justament.de, 30.1.2023: Der Schick des Ostens
Recht cineastisch, Teil 41: “In einem Land, das es nicht mehr gibt” von Aelrun Goette
Thomas Claer
Gerade erst dreieinhalb Jahrzehnte liegt das alles nun zurück, und doch kommt es einem vor, als ob die alte DDR, der selbsternannte erste Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden, den realsozialistischen Einheitsbrei-Löffel schon vor einer halben Ewigkeit abgegeben hätte. Und so wirken heute Filme, die in jener Epoche spielen, auf den Betrachter ähnlich entrückt wie Wildwest- oder Mantel- und Degen-Filme – oder wie die Landschaften aus verwunschenen Königreichen in Grimms Märchen. Eine Mischung aus Historienschinken und Kostümspektakel ist dann auch der neue Film der Berliner Regisseurin Aelrun Goette geworden, der erstmals eine bislang kaum beachtete Nische der damaligen ostdeutschen Gesellschaft ausleuchtet: die Modeszene der DDR. Doch, so etwas hat es sehr wohl gegeben, und sie hat in diesem sehr besonderen Biotop sogar ziemlich besondere Blüten getrieben.
Auf der einen Seite gab es da die streng formalistisch durchgestylte Welt rund um die einzige DDR-Modezeitschrift „Sibylle“, der die Staatsmacht ganz erstaunliche Freiheiten einräumte. Man kann sogar sagen, dass diese Ost-Mode, fernab von Popularitäts- oder gar Profitabilitätskriterien und im selbstbewussten Gegensatz zum durchkommerzialisierten Westen, eine ganz eigene Ästhetik hervorgebracht hat. Und auf der anderen Seite war da, wenn auch vornehmlich nur in Ost-Berlin, der wild-anarchische Underground, der sich aus diversen Subkulturen speiste, die dann wiederum doch sehr stark von westlichen und internationalen Vorbildern beeinflusst waren.
Was man allerdings auch als gebürtiger Ossi nicht gedacht hätte, ist, wie durchdrungen diese scheinbar so entgegengesetzten beiden Mode-Welten tatsächlich voneinander waren. So rekrutierte sich ein nicht unwesentlicher Teil der Sibylle-Fotografen aus subversiven Szene-Existenzen, die auch immer wieder mit der Staatsmacht in Konflikt gerieten. Dieser ganz ausgezeichnete Film erzählt nun ihre Geschichte – und ist dazu noch ein Riesenspaß mit all den schrillen und bunten Klamottenstilen, immer begleitet vom Soundtrack dieser Zeit zwischen internationaler Disco-Popmusik und alternativem Krach aus beiden Hälften der geteilten Stadt.
Aber wenn sich nun jemand fragt, wie es denn überhaupt so etwas wie Mode in der DDR geben konnte, wo es doch kaum etwas Ansehnliches zu kaufen gab: Es wurde gebastelt, geschneidert und improvisiert. Jedes Heft der „Sibylle“ enthielt Anleitungen dazu. Und das offenbar mit dem Segen der Partei…
In einem Land, das es nicht mehr gibt
D 2022
Länge: 100 Minuten
FSK: 12
Regie: Aelrun Goette
Drehbuch: Aelrun Goette
Darsteller: Marlene Burow, Sabin Tambrea, David Schütter u.v.a.
justament.de, 21.11.2022: Ästhetische Negativität
Ästhetische Negativität
Ein Besuch im Käthe-Kollwitz-Museum Berlin, neuerdings im Theaterbau am Schloss Charlottenburg
Thomas Claer
Das Käthe-Kollwitz-Museum ist vor einigen Wochen umgezogen: aus der Fasanenstraße nahe dem Ku’damm, wo es seit 1986 seinen Sitz hatte, in den Theaterbau am Schloss Charlottenburg. Und wenn man schon nur ein paar Ecken davon entfernt wohnt, ist es doch – und nicht nur im buchstäblichen Sinne – naheliegend, es endlich einmal zu besuchen, zumal man dies schon immer mal vorhatte.
Wer seine Kindheit und Jugend in der DDR verbracht hat, der kennt natürlich Käthe Kollwitz (1867-1945), die bekannte Berliner Grafikerin, Malerin und Bildhauerin, aus den offiziellen Schulbüchern, in denen viele ihrer Werke immer wieder abgedruckt, erläutert und gewürdigt wurden. Käthe Kollwitz galt sozusagen als sozialistische Künstlerin par excellence, was aber genau genommen nicht ganz richtig ist; wirklich falsch ist es allerdings auch nicht. Zwar war sie niemals Mitglied einer politischen Partei, doch hat sie aus ihrer Sympathie für die sozialistische (und wohl auch kommunistische) Bewegung nie ein Geheimnis gemacht und vor allem auch in ihrer Kunst – so wurde es zumindest weithin empfunden – stets einen eindeutigen „Klassenstandpunkt“ vertreten. Allerdings war es für die DDR auch denkbar einfach, sie voll und ganz für ihre Sache zu vereinnahmen, denn sie konnte sich ja infolge ihres Todes bereits kurz vor Kriegsende nicht mehr dagegen wehren. Eine offene Frage bleibt indessen, ob sie den neuen Machthabern im Arbeiter- und Bauern-Staat womöglich kritisch begegnet wäre, sich ihnen – horribile dictu – sogar durch Abwanderung in den Westen entzogen hätte oder ob sie, was ihren Nachruhm angeht, von Glück sagen kann, dass sie nicht noch länger gelebt hat, da sie ansonsten leicht zur stalinistischen Kulturfunktionärin hätte werden können. (So wie z.B. der „progressive“ Schriftsteller Heinrich Mann nach aktuellem Stand der Forschung nur durch sein vorzeitiges Ableben vor einer solchen, eigentlich schon mit ihm ausgehandelten Rolle in der DDR bewahrt wurde.)
