justament.de, 31.10.2022: Willkommen im Chaos!
Björk auf ihrem neuen Album „Fossora“
Thomas Claer
Das wurde ja auch Zeit. Nach fünf Jahren gibt es endlich Neues von Björk, der mittlerweile auch schon 56-jährigen isländischen Pop-Ikone. Aber wer schon ihr Vorgängeralbum „Utopia“ mit all seinen bizarren Flöten-Klängen reichlich seltsam fand, dem kann nun beim Durchhören von „Fossora“ erst recht Hören und Sehen vergehen. Man weiß wirklich nicht so recht, was man davon halten soll. Gewiss, es klingt streckenweise etwas zugänglicher, aber dann auch wieder nicht… Es ist wohl einfach anders verrückt. Diesmal bleiben die Flöten mehr im Hintergrund und werden dafür von Bläsern und allerlei Perkussions-Instrumenten dominiert. Angeblich hat sie bei den Aufnahmen einen Teil der Instrumente ein Stück weit in die Erde eingraben lassen, um – ja wie nur? – bodenständiger bestimmt nicht! – zu klingen. Nach festen Songstrukturen sucht man weitgehend vergeblich. Pop ist hier eigentlich schon lange nichts mehr.
Offenbar ist sie mit der Aufgabe ihrer letzten Konzessionen an konventionelle Hörgewohnheiten wieder in etwa dort angekommen, wo sie vor gut vier Jahrzehnten mit ihrer ersten Teenager-Punk-Band „Kukl“ angefangen hat, die seinerzeit als Vorgruppe der „Einstürzenden Neubauten“ für Furore gesorgt hat. Passend zur Musik gibt einem auch die Gestaltung von Plattencover und Kostümierung einige Rätsel auf. Der neuen Erdverbundenheit entsprechend dreht sich diesmal eine Menge um Pilze, aber natürlich um solche der besonders obskuren Art…
Nach mehreren Hördurchgängen trennt sich dann doch etwas die Spreu vom Weizen. Der eine oder andere Song, sofern dieser konventionelle Begriff hier noch seine Berechtigung hat, ist richtig gut. Mein persönlicher Favorit ist „Trolla-Gabba“, was ja womöglich so viel wie „Tanz der Trolle“ bedeutet – ein wirklich furioses Stück. Angesichts des trotz Verständnisproblemen doch irgendwie überwältigenden Gesamteindrucks lautet das Urteil gleichwohl: voll befriedigend (11 Punkte).
Björk
Fossora
One Little Independent 2022
ASIN: B0BCKWP6QH
justament.de, 29.7.2019: Björk-Single, 24 Jahre später
Scheiben vor Gericht Spezial: Justament-Autor Thomas Claer über seine lange Jagd nach einem Tonträger
Die schönsten Glücksmomente im Leben sind oft jene, auf die man am längsten gewartet hat. Und die besten Chancen, doch noch an das zu kommen, was man sich so sehr gewünscht hat, bieten sich, wenn jemand anders irgendwann genau das nicht mehr haben will…
Damals, 1995, als Jura-Student in Bielefeld, war ich im dritten oder vierten Semester und bereits seit Jahren ein leidenschaftlicher Jäger und Sammler spezieller und seltener Tonträger. Und ganz besonders hatte es mir eine CD-Single der von mir heiß geliebten isländischen Pop-Sängerin Björk angetan. Wochenlang hatte ich sie bei meinen regelmäßigen Besuchen in meinem Lieblings-Plattenladen „Ween“ am Jahnplatz beobachtet: Sie enthielt gerade einmal zwei Songs: „It’s Oh So Quiet“ und „You’ve Been Flirting Again (Islandic Mix)“, aber sie steckte – was ganz wichtig war – in einem wunderschönen bunten Cover. Es war ein einfaches Card-Sleeve mit einer großen Abbildung von Björks Gesicht, gestützt in ihre Hände. Die junge Björk war damals sehr fotogen und posierte in ihren großartigen Musikvideos und auf ihren Plattencovern immer wieder in den unterschiedlichsten Aufmachungen und Posen. Aber keines ihrer Bilder gefiel mir so gut wie dieses auf dem Card-Sleeve dieser CD-Single. Natürlich wollte ich sie unbedingt haben, aber ich zögerte noch. Sie war nicht besonders teuer, ich glaube 9,95 DM. Doch etwas gleich zu kaufen, was mir gefällt, war nie meine Art. Ich wollte sie mir später als Belohnung gönnen, nach einer bestandenen Klausur.
