justament.de, 6.10.2025: Meine erste West-Zeitung
Justament-Autor Thomas Claer gratuliert “seiner” Süddeutschen Zeitung zum 80. Geburtstag
Es muss wohl im Herbst 1987 gewesen sein, als ich überglücklich während unserer Schulabschlussfahrt in einem Hotel in Minsk (damals Belorussische Sozialistische Sowjetrepublik) meine erste Süddeutsche Zeitung in den Händen hielt. Zugleich war es auch meine erste westliche Tageszeitung überhaupt, denn Printprodukte aus dem Westen waren für uns in der DDR seinerzeit schwer zu bekommen. Ich war damals 15 Jahre alt, und mir waren immerhin schon zwei Micky-Maus-Ausgaben, mehrere Kicker-Sonderhefte und einige Bravo-Zeitschriften von Besuchern unserer Familie aus dem Westen heimlich mitgebracht worden. Aber eine richtige Tageszeitung mit politischen Inhalten wäre natürlich noch weitaus gefährlicher gewesen, wenn man sie beim Grenzübertritt entdeckt hätte. Daher konnte ich als aufgeweckter und interessierter Ost-Jugendlicher von richtigen West-Zeitungen lange Zeit nur träumen.
Heute kann es sich niemand mehr vorstellen, aber es gab damals für uns in der DDR wirklich kaum etwas Interessantes zu lesen. Mit den überaus langweiligen DDR-Zeitungen war ich meist schon nach höchstens zehn Minuten fertig, denn außer dem Sportteil gab es darin wirklich nur ungenießbare gestelzte Staatspropaganda. Bücher aus dem Westen, die irgendwer über die Grenze geschmuggelt hatte, wanderten von Hand zu Hand, wurden immer weiter verliehen. Selbst vorgeblich linientreue Lehrer in meiner Schule borgten sich von mir Westbücher von Hoimar v. Ditfurth und Erich v. Dänicken aus, die ich wiederum selbst von einer Freundin meiner Mutter entliehen hatte. Aber politische Zeitschriften blieben zu jener Zeit zumindest für mich unerreichbar – bis in der Sowjetunion Glasnost und Perestroika ausbrachen und wir unsere Abschlussfahrt in der 10. Klasse just ins Land des “Großen Bruders” unternahmen.
Es kam für mich dann völlig überraschend. Nicht im Mindesten hatte ich damit gerechnet, dass im Hotel “Jubilejnaja” in Minsk, in dem wir abstiegen – es existiert laut KI-Recherche noch heute – an der Rezeption westliche Zeitungen und Zeitschriften aus diversen Ländern und in unterschiedlichen Sprachen auslagen. Ich traute meinen Augen kaum und fragte dann schüchtern, ob man die auch kaufen könne. Ja, natürlich, bekam ich zur Antwort. Also griff ich entschlossen zu und erwarb mit meinen eingetauschten Rubeln und Kopejken die einzigen beiden vorhandenen deutschsprachigen Printprodukte: eine Süddeutsche Zeitung und einen “Vorwärts”, die SPD-Parteizeitung. Dazu nahm ich sicherheitshalber auch gleich noch ein “Algemeen Dagblad” aus Amsterdam und einen “Dagens Nyheter” aus Stockholm. Wer wusste denn, ob sich jemals wieder eine solche Gelegenheit bieten würde?
Anschließend zog ich mich zurück – und las und las und las. Innenpolitik, Außenpolitik, politische Kommentare, Reportagen, Feuilleton und Wirtschaftsteil bis hin zum Sportteil – all das war für mich wie eine Offenbarung. Soweit ich mich erinnern kann, habe ich meine erste Süddeutsche an diesem und den folgenden Tagen von vorne bis hinten komplett durchgelesen, vieles davon auch mehrmals. Mit dem “Vorwärts” verfuhr ich ebenso. Die beiden fremdsprachigen Zeitungen vermochte ich allerdings nur häppchenweise zu bewältigen. Da ich zumindest von den zwei deutschsprachigen Presseerzeugnissen das einzige vorhandene Exemplar ergattert hatte, konnte auch niemand anders unter meinen Mitschülern oder Lehrern hier zum Zuge kommen. Doch deren Interesse daran hielt sich erstaunlicherweise auch in Grenzen. Nur ein einziger Mitschüler, der heute in Köln wohnt und bei der Bundeswehr tätig ist, bat mich darum, ihm meine Süddeutsche und meinen “Vorwärts” mal auszuleihen. Unsere Lehrer, die vermutlich interessiert gewesen wären, hatte ich zur Sicherheit nicht eingeweiht, denn womöglich hätten sie mir die in der DDR ja schließlich illegalen westlichen Printmedien sogleich wieder abgenommen – trotz deren ganz legalen Ankaufs in der “ruhmreichen Sowjetunion”. Zum Glück hat mich auch niemand von meinen Mitschülern bei ihnen verpetzt. Es hat sie, glaube ich, aber auch einfach nicht sonderlich interessiert…
Am nächsten Tag im Hotel lief ich neugierig zur Rezeption um nachzusehen, ob da vielleicht wieder eine tagesaktuelle Süddeutsche oder vielleicht noch etwas anderes Interessantes liegen würde. Da lag aber nichts, was dort nicht auch schon am Vortag gelegen hatte. Auch an den kommenden Tagen änderte sich daran leider nichts – aber ich war ja schon bestens versorgt und hatte weit mehr bekommen, als ich auch nur zu hoffen gewagt hätte. So nahm ich dann also meine gedruckten Schätze frohgemut mit zurück in die DDR und zeigte sie meiner erstaunten Mutter. (Mein Vater lebte damals bereits im Westen, und erst anderthalb Jahre später, als unserem Ausreiseantrag endlich entsprochen wurde, sollten wir ihn wiedersehen.) Noch eine weitere hochspannende Lektüre hatte ich damals aus der Sowjetunion mitgebracht: Im Zug lag eine kleine Broschüre in verschiedenen Sprachen aus, darunter auch auf Deutsch. Das war eine Ansprache des Vorsitzenden der KPdSU in der Region Moskau über “Weitreichende Anstrengungen zum Umbau der Sozialistischen Gesellschaft”. Sein Name war mir bis dahin noch nicht bekannt gewesen. Er lautete: Boris Jelzin.