Wie auch immer, zumindest hat ihre politische Wirkung und posthume propagandistische Instrumentalisierung Käthe Kollwitz bis heute nicht nachhaltig geschadet. Denn künstlerisch hat sie in der Tat Außerordentliches zu bieten. Der erste Eindruck ihrer im Theaterbau versammelten Werke, die einen Großteil ihres Schaffens ausmachen dürften, ist überwältigend. Eindringlich, grell und enorm plakativ wirken ihre Bilder, obwohl sie alle nur in Schwarz-Weiß gehalten sind. Man merkt, dass sie vom Expressionismus kommt. Schließlich ist sie gerade einmal 14 Jahre jünger als Vincent van Gogh (1853-1890). Und ganz ähnlich intensiv wie bei diesem sind ihre Werke, nur ohne jede Leichtigkeit. Die Stimmungslage geht bei ihr vielmehr ins Anti-Euphorische, ins abgrundtief Traurig-Verzweifelte, allzeit Schwermütige. Aber nicht in stillem Leiden, sondern gleichsam immerfort laut aufschreiend, nur eben bildlich. (Man fühlt sich in dieser Ausstellung auch ständig an den „Schrei“ von Munk erinnert.) Thematisch geht es immer um die Not und das Elend der kleinen Leute, der Arbeiter und Bauern, die mörderische Sinnlosigkeit der Kriege.
Nur stellt man sich im Laufe der Besichtigung dann irgendwann doch die Frage, woher die geradezu monomanische Obsession dieser Künstlerin für all das kommt. Keine Frage, ihre Empörung über die sozialen Missstände ihrer Zeit, über Krieg und Militarismus ist vollauf berechtigt. Aber es gibt bei ihr tatsächlich keine anderen Themen und vor allem auch keine anderen Stimmungen. Niemals entsteht so etwas wie Frohsinn, Entspannung oder vielleicht Sinnlichkeit. Selbst ihren Aktzeichnungen und -skulpturen fehlt wirklich jede Spur, ja jeder Hauch von Erotik. Die Schönheit der Natur oder von Architektur? Kommt bei ihr nicht vor. Und was ihrer Kunst erst recht abgeht, sind Humor oder gar Ironie. Wie anders hat doch ihr Kollege Heinrich Zille (1858-1929) seine ganz ähnlichen Sujets – sogar mit ähnlichen Mitteln – wiedergegeben: heiter, spitzbübisch, augenzwinkernd. Bei Käthe Kollwitz dagegen herrscht nur existentieller Ernst. Wenn nicht alles so nüchtern wäre, könnte man dazu fast sagen: bierernst.
Natürlich ist so etwas immer auch eine Temperamentsfrage. Vielleicht hat diese Künstlerin ja wirklich ein Leben im mentalen Ausnahmezustand geführt. Einen ihrer beiden Söhne und dazu noch einen Enkel hat sie in den beiden Weltkriegen verloren. Aber ihr Sohn hatte sich im Alter von 18 Jahren freiwillig zum Kriegseinsatz an der Front gemeldet, obgleich seine Eltern zweifellos bereits zu dieser Zeit (1914) offen pazifistisch und antinationalistisch eingestellt gewesen waren. Und ihr Enkelsohn wollte sogar „nicht der Enkel von Käthe Kollwitz sein“ und verstand sich als überzeugter Nationalsozialist, als er 1940 tödlich verwundet wurde. Wieviel Protesthaltung gegen die dominante Mutter respektive Großmutter wird dabei im Spiel gewesen sein? Im menschlichen Umgang war Käthe Kollwitz vermutlich nicht immer so ganz einfach…
Dennoch sollte, wer es noch nicht getan hat, unbedingt das Käthe-Kollwitz-Museum besuchen. Auch wenn es, was eigentlich denkbar unpassend ist, nun in einem alten preußischen Schloss untergebracht ist. Oder sollte der Hintergedanke dieser Ortsauswahl gerade darin liegen, die verblichenen Hohenzollernkönige mit sozialer Not und Kriegselend zu konfrontieren, was sie während ihrer Herrschaft kaum jemals interessiert haben dürfte?
justament.de, 15.2.2021: Ein Mängelwesen
Wie die DDR tatsächlich einen “neuen Menschen” geschaffen hat: den Ost-Mann
Thomas Claer
Wie oft hat man hierzulande nicht schon über den ewig abgehängten Osten lamentiert. Über die dort fehlende Zivilgesellschaft, über rechtsradikale Strukturen im ländlichen Raum, über die regionalen Häufungen von Pegida-Wutbürgern und neuerdings auch Corona-Leugnern. Doch als Wurzel aller dieser Übel wurde in vielen solchen Betrachtungen und Analysen nicht der Ostbürger an sich, sondern in erster Linie dessen männliche Variante ausgemacht. Der frustrierte Ost-Mann als Problem-Mann also.
