nicht mehr erinnern. Es hieß immer, mein Opa sei ein ausgesprochener Spaßvogel gewesen, sogar noch weitaus mehr als mein Vater (das meinte zumindest eine seiner Cousinen). Überliefert ist insbesondere der Spruch meines Großvaters bei den Mahlzeiten, man dürfe „niemals mehr essen, als mit aller Gewalt reingeht“. Nach dem Tod meiner Eltern und meines Onkels 2016 (und teilweise auch schon vorher) habe ich eine Menge an Unterlagen und Dokumenten über das Leben meines Großvaters erhalten. Aus diesem Fundus kann ich nun schöpfen.

a) Handgeschriebener Lebenslauf

Einen ersten Überblick über sein Leben kann sein handgeschriebener Lebenslauf aus dem Jahr 1958, zwei Jahre nach der abenteuerlichen Flucht meiner Großeltern in den Westen, geben:

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

b) Mein Opa als Sportskanone
Über sein ganzes Leben soll mein Großvater dem Sport sehr zugetan gewesen sein. Er war Fußballspieler in der ersten Männermannschaft des Männerturnvereins (MTV; eine solche Ausgrenzung von Frauen schon im Namen wäre heute sicherlich nicht mehr möglich!) Neidenburg. Später, nach der Flucht aus Ostpreußen in die Sowjetzone/DDR soll er, so berichtete es mir mein Vater, auch in Brüel/Mecklenburg regelmäßig Spiele der örtlichen unterklassigen Fußballmannschaft als Zuschauer besucht haben. Zumindest ein wenig scheint mir doch die Sportlichkeit in unserer Familie zu liegen, denn der erste erlernte Beruf meines Vaters Joachim war Sportlehrer, und sein Cousin zweiten Grades, Hans-Henning „Moppel“ Claer, mein Onkel dritten Grades, war sogar Berliner Polizeimeister im Boxen und als solcher überregional sehr populär. (Nur ich selbst habe leider nicht allzu viel davon mitbekommen, aber ich bemühe mich zumindest, meinen Mangel an Talent durch ausdauernden Trainingsfleiß beim Frühsport zu kompensieren.) Hier nun also ein frühes, fast hundert Jahre altes Zeugnis der Sportlichkeit meines Großvaters Gerhard, seine Leistungsnachweise zum Erwerb des „Deutschen Turn- und Sportabzeichens“ in Bronze aus den Jahren 1925/26:

Gerhard Claer (1905-1974) im Alter von ca. zwanzig Jahren

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Eintragungen in Sütterlinschrift lauten wie folgt:
– Zu Gruppe 1:
„…300 m in stehendem Wasser in 7 Minuten 39 Sek. Zurücklegte“

(In stehendem Wasser soll wohl bedeuten: im See und nicht im Fluss.)

– Zu Gruppe 2:
„…4,84 m weit sprang“

– Zu Gruppe 3 :
„…100 m in 13,2 Sekunden überwältigte“

– Zu Gruppe 4:
„…im Steinstoßen, 3,60 links und rechts 4,57 m, zusammen 8,17 m erreichte“

Zu dieser eher unbekannten Sportart heißt es bei Wikipedia: „Das Steinstoßen ist eine Sportart, die zum Rasenkraftsport gehört. … Steinstoßen kann im Bereich Kraft als Disziplin für das Deutsche Sportabzeichen gewählt werden. Dabei wird im Gegensatz zur sonst üblichen Wertung die beste Weite von jeweils drei Stößen mit dem rechten und linken Arm zu einer Gesamtweite addiert.

– Zu Gruppe 5:
„… 10 000 m in 46  Minuten 35,2 Sekunden zurücklegte“

 

b) Soldat im Weltkrieg
Mein Großvater war, wie mir oft berichtet wurde, auch künstlerisch sehr begabt, konnte gut zeichnen, vor allem Karikaturen (was zwar mein Vater noch von ihm geerbt hat, ich dann aber leider gar nicht mehr), war musikalisch und konnte natürlich – wie alle Claers – besonders gut schreiben. Und dann hatte er – wovon ich offensichtlich etwas mitbekommen habe – auch einen besonderen Sinn für Ordnung, Genauigkeit, Dokumentation und Statistik. Während seiner Teilnahme am Zweiten Weltkrieg hat er penibel auf einem kleinen Stück Papier alle seine Aufenthaltsorte mit dem jeweiligen Datum vermerkt:

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Am Ende stand seine Entlassung aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft, dokumentiert in diesem Entlassungsschein:

 

 

 

 

 

 

 

Es wurde mir berichtet, er sei extrem abgemagert aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt und sei dann nach und nach vor allem mit Haferflocken wieder aufgepäppelt worden.

 

 

 

 

 

Dementsprechend heißt es in einer ärztlichen Bescheinigung aus dieser Zeit (siehe Abbildung):

„Brüel, den 2.11.46
Ärztliche Bescheinigung
G. Claer, Breite Str. 10 ist aus der Gefangenschaft zurückgekehrt und befindet sich in einem sehr schlechten Ernährungszustand.
Er leidet außerdem an Dystrophie in hohem Grade sowie Herzmuskelschwäche und bedarf einer Ernährungszulage, wenn möglich.
gez. Dr. Butnuth, Arzt

Brüel, den 16.10.46
Ärztliche Bescheinigung

Der Gerhard Claer, Breite Str.10 ist aus russ. Gefangenschaft zurückgekehrt und leidet an Dystrophie und Herzmuskelschwäche.
Er ist  nicht arbeitseinsatzfähig.
gez. wie oben

Brüel, den 4.12.46

Der Gerhard Claer aus Brüel, Breite Str.10 ist Heimkehrer und ist 41 Jahre alt. Er leidet an Dystrophie u. Herzmuskelschwäche und ist bis auf weiteres erwerbsbeschränkt 80%.
gez. Dr. Butnuth
Bezirksarzt“

