Category Archives: Über Bücher

justament.de, 10.11.2025: LSD und rote Fahnen

Der fulminante historische Roman “Lila Eule” von Cordt Schnibben

Thomas Claer

Wer mit 20 kein Sozialist sei, so besagt es ein geflügeltes Wort unbekannter Herkunft, der habe kein Herz, aber wer es mit 30 immer noch sei, der habe keinen Verstand. Cordt Schnibben, namhafter langjähriger SPIEGElL-Reporter, hat beides bewiesen, indem er als zwanzigjähriger Abiturient und schwärmerischer Jungkommunist aus Bremen für ein Jahr auf einer DDR-Parteischule in Ost-Berlin Marxismus/Leninismus studierte (was ihm anschließend sogar von der Uni Bremen für sein Wirtschafts-Studium angerechnet wurde!) und 17 Jahre später dann unmittelbar nach dem Mauerfall als geläuterter Renegat quasi an seine alte Wirkungsstätte zurückkehrte und von dort exklusiv für sein Nachrichtenmagazin über die sich anbahnende Deutsche Wiedervereinigung berichtete. Nun hat er mit Anfang 70 sein bewegtes Leben zu einem Roman verarbeitet, dessen Handlung – wie er freimütig eingeräumt hat – nur zu 30 Prozent fiktiv, aber zu 70 Prozent von ihm selbst erlebt worden sei. Nicht zuletzt an diesen aus eigener Erfahrung entstandenen 70 Prozent liegt es vermutlich, dass ihm dieser Roman so überaus gut gelungen ist.

Allerdings muss ich bereits an dieser Stelle meiner Besprechung einräumen, dass mir eine “objektive Rezension” dieses Buches vollkommen unmöglich ist, da ich mich in zu vieler Hinsicht für historisch und biographisch befangen erklären muss – und das als zwei Jahrzehnte nach dem Autor in Ostdeutschland Geborener. Doch bei der Schilderung so viele Orte und Mentalitäten im Roman hat mich ein Deja vu nach dem anderen überfallen. Allein bei den ganzen Drogen-Geschichten kann ich nicht mitreden. So ziemlich alles andere aber ist mir bestens vertraut: Im titelgebenden legendären Bremer Club “Lila Eule” im Steintorviertel habe ich mir (nach unserer Übersiedlung in den Westen 1989) als Abiturient und Zivi in den frühen Neunzigern so manche Nacht um die Ohren geschlagen. Auf dem “Mädchengymnasium in Schwachhausen”, das eine der Hauptfiguren des Romans besucht, habe ich selbst mein Abitur abgelegt. (Seit 1971 stand die Schule auch männlichen Schülern offen.) Und natürlich bewegte auch ich mich dort – so wie 20 Jahre zuvor der Autor und sein Alter Ego im Roman – in Kreisen, wo sich Coolness und Ansehen in erster Linie über den eigenen ausdiffernzierten (Pop-) Musikgeschmack definierten. In Berlin wiederum wohnt die Geliebte des Protagonisten im Hochhaus Holzmarktstraße 2 am S-Bahnhof Jannowitzbrücke in Mitte, wo ich jahrelang ausgestiegen bin, um meine Studenten an der IU am Rolandufer zu unterrichteten. Noch dazu habe ich mir genau dieses Hochhaus damals sehr genau angesehen, da in ihm zu jener Zeit zwei kleine Einzimmerwohnungen zum Verkauf standen, aber irgendwann war das Angebot wieder weg. Und auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof mit den Gräbern so vieler Prominenter, wo der Roman-Protagonist wie im einschlägigen Wolf-Biermann-Song seine Geliebte trifft, bin ich ebenfalls oft gewesen. Um von meiner jugendlichen Aufgeschlossenheit für den Kommunismus und weitere Weltverbesserungsbewegungen gar nicht erst zu reden…