Und in der Tat haben sich, wie einschlägige Untersuchungen belegen, in 30 Jahren deutscher Einheit ostdeutsche Frauen als weitaus integrierbarer in die gesamtdeutschen Verhältnisse erwiesen als ostdeutsche Männer. Insbesondere zeigt sich dies auf der zwischenmenschlich-partnerschaftlichen Ebene: „Die Paarung Ostfrau/Westmann ist bis heute siebenmal häufiger anzutreffen als die umgekehrte Konstellation“, konstatiert der (West-)Schriftsteller Peter Schneider in seinem Buch “An der Schönheit kann’s nicht liegen”. Klar, die DDR-Frau war, anders als viele West-Frauen, “berufstätig, ökonomisch unabhängig, selbstbewusst und scheidungsfreudig”, was sie für West-Männer ziemlich attraktiv machte. Umgekehrt konnte sich der Ost-Mann, anders als sein West-Pendant, “nicht mit Privilegien schmücken, die ihm ein Machogehabe gestatteten. Mit Geld, schnellen Autos und einem Haus auf Ibizza konnte er nicht protzen. Er war auf seine eventuellen Begabungen als Liebhaber und auf seine Qualitäten als Vater und Partner angewiesen”. Doch damit allein war und ist bei West-Frauen zumeist kein Blumentopf zu gewinnen. “Noch als Fünfzig- oder Sechzigjährige verdienen Ost-Männer nicht gut, denn ihnen fehlt die Fähigkeit, ihre Talente auf dem Markt anzupreisen. Immerhin verrichten sie mehr Hausarbeit als die Westmänner.”
Tiefe Einblicke in die mentalitätsgeschichtlichen Hintergründe dieser in Ost und West traditionell grundverschiedenen Männlichkeitsrollenbilder verdanken wir dem jüngst erschienenen fulminanten Essay “Wandmänner” von (Ost-)Schriftsteller Martin Ahrends, Jahrgang 1951 (Magazin der Süddeutschen Zeitung Nr.45/2020 v. 6.11.2020, S.34 ff.): “Und es sind ja dann im Westen andere deutsche Nachkriegsmänner herangewachsen als im Osten. Wo bei uns die Macht der Partei waltete und … massenhaft stressfreie Jobs produzierte, wurden im Westen Heerscharen von ‘richtigen Männern’ gebraucht in der Politik und vor allem der Wirtschaft, Heerscharen von Unternehmern, Verkäufern, Werbemanagern tobten sich da aus im Haifischbecken der freien Konkurrenz.” Der Osten hingegen hatte sich nach Leninscher Vorgabe nichts Geringeres als die Erschaffung eines “neuen Menschen”, der “sozialistischen Persönlichkeit”, auf die Fahne geschrieben, und ist dabei, rückblickend betrachtet, sogar recht erfolgreich gewesen, wenn auch auf andere Weise als geplant: “Im Windschatten der Mauer, in dieser historischen Windstille gedieh manches, mit dem niemand gerechnet hatte, am wenigsten die ALLES planenden Staatslenker. Wie unwichtig uns das Geld war. Der Erfolg, das Siegen, das soziale Fortkommen. Und was stattdessen wichtig werden konnte: die kollektiven Initiativen im privaten Raum, der wahrscheinlich anders privat war als der im Westen. Ein anderer sozialer Kosmos. Wir hatten ein anderes Verhältnis zum Eigentum. Wir hatten mehr Zeit. Die Geschlechter hatten ein anderes Verhältnis zueinander. Was da entstand aus der Not, hatte in manchen Zügen tatsächlich etwas von Neubeginn. Nicht die offizielle Behauptung des Neubeginns schuf ihn, sondern ein großes Ablassen von der modernen Überanstrengung. Unsere technische Zurückgebliebenheit war nicht beabsichtigt, aber doch eine andere Antwort als der westdeutsche Technikfetischismus. Den für die Industrie optimierten Menschen wollten die Genossen auch, waren nur längst nicht so erfolgreich damit. Wir durften andere Männer sein… ganz und gar harmlos, auf ihre Frauen fixiert, nicht auf den Erfolg, Männer, die sich nicht gedemütigt fühlen, wenn sie hinter dem Steuerrad eines “Pkw Trabant” Platz nehmen. Und hatte so ein Trabant nicht eine ganz andere Wahrhaftigkeit als ein Volkswagen? Der Trabi erzählte im Land der Tüftler und Techniker von männlicher Selbstbeschränkung.” Und weiter heißt es bei Martin Ahrends: “Wir lebten zur selben Zeit wie ihr Westmänner – in einer anderen Zeit, einer Halbschlafzeit, beinahe ungestört von gelegentlichen Kampagnen zur Steigerung der Arbeitsproduktivität. Unsere Ost-Zeit war nach dem damaligen Wechselkurs nur ein Achtel der West-Zeit wert. Sie durfte ungenutzt vergehen, ähnlich der Kinderzeit, die sich noch nicht in Stunden und Minuten misst, sondern nach dem, was Stimmung und Zufall einem an Erlebnissen eintragen.”