Überhaupt waren die Anzeichen des Wandels während unseres Aufenthalts im Land der Oktoberrevolution überall mit Händen zu greifen. Als unsere Reiseleiterin im Bus nach der Stadtrundfahrt wissen wollte, ob noch jemand von uns eine Frage hätte, nahm ich all meinen Mut zusammen und erkundigte mich nach ihrer Meinung über “Glasnost und Perestroika”. Daraufhin lächelte sie und erklärte uns, dass sie in Minsk “Glasnost und Perestroika” alle sehr lieben würden. Dass aber schon zwei Jahre später das Ende der DDR eingeläutet werden würde, das konnte sich damals natürlich noch niemand vorstellen.
Es dauerte dann auch noch mehrere Jahre, bis ich meine zweite Süddeutsche Zeitung las. Nach unserer Ausreise aus der DDR zu meinem Vater nach Bremen im Mai 1989 begnügte ich mich zunächst mit dem “Weserkurier”, den meine Eltern nun abonniert hatten, und kaufte mir ab und zu einen SPIEGEL dazu. Erst nach dem Abitur und den ersten Semestern meines Studiums in Bielefeld schlossen meine heutige Frau und ich ein Probe-Abo für die Süddeutsche ab, die uns fortan täglich ins Studentenwohnheim geliefert wurde. Seitdem, es war wohl etwa 1996 oder 1997, sind wir nie mehr von ihr losgekommen und verbringen täglich jahraus, jahrein mehrere Studen mit Zeitunglesen. Wollte man mich umbringen, dann müsste man mir meine tägliche Süddeutsche Zeitung wegnehmen. Daher gratuliere ich voll Dankbarkeit “meiner” SZ ganz herzlich zum 80. Geburtstag.
P.S.: Diesen Text habe ich vor zwei Monaten auch bei der Süddeutschen Zeitung eingereicht, aber leider wurde er nicht genommen. Immerhin erhielt ich vorgestern von einer Redakteurin eine sehr freundliche Absage. Oftmals ist ja die einseitige Liebe am unerschütterlichsten…
justament.de, 5.2.2024: Brett vorm Kopf
Recht cineastisch Spezial: Warum “Die Feuerzangenbowle” kein Nazi-Film ist. Eine Entgegnung auf Sonja Zekri
Thomas Claer
Wohl kaum einen Film habe ich in meinem Leben so oft gesehen wie “Die Feuerzangenbowle”. Ende Januar 1944, also vor genau 80 Jahren, erstmals aufgeführt in Berlin, nach Ende der Nazi-Zeit aber zunächst verschämt in den Archiven verschwunden, wurde der legendäre Pennäler-Ulkstreifen dann Anfang der Sechzigerjahre in Ost- und Westdeutschland gleichermaßen wiederentdeckt – und hat seitdem unzählige Wiederholungen auf diversen Fernsehkanälen und in Kinosälen erlebt. Seinen zahlreichen Fans gilt er generationsübergreifend als wahrer Klassiker der Schulfilm-Klamotte. Es ist ja auch wirklich zu komisch, wie sich die ernsthaften und verbiesterten Pauker fortwährend der ausgelassenen Streiche ihrer Zöglinge erwehren müssen.