Aber was verbirgt sich hinter dem Krankheitsbild Dystrophie? Wikipedia erklärt hierzu: „Unter einer Dystrophie – von altgr. dys „schlecht“ (hier „Fehl-“) und trophein („ernähren“, „wachsen“; „Fehlernährung“, „Fehlwachstum“) – werden in der Medizin degenerative Besonderheiten verstanden, bei denen es durch Entwicklungsstörungen einzelner Gewebe, Zellen, Körperteile, Organe oder auch des gesamten Organismus zu entsprechenden Degenerationen (Fehlwüchsen) kommt.
Ursächlich können Dystrophien vielfältig begründet sein, z. B. durch genetische beziehungsweise chromosomale Abweichungen, Erkrankungen, Traumata oder durch einen Mangel an Nährstoffen, häufig aufgrund von Mangel- oder Fehlernährung. … Medizingeschichtlich bedeutsam wurde die Diagnose „Dystrophie“ bei der Deutung der Belastungen der Kriegsheimkehrer, insbesondere von denen aus längerer Gefangenschaft. Internisten und Psychiater machten die Folgen des Hungers und der Fehlernährung für die schleppende Regeneration der Heimkehrer verantwortlich. Dystrophie wird in den Lagerjournalen der Speziallager des NKWD in der sowjetischen Besatzungszone zwischen 1945 und 1950 als die wesentliche Todesursache für die über 42.000 Todesopfer aufgeführt.[2] Kurt Gauger verfasste 1952 ein Buch mit dem Titel Die Dystrophie als psychosomatisches Krankheitsbild und schien damit eine Formel zum Verständnis der sozialen Anpassungsschwierigkeiten erkrankter Personen, in seinem Fall speziell von Kriegsheimkehrern, gefunden zu haben.

Die Journalistin Sabine Bode stellte in ihrem Bestseller Die vergessene Generation – Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen die These auf, dass die „Zahl der Patienten, die unter den Folgen von Krieg und Gefangenschaft litten, so groß“ war, „dass sie die Proportionen dessen sprengte, was man guten Gewissens als ‚anlagebedingt‘ in den Krankenakten festhalten konnte.“ Zudem dürfe „man davon ausgehen, dass sich bei den Ärzten eine gewisse Hemmung zeigte, allzu viele Leidensgenossen als ‚labile Charaktere‘ abzustempeln.“ Zur „Lösung des Problems“ hätten sich die „sichtlich überforderten deutschen Nachkriegspsychiater“ das Krankheitsbild „Dystrophie“ einfallen lassen. Und Bode fährt fort:
„Der Begriff umschrieb ein ganzes Feld an physischen Schädigungen und psychischen Beeinträchtigungen, die man auf eine vorangegangene schwere Mangelernährung zurückführte. Heute ist leicht zu erkennen, dass es sich dabei um eine aus der Not geborene Erfindung handelte. Dystrophie-Patienten litten unter anderem an Depressionen, Konzentrationsschwäche, an unkontrollierbaren Wutausbrüchen, oder sie fühlten sich permanent verfolgt, von Feinden umzingelt. Man könnte auch sagen: Für viele Männer ging nach der Heimkehr der Krieg immer weiter …“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Dystrophie)

Über die zweifache Fluchtgeschichte meiner Großeltern – zuerst aus Ostpreußen und dann aus Mecklenburg – habe ich jedoch, wie ich jetzt sehe, so viel umfangreiches Material, dass ich darüber erst im nächsten Forschungsbericht Auskunft geben kann, zumal die zweite Fluchtgeschichte offenbar auch noch mit einer sich anbahnenden Liebesgeschichte verknüpft zu sein scheint: Meine spätere Stief-Oma war die Arbeitskollegin meines Großvaters in Brüel/Mecklenburg…

 

2. Mein Vater Joachim Claer (1933-2016)
Mein Vater Joachim wurde, wozu sein vielfach variierbarer Vorname natürlich einlud, von seinen zahlreichen Freunden und Bekannten auf mindestens siebenfach unterschiedliche Weise gerufen: Meine Mutter und sein Bruder nannten ihn Achim, seine Eltern Joa, manche Freunde Jochen oder auch Jöchi, andere Jo oder auch Joe. Nur ganz wenige sagten Joachim zu ihm. Er besaß einen milden Charakter und ein freundliches und fröhliches Wesen, war gesellig und überall beliebt. Wie schon sein Vater, mein Großvater Gerhard, hatte er eine ausgeprägte künstlerische Ader, die er aber beruflich – er war zunächst Sportlehrer und später Facharzt für Orthopädie – nicht ausleben konnte. Dies tat er dafür auf verschiedene Weise im privaten Rahmen. Hier einige Kostproben:

a) Die Reise nach Karl-Marx-Stadt. Ein gereimter Foto-Bericht (1970)
Zum 60. Geburtstag meines Großvaters mütterlicherseits, Erich Nützmann, bastelte mein Vater, und hier war er ganz in seinem Element, ein kleines Foto-Album, in welchem alle Bilder mit gereimten Sprüchen versehen waren. Inhaltlich ging es um eine Reise im Trabant meiner Eltern von ihrem Wohnort Wismar aus über die mecklenburgische Kleinstadt Gnoien, den Wohnsitz meiner Großeltern und die Heimatstadt meiner Mutter Ilse, bis nach Karl-Marx-Stadt, das heutige Chemnitz, wo die Schwester meines Vaters, meine Tante Renate, und ihre Familie zu Hause waren. Das Besondere war, dass meine Großeltern aus Gnoien von meinen Eltern mit nach Sachsen genommen wurden und alle gemeinsam dort allerhand Sehenswürdigkeiten besichtigten. Das alles geschah anderthalb Jahre vor meiner Geburt im Dezember 1971. Aus heutiger Sicht mag ein eigenes Fotoalbum nur für eine kleine Inlands-Reise vielleicht überdimensioniert anmuten. Aber für meine Großeltern war es, soweit mir bekannt ist, wohl beinahe das einzige Mal, dass sie sich so weit von ihrer Heimatregion entfernten, abgesehen von der Kriegsteilnahme meines Großvaters, die ihn u.a. bis nach Südfrankreich – wo er es am schönsten fand – und in sowjetische Kriegsgefangenschaft in der Ukraine führte…