Doch dann war sie nicht mehr da. Halb so schlimm, dachte ich mir, die kriege ich sicherlich auch noch woanders. Aber das war, wie sich später herausstellen sollte, nicht so ganz einfach. Nirgendwo, in keinem Plattenladen, weder in Bielefeld noch woanders, sah ich sie wieder, egal wo ich nach ihr Ausschau hielt. Einige Jahre später, das Internet war inzwischen erfunden, versuchte ich es auf Ebay. Dort gab es sogar mehrere Versionen der Single von „It’s Oh So Quiet“, aber die von mir gesuchte mit der Abbildung von Björk, die ihren Kopf in ihre Hände stützt, war nicht dabei. Viele Jahre später machte ich mich auf der Spezial-Seite für seltene Popmusik discogs.com schlau. Was ich suchte, so erfuhr ich dort, war die nur für den amerikanischen Markt bestimmte Version dieser Single, die in Deutschland eigentlich gar nicht verkauft werden durfte. Der Laden „Ween“ am Jahnplatz in Bielefeld hatte sich seinerzeit offenbar darüber hinweggesetzt. So wie er es manchmal getan hatte. Ich hatte dort auch einmal eine Tocotronic-CD namens „The Hamburg Years“ erworben, die auch nicht für den deutschen Markt bestimmt war und heute sicherlich sehr wertvoll geworden ist. Nun hatte ich auf discogs.com also die Möglichkeit, das Objekt meiner Begierde für ca. 20 Euro inklusive Porto und Verpackung von einem internationalen Anbieter zu erwerben. Aber das wollte ich nicht, da ich schon manchmal die Erfahrung gemacht hatte, dass sich englische oder amerikanische CD-Pressungen hierzulande nicht richtig abspielen ließen.
Noch einige Jahre lang beobachtete ich die Angebote auf der discogs-Seite. Und dann traute ich vor ein paar Wochen meinen Augen kaum, als ich dort die von mir gesuchte Björk-Single inseriert fand. Von einem deutschen Anbieter, zum sagenhaften Preis von 2,50 Euro, zuzüglich 2 Euro Porto. Sofort bestellte ich sie mir und staunte nicht schlecht, als ich sie dann endlich in den Händen hielt und den Absender auf dem gepolsterten Briefumschlag las: Es war jemand aus… Bielefeld! Vermutlich war es ja genau der, der sie mir damals vor 24 Jahren weggeschnappt hatte!