Doch hat es schon seit Jahrzehnten immer wieder herbe Kritik an der scheinbar so harmlosen Schüler-Komödie wegen ihrer etwaigen Nazi-Kontaminiertheit gegeben. Jüngst hat nun die geschätzte und verehrte Sonja Zekri im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung (vom 27.1.2024) zum abermals großen Schlag gegen den anrüchigen Filmspaß ausgeholt. Vor allem beklagt sie, womit sie zweifellos einen Punkt hat, die monströse Geschmacklosigkeit, die bereits darin liege, zeitgleich mit Kriegsverbrechen und Holocaust überhaupt einen solchen Film in die Welt gesetzt zu haben. Dieser enthalte zudem eine Menge Nazi-Ideologeme, angefangen vom vorgestrigen Frauenbild (positiv gezeichnete Unschuld vom Lande versus arrogante Großstadt-Dame aus Berlin) bis hin zum – unstrittig – NS-Propaganda verbreitenden Geschichtslehrer Dr. Brett. Noch dazu ist dieser Dr. Brett, der von der Erziehung der Jugend analog zu nicht schief wachsen dürfenden Bäumen schwadroniert, die einzige Filmfigur, für die es in der Romanvorlage von Heinrich Spörl aus dem Jahr 1933 keine Entsprechung gibt. Das heißt, er wurde offenbar allein zu propagandistischen Zwecken noch nachträglich in die Handlung eingefügt. Und schließlich, so erfährt man auch noch aus Sonja Zekris Text, sei Hauptdarsteller Heinz Rühmann nach den Dreharbeiten sogar eigens mit den Filmrollen auf die Wolfsschanze gefahren, um vom Führer höchstselbst die Freigabe des Films zur öffentlichen Aufführung zu erwirken, die ihm wegen befürchteter Untergrabung von Autoritäten zunächst verweigert worden war. Woraufhin sich Hermann Göring dann den Film mit Heinz Rühmann angesehen und anschließend Hitler darauf angesprochen habe. Und der Führer habe ihn gefragt: “Ist dieser Film komisch?” Und Göring habe das bejaht. Worauf Hitler erklärt habe: “Dann ist er fürs deutsche Volk freizugeben.”
Ist also “Die Feuerzangenbowle” somit eindeutig als Nazi-Film überführt, den man sich keinesfalls mehr anschauen sollte, zumal von jeder öffentlichen Aufführung auch noch die Inhaberin der Filmrechte profitiert, welche (bezeichnenderweise) AfD-Mitglied ist?
Um es gleich deutlich zu sagen: Man kann das alles durchaus so sehen, aber zwingend ist es keineswegs. Fest steht allein, dass sich daraus, dass der Film im Dritten Reich entstanden ist, gewisse Konsequenzen für ihn ergeben. Einen Anti-Kriegsfilm oder einen Anti-NS-Film zu drehen, wäre zu jener Zeit in Deutschland nicht möglich gewesen. Es sei daran erinnert, dass der Komponist der Filmmusik der “Feuerzangenbowle” noch vor der Erstaufführung wegen des Erzählens politischer Witze hingerichtet wurde. (Auch das steht in Sonja Zekris Artikel.) Wie stark der Film nun allerdings mit Nazi-Ideologie durchsetzt ist oder ob er sich nicht vielmehr als auffällig unpolitisch oder sogar dezent subversiv ausnimmt, darüber lässt sich trefflich streiten. Die meisten seiner Inhalte spiegeln wohl eher den allgemeinen Geist jener Jahre wider als einen spezifischen Nazi-Ungeist. Eindeutig nationalsozialistisch tritt allein der besagte Geschichtslehrer Dr. Brett auf. Doch wird er im Film wirklich positiv gezeichnet? Zeugt nicht bereits sein Name vom Gegenteil? Ist nicht die naheliegendste Assoziation, die sich hier einstellt, das sprichwörtliche Brett vorm Kopf, das in Anlehnung an ein hölzernes Sedativum für Ochsen die Verbohrtheit, Inflexibilität oder Begriffsstutzigkeit von jemandem bezeichnet. Wenn dieser Lehrer in die Klasse kommt, herrscht – anders als bei seinen Kollegen – augenblicklich Ruhe und Disziplin. Das werden viele damals gut gefunden haben. Aber machen ihn seine autoritären Erziehungsmethoden wirklich zu einem Sympathieträger bei seinen Schülern und dem Publikum? Ist er nicht sogar eher eine absichtsvoll ambivalent gehaltene Figur, die sowohl die damaligen ideologischen Vorgaben bedient als auch zugleich dem Betrachter Raum dazu lässt, auf Distanz zu gehen?