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der unter Bild 8 beim Scannen halb abgeschnittene Spruch lautet vollständig: “Ilse hat schon keine Ruhe / Denn im Fenster stehen … Schuhe!” Das Bekleidungsangebot in den Geschäften der Innenstadt von Karl-Marx-Stadt war im Jahr 1970 (noch vor Honeckers Machtübernahme) offenbar gar nicht so schlecht, in jedem Falle aber besser als in einer kleinen Stadt wie Wismar, wie die enthusiastische Reaktion meiner Mutter darauf beweist…

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

b) Kasperle-Theater in Wismar
Offenbar erstmals zu meinem dritten Geburtstag Ende 1974 führte mein Vater, der eigens dafür eine kleine Theaterbühne gebastelt hatte – er war auch handwerklich geschickt – für mich und meine Geburtstagsgäste ein selbstgetextetes Kasper-Theaterstück auf. Er spielte und sprach alle Figuren mit unterschiedlichen Stimmen und sorgte auch selbst für musikalische Untermalung. Das Stück war so konzipiert, dass es für alle uns damals verfügbaren Handpuppen eine Rolle gab: für Kasper, Großmutter, Krokodil, Teufel, Pittiplatsch (Figur aus dem DDR-Kinderfernsehen) und ein dunkelhäutiges Püppchen namens Eva. Die Schlange muss mein Vater irgendwie selbst gebastelt haben. Natürlich ist „Kasper fährt nach Afrika“ nur vor dem Hintergrund der damals stark eingeschränkten Reisefreiheit in der DDR zu verstehen…

Und hier ist das Manuskript des Stückes in der Schreibmaschinen-Version: (Eine handgeschriebene Version ist ebenfalls noch erhalten.)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Wirkung auf die kindlichen Zuschauer illustriert dieses Bild aus unserem Foto-Album:

Im Jahr darauf zu meinem vierten Geburtstag hat mein Vater noch ein weiteres Stück aufgeführt: „Kasper im wilden Westen“. Er hatte hierzu aus Kaspers gelber Zipfelmütze mit etwas bemalter Pappe einen Cowboy-Hut gebastelt. Auch dieses Manuskript sollte noch vorhanden sein. Ich werde es im nächsten Jahr posten, wenn ich es bis dahin gefunden habe.

Darüber hinaus war mein Vater auch ein großartiger Briefeschreiber. Aber dieses Fass werde ich jetzt nicht auch noch aufmachen, zumindest noch nicht…

 

 

 

 

3. Die Kondolenzbriefe für meinen Großonkel zweiten Grades Erich Claer (1901-1950)

Mein Großonkel zweiten Grades Erich Claer, der Cousin meines Großvaters Gerhard Claer, zählte zweifellos zu den in vieler Hinsicht ambitioniertesten Mitgliedern unserer Familie. Umso tragischer war sein früher Tod – siehe meine früheren Forschungsberichte – im Alter von erst 49 Jahren, nur drei Jahre nach seiner Rückkehr aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft nach Berlin. Seine Tochter, meine Tante dritten Grades Lorelies Claer-Fischer, stellte mir dankenswerterweise die nach seinem Tod bei ihrer Mutter eingegangenen Kondolenzbriefe zur Verfügung, welche zeigen, dass der Verstorbene auch Spuren im Finanz- und Wirtschaftsleben der damaligen Zeit hinterlassen hat.

Insgesamt bewertet Tante Lorelies diese Briefe als „ historisch sehr interessant: fünf Jahre nach dem Krieg, eine junge Witwe mit vier Kindern, die Not schreit aus allen Löchern und es war immer noch ein Suchen und Finden von Freunden und Familien … die Sorgen der Nachkriegszeit – Arbeit, Wohnung, Trennung, Suche nach Familie und Freunden…
Besonders fällt mir auf, wie emotional die Menschen noch miteinander umgingen und wieviel Mühe in so einem handgeschriebenen Brief liegt. … Ja und dann sind die Flüchtlinge wirklich überall in Deutschland gelandet, kein Wunder, dass so viele Freundschaften auseinander brachen, wenn nicht mal Geld für eine Busfahrkarte da war. Einige Briefe musste ich aussortieren, weil sie in Sütterlin und auf schlechtem Papier, auf dem die Tinte zerlief, unlesbar waren.“

Todesanzeige im Tagesspiegel

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zunächst sind zwei Postkarten erhalten, die Erich Claer aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft schrieb:

 

 

 

 

 

 

 

Aus ihnen geht hervor, dass Erich Claers Ehefrau Hanni Claer geb. Keller mit ihren vier Kindern nach ihrer Flucht aus Ostpreußen im Frühling 1946 noch nicht bei den Verwandten in Berlin angelangt war und ihr Aufenthaltsort niemandem bekannt war. (Sie befanden sich zu dieser Zeit auf einem Bauernhof in Polen.) Erst ein Jahr später schreibt Erich Claer an seine nunmehr in Berlin angelangte Familie, wohnhaft nun wieder in der Presselstraße in Steglitz, dass mit seiner baldigen Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft zu rechnen sei.     Bemerkenswert ist, dass er seine Frau bereits zu diesem Zeitpunkt um entsprechende Benachrichtigung von Bekannten bittet, die ihm die schnelle Wiederaufnahme seiner beruflichen Tätigkeit ermöglichen sollen. Dabei dürfte sein gesundheitlicher Zustand am Ende der Kriegsgefangenschaft kaum besser gewesen sein als der seines Cousins, meines Großvaters Gerhard, siehe oben…