Zu den zahlreichen Paradoxien, die dieses vier Jahrzehnte währende Leben hinter Mauer und Stacheldraht auch mit sich brachte, gehörten sogar Freiheiten, die so im Westen nicht zu haben waren: “Im Osten war man frei von den Verdauungssäften des Kapitals. Frei von Existenzkämpfen und -ängsten, frei von der Angst, die Wohnung und die Arbeit zu verlieren. Frei von den wirklichen Winden des Daseins. Nicht auf Teufel komm raus produzieren, verkaufen, verbrauchen, entsorgen zu müssen: Das war eine Freiheit des Ostens. Uralte männliche Antriebe, Unternehmertum und Kampfgeist, lagen so ziemlich brach. Ein unbestelltes Feld, mit Unkraut zugewuchert, das prächtig blühen, sich ungestört vermehren konnte, selbstgenügsam, ineffizient. Ostmänner waren gelernte Bastler und Improvisateure, somnabul reisten sie im Land herum auf der Spur eines Baustoffs oder Ersatzteils. Eine Freiheit des Ostens war die Freiheit des Dilettantentums, leidlich mauern, tapezieren, autoschlossern zu können – das waren die Tugenden des Ostmannes.” Doch waren solche Tugenden dann seit den Wendejahren immer weniger gefragt. “Von den Klischees abgesehen sind Ostmänner meiner Generation oft noch als solche erkennbar. Eher ‘naturbelassen’. Nicht von Kindsbeinen so effizient eingegliedert, wie ich es bei vielen Westmännern erlebe… Auf unserer Seite verlief die Eingliederung doch grobschlächtiger und war leichter vorzutäuschen. Mit einem Lippenbekenntnis kam man davon und gehörte schon dazu. Das war im Westen so leicht nicht zu haben, das Dazugehören.” Soweit (Ost-)Schriftsteller Martin Ahrends.
Doch zeigt sein (West-)Schriftstellerkollege Peter Schneider, sich auf Beobachtungen in seinem umfangreichen Bekanntenkreis stützend, hier einen Ausweg auf: „Dennoch hat der Ostmann eine Chance: Sie betrifft die alleinstehende und von der Männerwelt enttäuschte Westfrau, die sich nach endlosem und schließlich unheilbarem Streit von dem Ernährer ihrer Kinder getrennt hat. Der Ostmann bietet sich ihr in dieser Situation als guter Kamerad an, er tröstet sie. … Es macht ihm nichts aus, die Kinder der Westfrau morgens in die Schule zu bringen oder sie im Kinderwagen stundenlang durch den Park zu schieben. Solidaritätsgewohnt schließt er diese nicht selten krass verwöhnten Kinder in seine Zuneigung ein, macht mit ihnen Hausaufgaben und erweist sich als geduldiger Spielkamerad. Vorsichtig – und nur in Abwesenheit der Mutter – versucht er ihnen ein Minimum an Erziehung zukommen zu lassen. Nach langer und bestandener Probezeit öffnet ihm seine westliche Geliebte endlich die Tür zu ihrem Schlafzimmer.“
www.justament.de, 31.12.2018: In der DDR gab es kein 1968
Über die grundverschiedene mental-kulturelle Prägung in Ost- und Westdeutschland
Thomas Claer
Ein mächtiger Sturm tobte über Europa, nein, längst nicht nur über Europa, sondern über der ganzen westlichen Welt und selbst noch in Teilen Asiens und Nordafrikas: der Sturm der Studentenproteste – und des gesellschaftlichen Wandels überhaupt. Damals, vor 50 Jahren, hörten junge Leute plötzlich nicht mehr Schlagerkitsch, sondern fetzige Rockmusik. Und von ihren Eltern ließen sie sich schon gar nichts mehr sagen. Langhaarige junge Männer rotteten sich in den Straßen zusammen und riefen „Ho-Ho Ho-Chi-Minh!“ Junge Frauen entblößten in Hör- und Gerichtssälen ihre Brüste und forderten Emanzipation. „Unter den Talaren“ ihrer Professoren hatten empörte Studenten „den Muff von tausend Jahren“ ausgemacht und begaben sich auf den „Marsch durch die Institutionen“, um das „kapitalistische Schweinesystem“ mal so richtig von Grund auf umzugestalten. Fortan gehörte, „wer zweimal mit der Selben“ pennte, bereits „zum Establishment“. Und selbstverständlich traute man „keinem über 30“… Kaum zu glauben, dass es ein Fleckchen Erde mitten in Europa gab, das von all dem kaum etwas mitbekommen hatte. Und doch es gab diese Region der Ahnungslosen, man nannte sie den Ostblock. Dort wehte der Wind der Veränderung, wenn überhaupt, nur als ein laues Lüftchen. Mauer und Stacheldraht hatten hier zwar längst nicht alles vom neuen Zeitgeist zurückhalten können, aber doch genug, um eine Menge von dem zu konservieren, was die westlichen Gesellschaften nach 1968 längst überwunden glaubten, auf dem „Müllhaufen der Geschichte“ wähnten: autoritäre Strukturen, Disziplin und Gehorsam, Homophobie und Fremdenfeindlichkeit zum Beispiel. Und so kam es, dass an der Nahtstelle zwischen Ost und West, an der innerdeutschen Grenze, nicht nur zwei entgegengesetzte politische Welten jahrzehntelang nebeneinander her lebten, sondern deren Bewohner auch grundverschiedene kulturelle Prägungen durchlaufen hatten. Sie sprachen dieselbe Sprache und konnten einander, wie sich später zeigen sollte, doch nur sehr begrenzt verstehen. Ein großes soziologisches Freiluftexperiment am lebenden Objekt gewissermaßen.