Ist es angesichts seines Entstehungsumfelds nicht vielmehr bemerkenswert, dass ein über weite Strecken so frecher und aufmüpfiger, fortwährend Autoritäten verspottender Film seinerzeit überhaupt zugelassen wurde? Und ist nicht der vordergründig unpolitische Schlussmonolog, in dem Hans Pfeiffer (mit drei f) ausführt, dass nur unsere Träume und Erinnerungen wahr seien, was Sonja Zekri als Augenverschließen vor den Nazi-Verbrechen deutet, das bereits auf die anschließenden Verdrängungen der Nachkriegszeit verweise, vielleicht sogar im Gegenteil ein verstecktes Statement gegen ein durchideologisiertes System? Ist es für Kulturprodukte aus totalitären, gleichgeschalteten Gesellschaften nicht oftmals sogar ein Qualitätsmerkmal, wenn sie “unpolitisch” sind, denn welche politische Haltung könnte sich in ihnen denn schon klar und deutlich ausdrücken außer doktrinärer Parolenhaftigkeit entsprechend den ideologischen Vorgaben? Anders gesagt: Das einzig mögliche Mittel des Aufbegehrens ist hier, wenn überhaupt, die Subversion, etwa durch versteckte Andeutungen oder Mehrdeutigkeiten. Und nun möge jede und jeder selbst darüber urteilen, ob sich in diesem Film mehr Staatspropaganda oder mehr Hinweise auf Subversion finden lassen. Kurzum, “Die Feuerzangenbowle” ist ein Film aus Nazi-Deutschland, aber deshalb noch lange kein Nazi-Film.
Justament Sept. 2013: Immer wieder Goethe
SZ-Feuilletonist Gustav Seibt mit gesammelten Aufsätzen und Reden
Thomas Claer
Als Zeitungleser hat man natürlich immer so seine Lieblinge, deren Artikel man schon allein deshalb ohne Ausnahme liest, weil sie von jenen geschrieben wurden. Neben dem Schreibstil ist es dann meist auch das Themenspektrum der Texte, von dem man sich auf besondere Weise angesprochen fühlt. Und so verhält es sich auch beim Justament-Rezensenten mit Gustav Seibt, geboren 1959 in München und nun schon seit zwölf Jahren die Stimme des SZ-Feuilletons aus Berlin-Prenzlauer Berg. Seine aktuelle Aufsatzsammlung enthält insgesamt zehn Texte, die in den letzten Jahren bereits in diversen Blättern erschienen sind, wovon man als Leser allein der Süddeutschen Zeitung aber nicht immer Wind bekommen hat. Anders als es der Name dieses auch optisch und haptisch sehr feinen Bändchens suggeriert, geht es in ihnen keineswegs nur oder auch nur in erster Linie um Goethe (das ist gerade einmal bei drei dieser Texte der Fall), doch behandeln die übrigen – großzügig betrachtet – Goethes Zeitalter und so bedeutende Personen aus diesem wie Jacob Burckhardt, Friedrich von Gentz und Theodor Fontane. Oder es geht um die Bedeutung Preußens und Mitteldeutschlands, um die Figur des Außenseiters in der Literatur oder um eine Philosophie des Lachens. So schwebt am Ende über allen Abhandlungen doch zumindest der Geist Goethes. Herausgekommen ist ein sehr gelehrtes Büchlein, das mitunter auch schon mal tiefer ins Detail geht, als man es bei dieser kleinen Form erwartet hätte.
Besonders hervorzuheben ist “Sein Kaiser”, der das anfangs von Skepsis, später von Bewunderung und noch später von Ambivalenz gekennzeichnete Verhältnis Goethes zu Napoleon thematisiert. Dieser Text ergänzt eine frühere Veröffentlichung des Verfassers über das einzige Aufeinandertreffen des deutschen Dichterfürsten mit dem französischen Kaiser, die berühmte Unterredung am Vormittag des 2. Oktober 1808, die eine knappe Stunde dauerte. Goethe zeigte sich anschließend sehr geschmeichelt davon, dass Napoleon offensichtlich so gut mit ihm konnte: “Ich will gerne gestehen”, schrieb er an seinen Verleger Cotta, “daß mir in meinem Leben nichts Höheres oder Erfreulicheres begegnen konnte, als vor dem französischen Kaiser, und zwar auf eine solche Weise zu stehen. Ohne mich auf das Detail der Unterredung einzulassen, so kann ich sagen, daß mich doch niemals ein Höherer dergestalt aufgenommen, indem er mit besonderem Zutrauen, mich, wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf, gleichsam gelten ließ, und nicht undeutlich ausdrückte, daß ihm mein Wesen gemäß sei.” Doch sind später doch noch “Details der Unterredung” bekannt geworden, vor allem dieses, dass Napoleon gegenüber Goethe gewisse erzähltechnische Inkonsequenzen im “Werther” getadelt habe. Lange spekulierte die Literaturwissenschaft darüber, was Napoleon damit wohl gemeint haben könnte. Heute nimmt man an, dass Napoleon die Verzweiflung des Rechtspraktikanten Werther nicht so ganz nachvollziehen konnte, denn dieser hätte doch schließlich mit Lotte unbeschadet ihrer Heirat mit Albert einfach etwas anfangen können. So kann aber natürlich nur ein Franzose respektive Korse denken… Es wird berichtet, auf dem schmählichen Rückzug mit seiner Grande Armée aus Russland vor 200 Jahren habe Napoleon beim Radwechsel in Erfurt Goethe seine Grüße ausrichten lassen.
