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justament.de, 15.1.2024: Die Liebe kommt nicht aus Berlin

Scheiben Spezial: Die Songs des Jahres 2023

Thomas Claer

So etwas haben wir noch nie gemacht: einen Rückblick auf die besten Songs des abgelaufenen Jahres. Doch damit an dieser Stelle nicht immer nur jahraus, jahrein von unseren altbekannten Lieblingen wie Element of Crime, Tocotronic, Björk oder Udo Lindenberg die Rede ist, gehen wir nun auch einmal neue Wege. Aber hoppla: Udo Lindenberg ist, ob man es glaubt oder nicht, auch bei den Hits des Jahres 2023 mit dabei! Dazu gleich unten mehr…

Die Kollegen von der Musikzeitschrift “Diffus” haben also eine Liste der “Top 10 Songs national” mit den dazugehörigen Musikvideos zusammengestellt. Und wir hören uns da einfach mal durch. Unter den Top 10 des Jahres, da sollte doch bestimmt etwas Gutes dabei sein, denkt man sich – und wird bitter enttäuscht. Eigentlich wollte ich zu jedem der zehn Songs ein paar Sätze verlieren, aber das ginge hier nun wirklich entschieden zu weit. Sagen wir es lieber allgemeiner: Damit ein Lied als gut bezeichnet werden kann, darf es zunächst einmal nicht zu vulgär und auch nicht zu sentimental sein. Dieses Kriterium stellt schon eine ziemlich große Hürde dar, denn die meisten Lieder auf der Welt (und auch in dieser Liste) sind wohl entweder das eine oder das andere. Und noch dazu sollte ein gutes Lied einen gewissen Wiedererkennungswert haben, sollte also originell sein, etwa von einer eingängigen Melodie getragen werden, die aber andererseits auch nicht zu gefällig sein darf, denn das wäre dann schon wieder banal…

Um es kurz zu machen, in diesen Top 10 gibt es manchmal ein paar gute Ansätze. Gleich mehrere Songs transportieren sehr unterstützenswerte inhaltliche Botschaften. In “Baba” von Apsilon geht es um eine Vater-Sohn-Beziehung im migrantischen Kontext. Und dabei wird den bekannten und berüchtigten toxischen Männlichkeitsbildern in der Rap-Szene hier zweifellos etwas Positives entgegengesetzt, was natürlich schon per se lobenswert ist.

In “3 Sekunden” von Celine feat. Paula Hartmann wird die immer wieder viel diskutierte männliche Übergriffigkeit gegenüber Frauen angeprangert. Damit haben die beiden jungen Damen natürlich vollkommen recht. Dennoch nimmt man ihnen ihr “Wir wollen einfach nur von Männern in Ruhe gelassen werden” am Ende doch nicht so ganz ab… In zwei weiteren Songs breitet jeweils ein empfindsamer junger Mann mit großer Ausführlichkeit sein Innerstes aus, wobei der vulgäre Rapsong dabei fast noch erträglicher ist als die kitschtriefende Ballade…

Womit wir bei Udo Lindenberg wären. Der große Meister hat sich doch in seinen alten Tagen tatsächlich noch einmal zu einem Duett mit einem Gangsta-Rapper namens Apache 207 herabgelassen. Das war wohl ein Riesen-Hit im letzten Jahr. Ist aber ein ziemlich schwacher Song. Im begleitenden Video steht der Gangsta-Rapper vor Gericht und wird dort wegen Diebstahls und einiger Straßenverkehrsdelikte zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, die er aber im Hausarrest absitzen darf, egal wo. Und daraufhin nimmt Udo Lindenberg seinen Kumpel kurzerhand mit ins Hotel, in dem er schon seit Jahrzehnten wohnt und sein Geld verprasst, und raucht mit ihm dort auf dem Balkon Zigarren. Nun ja…

Zwei Lieder erinnern ziemlich an die selige Neue Deutsche Welle und werden auch ausdrücklich als “NNDW” kategorisiert. Doch leider fehlt ihnen vollkommen die Frische und das Anarchische der alten NDW. Ein weiterer Song einer jungen Sängerin wird als “Indie” angepriesen, ist aber beim besten Willen nur gähnend langweilig.

