www.justament.de, 16.7.2016: Der nächste Volltreffer
PJ Harvey auf „The Hope Six Demolition Project“
Thomas Claer
Nach der „Jahrhundertplatte“ (Spex) „Let England Shake“, die auch in unserer Musikredaktion gebührend abgefeiert wurde, sind fünf Jahre ins Land gegangen. Doch alles Wachrütteln hat nichts geholfen: Die Briten haben in einem Akt kollektiver Verblendung für ihr Ausscheiden aus der EU gestimmt, während PJ Harvey unterdessen ihre nächste Platte herausgebracht hat. Und wieder ist es ein explizit politisches Album geworden, nur dass diesmal nicht das Vereinigte Königreich attackiert wird, sondern die Missstände in diversen Krisengebieten der Welt von Kosovo bis Afghanistan, die die Künstlerin allesamt bereist hat, um am Ende dann doch nur ihre Ohnmacht angesichts der jeweiligen lokalen Verhältnisse erfahren zu müssen und diese dann in wütende Protestsongs zu transformieren. Kurz gesagt, es ist eine Art vertonte Sozialreportage herausgekommen, die PJ Harvey natürlich auch schon allerhand Hohn und Spott angesichts ihrer solcherart naiven Haltung und Vorgehensweise eingebracht hat. Dabei sollte es doch auf der Hand liegen, dass die Naivität des Künstlers – anders als die des Sozialwissenschaftlers oder Politikers – eine erwünschte ist, führt sie doch auf direktem Wege zu jenem Zustand emotionalen Aufgewühltseins, aus dem heraus nicht selten die großen Würfe in der Kunst gelingen. Genug gefaselt. Die Musik auf PJ Harveys neuer Platte ist wieder einmal exzellent, und das lässt uns über alles andere hinwegsehen. Nun war eine nochmalige Steigerung nach dem besagten grandiosen Vorgänger ohnehin nicht mehr zu erwarten, das hätte dann schon so etwas wie Himmelsmusik am Tag des Jüngsten Gerichts sein müssen, doch ist „The Hope Six Demolition Project“ auf ganz eigene Art ein abermaliges Meisterwerk geworden. Es ist jazziger, mitunter sogar freejazziger!, souliger, gospelhafter als alles, was sie bisher gemacht hat. Bevorzugtes Instrument ist diesmal – man höre und staune – das Saxophon, von Polly ganz überwiegend höchstselbst gespielt. Dabei lassen sich dem Album seine Pop-Qualitäten durchaus nicht absprechen. Doch immer wenn man denkt, nun wird es aber doch allzu melodisch und gefällig, folgen auf der Stelle scharfe Dissonanzen, die zwar alles mächtig durcheinanderwirbeln, ohne aber dabei die folksonghaften Grundstrukturen der Stücke völlig über den Haufen zu werfen. Vor allem muss man die unbedingte Geschmackssicherheit der inzwischen 46-jährigen Vokal-Akrobatin gebührend herausstellen. Bemerkenswert ist nicht zuletzt, auf welch gekonnte Weise sie immer wieder Chorgesänge in die Songs einbaut. Keiner der elf Songs fällt ab, jeder packt einen auf andere Weise. Das Urteil lautet: gut (13 Punkte).
