Tag Archives: 50 Jahre

justament.de, 16.1.2023: Und schuld daran war nur die SPD

Klassenkampf am Abendbrotstisch: Vor 50 Jahren hatte die Serie “Ein Herz und eine Seele” TV-Premiere 

Thomas Claer 

Vor ein paar Jahren fragte mich meine türkische Nachhilfeschülerin, was eigentlich meine Lieblingsserie sei. Meine Antwort war, dass ich mich damit nicht auskenne und gar keine Serien gucke. Aber meine Schülerin insistierte: “Wie, Sie gucken keine Serien?! Jeder guckt Serien!!” Und dann fiel mir ein, dass ich ja eigentlich doch eine Lieblingsserie habe. Die ist nur mittlerweile 50 Jahre alt und für die heutige junge Generation begreiflicherweise nicht besonders relevant. Doch zählt “Ein Herz und eine Serie” aus der Feder von Wolfgang Menge bis heute unbestritten zu den absoluten Sternstunden deutscher TV-Unterhaltung.

Natürlich war das damals Zeitgeist pur: Die Jahre nach 1968. In den (westdeutschen) Familien, am kleinbürgerlichen Abendbrotstisch prallten nicht selten sehr entgegengesetzte Weltsichten aufeinander. Und besonders schön ließ sich das illustrieren, wenn zwei Paare, die zugleich stellvertretend für ihre Generationen standen (damals hatte dieser notorisch unscharfe Begriff noch seine Berechtigung durch unabweisbare Evidenz ) unter demselben Dach wohnten, genauer gesagt in einem Reihenhaus im Ruhrgebiet: der Büroangestellte Alfred Tetzlaff (Heinz Schubert) und seine etwas einfältige Gattin Else (Elisabeth Wiedemann), deren Tochter Rita (Hildegard Krekel) und der aufmüpfige Schwiegersohn Michi (Diether Krebs). “Ekel” Alfred verkörperte dabei den nur mühsam an die bundesrepublikanischen Verhältnisse angepassten altdeutschen autoritären Obrigkeitsgeist, konservativ und deutschnational bis auf die Knochen. Schwiegersohn Michi hingegen, Willy Brandt-Anhänger und SPD-Mitglied, stand gewissermaßen für die neue Zeit.

Wer heute eine Spaltung der Gesellschaft beklagt, der sollte sich einmal diese Sitcom-Serie der ersten Stunde zu Gemüte führen. Mit welch schweren Geschützen damals verbal aufeinander gefeuert wurde… Es war aber auch unglaublich witzig, besonders wenn “Ekel” Alfred loslegte und seinem Schwiegersohn die Leviten las: “Ihr habt doch sogar extra eine Partei gegründet, um den anständigen Bürgern das Geld aus der Tasche zu ziehen!”, befand er hinsichtlich der auch damals gerade heftig grassierenden Inflation, für die er natürlich “die Sozis” verantwortlich machte. Getreu nach der seinerzeit auch von Rudi Carrell besungenen Maxime: “Schuld daran ist nur die SPD”.

Seine eher nicht so kluge Ehefrau Else bemerkte aber immerhin sofort, wenn ihr Mann einmal ausnahmsweise einen SPD-Politiker lobte, nämlich den schneidigen früheren Wehrmachts-Offizier Helmut Schmidt, und am damaligen Oppositionsführer Rainer Barzel (CDU) herummäkelte. Wofür sich Alfred dann mit den Worten rechtfertigte: “Dis is Dialektik, dis verstehst du nich, du dusselige Kuh.” Und hinsichtlich seiner Nachbarin Frau Suhrbier befand er: “Ist Hausbesitzerin und wählt SPD. Die fällt ihrer eigenen Klasse in den Rücken.”

Eigentlich sollten doch, so denkt man sich, auch die heutigen bewegten Zeiten reichlich Stoff für eine lustige politische Familienserie ähnlicher Art liefern, aber bisher ist, zumindest nach meiner Kenntnis, noch nichts Vergleichbares entstanden. Warum eigentlich nicht?

justament.de, 9.1.2023: Ein Kind der Sesamstraße

Justament-Autor Thomas Claer gratuliert zum 50. Geburtstag ihrer deutschen Version 

Wodurch ist ein DDR-Kind in den Siebzigerjahren am nachhaltigsten beeinflusst worden? Das mag bei jedem anders gewesen sein. Für mich jedenfalls kann ich voll Dankbarkeit sagen: nicht nur durch die nach heutigen Maßstäben ziemlich autoritäre Erziehung in Elternhaus und staatlichen Einrichtungen, wo es immer nur hieß “Du sollst…”, “Du musst… oder “Du darfst nicht…”, sondern mindestens ebenso durch die tägliche “Sesamstraße” aus dem Westfernsehen, deren Motto etwa im grandiosen “Egal-Song” lautete: “Es ist egal, du bist, wie du bist.” Man könnte das auch übersetzen mit “Die Würde des Kindes ist unantastbar.”