Dreieinhalb Jahre später verstarb er an den Folgen einer Lungenentzündung. Und sein Tod rief große Anteilnahme nicht nur bei Verwandten und Freunden hervor, sondern auch bei diversen aktuellen und früheren beruflichen Kontaktpersonen. Hier eine kleine Auswahl:

 

 

 

 

 

Für seinen Schwager ist es unfassbar, dass „Erich, dieser große und kräftige Mann, nicht mehr sein könnte“. Auch eine alte Bekannte kann es sich nicht vorstellen, „dass der große, starke Claer nicht mehr ist.“ (In „meinem“ Familienzweig der Claers dagegen war niemand sonderlich groß oder stark…)

 

 

 

 

 

 

Die deutsche Treuhandgesellschaft Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, sein Arbeitgeber von 1937 bis Kriegsende, rühmt die „frische Lebensart und Arbeitsweise“ des Verstorbenen und betrauert ihn als „charakterfesten, liebenswürdigen Menschen“.

 

 

 

Der Magistrat von Groß-Berlin, Abteilung Arbeit, würdigt seinen wertvollen Mitarbeiter „in den Lehrabschlussprüfungskommissionen und im Fachbeirat“.

 

 

 

Ein Kollege mit dem schönen Namen Ernst Kokoschinski – die Herkunft des Ausdrucks „Mein lieber Kokoschinski!“ gilt bis heute als ungewiss – von seinem letzten Arbeitgeber, der Hermann Meyer & Co AG, versichert, sie würden dort „unseren guten Erich nicht vergessen“, mit dem er, Ernst Kokoschinski, „jahrelang durch dick und dünn gegangen“ sei.

 

 

 

 

 

 

 

Ein Rechtsanwalt Dr. Korsch – Fachanwalt für Steuerrecht – betont, dass er Erich Claer „immer ganz besonders in seiner frischen und gewinnenden Art geschätzt“ habe – und überweist eine Unterstützung von 100,- DM an seine Witwe.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Und schließlich schreibt ein Bankdirektor im Ruhestand namens Hugo Joachim einen bewegenden Brief an die Direktion der Hermann Meyer & Co. AG und würdigt darin Erich Claer als langjährigen Freund seiner Familie.

Familienmitglieder mit einer solchen Reputation haben wir seither nicht mehr gehabt…

 

4. Der hochwohlgeborene Bürgermeister
Noch angesehener waren wohl nur die von Claers… In meinen früheren Forschungsberichten ist schon vielfach von der stolzen rheinischen Adelsfamlie von Claer die Rede gewesen, die von Rollo dem Wikinger und Wilhelm dem Eroberer abstammt. Nach allem, was wir wissen, lässt sich keine nähere Verbindung zu unserer Familie nachweisen. Wenn ich dennoch noch einmal kurz auf die rheinischen von Claers zurückkomme, dann nur deshalb, weil es so amüsant ist, was ich hier gefunden habe: das Anschreiben eines frischgegründeten Turnvereins aus dem Juni 1902 an den Bürgermeister der kleinen Stadt Morsbach im Rheinland, einen Herrn von Claer.
(http://sv-morsbach.de/verein/historie.html):

„Morsbach, den 30. Juni 1902
An Herrn Bürgermeister von Claer, Hochwohlgeboren
Morsbach
Die unterzeichneten Vorstandsmitglieder des Morsbacher Turnvereins beehren sich Ew. Hochwohlgeboren ergebenst mit zu teilen, dass unterm 14ten Juni ds. Jahres ein Turnverein hierselbst gegründet worden ist. Anbei senden wir Ihnen die Statuten und bitten Ew. Hochwohlgeboren um Genehmigung derselben.
Gleichzeitig teilen wir Ihnen mit, dass Ew. Hochwohlgeboren in der Hauptversammlung vom 29. Juni der Ehrenvorsitz vom Verein einstimmig übertragen worden ist, und würde es uns zur größten Freude gereichen, wenn Hochderselbe den Ehrenvorsitz annehmen würde.
Mit ergebenstem Turnergruß: Gut Heil!
Der Vorstand :
Franz Kaldeuer, I. Vorsitzender
Eduard Ehlich, II. Vorsitzender
H. Wingendorf, I. Schriftwart
Friedrich Sauer, I. Turnwart
August Schmidt, II. Turnwart
Adolf Schmidt, Kassenwart“

 

5. Ein Koffer aus Erfurt – vom Sattlermeister Friedrich Claer

In meinem Forschungsbericht 2015 schrieb ich über die Thüringer Claers, für deren etwaige Verwandtschaft mit „unseren“ ostpreußischen es immerhin einige vage Indizien gibt (siehe ebd.):

„Dafür lassen sich weitere Spuren späterer Claers in Thüringen finden: So entdeckte ich einen Koffer- und Lederwaren-Original Katalog, wohl aus 1930er Jahren stammend, von Friedrich Claer, Koffer- und Lederwaren Erfurt.“
(http://www.zvab.com/buch-suchen/autor/friedrich-claer-koffer–und-lederwaren-erfurt-hrsg)

 

Es war naheliegend, in diesem Erfurter Sattlermeister Friedrich Claer einen Nachkommen des Erfurter Sattlermeisters Friedrich Wilhelm Heinrich Claer (1825-1882) zu sehen, der wiederum ein Sohn des überregional agierenden Fuhrunternehmers Christoph Friedrich Claer (geb. 1802) war, der als Chausseewächter in Frienstedt bei Erfurt relativ klein angefangen hatte. Dessen Vater wiederum war ein Johann Friedrich Claer, der 1802 in Siersleben geheiratet hatte und dessen Herkunft sich im Dunkeln verliert (laut Heiratseintrag: Wollin oder Wettin; ist auch von Schriftexperten nicht eindeutig zu entziffern).