Ein letzter Song ist noch übrig: “Die Liebe kommt nicht aus Berlin” von Brutalismus 3000 – eine trashige, schnelle Elektropopnummer, man könnte auch Techno dazu sagen. Dieses Lied ist immerhin ziemlich originell, wenn auch nicht unbedingt überragend. Hat es hierzulande schon jemals einen Hit-Song in (teilweise) slowakischer Sprache gegeben? Es ist wohl das einzige Lied in der Liste, das musikalisch noch halbwegs etwas taugt. Also wenn das die Hits des Jahres sein sollen…

P.S.: Vor einem Jahr habe ich in der entsprechenden Liste für 2022 allerdings ein Lied gefunden, das mir sehr gefallen hat: “Wildberry Lillet” von Nina Chuba. Das ist zwar auch durchaus vulgär, aber dabei angenehm selbstironisch – und so witzig: “Ich will haben, haben, haben!” Warum gibt es nicht mehr Lieder von dieser Sorte?

Justament April 2010: Die bewegten Nullerjahre

Rückblick auf ein sonderbares Jahrzehnt

Thomas Claer

05 TITEL 10 Jahre TC Rückblick Schneeballschlacht

Damals noch ohne Flashmob: Die “Schneeballschlacht” von Fritz Freund (1859-1936), deutscher Maler und studierter Jurist.

Die Welt hat sich, so Altkanzler Helmut Schmidt in einem seiner zahlreichen Interviews, in den letzten zwei Jahrzehnten stärker verändert als in den 80 Jahren zuvor. Und besonders rasant verlief, wer wollte da widersprechen, die just abgelaufene Dekade, die so genannten Nullerjahre. Zunächst einmal sorgte die sich vor unseren Augen vollziehende IT-Revolution für eine neue tiefe Kluft zwischen den Generationen.

Generationen driften auseinander
Denn wie schon vielfach beschrieben wurde, stehen sich heute zwei relativ klar trennbare Teilpopulationen weitgehend verständnislos gegenüber: die Digital Natives und die Digital Immigrants. Die ersteren, die bereits mit dem ganzen Kram des digitalen Zeitalters aufgewachsen sind, also die Jahrgänge ab 1980, können Informationen schneller empfangen und verarbeiten, arbeiten bevorzugt im Multitasking, fühlen sich unwohl, wenn sie nicht vernetzt sind, und brauchen ständig sofortige und häufige Belohnungen, sonst ist ihre Aufmerksamkeit gleich wieder perdu. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass sie aufgrund ihrer fundamental anderen Denkmuster auch andersartige Hirnstrukturen ausgebildet haben als frühere Jahrgänge. Die  Digital Immigrants hingegen, welche die digitalen Techniken erst in fortgeschrittenem Alter erlernt haben, die Geburtenjahrgänge vor 1970 also, erkennt man daran, dass sie sich E-Mails gerne ausdrucken und am liebsten immer eins nach dem anderen machen, allerdings zumeist auch weniger vergesslich sind als die Jüngeren. Bestenfalls eine Vermittlerrolle können in diesem Szenario die Übergangsjahrgänge der zwischen 1970 und 1980 Geborenen einnehmen. Sie sollte man zur besseren Verständigung zwischen den Generationen heranziehen, wenn es in einigen Jahren nach Eintritt der Digital Natives in die Führungsebenen zum prognostizierten radikalen Umdenken in Unternehmensführungen kommt und die Älteren dann endgültig nicht mehr mitkommen. Eine vergleichbar tiefe Generationenkluft, wie sie zwischen den heute 30- und 40-Jährigen besteht, gab es wohl letztmals zwischen den heute 75- und 65-Jährigen, also der Wiederaufbau- und der Protestgeneration nach dem zweiten Weltkrieg. “Trau keinem über dreißig”, hieß es 1968. Heute sind es wohl eher die unter 30-Jährigen, die allen anderen nicht mehr ganz geheuer sind.