Tatsächlich jeden Tag eine halbe Stunde lang lief in meiner Kindheit die Sesamstraße, außer donnerstags, da kam die ähnlich gute “Sendung mit der “Maus”. Und dieser fröhlich-bunte Spaß mit Puppen und Monstern und lustigen Liedern war ein ziemlicher Kontrast zum Kinderfernsehen Ost, das schon rein quantitativ nicht mit seinem westlichen Pendent mithalten konnte. Nun hatte das DDR-Programm für den Nachwuchs zweifellos auch seine Vorzüge, doch spielte es sich bezeichnenderweise zumeist in einer Parallelwelt zum Alltagsleben ab – im “Märchenwald”, und der lag wiederum im “Märchenland”. Anders die ganz überwiegend im damaligen “Hier und Jetzt” angesiedelte Sesamstraße. Ironischerweise waren nämlich in der Zeit nach 1968 die westlichen Kindersendungen oftmals politischer als die östlichen. Bürgte unter den ideologisch strengen DDR-Verhältnissen vor allem der unpolitische Charakter des Kinderprogramms für dessen Qualität, war es im freien Westen genau andersherum. In der “Sesamstraße” wehte ein neuer frischer Wind, der nicht zuletzt auch die überkommenen deutschen Erziehungskonzepte infrage stellte. Man muss betonen, dass es zu jener Zeit noch gang und gäbe war, im Osten wie im Westen, zu sagen: “Eine ordentliche Tracht Prügel hat noch keinem Kind geschadet.” Und dass Kinder grundsätzlich den Mund zu halten hatten, das ist wohl noch bis zum Ende der DDR so geblieben.

Für mich jedenfalls war das westliche Reformpädagogik-Fernsehen ganz großartig. Zumal die Macher der deutschen “Sesamstraße” gewissermaßen auch der ersten Generation dieser besagten Erziehung im neuen Geiste angehörten. Alles wirkte so frisch und unbekümmert, so experimentell und improvisiert. Und wie liebte ich die Puppen und Darsteller, besonders eine ganze Reihe von Nebenfiguren. Vor Graf Zahl, das muss ich zugeben, hatte ich in jüngeren Jahren noch richtig Angst, aber natürlich war es ein wohliges Gruseln. Umwerfend komisch war z.B. Don Schnulze, der genialische Sänger und Pianist, der immer wieder verzweifelt mit dem Kopf auf die Tasten schlug, wenn ihm zu seinen Kompositionen die passende Textzeile nicht einfallen wollte. Nicht minder witzig war Schlemihl, der zwielichtige Geschäftsmann, der die Verlautbarungen seines Gegenübers vorzugsweise mit einem “Psssst, genau!” kommentierte. Oder Herbert Leichtfuß, der freundliche Erfinder, der immer geduldig seine neuesten technischen Werke erklärte und sich nicht einmal durch unkontrollierte Aktionen des Krümelmonsters aus dem Konzept bringen ließ. Auch Sherlock Humbug, der sich am Ende seiner Ermittlungen meistens selbst als Übeltäter überführte, sich für diese Erkenntnisse aber anschließend noch von seinen jeweiligen Auftraggebern bezahlen ließ, war eine großartige Figur. Und dann natürlich Ernie und Bert, die beiden grundverschiedenen alterslosen Freunde eindeutig männlichen Geschlechts, die ohne Eltern oder sonstige Erzieher in einer gemeinsamen Wohnung zusammenlebten und sogar das Bett miteinander teilten. Kein Wunder, dass sie Jahrzehnte später zu Ikonen der Schwulenbewegung avancierten…

Was für ein Vergnügen es mir heute bereitet, mich durch die alten Sesamstraßen-Filmchen auf YouTube zu klicken! Sieht man sich dagegen mal eine heutige Sesamstraßen-Folge an, dann ist das eine fast schon schmerzhafte Erfahrung. Die neuen Puppen sind längst nicht mehr so gut wie die alten! Und die Puppen, die es früher schon gab, haben jetzt alle andere Stimmen, die überhaupt nicht zu ihnen passen. Auch inhaltlich ist das alles gar nicht mehr mit früher zu vergleichen. Nein, die Sesamstraße war früher wirklich um Längen besser! Die armen heutigen Kinder! Aber es ist ja schließlich auch kein Wunder, dass sich sowohl die Sesamstraße als auch man selbst in fünf Jahrzehnten ein wenig verändert haben. Alles Gute zum Jubiläum!

justament.de, 18.7.2022: “Ich stech dich ab, du Scheißhausfotze!”