Nun ist tatsächlich bei Ebay (und Ebay-Kleinanzeigen) ein echter Koffer aus der Herstellung von Friedrich Claer aus Erfurt aufgetaucht. Der Anbieter aus Dortmund schreibt dazu bei Ebay: „Der Überseekoffer wurde von Friedrich Claer in Erfurt hergestellt. Er war Sattlermeister. Im Koffer befindet sich noch der Original-Einsatz aus Stoff und Holz gefertigt. Nach mehr als 100 Jahren muss man außen ein paar Abstriche machen. Natürlich kann ein Fachmann den Koffer wieder etwas aufhübschen. Die Fa. Claer ist nach meinen Recherchen nach dem 1.Weltkrieg nicht mehr vorhanden. Die Größe: 81x52x34 cm. NUR ABHOLUNG“

Der Preis für das gute Stück liegt bei 150 Euro (Ebay) bzw. 250 Euro VB (Ebay-Kleinanzeigen). https://www.ebay.de/itm/292506803804
https://www.ebay-kleinanzeigen.de/s-anzeige/ueberseekoffer-vor-dem-ersten-weltkrieg-hergestellt/977389586-246-1108

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Aber wie kann es sein, dass der Katalog als „30er Jahre“ geschätzt wurde, aber die Sattler-Firma Friedrich Claer nach den Recherchen des Anbieters nach dem ersten Weltkrieg nicht mehr vorhanden war? Aufschluss gibt ein Adressbuch mit Straßenverzeichnis der Stadt Erfurt aus dem Jahr 1948

(http://www.familie-thurm.de/images/dokumente/adressErfurt/Seite_0130.jpg), in dem der Name Claer genau zweimal vorkommt, nämlich:

– Claer, Wilh., Sattlermeister und

– Claer, Friedrich, Leder und Galanterie

Jeweils wohnhaft in der Schmidtstedter Straße 50. Wie sich dem ergänzenden Straßenverzeichnis mit Namensliste der Bewohner entnehmen lässt, hatte Friedrich Claer („Leder und Galanterie“) sogar ein Telefon (!) mit der Nummer 20243.

Aber was bedeutet „Leder und Galanterie“? Bei Wikipedia heißt es „Galanterie: Galanteriewaren, von französisch galanterie, „Liebenswürdigkeit“, ist eine veraltete Bezeichnung für modische Accessiores. Zu den Galanteriewaren zählen Modeschmuck (Bijouterie; dieses Wort kennt vielleicht mancher aus „Deutschland ein Wintermärchen“ von Heinrich Heine) und kleinere modische Gebrauchsgegenstände wie Parfümfläschchen (Ölflakons) – sie wurden früher manchmal an einem Kettchen getragen –, Puderdosen, auffällige Knöpfe, Armbänder, Schnallen, Tücher, Schals, Bänder, Fächer usw.(https://de.wikipedia.org/wiki/Galanteriewaren)

 

Galanteriewarenladen um 1901

Somit hat sich die Geschäftstradition der Erfurter Claers also über anderthalb Jahrhunderte noch bis in die Nachkriegszeit gehalten, um dann aber letztlich doch mitsamt allen Namensträgern zu verschwinden.

 

 

 

 

6. Familiäre Ähnlichkeiten
Und schließlich soll es noch um familiäre Ähnlichkeiten gehen. Neben der von uns immer wieder festgestellten Schreibfreude und -begabung bis hinein in viele Nebenzweige unseres „Familienverbandes“ sowie der auffälligen Häufung einer grundlegenden Lustigkeit und Witzigkeit (wenn auch bei manchen nur in jüngeren Jahren) gibt es offenbar auch einen äußerlichen, für unsere Familie charakteristischen Typus, der hier anhand einiger Fotos aufgezeigt werden soll. Natürlich sieht längst nicht jeder von uns Claers so aus, ich selbst z.B. nicht, da ich eher nach Meiner Mutter komme, mein Vater ebenfalls nicht unbedingt, aber zumindest diese vier Herren weisen trotz ihrer nur sehr weitläufigen Verwandtschaft eine erstaunliche Ähnlichkeit miteinander auf:

Georg Claer (1877-1930)

Albert Claer (geb. 1923)

Hans-Henning “Moppel” Claer (1931-2002)

Gerd Claer (1943-2016)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Hier noch zur besseren Übersicht über die bestehenden Verwandtschaftsverhältnisse ein stark vereinfachter Stammbaum mit Kennzeichnung der Ähnlichkeits- und Forschungskollektive:

Stammbaum (stark vereinfacht)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Schluss und Ausblick
Soviel also für dieses Mal. Auch künftig werde ich versuchen, weiter dabei zu bleiben und von Zeit zu Zeit etwas über unsere Namensgeschichte und die Geschichte unserer Vorfahren zu recherchieren. Und schließlich will ja auch noch die doppelte Fluchtgeschichte meiner Großeltern erzählt und mein Vater als Briefeschreiber gewürdigt werden…

Berlin, Dezember 2019

justament.de, 8.7.2019: Ein kurzer Moment der Freiheit

Thomas Claer empfiehlt Spezial – Lieblingsliteratur (1): Die Kurzgeschichte „Das Eiserne Kreuz“ von Heiner Müller

Diese Geschichte ist einfach nur ungeheuerlich. Ihre Pointe liegt in ihrer pechschwarzen Amoralität. Die außerordentlichen politischen Umstände am Ende des Zweiten Weltkriegs erlauben der Hauptfigur in Heiner Müllers kurzer Erzählung „Das Eiserne Kreuz“ aus dem Jahr 1956 etwas normalerweise Unmögliches: Schluss zu machen mit ihrem gesamten bisherigen Leben und zugleich ein neues, vom alten gänzlich unbelastetes, zu beginnen.