www.justament.de, 25.12.2017: Seltsam, sehr seltsam
„Utopia“ von Björk
Thomas Claer
Überwiegend mit großer Ratlosigkeit haben Fans und Kritiker auf das neue Album der inzwischen 52-jährigen isländischen Pop-Fee Björk reagiert. Zwar gab es vereinzelt enthusiastische Zustimmung wie auch heftige Ablehnung ob der akustischen Zumutungen, denen die extravagante Eis-Königin ihre Zuhörer diesmal aussetzt. Doch für die meisten dürfte diese Platte einfach nur seltsam, sehr seltsam geklungen haben. Zwei Jahre nach „Vulnicura“, dem leidenschaftlich-extrovertierten Vorgänger, auf dem Björk die Trennung von ihrem Ex-Mann Matthew Barney verarbeitete, kehrt sie nun dem Genre Popmusik ganz entschieden den Rücken zu. „Utopia“, erklärtermaßen ein Werk des Aufbruchs, konzipiert unter maßgeblicher Mitwirkung des venezolanischen Produzenten und DJs Arca, ist pure Avantgarde. Von klassischen Songstrukturen kann hier kaum mehr die Rede sein. Da man auch halbwegs eingängige Melodien vergeblich sucht und sich stattdessen einer fortwährenden Kanonade aus Chorgesang, elektronischen (Stör-)Geräuschen, Harfen- und immer wieder Flötenklängen ausgesetzt sieht, ist man nach flüchtigem Durchhören dieses mit 70 Minuten auch reichlich lang geratenen Konzeptalbums beinahe versucht, diese CD gedanklich in die Rubrik „überflüssiger Schnickschnack“ einzusortieren. Doch wäre dies ein Fehlurteil, denn es lohnt sich, soviel steht nach einigen weiteren Durchläufen fest, sich auf dieses Album einzulassen. Es ist wie eine Expedition, die immer wieder ungeahnte Entdeckungen mit sich bringt. Da wechseln orchestrale Klänge unvermittelt mit Naturgeräuschen, da bilden verborgene Harmonien überraschende Synthesen. Und über allem thront Björks unverwechselbare, einzigartige, alles überragende Stimme. Noch ein Wort zu Björks optischer Präsenz auf Utopia: In ihrem Gesicht prangt auf Stirn und Nase, zwischen den von zwei trapezförmigen, balkendicken, blauen Lidstrichen unterlegten Augen, so etwas wie eine riesige Muschel, die auch ganz explizit als weit geöffnete Vagina durchgehen würde. Dies soll vielleicht die Bereitschaft symbolisieren, sich gleichsam von künstlerischen Inspirationen verschiedenster Art befruchten zu lassen. Und dann gibt es im Promo-Material zum Album (wenn auch leider nicht im Begleitheft – warum eigentlich nicht?) eine Abbildung, die Björk in einem Phantasie-Kostüm mit umgeschnalltem Dildo zeigt, was natürlich großartig ist. Und dennoch, die nächste Björk-Platte wünschen wir uns dann doch lieber wieder etwas zugänglicher, etwas poppiger, etwas kürzer und kompakter. Das Urteil lautet: voll befriedigend (10 Punkte).
Björk
Utopia
Embassy of Music (Warner) 2017
ASIN: B07713B21D
Justament Nov. 2011: Plim-plim und Geknatter
Björk enttäuscht auf „Biophilia“
Thomas Claer
Was haben wir Björk geliebt in all den Jahren – und nicht nur ihre musikalische Wandlungsfähigkeit vom Chaos-Punk ihrer Mädchenband Kukl, die 1986 als Vorgruppe der Einstürzenden Neubauten in West-Berlin zu sehen war, über den College-Pop der Sugarcubes bis hin zu den grandiosen Solo-Platten wie „Post“ (1995) oder „Homogenic“ (1997). Vor allem auch waren es die mit dem Erscheinen ihrer Alben jeweils verbundenen optischen Neuinszenierungen mit all den verrückten Kleidern und Kostümen, die uns immer wieder so entzückten. Björk, so läst sich heute sagen, ist Islands wirkungsmächtigster Kulturexport seit Brünhilde mit dem Temperament eines Eyjafjallajökull. (Unvergesslich, wie sie vor Jahren eine Journalistin malträtierte, die sich auf einem Flughafen ihrem Sohn genähert hatte.) Doch auch die reiferen Platten der heute 46-jährigen, deren Erscheinungsintervalle sich vernünftigerweise mit der Zeit etwas vergrößerten, hatten ihre Qualitäten. So konnte noch ihr Vorgängeralbum „Volta“ in seiner melodiösen und rastlosen Zugänglichkeit rundweg überzeugen (Justament 4-2007 berichtete). Und nun also das technisch beispiellos hochgerüstete „Biophilia“, ihr siebtes Solo-Studioalbum, „das von einem Multimediapaket aus Apps, Installationen, Live-Shows, Workshops, speziell angefertigten Instrumenten, einer Filmdokumentation und einer Website mit 3D-Animationen begleitet wird“, weiß Wikipedia. Aber so klingt die Platte dann leider auch über weite Strecken – nach steriler Multimedia. Viel Plim-Plim und Techno-Gewummer, dazwischen wieder Chorgesänge (die schon ihr 2001er Album „Vespertine“ nach unten gezogen haben) und seltsame Sphärenklänge. Gut wird es eigentlich nur dann, wenn Björks noch immer kraftvolle Stimme da mal durchdringt. Und in einigen besseren Momenten stellt sich auf „Biophilia“ auch beinahe wieder der alte Zauber ein. Doch ganz überwiegend geraten die leisen Klänge larmoyant, und die kräftigeren werden zum stumpfen Geknatter. Dazu passt leider auch Björks Outfit. Viel ist nicht von ihr zu erkennen unter einer überdimensionierten grellroten Perücke und einem metallischen Kleid. Wie konnte ihr nur die Stilsicherheit vergangener Tage so abhanden kommen? Das Gesamturteil lautet: befriedigend (8 Punkte).