Im Nachwort schreibt Gustav Seibt in Anspielung auf das berühmte Nietzsche-Zitat: “Ob Goethe ein Zwischenfall ohne Folgen bleibt, das hat jeder seiner Leser selbst in der Hand.” Und wir möchten hinzufügen, dass es auch jeder Leser selbst in der Hand hat, sich mit den gelungenen Aufsätzen und Reden von Gustav Seibt tief hinein in die Goethe-Zeit zu begeben.
Gustav Seibt
Goethes Autorität. Aufsätze und Reden
Zu Klampen Verlag Springe 2013
175 Seiten, EUR 18,00
ISBN 978-3-86674-223-9
Justament Mai 2012: Alles im Umbruch
Die SZ-Serie „Die Zukunft der Arbeit“ als Buch
Thomas Claer
„Früher gab es sowas nicht.“ Was wir von den Älteren so oft gehört haben, hier hat es seine Berechtigung: Getrieben insbesondere von einer weltweit entfesselten Ökonomie, dem Druck der Finanzmärkte und einem rasanten technischen Wandel bleibt in der Arbeitswelt derzeit wirklich kein Stein mehr auf dem anderen. Was die Leser des Wirtschaftsteils der Süddeutschen Zeitung im vergangenen Jahr in einer 26-teiligen Serie über „Die Zukunft der Arbeit“ erfuhren, war aufregend, faszinierend und manchmal auch erschreckend. Die Autoren schilderten die wichtigsten Trends unseres heutigen Erwerbslebens, mit denen wohl jeder Berufstätige schon mehr oder weniger umfassend Bekanntschaft gemacht haben dürfte, und entwarfen das Bild einer von diesen geprägten Zukunft. Nachzulesen ist das alles nun komprimiert und mit einem Vor- und Nachwort versehen zwischen zwei Buchdeckeln in der SZ-Edition. Und selten hat sich der Nachdruck einer Zeitungs-Serie so gelohnt wie dieser. Von der digitalen Revolution bis zur digitalen Boheme, von den Chancen der Jugend bis zu denen der Frauen, vom demographischen Wandel bis zur Notwendigkeit der Selbstvermarktung und der Wissensgesellschaft ist alles dabei, was das heutige Arbeitsleben ausmacht und aller Voraussicht nach auch künftig prägen wird. Die zehn Megatrends der Arbeitswelt von morgen gemäß dem Nachwort von Sibylle Haas lauten in Kurzform: Der feste Arbeitsplatz im Büro stirbt aus, dank Laptop und Smartphone sind die Arbeitnehmer für die Unternehmen immer und überall verfügbar. Hierarchien verschwinden, teamorientierte Projektarbeit macht heute den einen und morgen die andere zum Chef. Dienstleistungen haben einen immer größeren Anteil an der Arbeit (bereits jetzt mehr als zwei Drittel). Das klassische Arbeitsverhältnis wird immer seltener, Honorar- und Zeitverträge werden zur Regel. Gering Qualifizierte bleiben in prekären Jobs hängen; eine neue kreative Klasse pfeift auf einen festen Job, weil sie selbstbestimmt arbeiten will. Wer sich nicht aggressiv selbst vermarktet, bleibt auf der Strecke: Extrovertierte und Selbstdarsteller setzen sich durch. Die Menschen werden immer älter und müssen entsprechend länger arbeiten, was auch heißt: lebenslanges Lernen bis ins hohe Alter. Viele Branchen (aber bestimmt nicht die juristische) erleben einen Fachkräftemangel. Eine immer höhere Bildung ist erforderlich, die Jugend braucht noch deutlich mehr Disziplin, Leistungsbereitschaft und Belastbarkeit. Eine bessere Kinderbetreuung und gezielte Frauenförderung sind nötig, um das große Potential gut qualifizierter, aber bislang nicht oder nicht voll berufstätiger Frauen volkswirtschaftlich nutzen zu können. Und schließlich: Auf einem globalen Arbeitsmarkt liegt die „Last der Anpassung“ vor allem auf den Arbeitnehmern in den Industrieländern. Schon klar: Die Asiaten, Lateinamerikaner und Osteuropäer sind fleißiger, genügsamer und zunehmend auch noch besser als viele bei uns. Wer da auf einem Achtstundentag, Kündigungsschutz und guter Bezahlung besteht, ist schnell nicht mehr wettbewerbsfähig. Kein Wunder, dass nicht wenige die schöne neue Arbeitswelt als Bedrohung empfinden. Andererseits ist es aber doch bemerkenswert, wie gut das vergleichsweise streng regulierte, relativ unflexible und eher undynamische Deutschland durch die Finanzkrise gekommen ist. Vielleicht war es ja gerade die Mischung aus traditioneller Rechts- und Sozialstaatlichkeit auf der einen und Agenda 2010-Reformen auf der anderen Seite, die uns nun womöglich sogar zum Vorbild für andere werden lässt.
Marc Beise, Hans-Jürgen Jakobs (Hrsg.)
Die Zukunft der Arbeit
Süddeutsche Zeitung Edition München 2012
336 Seiten, EUR 19,90
ISBN: 978-3-86615-997-6
www.justament.de, 18.1.2010: Er irrt sich ständig!