Doch hat der Papierhändler aus einer mecklenburgischen Kleinstadt, ein überzeugter Nazi und Träger des Eisernen Kreuzes, so etwas eigentlich gar nicht vor, als er zu Beginn der Geschichte im April 1945, nachdem er vom Selbstmord des Führers gehört hat, beschließt, gemeinsam mit seiner Familie in den Tod zu gehen. Weder von seiner Frau noch von seiner 14-jährigen Tochter (von ihr natürlich am allerwenigsten!) kommt ein Wort des Widerspruchs.

Keiner der drei angehenden Märtyrer artikuliert den geringsten Zweifel am selbstgewählten kollektiven Gang in den Heldentod. Tief in ihrem Innersten, dies wird an mehreren Stellen angedeutet, gibt es aber sehr wohl eine unterschwellige Opposition gegen ihre wahnsinnige ideologische Verbohrtheit, doch die Drei bekämpfen sie offenbar jeweils resolut. Schließlich geht es ja auch darum, voreinander sein Gesicht nicht zu verlieren!

Und dann ist es auch schon geschehen. Frau und Tochter hat der Papierhändler in der Stille des Waldes bereits erschossen. Nun ist nur noch er selbst an der Reihe. Und in diesem Moment wird er sich seiner plötzlich gewonnenen Freiheit bewusst: „Da war niemand, der ihm befahl, die Mündung des Revolvers an die eigene Schläfe zu setzen. Die Toten sahen ihn nicht, niemand sah ihn. Das Stück war aus, der Vorhang gefallen. Er konnte gehen und sich abschminken.“ Es ist der pure Existenzialismus! Mit wenigen treffsicheren Worten schildert der Autor die blitzschnelle Selbst-Entnazifizierung seines Protagonisten. Einfach nach Westen laufen, in die große Stadt, wo ihn keiner kennt. Da wird er im Zweifel ein unbekannter Flüchtling sein wie so viele andere. Am Ende bemerkt er dann noch das verräterische Eiserne Kreuz an sich. Er wirft es weg.

Was sagt uns nun diese unglaubliche Geschichte? Wie böse, egoistisch und verlogen die Nazis sind? Ja, vielleicht auch das. Und es spricht ja auch immer für ein Stück Literatur, wenn es ganz unterschiedlich gedeutet werden kann. Aber sind es wirklich nur Nazis, die sich voller Heroismus in etwas hineinsteigern, während doch gleichzeitig etwas in ihnen ganz genau weiß, dass sie nur Theater spielen. Dass die elementaren Überlebens-Instinkte am Ende mächtiger sind als alle Überzeugungen. Sind wir das nicht im Grunde sogar alle? Oder andererseits auch wieder nicht? Hat nicht jedes Leben in der menschlichen Gesellschaft etwas von einem Theaterspiel? Wie wohlfeil ist es, die Handlungen dieser literarischen Figur zu verurteilen? Muss man ihr vielleicht sogar zugutehalten, sich aus eigenem Antrieb von der NS-Ideologie befreit zu haben? Liegt darin ein schäbiger Opportunismus oder ein gesunder Pragmatismus? Oder von beidem etwas? Und wie mag es wohl mit diesem Papierhändler weitergegangen sein? Ist er womöglich in seinem späteren Leben mit neuer Identität ein aufrechter Demokrat geworden?

Man kann die Geschichte natürlich auch ganz anders lesen: War dieser Papierhändler womöglich besessen von dem unbewussten, aber starken Wunsch, sich von seiner Frau und Tochter zu befreien und ohne sie ein neues Leben zu beginnen? War sein ganzer politischer Fanatismus vielleicht nur vorgeschoben, um sein wahres Ziel zu erreichen? Oder ging es ihm tatsächlich um einen radikalen Neuanfang und waren ihm Frau und Tochter als Mitwissende seiner Vergangenheit dabei im Weg? Diese Geschichte kann einen durchaus ins Grübeln bringen…

Und schließlich könnte man sich als Jurist auch noch die Frage stellen, zu welchem Zweck man diesen Ex-Nazi für seine Untaten eigentlich strafrechtlich belangen sollte. Resozialisiert werden muss er bestimmt nicht, da er sich vermutlich jeder neuen Gesellschaftsordnung bestens anzupassen versteht. Zur Normbestätigung und Abschreckung anderer? Ja, vielleicht. Doch es weiß ja niemand, dass er es war, der Frau und Kind erschossen hat, und niemand wird es jemals erfahren. Auch ist nicht anzunehmen, dass sich die Vorkommnisse wiederholen werden. Bleiben noch die absoluten Straftheorien: Jedes Verbrechen muss gesühnt werden. Doch wer glaubt heute noch an ein universelles Naturrecht? Und außerdem ist er ja gar nicht mehr der, der er war, sondern längst ein ganz anderer… Was für eine tiefgründige, furchtbare, erschreckende Geschichte!

Hier gibt es sie im Wortlaut: http://www.zeiler.me/das-eiserne-kreuz

justament.de, 5.5.2019: Widersprüchlicher Weltverbesserer

Recht cineastisch Spezial: „Goldene Lola“ für „Gundermann“ von Andreas Dresen

Thomas Claer

Nein, diesen Film wollte ich eigentlich gar nicht sehen. Musikfilme sind eigentlich nicht so meine Richtung, zumal die Songs des stasiverstrickten DDR-Liedermachers und Baggerfahrers Gerhard Gundermann (1955-1998) bislang auch nicht gerade zu meinen großen Vorlieben zählten. Doch nun bin ich sehr froh, doch noch den Weg ins Kino „Casablanca“ in Adlershof gefunden zu haben, wo „Gundermann“ (D 2018) anlässlich der Preisverleihung am Wochenende noch einmal gezeigt wurde. Beinahe hätte man uns nicht mehr reingelassen. Eine lange Schlange von Interessenten stand vor dem Kino bis auf die Straße. Als wir mit leichter Verspätung eintrafen, hörten wir eine laute Stimme rufen: „Ich frage jetzt zum letzten Mal: Hat noch jemand Online-Tickets nicht abgeholt??“ Ja, das waren wir. Zum Glück hatten wir schon vorher gebucht. Seufzend und stöhnend lief die enttäuschte Menschenmenge auseinander, denn unsere beiden Karten waren die letzten verfügbaren.