PJ Harvey
The Hope Six Demolition Project
Island (Universal) 2016
Ca. € 17,-
ASIN: B01AV5ZWZG
Justament März 2012: Göttin Polly
PJ Harvey übertrifft sich selbst auf „Let England Shake“
Thomas Claer
Wenn Popsänger ein „politisches Album“ aufnehmen, dann ist höchste Vorsicht geboten. Man darf getrost davon ausgehen, dass ihnen künstlerisch nichts mehr einfällt und sie den Fans stattdessen nur ihre tadellose Gesinnung verkaufen wollen. Nein, der Hinweis auf diese so vielfach erlebte Gesetzmäßigkeit der Branche soll keine Entschuldigung sein, aber kann doch immerhin erklären, weshalb „Let England Shake“ von PJ Harvey so lange der Besprechung bei uns harren musste. Und schließlich hatten wir PJ ja auch schon zweimal in dieser Rubrik, und außerdem ist ihr inzwischen mit Anna Calvi gewissermaßen eine kleine Schwester herangewachsen, deren Debüt-CD ihrerseits noch zu besprechen wäre. Allein, „Let England Shake“ beweist, wie gründlich man sich doch täuschen kann! Reumütig muss der Rezensent bekennen, nicht nur dieses Album, sondern auch die Musikerin PJ Harvey bislang völlig unterschätzt zu haben. Wer sie bisher für eine ziemlich gute Sängerin und Komponistin mit vielen exzellenten Produktionen gehalten hat, sieht sich jetzt eher mit einer, ja, Pop-Göttin konfrontiert. Nein, darunter machen wir es auf keinen Fall, denn nach jedem erneuten Hören wächst die Gewissheit, seit Jahren nichts Vergleichbares im CD-Player gehabt zu haben. Da erscheint es dann auch ganz passend, dass das Werk in einer Kirche aus dem neunzehnten Jahrhundert in Dorset im Südwesten Englands aufgenommen wurde. Religiöse Konnotationen sind hier ohne weiteres angebracht. Doch auch wenn man versucht, dieses erlesene Meisterwerk ganz nüchtern zu betrachten, kommt man nicht umhin festzustellen, dass PJ Harvey auf ihren letzten Platten immer, immer besser geworden ist und sich nun, mit 42 Jahren, das ist der einzige Wermutstropfen, wohl nicht mehr weiter steigern kann. Eine solche Stimmigkeit, Eindringlichkeit und Leidenschaft zugleich, ein solch vollendetes Songwriting… Da tritt die inhaltliche Dimension der Lieder eher in den Hintergrund, doch kann auch sie überzeugen, denn es hat sich ja inzwischen längst bewahrheitet: Wer wollte England nach seinem alleinigen Ausscheren beim Euro-Rettungsgipfel nicht mal so richtig durchschütteln? Um es ganz schlicht mit der Moderatorin einer inzwischen abgesetzten Fernseh-Literatursendung zu sagen: Hören! Das Urteil lautet: sehr gut (16 Punkte).
PJ Harvey
Let England Shake
Island (Universal) 2011
Ca. € 17,-
ASIN: B004IXJEWK
Justament April 2010: Krachender Kontrapunkt
PJ Harvey hat mit John Parish eine furiose Platte aufgenommen
Thomas Claer
Wow! Sie ist wieder ganz die Alte! Zum verstörend gespenstisch-genialen Vorgänger “White Chalk” (Justament berichtete in Heft 1-2008) setzt PJ Harvey mit “A Woman a Man Walked by” nun einen krachenden Kontrapunkt. Noch mehr als zu früheren Alben hat diesmal ihr alter Freund und Weggefährte John Parish beigetragen, u.a. die komplette Musik geschrieben, weshalb er auch verdientermaßen gemeinsam mit Polly Jean als Urheber der CD firmieren darf. Parish kann als PJs Entdecker gelten, holte er doch schon vor zwanzig Jahren die damals blutjunge Polly in seine Band “Automatic Dlamini”, von wo aus sie ihre Solo-Karriere startete. Ein Höhepunkt jener frühen Jahre war das gemeinsame Album der beiden, “Dance Hall at Louse Point” von 1996, herausragend hier wiederum der Song “City of No Sun”. Hieran knüpfen die neuen Songs an: PJ, inzwischen 40, kreischt und röhrt, gurgelt und ächzt bei den schnellen, lauten Songs. Und sie säuselt und winselt, schmeichelt und piepst bei den langsamen und leisen. John Parish, inzwischen 50, der auch die meisten Instrumente eigenhändig spielt, sorgt für den schrägen, schrillen und chaotischen, doch immer wieder überraschend melodiösen Rahmen zur Inszenierung von Polly Jeans überragender Stimme.