Rasender Stillstand
Gemessen an diesen epochalen Veränderungen tritt seit zehn Jahren aber auch so allerhand auf der Stelle. Kulturjournalisten haben dafür das Wort vom “rasenden Stillstand” geprägt. Bin Laden ist noch immer nicht gefasst, der Kampf gegen den Terror – wie die jüngsten Moskauer Explosionen zeigen – natürlich auch noch lange nicht gewonnen. Auf ein wirksames globales Klimaschutzabkommen warten wir ebenfalls seit Jahren vergeblich. Dank zahlreicher effizienzsteigernder Sozialreformen ist Deutschland vom “kranken Mann Europas” zum ökonomischen Musterschüler aufgestiegen, der inzwischen den Neid und die Missgunst seiner Nachbarn weckt. Doch gerade die stark verbesserte Wettbewerbsfähigkeit erwies sich für die immer exportlastigere deutsche Wirtschaft in der weltweiten Finanz- und Wirtschafskrise 2007-2009 als ein Handicap. Und erinnert sich noch jemand daran, wie vor zehn Jahren ein Finanzminister namens Eichel den völlig überschuldeten deutschen Staatshaushalt sanieren wollte? Heute wären wir froh, wenn wir “nur” die Schuldenlast von damals hätten.

Alles im Umbruch
Allerdings ist auch sehr vieles anders geworden in der letzten Dekade. Wie es sich für einen echten Epochenwechsel gehört, sterben ganze Wirtschaftszweige einen mal mehr, mal weniger qualvollen Tod oder schrumpfen auf Nischenformat. Ob Musikindustrie, Journalismus, Verlags-, Werbe- oder Erotikbranche: Wo früher noch regelmäßig gut bezahlt und verdient wurde, bedient sich heute einfach jeder kostenlos selbst im Netz. Wer da mit Urheberrechten kommt, kämpft letztlich gegen Windmühlen. Was früher qualifizierte Erwerbsarbeit war, wird tendenziell zum luxuriösen Hobby, das auszuüben man sich erst einmal leisten können muss. Die “digitale Boheme” ist vermutlich erst der Anfang.

Alles Retro außer Flashmob
Popkulturell gesehen werden die Nullerjahre wohl als das erste Jahrzehnt seit langem in die Annalen eingehen, das keine neue charakteristische Stilrichtung hervorgebracht hat. Und Besserung ist nicht in Sicht. Alles ist und bleibt Retro. Was an Formen der populären Musik oder auch in anderen Kunstrichtungen zu erfinden war, wurde bis zum Jahr 2000 erfunden. Seitdem erfreuen wir uns am ewig Altbekannten im immer neuen Gewand. Die Innovationen von heute kommen vielmehr aus der schönen neuen digitalen Welt. Das Twittern zum Beispiel ist eine neue Kulturtechnik, die in einer global vernetzten Welt auch viel subversives Potenzial entfalten kann. Die vielleicht einzig wahre Pop-Revolution des vergangenen Jahrzehnts ist aber der Flashmob. Wenn sich etwa in Berlin Hunderte junge Menschen spontan über Facebook zur Schneeballschlacht des Teams “Kreuzberg” gegen das Team “Neukölln” im Görlitzer Park verabreden und nach kurzer Zeit ebenso plötzlich wieder verschwunden sind, dann hat das einfach Klasse. Übrigens hat Kreuzberg gewonnen. Wie sagte der Poptheoretiker Diedrich Diederichsen: “Die Jugend hat immer recht.”