Rainer Erlingers unterhaltsame Moralkolumnen als Taschenbuch
Thomas Claer
Was richtig und was falsch ist im Leben, wie man sich in dieser oder jener Situation am besten verhalten sollte, wer weiß das schon immer ganz genau? Da ist es doch schön, dass es jemanden gibt, der mehr weiß als wir alle. Unzählige Leser des Magazins der Süddeutschen Zeitung fiebern Woche für Woche der Erlinger-Kolumne entgegen, die es inzwischen zu einiger Berühmtheit gebracht hat. Jeden Freitag beantwortet Dr. jur Dr. med Rainer Erlinger, Rechtsanwalt mit Schwerpunkt Medizinrecht aus München, eine konkrete Frage der Alltagsmoral, die ihm von einer Leserin oder einem Leser angetragen wurde. Er führt das Problem dann zumeist auf widerstreitende moralphilosophische Grundprinzipien zurück, wägt das Für und Wider gewissenhaft ab – und fällt dann sein salomonisches Urteil. Das Problem und gleichzeitig das Schöne dabei ist aber, dass seine Ratschläge so oft dem eigenen Urteil widersprechen. Man kann sich als langjähriger süchtiger Leser seiner Kolumne so wunderbar über ihn aufregen!
Beispielhaft seien hier nur drei besonders eklatante Fehlurteile aufgeführt: Erster Fall: Es fragt ein Leser, der neben einer türkischen Frau mit Kopftuch an der Supermarktkasse steht und sieht, wie diese Gummibärchen mit Gelatinezusatz für ihre Kinder kauft, allen Ernstes, ob er die Dame nicht eigentlich darauf hinweisen müsste, dass der Gelatinezusatz vom Schwein stammt und daher in ihren Augen doch bestimmt nicht helal sein wird. Und was antwortet Erlinger darauf? Gewiss doch, man müsse sich stets um seine Mitmenschen bemühen und sie darauf aufmerksam machen, wenn ihnen Unheil drohe – und sei es auch nur nach ihren eigenen Maßstäben. Ich spare mir hier eine ausführliche Begründung meiner Auffassung, dass sich jemand, der so fragt, nicht wundern sollte, wenn er – Pardon! – mal “eine reingehauen” bekommt. Die einzig angebrachte Antwort auf ein solches Ansinnen wäre der Satz – Nochmal pardon! – “Verarschen kann ich mich alleine.”
Zweiter Fall: Da wurde unser Moralkolumnist regelrecht ausfällig gegen Knoblauch- und sogar Bärlauchesser. Die sollten das, Erlinger zufolge, entweder bleiben lassen oder nicht unter Menschen gehen. Ja, wo leben wir denn? Es verbietet sich zwar an dieser Stelle, noch irgendetwas gegen die Raucher zu sagen, das wäre übelstes Nachtreten. Aber wer Knoblauch isst, tut das in der Regel nicht im Büro, und die Folgeausdünstungen sind denen der Raucher nach der Zigarettenpause in der Intensität vergleichbar. Schließlich fiele es doch auch nicht dem militantesten Nichtraucher ein, den Rauchern den sozialen Umgang nach ihrem Laster zu verbieten. Sollen die Knoblauchverächter doch einfach Abstand halten!
Dritter Fall: Ein Leser aus München fragte, ob es unmoralisch sei, wenn er als Student manchmal zur Aufbesserung seines Salärs im Park herumliegende Pfandflaschen mitnehme. Man habe ihn ermahnt, er würde so die Obdachlosen um ihre Einnahmequelle bringen. Genau, sagt Erlinger, die Pfandflaschen sind für die Obdachlosen. So schlecht gehe es keinem Studenten, dass er so etwas machen müsse. Na meine Herren! In unserem Berliner Kiez sammelt einer, wahrscheinlich ein “Hartzer”, tagaus, tagein Pfandflaschen in großer Zahl. Wenn er vor mir am Pfandflaschenautomat bei Edeka steht, muss ich manchmal schon sehr lange warten, bis er endlich alle im Gerät versenkt hat. Der ist mitnichten ein Obdachloser, der wohnt schräg gegenüber von uns. “Nach Pfandflascheneinnahmen” hat er sicherlich mehr im Portemonnaie als so mancher Student – außer im Winter, da sieht es deutlich schlechter aus. Ist dieser Mann jetzt auch unmoralisch, weil er den Obdachlosen etwas wegnimmt? Oder ist derjenige unmoralisch, der diesem Manne “seine Pfandflschen” wegnimmt, weil die doch zu seinem Lebensunterhalt beitragen? Oder sind womöglich alle die unmoralisch, die ihre Pfandflaschen für ihn liegen lassen, da er sich doch seine Einnahmen bestimmt nicht auf sein Hartz IV anrechnen lässt? Andererseits arbeitet er härter für sein Geld als manch anderer …
Sicherheitshalber keinen Kommentar gebe ich zu folgendem Fall ab: Ein Leser hat ein 9-Uhr-S-Bahnticket. Sein Zug, den er unbedingt nehmen muss, um rechtzeitig bei der Arbeit zu sein, fährt um 8.58 Uhr ab. Bis zur nächsten Station gibt es niemals Kontrollen. Unmoralisch? Klar, sagt Erlinger. Auch bei Kleinigkeiten, sagt er, muss es immer ums Prinzip gehen. Selbstverständlich begrüßt er auch die Kündigungen wegen eines Kassenbons, eines Brötchens oder einer Frikadelle im Grundsatz und plädiert allenfalls für punktuelle Gnade im Einzelfall. Manchmal spricht Erlinger aber auch dem Leser aus dem Herzen: Wer nur verschenkt, was ihm selbst gefällt, aber dem Beschenkten vielleicht nicht, beschenkt sich doch letztlich nur selber. Dies und vieles andere nachlesen kann man mittlerweile in mehreren Sammelbänden, von denen der hier anzuzeigende nun auch als Taschenbuch vorliegt. Da kann man nur allen Lesern eine muntere Diskussion wünschen!