Ob einem dieser Gundermann gefällt oder nicht, er ist eine hochinteressante Figur. Und mit ihm hat Regisseur Andreas Dresen auf seine leise unaufdringliche Weise auch gleich noch die ganze alte versunkene schäbige DDR-Welt wieder zum Leben erweckt. Wer eine möglichst genaue Vorstellung vom damaligen Leben jenseits des eisernen Vorhangs bekommen möchte, sollte unbedingt diesen Film sehen. Die Schauspieler wirken, wie so oft in Andreas-Dresen-Filmen, allesamt beinahe so echt wie in einem Dokumentarfilm.

Wer es schon immer unverständlich fand, wie ein sensibler Künstler, ein Weltverbesserer mit höchstem moralischen Anspruch, jahrelang seine Mitmenschen ausspionieren und an die Stasi verpfeifen konnte und sich hinterher dafür gar nicht richtig entschuldigen mochte, wird durch diesen Film zwar auch nicht unbedingt schlauer, denn die nachvollziehbaren Gründe dafür gibt es einfach nicht. Aber man blickt nach diesen über zwei Stunden doch mit anderen Augen auf all diese Dinge. Manches hat eine gewisse Logik und dann auch wieder nicht. Vieles ist Psychologie. Dieser hochreflektierte, belesene, immer wieder Karl Marx zitierende Dichter und Musiker Gundermann lebt in einer ganz eigenen Welt, in der Welt seiner Sehnsüchte, Wünsche und Hoffnungen vor allem. Obwohl er so vieles in seiner Gesellschaft kritisch hinterfragt, glaubt er doch felsenfest daran, etwas Gutes zu tun, wenn er Fluchtwillige verrät.

Grandios dargestellt ist, wie stark sich Politisches, Privates und Künstlerisches im Leben dieses merkwürdigen Musikpoeten immer wieder gegenseitig beeinflusst. Seine künstlerisch besten Jahre hat er ausgerechnet während seiner aktiven Zeit als Stasi-Spitzel – und während seiner jahrelangen unglücklichen Liebe zur anderweitig verheirateten schönen Conny. Unzählige Lieder schreibt er für sie, bis sie dann doch noch zur Frau an seiner Seite wird. Felsenfest steht sie zu ihm, als er nach der Wende als Stasi-Informant enttarnt wird. Doch Gundermann selbst zerbricht daran und stirbt mit gerade erst 43 Jahren.

Gundermann
Deutschland 2018
Länge: 127 Minuten
Regie: Andreas Dresen
Drehbuch: Laila Stieler
Darsteller: Alexander Scheer (Gerhard Gundermann), Anna Unterberger (Conny), Benjamin Krause (Wenni) u.v.a.

www.justament.de, 31.12.2018: In der DDR gab es kein 1968

Über die grundverschiedene mental-kulturelle Prägung in Ost- und Westdeutschland

Thomas Claer

Ein mächtiger Sturm tobte über Europa, nein, längst nicht nur über Europa, sondern über der ganzen westlichen Welt und selbst noch in Teilen Asiens und Nordafrikas: der Sturm der Studentenproteste – und des gesellschaftlichen Wandels überhaupt. Damals, vor 50 Jahren, hörten junge Leute plötzlich nicht mehr Schlagerkitsch, sondern fetzige Rockmusik. Und von ihren Eltern ließen sie sich schon gar nichts mehr sagen. Langhaarige junge Männer rotteten sich in den Straßen zusammen und riefen „Ho-Ho Ho-Chi-Minh!“ Junge Frauen entblößten in Hör- und Gerichtssälen ihre Brüste und forderten Emanzipation. „Unter den Talaren“ ihrer Professoren hatten empörte Studenten „den Muff von tausend Jahren“ ausgemacht und begaben sich auf den „Marsch durch die Institutionen“, um das „kapitalistische Schweinesystem“ mal so richtig von Grund auf umzugestalten. Fortan gehörte, „wer zweimal mit der Selben“ pennte, bereits „zum Establishment“. Und selbstverständlich traute man „keinem über 30“… Kaum zu glauben, dass es ein Fleckchen Erde mitten in Europa gab, das von all dem kaum etwas mitbekommen hatte. Und doch es gab diese Region der Ahnungslosen, man nannte sie den Ostblock. Dort wehte der Wind der Veränderung, wenn überhaupt, nur als ein laues Lüftchen. Mauer und Stacheldraht hatten hier zwar längst nicht alles vom neuen Zeitgeist zurückhalten können, aber doch genug, um eine Menge von dem zu konservieren, was die westlichen Gesellschaften nach 1968 längst überwunden glaubten, auf dem „Müllhaufen der Geschichte“ wähnten: autoritäre Strukturen, Disziplin und Gehorsam, Homophobie und Fremdenfeindlichkeit zum Beispiel. Und so kam es, dass an der Nahtstelle zwischen Ost und West, an der innerdeutschen Grenze, nicht nur zwei entgegengesetzte politische Welten jahrzehntelang nebeneinander her lebten, sondern deren Bewohner auch grundverschiedene kulturelle Prägungen durchlaufen hatten. Sie sprachen dieselbe Sprache und konnten einander, wie sich später zeigen sollte, doch nur sehr begrenzt verstehen. Ein großes soziologisches Freiluftexperiment am lebenden Objekt gewissermaßen.