Doch nun endlich zum Roman selbst: Die Handlung bewegt sich – das ist der raffinierten erzählerischen Konstruktion geschuldet – abwechselnd und parallel in drei verschiedenen Zeiträumen: Mitte der Sechziger in Bremen, 1972 in Ost-Berlin und im Herbst 1989 in Berlin nach dem Mauerfall. Und sie endet bereits Anfang 1990, wo sich vieles, was dann später noch kommen wird, erst andeutet. Es geht um wilde Agentengeschichten, um ganz viel Rockmusik von den Rolling Stones und anderen, später dann auch um Techno-Musik in den maroden Kellern Ost-Berlins und die Rolle von Günter Schabowski hinter den Kulissen. Immer wieder spielen auch Drogen eine Rolle. Im Zentrum des Romans steht dennoch die unerschütterliche, nur vorübergehend erfüllte, später dann von der Stasi verhinderte Liebe des Ich-Erzählers zu Mara, einem Ost-Mädchen aus einer Parteiaristokraten-Familie. 17 Jahre nach ihrer letzten Begegnung macht er sich auf die Suche nach ihr, und erst ganz am Ende des spannungsreichen Romans kommt er ihr auf die Spur…

Alles ist so lebendig erzählt, als ob jemand, der gut schreiben kann, es selbst erlebt hätte, was ja auch weitgehend der Fall ist. Nur fragt man sich beim Lesen ständig, was wohl die 30 Prozent sein könnten, die der Verfasser dazuerfunden hat. Die fast schon innige Beziehung, die der noch junge Roman-Held an der Parteischule zu seiner strengen Dozentin Anneliese aufbaut? Hier könnte der Autor womöglich etwas übertrieben haben. Aber weiß man’s? Dass seine alten Bremer Rockmusik-Freunde später als Techno-DJs in Berlin wieder auftauchen, ist vielleicht auch nicht so ganz plausibel. Sicher erscheint nur, dass ein Referat über die Rolle von LSD im Klassenkampf an der Staatlichen Parteischule in Biesdorf tatsächlich wohl nicht erlaubt worden wäre und auch die anschließende versehentliche Einnahme dieser Substanz durch alle Beteiligten in der Wirklichkeit so wohl eher nicht passiert wäre.

Der Roman ist trotz seiner poppigen Aufmachung (mit großartigen psychedelischen Mustern und Illustrationen versehen) alles andere als oberflächlich, vielmehr tiefschürfend und facettenreich, dazu flott und anschaulich geschrieben. Und man wünscht ihm gerade in unserer aufgewühlten Gegenwart viele Leser – insbesondere auch solche aus den nachgewachsenen Generationen.

Cordt Schnibben
Lila Eule. Der Ostwest-LSD-Beatckub-Roman
Correctiv Verlag, 1. Auflage 2025
524 Seiten; 29,00 Euro
ISBN: 978-3-948013-30-1

justament.de, 27.10.2025: Die Welt des Berufsoptimisten

“Erfolgreich zeitlos investieren” von Heiko Thieme

Thomas Claer

Der Optimist beginnt seinen Tag damit, dass er sich schon beim Erwachen denkt: Ich bin satt und halbwegs gesund. Ich habe ein Dach überm Kopf. Und nun kann ich loslegen und mein Gehirn in Bewegung setzen. Ist das nicht fantastisch? Mit solch einer lebensfrohen Grundeinstellung ist dann, das lernen wir aus dem jüngst erschienenen Buch “Erfolgreich zeitlos investieren” der mittlerweile 82-jährigen Börsenlegende Heiko Thieme, nichts mehr unmöglich.

Allerdings ist es wirklich kaum zu glauben, dass Altmeister Heiko Thieme, der zeitlebens mehrere zehntausend Seiten an Artikeln, Kolumnen und Börsenbriefen verfasst hat, erst jetzt, im neunten Lebensjahrzehnt stehend, sein Debüt als Buchautor gegeben hat. Aber vermutlich hat ihm bislang einfach die Zeit dafür gefehlt. Er ist ja ständig auf Achse. Nun erhält man als Leser also endlich in komprimierter Form das, was dieser “globale Anlagestratege” als sein Erfolgsrezept bei der Geldanlage ansieht. Doch das ist, rein quantitativ gesehen, weniger, als man denken könnte. Von den rund 200 Seiten muss man zunächst noch die einleitenden und zwischendurch eingeschobenen kommentierenden Passagen seines Co-Autors Andreas Scholz in Abzug bringen, außerdem einige grundlegende Betrachtungen über die Aktienanlage an sich (an der selbstredend kein Weg vorbeiführt) sowie ein paar zig Seiten über sein Weltbild (Optimismus ist Pflicht), seine politische Einstellung (Freiheit geht über alles), seine Jahrzehnte zurückreichenden Börsen-Erlebnisse (eine Anekdote reiht sich an die nächste) und seine Hobbys (Marathonlaufen, Bergsteigen, im Kleinflugzeug fliegen, Schachspielen, Zaubertricks aufführen sowie Whisky trinken und im Keller horten).