Recht cineastisch Spezial: 50 Jahre „Rocker“ vom jüngst verstorbenen Klaus Lemke

Thomas Claer

Manches Großartige lernt man leider erst dann richtig kennen, wenn sein Erschaffer ins Gras gebissen hat. Aber lieber spät als nie, wie es bei Shakespeare heißt. Der große Trash-Filmemacher Klaus Lemke (1940-2022), hat neben allerhand genialem Schund, den er offenbar fortwährend so hingeschludert hat, auch ein paar unvergessliche Glanzstücke fabriziert, darunter vor genau einem halben Jahrhundert den Film „Rocker“, der als einer der ersten das deutsche (und vor allem das Hamburger) Rocker-Milieu ziemlich authentisch eingefangen hat. Der Song „Ich bin Rocker“ von Udo Lindenberg kam erst vier Jahre später, noch ein paar Jahre darauf folgten etwa Brösels Werner-Bücher und der erste Otto-Waalkes-Film mit der legendären Szene im „Chrome de la Chrome“ („Werner, stell ihm mal die Frage!“). Das alles kannte ich natürlich, nicht aber das „Original“, worauf sich dann alles Weitere lose bezogen hat. Zwar hatte ich schon oft von Klaus Lemkes „Rocker“ gehört, mir den Film aber aus unerfindlichen Gründen niemals angesehen. Dabei gibt es ihn, wie ich nun festgestellt habe, sogar frei und in voller Länge auf YouTube.
In Lemkes Filmen spielen ja oftmals gar keine richtigen Schauspieler mit, sondern nur auf der Straße angequatschte Laiendarsteller – zuletzt für 50 Euro Tagesgage. So ähnlich war es auch schon bei „Rocker“, der noch heute „Kultstatus“ genießt und regelmäßig in einem Hamburger Kino gezeigt wird, wobei die Zuschauer dabei viele seiner Dialoge mitzusprechen pflegen, die längst zu geflügelten Worten geworden sind („Hast du schon mal gebumst? So wie du aussiehst, hast du schon mal gebumst.“) Vor allem ist der Film auch handwerklich gut gemacht, von der Kameraführung bis zur Dramaturgie. Was hingegen völlig fehlt, ist eine Moral. Auf damalige Betrachter könnte er noch schockierender gewirkt haben als auf heutige. Im hier präsentierten harten Kern des damaligen Hamburger Rocker-Milieus regelt man alles unter sich und mit sehr viel roher Gewalt. Die harmlos-folkloristische Note, die später in die Rocker-Szene einziehen sollte, spielt hier noch keine Rolle. Vielmehr werden die Figuren sehr ernsthaft in ihren mitunter auch existentiellen Nöten gezeigt. Ein Film, den man gesehen haben sollte.

„Rocker“
BRD 1972
Regie: Klaus Lemke
Drehbuch: Klaus Lemke
Darsteller: Hamburger Rocker und sonstige Laiendarsteller

www.justament.de, 5.6.2017: 50 Jahre Pink Floyd-Platten

Scheiben vor Gericht Spezial. Ein persönlicher Rückblick

Thomas Claer

Als Kind in der DDR konnte man gar nicht anders, als den Sirenenklängen des westlichen Werbefernsehens zu erliegen. Wer in einer Welt des grauen Einerleis lebte, deren einzige Farbtupfer die roten Fahnen der hohlen Staatspropaganda waren, den mussten die kunterbunten (und ja auch oftmals wirklich originellen!) Reize der Reklamesendungen im öffentlich-rechtlichen Westfernsehen schon äußerst entzücken. Und so ging es mir wie dem bildungsfernen, aber gewitzten Banlieue-Bewohner im Film „Ziemlich beste Freunde“: Ich lernte viele berühmte Melodien direkt aus dem Werbefernsehen kennen, von „Unwiderstehlich sind Schoko-Crossies“ bis zu „Komm doch mit auf den Underberg“. Besonders angetan hatte es mir aber eine Bier-Werbung, in der Bilder einer Grüne-Wiesen-Landschaft mit betörenden Sphären-Klänge unterlegt waren, deren anfangs sehr dezente Lautstärke sich ganz allmählich steigerte, bevor sich just im Moment des Öffnens der Bierflasche die aufgebaute Spannung mit einer schlichten, aber eindrucksvollen Melodie auf der E-Gitarre entlud. Damals wusste ich noch nicht, dass ich mich in einen Song von Pink Floyd verliebt hatte. Und es gab auch weit und breit niemanden, der mich darüber hätte aufklären können. (Einen Pink Floyd-begeisterten Mathematik-Lehrer, wie ich ihn später in Bremen bekommen sollte, hat es wahrscheinlich in der ganzen DDR nicht gegeben.)
Ein paar Monate später war ich im Westen. Zu den schönsten Momenten meiner sonntäglichen Flohmarktbesuche auf der Bremer Bürgerweide gehörte dann jener, als ich dort am Stand eines Schallplattenhändlers ausgerechnet meinen Lieblingssong aus der Jever-Werbung auf dem Plattenteller knistern hörte: „Shine on You Crazy Diamond“ von Pink Floyd, vom Album „Wish You Were Here“ aus dem Jahr 1975. Es euphorisierte mich ungemein, diese grandiose Platte mit dem Shakehands zwischen zwei Anzugträgern auf dem Cover, von denen der eine gerade dabei ist, in Flammen aufzugehen, für ein paar müde Mark mit nach Hause tragen zu können. Später legte ich mir dann noch weitere Pink-Floyd-Scheiben zu, die bis heute einen Ehrenplatz in meiner Schallplattensammlung einnehmen. Erst vor zwei Jahren haben sich Pink Floyd nach unzähligen Streitereien zwischen den verbliebenen Bandmitgliedern offiziell aufgelöst. Vor 50 Jahren ist ihre erste Platte erschienen.