Ich selbst war 1968 noch gar nicht geboren. Erst drei Jahre später erblickte ich das Licht der Welt, doch konnte ich die Auswirkungen dieser weitgehend entgegengesetzten sozialen Codierungen in Ost und West sehr eindrucksvoll in der Schule studieren: erst im Osten – in einem Dorf nahe der innerdeutschen Grenze mit starker Armee-Präsenz – und später im Westen: in einer besonders liberalen Großstadt. Einen stärkeren Kontrast, als ich ihn damals erlebt habe, kann man sich nicht vorstellen. Das einzig Verbindende zwischen diesen beiden Welten war (neben der norddeutsch eingefärbten Sprache) die ironischerweise ihnen beiden zugeschriebene Farbe Rot. Aber ansonsten: Wie vollkommen unterschiedlich sich gleichaltrige junge Menschen doch verhalten konnten!

Kam im Osten ein neuer Schüler in die Klasse, wurde er von seinen neuen Mitschülern zuerst interessiert angesehen, sodann auf Schritt und Tritt beobachtet und schließlich neugierig befragt, woher er denn komme und was er so treibe. Nichts davon im Westen. Niemand nahm Notiz von einem Neuankömmling. Überhaupt bestand so eine West-Klasse aus mehreren Grüppchen, die sich offenbar überhaupt nicht miteinander abgaben. Die Gruppenzugehörigkeit, das lernte ich schnell, manifestierte sich vor allem auch in der Kleidung (Ökos, Popper, Grufties, Rocker, Normalos…), während im Osten alle ganz ähnlich angezogen waren und fortwährend jeder mit jedem kommunizierte. Kam man dann schließlich doch mit den West-Kindern ins Gespräch, erwiesen sie sich mitunter als freundlich, doch – jedenfalls im Vergleich zur ganz natürlichen Herzlichkeit der Ostdeutschen – auch als irgendwie unterkühlt. Ganz anders aber war es bei den Lehrern! Während sich die Ost-Lehrer ausnahmslos als Autoritätspersonen präsentierten, die auch gerne mal laut wurden, um Ruhe und Ordnung durchzusetzen, traten die West-Lehrer in vielen Fällen als ausgesprochene Kumpeltypen auf, die sich mit ihren Schülern z.B. über Popmusik und Filme unterhielten und sogar mit ihnen Computerspiele tauschten. Manche männlichen West-Lehrer hatten lange Haare oder waren zerfetzt und abgerissen gekleidet. Und dann der Sportunterricht! Im Osten wurde man im Kasernenhofton herumkommandiert, musste am Anfang der Stunde strammstehen und auch öfter mal in Reih und Glied marschieren. Im Westen liefen eigentlich alle fortwährend durcheinander, ohne dass sich jemand daran gestört hätte. Das T-Shirt trugen die West-Kinder lässig über der Hose, im Osten wäre man dafür vom Lehrer angeschnauzt worden.

In der Schule hatte man im Osten pünktlich zu erscheinen, sonst gab es Ärger, aber so richtig. Im Westen hingegen trudelte alle paar Minuten ein weiterer Nachzügler ein. Wurde im Osten etwas Organisatorisches angesagt, dann geschah dies jeweils genau einmal. Hatte jemand etwas nicht gleich mitbekommen, weil er geträumt hatte oder abgelenkt war, und er fragte nach, so wurde er vom Lehrer vor der versammelten Klasse für seine Unaufmerksamkeit blamiert. Ganz anders im Westen: So ziemlich alles wurde von den Lehrern zweimal, dreimal oder viermal laut und deutlich wiederholt – und dennoch gab es fast immer noch eine Nachfrage: „Also wann sollen wir uns noch mal treffen??“ Wurde auf Klassenfahrten ein Treffpunkt vereinbart, dann waren im Osten stets alle zu der vorgegebenen Zeit anwesend. Im Westen plante man in solchen Fällen immer großzügig noch eine halbe Stunde Zeitpuffer ein – und doch fehlte am Ende noch der eine oder die andere.

Im Osten war es gefährlich, ein Außenseiter zu sein, denn dann wurde man vom Kollektiv gemobbt, wobei es dieses Wort damals noch gar nicht gab. Von den Lehrern hatte man dann wenig Hilfe zu erwarten, sondern wurde höchstens von ihnen ermahnt, sich doch endlich einmal besser ins Klassenkollektiv einzufügen. Ganz anders im Westen. Dort appellierten die Lehrer ausdrücklich an das Sozialverhalten, forderten ihre Schüler auf, niemanden auszugrenzen. Aber die West-Schüler kamen – anders als Ost-Schüler – zumeist gar nicht auf die Idee, andere zu mobben, weil diese ihnen völlig egal waren. Für West-Schüler zählte nur der eigene Freundeskreis; was andere taten oder nicht taten, kümmerte sie nicht.

Gibt es solche mentalen Unterschiede zwischen Ost und West auch heute noch? Wahrscheinlich längst nicht mehr so ausgeprägt wie vor 30 Jahren, aber ganz bestimmt gibt es sie noch. Gewisse regionale, auch personale Kontinuitäten lassen sich nicht so leicht aus der Welt schaffen, und warum auch? Gruppenspezifische mentale Unterschiede gibt es hierzulande schließlich auch zwischen Nord und Süd, zwischen Arm und Reich, zwischen Stadt und Land, zwischen Eingeborenen und Migranten.

Was folgt nun aus all dem? Ich weiß es nicht, nur so viel: Dass im Westen oder im vereinigten Deutschland alles in jeder Hinsicht besser wäre als damals im Osten, lässt sich nun wirklich nicht behaupten. Wo viel Licht ist, da ist immer auch viel Schatten. Und umgekehrt. Insbesondere ist die Freiheit, die sich vor 50 Jahren mit der 1968er Revolte ausgebreitet hat – nicht zuletzt im westlichen Erziehungssystem – ein durchaus zweischneidiges Schwert. Zu viel davon kann leicht fragwürdige Nebenwirkungen oder unbeabsichtigte Folgen mit sich bringen. Aber wenn ich mich entscheiden müsste: Dann doch bitte lieber zu viel Freiheit als zu wenig…