Auf die eigentliche Anlagestrategie entfallen dann gerade einmal 80 Seiten – doch die haben es dafür wirklich in sich. Thieme erläuert hier ausführlich seine überaus durchdachte konsequent antizyklische Vorgehensweise einschließlich seiner berühmten Drei-Drittel-Strategie. Das klingt alles sehr plausibel und dürfte, wenn man sich als Privatanleger daran hält, wohl auch ganz passabel funktionieren. Allerdings ist dies natürlich nur eine von vielen denkbaren Methoden, an der Börse gewinnbringend zu agieren. Es ist ja inzwischen hinreichend wissenschaftlich untersucht worden, welche Börsenstrategien am erfolgreichsten sind: nämlich in manchen Marktphasen die einen und in anderen Marktphasen die anderen. Ein paar Jahre oder sogar Jahrzehnte lang funktionieren Value- und Dividendenstrategien am besten, dann führen diese jedoch zu Underperformance, und stattdessen bringen Wachstums- oder Trendfolgestrategien weitaus mehr ein. Manchmal sind sogar Charttechnik und technische Analyse über längere Zeiträume sehr erfolgreich. Die Crux ist nur, dass sich das alles in der Rückschau leicht feststellen lässt, aber man niemals vorher weiß, was künftig wohl am besten klappen wird. Insofern ist es auch bezeichnend, dass ein unbestrittener Könner wie Heiko Thieme als Fondsmanager in den Neunzigern dreimal für den besten, aber auch einmal für den schlechtesten Fonds des Jahres “ausgezeichnet” wurde.

Was kann man als Privatanleger also tun? Entweder man sucht sich unter den besagten Methoden diejenige aus, die einem selbst am ehesten einleuchet oder die am besten zu einem passt, und bleibt dann dabei. Besser irgendeine Strategie, als gar keine Strategie an der Börse, wird oft gesagt. Oder man kombiniert die Methoden oder nimmt mal die eine und mal die andere – oder man denkt sich selbst etwas Eigenes und Neues aus. Vieles ist möglich, aber nur allzu oft erweist sich dann rückblickend: Wie man es auch macht, macht man es verkehrt, und hinterher ist man immer klüger. Nüchtern betrachtet spricht viel dafür, dass es am wichtigsten ist, überhaupt langfristig in Aktien investiert zu sein – und sei es nur mit ganz profanen ETFs.

Seit fast anderthalb Jahrhunderten, das betont auch Heiko Thieme immer wieder, liegt die durchschnittliche Jahresperformance in den meisten Indizes inklusive Dividenden bei acht bis neun Prozent, was das anhaltende globale Wirtschaftswachstum seit Beginn der Industrialisierung spiegelt bzw. immer ein Stück über diesem liegt. Und angesichts der gegenwärtigen und erst recht auch künftig zu erwartenden revolutionären technischen Innovationen sollte doch auch auf lange Sicht mindestens soviel drin sein. Andererseits erleben wir gerade in unserer Gegenwart, wie destruktive politische Akteure im Begriff sind, den Welthandel lahmzulegen, was dann letztlich auch die Börsen beeiträchtigen würde. Doch zumindest Dauer-Optimist Heiko Thieme gibt hier Entwarnung: Selbst zwei Weltkriege und diverse Weltwirtschaftskrisen hätten die Aktienkurse bislang nicht davon abhalten können, sich letztendlich doch immer wieder zu erholen und neue Rekordstände zu erreichen. Und das werde auch in Zukunft so sein. “Denn eines ist sicher: Die Welt wird nicht untergehen. Und sollte ich mich täuschen, dann spielt es auch keine Rolle mehr.”