Björk
Biophilia
Vertigo Be (Universal) 2010
Ca. € 17,-
ASIN: B00425DMO0
Justament Sept. 2007: Feuer und Flamme
Mit “Volta” liefert Björk wieder einmal einen großen Wurf
Thomas Claer
Eine neue Björk-Platte ist immer ein Ereignis. So ist das eigentlich schon seit 1993, als die isländische Pop-Diva mit “Debut” ihren ersten großen kommerziellen Erfolg feiern konnte. (Zuvor sang sie in Formationen wie Sugarcubes, Tappi Tikaras und Kukl, die nur Kennern ein Begriff waren.) Und so ist es auch diesmal, fünf Alben später. Zunächst sehen wir: Sie brennt. Das Booklet zeigt Fotos einer in lodernden Flammen stehenden Björk in einem vermutlich traditionellen indonesischen Kostüm, das Gesicht viotett-grün-gelb-rot geschminkt, einem seltsamen Muster folgend. Entsprechend klingt die Platte: Ein Feuerwerk aus Percussion, für die Björk eigens die Underground-Noise bzw. Jazz-Perkussionisten Chris Corsano und Brian Chippendale engagiert hat. Dazu umrahmen eine überaus schräge zehnköpfige Bläsertruppe aus Island, ein malischer Kora-Spieler und eine chinesische Pipa-Spielerin Björks wie gewohnt eindringlichen und leidenschaftlichen Gesang. Mark Bells knarzende und wummernde Techno-Versatzstücke tun ihr übriges. Welch ein Kontrast zum Vorgängeralbum Medulla (2005), auf dem Björk und ihre Mitstreiter noch rein stimmlich, ohne jede Zuhilfenahme von Instrumenten brillierten! Immer wieder gelingt es dem “Gesamtkunstbjörk”, wie ein Kollege vom Musikexpress einst witzelte, sich selbst auf überraschende Weise neu zu erfinden. Und dass die elfengleiche Stimmakrobatin ihre Schäflein wirtschaftlich längst im Trocknen hat, hat sie nun, mit über vierzig, nicht selbstzufrieden, sondern nur noch experimentierfreudiger, ja -wütiger gemacht. Ganz besonders können die schnelleren Stücke überzeugen, etwa der fulminante Opener “Earth Intruders”, das technoide “Innocence” oder das grandios lärmende “Declare Independence”. Etwas ab fällt hingegen der Gesang des männlichen Duettpartners Antony. Und auch fragwürdig ist, wie des Öfteren bei Björk, die textliche Ebene. Was sie dort und in Interviews an mitunter kruden Messages transportiert, von Sympathien für palästinensische Selbstmordattentäter bis zu “Protect your country!”-Parolen, will man besser gar nicht so genau wissen. Erfreuen wir uns lieber an der fabelhaften Musik dieser Ausnahmekünstlerin! Das Urteil lautet: gut (13 Punkte).
Björk
Volta
Polydor / Universal Music Berlin 2007, CD, 51:07 Minuten
ca. EUR 15,00
ASIN: B000P0IJ1M