Ich selbst war 1968 noch gar nicht geboren. Erst drei Jahre später erblickte ich das Licht der Welt, doch konnte ich die Auswirkungen dieser weitgehend entgegengesetzten sozialen Codierungen in Ost und West sehr eindrucksvoll in der Schule studieren: erst im Osten – in einem Dorf nahe der innerdeutschen Grenze mit starker Armee-Präsenz – und später im Westen: in einer besonders liberalen Großstadt. Einen stärkeren Kontrast, als ich ihn damals erlebt habe, kann man sich nicht vorstellen. Das einzig Verbindende zwischen diesen beiden Welten war (neben der norddeutsch eingefärbten Sprache) die ironischerweise ihnen beiden zugeschriebene Farbe Rot. Aber ansonsten: Wie vollkommen unterschiedlich sich gleichaltrige junge Menschen doch verhalten konnten!
Kam im Osten ein neuer Schüler in die Klasse, wurde er von seinen neuen Mitschülern zuerst interessiert angesehen, sodann auf Schritt und Tritt beobachtet und schließlich neugierig befragt, woher er denn komme und was er so treibe. Nichts davon im Westen. Niemand nahm Notiz von einem Neuankömmling. Überhaupt bestand so eine West-Klasse aus mehreren Grüppchen, die sich offenbar überhaupt nicht miteinander abgaben. Die Gruppenzugehörigkeit, das lernte ich schnell, manifestierte sich vor allem auch in der Kleidung (Ökos, Popper, Grufties, Rocker, Normalos…), während im Osten alle ganz ähnlich angezogen waren und fortwährend jeder mit jedem kommunizierte. Kam man dann schließlich doch mit den West-Kindern ins Gespräch, erwiesen sie sich mitunter als freundlich, doch – jedenfalls im Vergleich zur ganz natürlichen Herzlichkeit der Ostdeutschen – auch als irgendwie unterkühlt. Ganz anders aber war es bei den Lehrern! Während sich die Ost-Lehrer ausnahmslos als Autoritätspersonen präsentierten, die auch gerne mal laut wurden, um Ruhe und Ordnung durchzusetzen, traten die West-Lehrer in vielen Fällen als ausgesprochene Kumpeltypen auf, die sich mit ihren Schülern z.B. über Popmusik und Filme unterhielten und sogar mit ihnen Computerspiele tauschten. Manche männlichen West-Lehrer hatten lange Haare oder waren zerfetzt und abgerissen gekleidet. Und dann der Sportunterricht! Im Osten wurde man im Kasernenhofton herumkommandiert, musste am Anfang der Stunde strammstehen und auch öfter mal in Reih und Glied marschieren. Im Westen liefen eigentlich alle fortwährend durcheinander, ohne dass sich jemand daran gestört hätte. Das T-Shirt trugen die West-Kinder lässig über der Hose, im Osten wäre man dafür vom Lehrer angeschnauzt worden.
In der Schule hatte man im Osten pünktlich zu erscheinen, sonst gab es Ärger, aber so richtig. Im Westen hingegen trudelte alle paar Minuten ein weiterer Nachzügler ein. Wurde im Osten etwas Organisatorisches angesagt, dann geschah dies jeweils genau einmal. Hatte jemand etwas nicht gleich mitbekommen, weil er geträumt hatte oder abgelenkt war, und er fragte nach, so wurde er vom Lehrer vor der versammelten Klasse für seine Unaufmerksamkeit blamiert. Ganz anders im Westen: So ziemlich alles wurde von den Lehrern zweimal, dreimal oder viermal laut und deutlich wiederholt – und dennoch gab es fast immer noch eine Nachfrage: „Also wann sollen wir uns noch mal treffen??“ Wurde auf Klassenfahrten ein Treffpunkt vereinbart, dann waren im Osten stets alle zu der vorgegebenen Zeit anwesend. Im Westen plante man in solchen Fällen immer großzügig noch eine halbe Stunde Zeitpuffer ein – und doch fehlte am Ende noch der eine oder die andere.