Bleibt nur noch kritisch anzumerken, dass sich der große und grundsympathische Heiko Thieme an einer nicht ganz unwesentlichen Stelle in seinem Buch kolossal verrechnet hat. Auf S. 74 heißt es: “Im besten Falle sollte schon bei der Geburt für jede und jeden ein Depot angelegt und dann sukzessive darin eingezahlt und die Gelder an der Börse investiert werden. Und hier kommt meine Regel für ein erfolgreiches zeitloses Investieren an der Börse: Das jeweilige Lebensjahr sollte mit 100 multipliziert werden . Dies entspricht dann dem Betrag der dann im entsprechenden Jahr angelegt werden sollte. Im 20. Lebensjahr wären das also 2.000 Euro. Im 21. Lebensjahr wäre es 2.100 Euro und so weiter. Rechnet man diese Summen hoch, so kommt man bis zur Pension – ich halte wegen der steigenden Lebenserwartung ein höheres Pensionsalter von 70 Jahren für gerechtfertigt – auf eine Gesamtsumme von rund 222.500 Euro. Nehmen wir dann nur eine durchschnittliche Performance in Höhe von 8 bis 9 Prozent pro Jahr an, dann hat dieser Anleger bis zu seiner Pension ein Gesamtvermögen von 1,25 Millionen Euro aufgebaut. Ich finde diese Zahlen immer wieder eindrucksvoll…”

Schon auf den ersten Blick ist in mir der Verdacht aufgestiegen, dass das nicht stimmen kann, denn allein die ersten 2.000 Euro im 20. Lebensjahr werden bei einem angenommenen jährlichen Wertzuwachs von 9 Prozent innerhalb von 50 Jahren zu mehr als 230.000 Euro. Und es kommen ja anschließend noch 49 weitere jährliche EInzahlungen ins Depot hinzu, die ebenfalls viele Jahre lang “arbeiten” können. Es müssen am Ende also weitaus mehr als “nur” 1,25 Millionen zusammenkommen. Mit Hilfe der KI “Le Chat” habe ich es dann mal durchgerechnet (“Perplexity” hat es nicht geschafft) und komme so auf einen Wert von 12,8 Millionen Euro (!) – und das bei den besagten wirklich sehr bescheidenen eingezahlten Summen! Welch eine Ironie, dass der oftmals als “Phantast” angesehene Heiko Thieme, der an anderer Stelle den möglichen DAX-Stand am Ende unseres Jahrhunderts korrekt auf 11 Millionen extrapoliert (S.121 ff.), hier den Zinseszinseffekt außer Acht gelassen hat. Jenen Zinseszinseffekt, den Albert Einstein als “das achte Weltwunder” bezeichnet und noch hinzugefügt hat: “Das verstehen nur die wenigsten, und alle anderen müssen es bezahlen.” Die langfristige Geldanlage in Aktien, das folgt daraus, kann also sogar noch zehnmal mehr einbringen, als selbst der Berufsoptimist Heiko Thieme es sich träumen lässt…

Alles in allem ist Heiko Thieme somit ein aufschlussreiches, anregendes und unterhaltsames Börsen-Buch gelungen, in dem auch die Schlusspointe sitzt: Die beste Investition seines Lebens? Das sei die Ehe mit seiner Frau, und seine Kinder und Enkelkinder seien die Dividenden.

Heiko Thieme
Erfolgreich zeitlos investieren. Die Anlagestrategien der Börsenlegende
Finanz Buch Verlag, 1. Auflage 2025
206 Seiten; 25,00 Euro
ISBN: 978-395972-616-0

justament.de, 11.8.2025: Eine Liebe im Kalten Krieg

Die “Fluchtnovelle” von Thomas Strässle

Thomas Claer

Ein skrupulöser Mann, der sonst nie im Leben etwas Verbotenes tun würde, findet die große Liebe seines Lebens. Doch die beiden Liebenden sind getrennt voneinander durch den “Eisernen Vorhang” der damals, Mitte der Sechzigerjahre, noch Europa in zwei miteinander verfeindete Hälften teilte. Die Protagonisten treffen sich so oft, wie die Umstände es zulassen. Doch das ist den beiden füreinander Entflammten natürlich viel zu wenig. Es ergreift ihnen, um es mit Schiller zu sagen, die Seelen mit Himmelsgewalt. Da standen sie nun und konnten nicht anders – und schmiedeten einen abenteuerlichen Fluchtplan. Das ist die überaus romantische Ausgangslage in der Fluchtnovelle” des Schweizer Autors Thomas Strässle, der darin die wahre Geschichte seiner Eltern erzählt. Oftmals sind ja die tatsächlichen Begebenheiten, jedenfalls wenn sie gut erzählt sind, noch weitaus interessanter als jede Fiktion, die leicht “zu konstruiert” wirken kann. Hier ist es so, dass sich wohl kaum jemand eine noch herzergreifendere Geschichte hätte ausdenken können. Und im Bewusstsein der Intensität seines erzählerischen Materials hat sich der Verfasser der “Fluchtnovelle” bei der literarischen Umsetzung die größtmögliche Zurückhaltung auferlegt, was seinem Werk sehr gutgetan hat. Das Geschehene spricht für sich selbst, und mit wenigen Strichen und gelegentlichen, aber vielsagenden Einschüben der damaligen Gesetzeslage gelingt es ihm sehr effektvoll, den Leser in seinen Bann zu ziehen.