Rainer Erlinger
Wenn Sie mich fragen: Antworten zu Fragen der Alltagsmoral
Taschenbuch
Goldmann Verlag 2009
272 Seiten, EUR 7,95
ISBN-10: 3442169941
Justament April 2008: Triumph des Rechtsstaats
SZ-Feuilletonist Willi Winkler schreibt die Geschichte der RAF
Thomas Claer
Willi Winkler, geboren 1957, ist der Gott des Spaß-Feuilletons. Wie kein anderer der schreibenden Zunft verkörpert er die ironische Weltsicht schlechthin, zugleich aber auch das ewig Subversive. Nichts ist ihm heilig, alles zieht er ins Lächerliche. Großzügigkeit ist seine Sache dabei keineswegs, eher eine geradezu verbissene Detailbesessenheit. In der Süddeutschen haben sie ihn inzwischen vorwiegend auf die Medienseite verbannt, wo er sich u.a. an den Zumutungen des deutschen Fernsehprogramms abarbeiten darf. Gut zupass kommt ihm hier seine herzliche Boshaftigkeit, und so mancher fürchtet seine scharfzüngigen Verrisse. Für Dampfpolemiker Henryk Broder ist er “ein Asket, der von schwarzem Kaffee und filterlosen Zigaretten lebt, ein kleiner Samurai, der sich züchtigt, bevor er andere peinigt.” Kann so einer, von dem bisher kaum ein ironiefreier Feuilleton-Satz überliefert ist, überhaupt seriöse Sachbücher schreiben? Er kann, das beweist nach “Bob Dylan” (2001), “Kino” (2002) und “Karl Philipp Moritz” (2006) nun auch “Die Geschichte der RAF”.
Selbstredend geht es Winkler in seinem bislang ambitioniertesten und voluminösesten Werk um keine bloße Chronologie der Ereignisse. Vielmehr hat er sich auch deren Deutung bis hin zu den vielen noch immer offenen Streitfragen auf die Fahne geschrieben. Wer war wann wo genau dabei? Waren die Selbstmorde in Stammheim tatsächlich welche? Was geschah wirklich auf dem Bahnhof in Bad Kleinen? Winkler untersucht all das mit einer – insbesondere für seine Verhältnisse – bemerkenswerten Sachlichkeit, räumt auch – wo nötig energisch – mit Legenden auf. So stützen seine Recherchen zwar im Wesentlichen die offizielle Geschichtsschreibung, doch attestiert er den staatlichen Organen nicht selten Schlamperei und Fahrlässigkeit, die der Legendenbildung erst richtig Vorschub leisten konnten.
Mit sichtlichem Vergnügen fängt der Verfasser das spezifisch altbundesrepublikanische Milieu ein, in welchem die RAF erst wachsen und gedeihen konnte: Auf der einen Seite die altbackene und selbstgerechte, autoritäre und naziverstrickte Mehrheitsgesellschaft und als deren Speerspitze die immer wieder genüsslich zitierte BILD. Auf der anderen Seite die von sich und ihrer Bedeutsamkeit berauschte Studentenbewegung, die ein Klima des Fanatismus erzeugte, in welchem sich ein paar versprengte Wirrköpfe als Vollstrecker des historisch Notwendigen fühlen konnten. So wird der damalige Terroristen-Strafverteidiger und spätere Innenminister Otto Schily mit Worten zitiert, die er heute nicht mehr bestätigen mag: “Alle rechtsstaatlichen Errungenschaften beruhen auf revolutionärer Gewalt.” Klar sei die RAF eine Verbrecherbande gewesen, so Winkler, aber eben nicht nur. Seine These ist, dass der wehrhafte westdeutsche Staat in seiner Unerbittlichkeit gegenüber allem Abweichenden nicht wenig zur späteren Eskalation der Gewalt beigetragen hat. Doch habe der Rechtsstaat dadurch einen großen Sieg errungen, dass er – entgegen dem Kalkül der Terroristen – gerade nicht zum Polizeistaat geworden ist. Schließlich kann dem Buch ein Vorwurf nicht erspart werden: dass – warum auch immer, jedenfalls bedauerlicherweise – an einem Personenregister gespart wurde. Hätte Willi Winkler sein Buch an dieser Stelle selbst rezensiert, dann hätte er gewiss noch mehr Tadelnswertes beanstandet. Er findet ja immer ein Haar in der Suppe. Aber uns hat es eben gefallen, was soll man machen?