Im Osten war es gefährlich, ein Außenseiter zu sein, denn dann wurde man vom Kollektiv gemobbt, wobei es dieses Wort damals noch gar nicht gab. Von den Lehrern hatte man dann wenig Hilfe zu erwarten, sondern wurde höchstens von ihnen ermahnt, sich doch endlich einmal besser ins Klassenkollektiv einzufügen. Ganz anders im Westen. Dort appellierten die Lehrer ausdrücklich an das Sozialverhalten, forderten ihre Schüler auf, niemanden auszugrenzen. Aber die West-Schüler kamen – anders als Ost-Schüler – zumeist gar nicht auf die Idee, andere zu mobben, weil diese ihnen völlig egal waren. Für West-Schüler zählte nur der eigene Freundeskreis; was andere taten oder nicht taten, kümmerte sie nicht.
Gibt es solche mentalen Unterschiede zwischen Ost und West auch heute noch? Wahrscheinlich längst nicht mehr so ausgeprägt wie vor 30 Jahren, aber ganz bestimmt gibt es sie noch. Gewisse regionale, auch personale Kontinuitäten lassen sich nicht so leicht aus der Welt schaffen, und warum auch? Gruppenspezifische mentale Unterschiede gibt es hierzulande schließlich auch zwischen Nord und Süd, zwischen Arm und Reich, zwischen Stadt und Land, zwischen Eingeborenen und Migranten.
Was folgt nun aus all dem? Ich weiß es nicht, nur so viel: Dass im Westen oder im vereinigten Deutschland alles in jeder Hinsicht besser wäre als damals im Osten, lässt sich nun wirklich nicht behaupten. Wo viel Licht ist, da ist immer auch viel Schatten. Und umgekehrt. Insbesondere ist die Freiheit, die sich vor 50 Jahren mit der 1968er Revolte ausgebreitet hat – nicht zuletzt im westlichen Erziehungssystem – ein durchaus zweischneidiges Schwert. Zu viel davon kann leicht fragwürdige Nebenwirkungen oder unbeabsichtigte Folgen mit sich bringen. Aber wenn ich mich entscheiden müsste: Dann doch bitte lieber zu viel Freiheit als zu wenig…
www.justament.de, 6.11.2017: 100 Jahre Russische Revolution
Recht historisch Spezial: Justament-Autor Thomas Claer erinnert sich an den 70. Jahrestag der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ vor 30 Jahren
Steht ein besonderes Jubiläum ins Haus, dann sollte man rechtzeitig mit den Vorbereitungen beginnen. Das lernte ich bereits in der Schule, als unser Kunsterziehungslehrer vor ziemlich genau 31 Jahren, im Herbst 1986, vor versammelter Klasse verkündete: „Im nächsten Jahr begehen wir den 70. Jahrestag der Oktoberrevolution. Und dazu sollt ihr nun jeder ein Poster entwerfen.“ Das war keine ganz leichte Aufgabe für einen Neuntklässler ohne künstlerische Begabung, der ich damals war. Meine Noten in diesem Fach lagen nur dank der Kunstinterpretationen, also dem mir weitaus mehr liegenden gepflegten Geschwafel über Werke berühmter Maler oder Bildhauer, im erträglichen Bereich. Und nun sollte ich ein Poster zeichnen. Aber glücklicherweise gab es ja noch meinen Vater, für den solche Herausforderungen ein Klacks waren. Sehr gelegen kam mir, dass wir die Kunstwerke, an denen wir gerade arbeiteten, zwischen den Kunstunterrichtsstunden zur weiteren Ausgestaltung mit nach Hause nehmen durften. Mein Vater brauchte kaum eine Minute, da hatte er schon die rettende Idee: Er zeichnete mit dem Bleistift den Panzerkreuzer Arora, im Wasser liegend, aus dem Schornstein in seiner Mitte stieg als Rauchwolke die Zahl 70. Drumherum ein paar Fahnen, die später noch rot auszumalen waren, darunter die Beschriftung „Große Sozialistische Oktoberrevolution“ – fertig. Mein Kunstlehrer war begeistert. Eine Glanzleistung, für die ich die Note 1 bekam.
Nun gab es aber in den folgenden Monaten zwei Ereignisse, die mein Revolutionsplakat und seine Benotung nachträglich in einem anderen Licht erscheinen ließen. Zum einen beging mein Vater, der mir gerade noch – zu rein schulischen Zwecken – bei der Glorifizierung der Oktoberrevolution geholfen hatte, kurz nach Weihnachten Republikflucht. Er kam von einem Besuch meiner Oma in Westdeutschland, der ihm immerhin von den DDR-Behörden genehmigt worden war (vielleicht ja, weil er Frau und Kind im Osten zurückließ), nicht mehr zurück. Kurz darauf stellte meine Mutter für sich und mich den berühmten Ausreiseantrag auf Familienzusammenführung. Von nun an waren wir in der DDR so etwas wie Staatsfeinde.