Genauso sollte eine Novelle sein: eine “unerhörte Begebenheit”, kurz und knackig berichtet, auf den Punkt gebracht. Alles Übrige bleibt der Phantasie des Lesers überlassen. Hier kommt nun aber noch hinzu, dass eine große erzählerische Spannung erzeugt wird, obgleich der glückliche Ausgang der Geschichte doch schon von Anfang an feststeht. Ein Nebeneffekt sind ferner die tiefen rechtshistorischen Einblicke, die hier vermittelt werden. Minutiös wird festgehalten, auf welche Weise sich die beiden Liebenden mit ihren Handlungen (und auch schon mit ihren Vorbereitungshandlungen, ja bereits mit ihren gedanklichen Planungen) strafbar gemacht haben – sowohl nach damaligem DDR- als auch nach Schweizer Recht. Gerechtfertigt waren ihre fortwährenden Gesetzesbrüche (insbesondere Republikflucht und Urkundenfälschung) allein durch den moralischen Notstand ihrer Liebe. Und ohne Schuld handelten sie dabei natürlich auch – wegen Unzurechnungsfähigkeit aufgrund von Liebestrunkenheit.

Thomas Strässle
Fluchtnovelle
Suhrkamp Verlag, 2024
123 Seiten; 18,00 Euro
ISBN: 978-3-518-47448-8

justament.de, 3.3.2025: Der grollende Osten (3)

Wider die Ostdeutschtümelei: “Freiheitsschock” von Ilko-Sascha Kowalczuk

Thomas Claer

Ein weiteres Buch aus kundiger Feder über den ostdeutschen Schlamassel ist “Freiheitsschock” vom Berliner Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk. Zwar gibt es darin thematisch und ebenso in der Analyse der Problematik eine Menge Überschneidungen mit den beiden jüngst an dieser Stelle besprochenen Werken des Soziologen Steffen Mau (“Ungleich vereint” und “Lütten Klein”). Dennoch hat Kowalczuk ein gänzlich anderes Buch geschrieben als die beiden besagten von Mau, was vor allem an den vollkommen unterschiedlichen Temperamenten beider Verfasser liegt. Steffen Mau, der kühle Norddeutsche aus Rostock, ist – trotz seiner immer wieder aufblitzenden Freude an Pointierungen – gleichsam die Verkörperung von wissenschaftlicher Nüchternheit und Sachlichkeit, ausgefeilt in den Formulierungen und stets abgewogen im Urteil. Demgegenüber ist Ilko-Sascha Kowalczuk, der aus einer Familie ukrainischer Einwanderer in Ost-Berlin stammt, eher auf Krawall gebürstet.