Schon der Opener “Black Hearted Love” packt einen mit Macht, und erst recht tun dies die raffinierten Banjoklänge von “Sixteen, Fifteen, Fourteen”. Sirenenhaft – sowohl im antik-homerischen als auch im neuzeitlich-polizeilichen Sinne – ist Polly auf “Leaving California” zu vernehmen. Und die zur Grundmelodie so seltsam entgegengesetzt verlaufenden Klavierläufe auf “The Chair” … Und die feinen, zarten Klänge von “April” und das ganz besonders tolle “The Souldier”… Es gibt praktisch keine Ausfälle – jeder Song auf dieser Platte ist eine Granate. Nicht, dass PJ Harveys eigene Kompositionen nichts taugen würden, aber das, was John Parish ihr diesmal auf den Leib komponiert hat, ist noch eine glückliche Steigerung. Hier hat sich einer, so scheint es, jahrelang viel Kreativität für seine Lieblingssängerin aufgespart. Wir genießen das Ergebnis. Das Urteil lautet: gut (13 Punkte).
PJ Harvey & John Parish
A Woman A Man Walked By
Universal Island Records 2009
Ca. € 17,-
ASIN: B001U0HBHO
Justament März 2008: Was ist das?
PJ Harvey überrascht und verstört auf “White Chalk”
Thomas Claer
Gewiss war PJ Harvey, britische Songwriterin und nebenher Bildhauerin und Lyrikerin, schon immer mit dem Wahnsinn im Bunde. Und auch an Wandlungsfähigkeit hat sie es in ihrer 15-jährigen alternativen Popkarriere nicht fehlen lassen. Das neue Album schießt hier nun aber definitiv den Vogel ab. Bei den ersten Takten des Openers “The Devil” glaubte ich zunächst an einen Irrtum der Plattenfirma. Waren das Kinderchöre? Ein Klavierspiel wie auf einer Gespenstermesse. Ein gruseliges Kinderlied also? Aber dann doch unverkennbar PJs Gesang, nur mindestens eine Oktave höher als sonst. Es wird dann später streckenweise auch wieder konventioneller, doch die Songs kommen durchgängig ohne Drums und elektrische Gitarren aus. Rein akustisch eingespielt, mit dominantem Klavier sowie Zither, Fiedel, Banjo und Klampfe instrumentiert, gelangt “White chalk” zu einer fast schon aufreizenden Intimität und Zerbrechlichkeit – um dann aber doch immer wieder zu überraschenden konzeptionellen Sprüngen anzusetzen. So versucht sich die Künstlerin im Song “To Talk To You”, wenn wir der Einschätzung des Wikipedia-Autors Glauben schenken dürfen, sogar im mongolischen Kehlkopfgesang.
Früher, auf ihren sieben Vorgängeralben, bei großzügigerer Zählweise waren es sogar neun, klang es bei ihr noch anders: Sie spielte zumeist einen schweren, oft auch harten Bluesrock, mit expressivem Gesang bis hin zu hysterischen Ausbrüchen. Wie etwa im völlig orgiastischen Song “City of No Sun” vom Album “Dance Hall at Louse Point” (1996), einem ihrer stärksten. Es folgten auch einige melodischere, fast schon poppige Ausreißer wie vor allem die irritierende CD “Stories from the City, Stories from the Sea” (2000), bis PJ Harvey mit dem Vorgängeralbum Uh Huh Her (2004) wieder beim erdigen Bluesrock ihrer Anfangsjahre angelangte. Doch nun ist bei der 38-Jährigen nichts mehr wie es war. Ihre öffentlichen Dämonenaustreibungen sind in eine völlig neue Phase gekommen. Rücksichts- und kompromisslos sprengt sie die Grenzen des Genres Rockmusik, ohne dass sich letztlich genau benennen ließe, um was es sich beim Ertrag dieses Ausbruchs eigentlich handelt. So wie white chalk, weiße Kreide, posiert Polly Jane auch auf dem Coverfoto: blass im Gesicht, im weißen Kleid, auf einer unsichtbaren Sitzgelegenheit, die Hände in den Schoß gelegt. Ein minimalistisches Konzeptalbum von großer Intensität. Das Urteil lautet: voll befriedigend (12 Punkte).
PJ Harvey
White Chalk
Island (Universal) 2007, CD, 33:59 Minuten
ca. EUR 15,00
ASIN: B000SFYUV2