Zum anderen wurde mein Kunstlehrer, der außerdem noch Deutsch und Englisch unterrichtete (ausgerechnet die Sprache des Klassenfeindes!) zum neuen Schuldirektor befördert, nachdem der bisherige Amtsinhaber, ein nervöser Kettenraucher, der ständig herumschrie, an einem Magengeschwür verstorben war.
Der Sozialismus und ich – das ist eine lange Geschichte, in der nun, zum Jahreswechsel 1987, im 70. Jahr nach der Oktoberrevolution, ein neues Kapitel aufgeschlagen wurde. So richtig überzeugt von der „wissenschaftlichen Weltanschauung der Arbeiterklasse“ war ich wohl – trotz aller Gehirnwäsche, der ich in diesem Lande fortwährend ausgesetzt war – nicht einmal in den unteren Schulklassen. Beim Fahnenappell, als immer wieder von der unverbrüchlichen und ewig währenden Freundschaft zwischen unserer DDR und der Sowjetunion die Rede war, stellte ich mir schon als ca. Neunjähriger die ketzerische Frage, wie das denn sein könne mit der „Ewigkeit“. Es erschien mir dann doch höchst fragwürdig, ob diese beiden Staaten wirklich für alle Zeiten Bestand hätten, auch noch in 100 oder in 1000 Jahren. Allerdings ahnte ich damals nicht, dass es sie alle beide schon in weniger als zehn Jahren nicht mehr geben würde…
Diese Fahnenappelle, auf denen man manchmal eine geschlagene Stunde draußen in der Kälte herumstehen und langweilige propagandistische Reden ertragen musste, hatten zwar den von manchem meiner Mitschüler empfundenen Vorteil, dass dafür eine Stunde regulärer Unterricht ausfiel. (Es gab solche Appelle in unregelmäßigen Abständen, ca. alle zwei Monate, zu irgendwelchen Anlässen.) Mir waren sie aber immer sehr unsympathisch. Besonders seit ich einmal als sehr junger Schüler erleben musste, wie drei ältere Schüler sich vor allen versammelten Klassen der Schule vorne hinstellen mussten und unter den in barschem Ton vorgebrachten Anschuldigungen des Direktors von der Schule verwiesen wurden. Ihr Vergehen: Sie hatten sich einen Jux gemacht, indem sie eine Wandzeitung auf frevelhafte Weise veränderten. Dort hatte ursprünglich so etwas gestanden wie: „In fester Solidarität zur ruhmreichen UdSSR!“ und „Wider die Lügen des USA-Imperialismus!“ Und sie hatten ein paar Buchstaben vertauscht, so dass dort anschließend zu lesen war: „In fester Solidarität zur ruhmreichen USA!“ und „Wider die Lügen des UdSSR-Imperialismus!“ Als der Direktor den „Tatbestand“ schilderte, bemerkte ich, wie mehrere ältere Schüler dabei grinsen mussten…
Jahre später war ich selbst eine Zeit lang Wandzeitungsverantwortlicher im Pionierrat und hatte mit zwei Mitschülerinnen die politische Wandzeitung unseres Klassenraumes zu gestalten. Das Thema war meistens vorgegeben. Ich bemühte mich damals, da mir die Gefahr bewusst war, sich bei einem ideologischen Fehltritt großen Ärger einzuhandeln, sozusagen um Subversion durch übertriebene Erfüllung der Vorgaben. Ich textete also für die Wandzeitung Überschriften und Beiträge in so grotesker Floskelhaftigkeit, dass sie selbst die Artikel im „Neuen Deutschland“ in den Schatten stellten. Immer wieder benutzte ich Adjektive wie „heldenhaft“, „ruhmreich“ „unerschütterlich“, auch dort, wo es überhaupt nicht passte. Doch niemand schien meine Übertreibungen und Veralberungen zu bemerken. Meine Mitschülerinnen waren froh, dass ich für sie so schnell einen passenden Text schrieb, die Lehrerin fand ihn sehr schön, und auch sonst nahm keiner daran Anstoß. (Es interessierte wohl auch niemanden besonders, was genau dort geschrieben stand, Hauptsache es machte keinen Ärger.)