Willi Winkler
Die Geschichte der RAF
Rowohlt Verlag Berlin 2007
528 Seiten, 22,90 €
ISBN-10: 3871345105
Justament Feb. 2005: Privilegiert und diskriminiert
Jens Bisky berichtet von seiner Jugend in der DDR
Thomas Claer
Als Chronist des Berliner Geisteslebens und treffsicherer Kommentator der politischen und kulturellen Großwetterlage zählt der SZ-Feuilletonist Jens Bisky (Jahrgang 1966) heute zu den ausgewiesenen “Edelfedern” unseres Landes. Dass jemand mit seiner Herkunft und seinem familiären Hintergrund – Vater Lothar war Rektor der Potsdamer Hochschule für Film und Fernsehen und ist Vorsitzender der PDS – auf eine bewegte Jugend zurückblicken kann, also allerhand Mitteilenswertes erlebt hat, wird niemanden überraschen.
Zwei Umstände sind es vor allem, die seine Autobiographie aus der Masse der Kindheits- und Jugenderinnerungen der “Zonenkinder” herausheben: Zum einen geht der Autor, fern jeder Schönfärberei und Selbstgerechtigkeit, hart mit sich selbst und seiner Rolle in diesem Staate ins Gericht, obgleich das -angesichts der ihm zuteil gewordenen “Gnade der späten Geburt” und eher begrenzter schuldhafter persönlicher Verstrickungen – eigentlich niemand von ihm erwarten durfte. Zum anderen verfügt er schlicht über eine Sprache, die dem vielfach nur diffus Empfundenen und nuanciert Wahrgenommenen Form und Gestalt gibt. Dabei ist Bisky eigentlich kein Erzähler, die Darstellung von Geschehensabläufen ist seine Sache nicht unbedingt. So hätte man sich einzelne Abschnitte knapper gewünscht. Doch gelingen ihm, besonders zum Ende hin, die immer wieder eingeschobenen reflektierenden Passagen so außerordentlich gut, dass man sich an die stärksten Momente autobiographischen Schreibens seit Augustinus erinnert fühlt.
Nüchtern und schonungslos schildert der Autor sein früheres kindliches Ich, den immer strebsamen Pionierrats- und FDJ-Leitungs-Vorsitzenden, den ehrgeizigen Gedichts-Rezitator, später dann den erst linientreuen, dann zweifelnden SED-Genossen und NVA-Offiziersschüler, der ein Doppelleben zwischen Kasernenhof und Schwulenszene führt. Ganz nebenbei erfährt der Leser kaum Vorstellbares über die Ausgrenzung und Demütigung von Schwulen in der NVA. Die tägliche Schizophrenie zwischen staatlich und innerfamiliär geforderter Leistungs- und Anpassungsbereitschaft einerseits und hemmungslosem Freiheitsdrang andererseits zermürbt den Erzähler zusehends, fördert aber auch seine Reflexion. Die Verbohrtheit, mit der er bis zur Wende an seiner sozialistischen Überzeugung festhält und immer neue Wege findet, sie mit dem realen Leben in Einklang zu bringen, wird eindrucksvoll vorgeführt. Mit dem Ende der DDR werden dann Rückblicke möglich, die das Erlebte in völlig neuem Licht erscheinen lassen: Die Mutter und der langjährige Partner entpuppen sich als Stasi-Spitzel. Viele Erinnerungen erweisen sich als trügerisch. So sind es gerade auch die vielen kleinen privaten Tragödien, die die untergegangene DDR ausmachen.
Am Schluss des Buches, als sich anlässlich der Promotionsfeier des Autors diverse Freunde und Weggefährten aus Ost und West in Berlin versammeln, gerät dann doch etwas zu sehr ins Hollywoodeske. Dessen ungeachtet hat Jens Bisky ein wichtiges Buch geschrieben, kämpft es doch an zwei Fronten zugleich: zum einen gegen die derzeit sehr angesagte Verharmlosung und Verniedlichung, welche die DDR auf ihre folkloristische Komik reduziert, zum anderen gegen die westdeutsche Arroganz der unverdient Wohlbehüteten, die glaubt, sich über das Leben in der DDR ein moralisches Urteil anmaßen zu können.
Jens Bisky
Geboren am 13. August. Der Sozialismus und ich
2004, Rowohlt Verlag
256 Seiten
EUR 17,90
ISBN: 3-87134-507-5