Von meinen Eltern war ich weder für noch gegen den Sozialismus erzogen worden, nur zur unbedingten Vorsicht. „Pass bloß auf, was du in der Schule sagst“, war ihr fortwährendes Mantra. Dabei war mein Vater noch weitaus ängstlicher als meine Mutter. Als diese mir einmal den Unterschied zwischen „Arbeitgebern“ und „Arbeitnehmern“ erklärte – diese Begriffe hatte ich in den Westnachrichten aufgeschnappt, die ich schon als Kind stets mit großem Interesse verfolgte – intervenierte mein Vater umgehend und rief aufgeregt: „Was erzählst du ihm denn da?! Das kann man auch genau andersherum sehen, wer die Arbeit gibt und nimmt! Sei bloß vorsichtig!“ Und ich solle das ja nicht in der Schule erzählen. Zwanzig Jahre später, lange Jahre nach der Wiedervereinigung, las mein Vater meine Dissertation Korrektur und fragte mich an einer Stelle, wo es um so etwas wie (berechtigte) Kapitalismuskritik ging: „Sag mal, musst du das hier so formulieren? Kriegst du da keinen Ärger??“ Dass ich im Westen einen marxistischen Doktorvater hatte, der meine Formulierung wohl eher noch zu mild gefunden hätte, konnte er sich nicht vorstellen…
Nein, nicht einmal als Schüler war ich ein gläubiger Sozialist. Und doch: Was ich gar nicht mochte, war der weit verbreitete Zynismus meiner Mitschüler. Viele von ihnen hatten für alles, was aus unserem Staat stammte, nur Verachtung übrig. Alles, was aus dem Westen kam, war in ihren Augen haushoch überlegen. Vor allem galt das für die Qualität des Fußballs. Auch wenn sie objektiv gesehen völlig Recht hatten, empörte es mich, eine so schlechte Meinung vom eigenen Land zu haben. Und so stritt ich mit ihnen regelmäßig und verteidigte vehement „unseren Fußball“. Nahezu alle Jungs unserer Klasse waren Fans des Hamburger SV oder des FC Bayern München. Nur ich allein hielt zu „unserem“ FC Hansa Rostock. Ich muss zugeben, dass es mir wohl auch aus diesem Grunde ein Jahrzehnt später eine tiefe Genugtuung bereitete, als nach der Wende „mein“ FC Hansa in der Bundesliga die Münchener Bayern sensationell mit 2:1 im Olympiastadion bezwang…
Irgendwann, wohl ca. in der 6. Klasse, ging es los mit der Berufsberatung. Ich wollte Journalist werden, am liebsten Sportreporter. „Dann musst du drei Jahre zur Armee“, sagte man mir. „Sonst wird das nichts.“ Für mich war das eine ziemlich schreckliche Vorstellung. Aber ich erinnere mich noch genau, wie ich mich schließlich zu dem Entschluss durchrang, notfalls in diesen sauren Apfel zu beißen. (Es war ein bisschen so ähnlich wie später beim Entschluss zum Jurastudium. Der Zweck heiligt manchmal die Mittel.) Aber glücklicherweise musste ich dann doch niemals zur Armee, weil nach Stellung unseres Ausreiseantrags alle meine Karriereplanungen in diesem Staate hinfällig geworden waren.
Abschließend noch einmal zurück zu meinem Kunst- und Englischlehrer, dem späteren Schuldirektor. Wenn ich so zurückdenke, dann hat er in seinen Ansprachen beim Fahnenappell mitunter ganz erstaunliche und weitsichtige Dinge gesagt. Natürlich war auch er, wie alle anderen Lehrer, die ich im Osten erlebte, sehr autoritär – im krassen Gegensatz zu den Lehrern auf dem Bremer Gymnasium, das ich nur zwei Jahre später besuchten sollte. Gewiss, auch dieser Direktor mag politische Phrasen gedroschen haben, weil das so von ihm erwartet wurde. Aber dann redete er auch vom „lebenslangen Lernen“, das uns mit Sicherheit bevorstehe. Unsere Abschlussprüfung in der 10. Klasse sei nur die erste von unzähligen weiteren Prüfungen, die uns im Leben noch erwarteten. Besonders betonte er den rasanten technischen Wandel, der jedem von uns eine ständig neue Umstellung abverlange. „So wie wir heute einen Kühlschrank und eine Waschmaschine und einen Fernseher im Haushalt benutzen, wird eines Tages der Computer ein selbstverständlicher Alltagsgegenstand werden.“ Ja, jeder von uns werde irgendwann selbst einen Computer haben und müsse dann lernen, damit umzugehen. Und wir dachten etwas irritiert an die schrottigen DDR-Computer, mit denen wir es bislang zu tun hatten… Auf den US-Imperialismus hat er, soweit ich mich erinnere, niemals geschimpft. Und die Freundschaft zur Sowjetunion kam bei ihm auch nur ganz am Rande vor. Vielleicht hatte er ja schon eine Vorahnung, was bald geschehen sollte…
Eigentlich hätte ich in diesem „Memoir“, wie man das heute nennt, noch weitaus mehr zu berichten. Aber der Abgabetermin naht, der 7. November, der Jahrestag der Oktoberrevolution. (Für die Westdeutschen, Zugewanderten und Nachgeborenen: Die Oktoberrevolution fand ungeachtet ihres Namens tatsächlich erst im November statt, nur galt seinerzeit in Russland noch der julianische Kalender, wonach es dort der 25. Oktober war. Das lernte in der DDR jedes Kind in der Schule. Heute wissen es nur noch Experten.) Hätte ich also rechtzeitig vor dem Jubiläum zu schreiben begonnen und nicht erst ein paar Tage vorher, dann wäre womöglich ein ganzes Buch herausgekommen mit dem Titel „Der Sozialismus und ich. Eine Jugend in der DDR“. Ja, man sollte rechtzeitig vor dem Jubiläum mit seinen Vorhaben beginnen, auch hierin hatte mein damaliger Kunstlehrer also recht. Aber vielleicht schreibe ich dieses Buch ja trotzdem noch, dann eben verspätet. Oder vielleicht zum 30. Jahrestag des Mauerfalls in zwei Jahren…