Wie vermutlich niemand sonst hierzulande (zumindest nicht innerhalb der akademischen und intellektuellen Debatten) attackiert Kowalczuk seine ostdeutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger, was sich Westdeutsche nur hinter vorgehaltener Hand und andere Ostdeutsche wohl niemals trauen würden, um nicht als Nestbeschmutzer dazustehen. So bescheinigt Kowalczuk den Bewohnern Ostdeutschlands, in ihrer überwältigenden Mehrheit nicht demokratiefähig zu sein, da die Älteren unter ihnen es gar nicht und die Jüngeren es nur falsch und verzerrt von ihren Eltern am Küchentisch erlernt hätten, wie eine Demokratie funktioniert. Die Notwendigkeit des mühsamen Aushandelns politischer Kompromisse verstünden sie nicht und beklagten sich stattdessen nur darüber, dass ihre persönliche Meinung von der Politik nicht gehört würde. Auch machten die Ostdeutschen, sobald etwas in ihrem Leben nicht nach ihren Vorstellungen ablaufe, dafür regelmäßig den Staat verantwortlich. Auf den Gedanken, dass auch jede und jeder selbst für sich Verantwortung tragen sollte, kämen sie sicht, was das Resultat der jahrzehntelangen Kollektiv-Propaganda in der DDR und deren Nachwirkungen sei. Das überwiegend demokratische Wahlverhalten der Ostdeutschen in den vergangenen Jahrzehnten sei nur ein von Missverständnisen hervorgerufenes Oberflächenphänomen gewesen, wohingegen es keinesfalls überraschend sei, dass sich mittlerweile zwei Drittel der Ostdeutschen vorstellen könnten, eine autoritäre Partei zu wählen (was mehr als die Hälfte von ihnen inzwischen auch tut). Ganz falsch sei schließlich auch das immer wieder von den Westdeutschen (zumeist pflichtschuldig) vorgebrachte Lob der Ostdeutschen für deren Mut bei der friedlichen Revolution im Herbst 1989, da seinerzeit tatsächlich nur eine winzig kleine Minderheit persönliche Risiken in Kauf genommen habe, während sich die breite Masse erst als absehbar war, wer die Oberhand behalten würde, opportunistisch auf die Seite der historischen Sieger geschlagen habe.

Doch kriegen natürlich auch die Westdeutschen in ihrer Selbstgerechtigkeit ihr Fett weg, und das nicht zu knapp, insbesondere die ab 1990 neu in den Osten gezogenen Führungspersonen. Das Grundmotiv in deren späteren Erinnerungsberichten lasse sich zumeist auf den folgenden Nenner bringen: “Im Osten ist vieles anders. Die Menschen sind arbeitsam. Es war harte Arbeit zu leisten, um den Sumpf trockenzulegen. Man ist aus rein idealistischen Gründen in den Osten gegangen. Nach vielen Jahren fühlte man sich nicht nur als Wossi, sondern eigentlich als Ossi. Die Landschaft ist toll. Es gibt so viel zu entdecken. Vieles erinnerte an die fünfziger und sechziger Jahre. Die Ostler sind undankbar. Wir haben so viel Geld in den Osten gepumpt und die meckern nur. Der Osten ist mir zur Heimat geworden. Die Probleme wachsen sich aus. Die Hoffnung ist die Jugend. Die Jugend geht weg. Ich bereue es nicht, in den Osten gegangen zu sein. Im Westen hätte ich leichter Karriere machen können. Es geht nur um Leisung. Die Herkunft ist doch vollkommen egal.” (S. 118).

Überhaupt schießt Kowalczuk eigentlich unaufhörlich in alle Richtungen, dabei manchmal über das Ziel hinaus und mitunter sich selbst ins eigene Knie. Doch immer wieder trifft er auch mitten ins Schwarze. Sehr verdienstvoll ist zweifellos seine Auseinandersetzung mit den Schriften von Sahra Wagenknecht und Alice Weidel, anhand derer er aufzeigt, warum diese Demagoginnen und ihre Parteien am besten niemals in Regierungsverantwortung gelangen sollten. Was sich aber signifikant von Steffen Maus Büchern unterscheidet, ist Kowalczuks bedrohlich pessimistischer Zukunftsausblick. Während Mau aufgrund seiner soziologischen Untersuchungen zur Prognose kommt, dass die AfD in den nächsten zehn Jahren sehr wahrscheinlich nicht über 30 Prozent bei Wahlen auf Bundesebene erzielen werde, da sie zumindest im Westen ihr Potenzial bereits heute beinahe vollständig ausgereizt habe, kommt Kowalczuk aufgrund seiner historischen Studien zur These, dass Ostdeutschland wegen seiner Besonderheiten eine Art Laboratorium der Globalisierung darstelle und deshalb vielfach Entwicklungen antizipiere, die mit etwas Verzögerung später auch im Westen erfolgten. Mit diesem höchst beunruhigenden und alarmierenden Ausblick entlässt er sodann seine Leser, nicht ohne aber abschließend noch ein feuriges und durchaus pathetisches Plädoyer für die Freiheit zu halten, die ihm selbst so unendlich viel, seinen Mitbürgern in Ost (sowieso) und West (neuerdings) aber leider gar nicht (mehr) so viel bedeute.

“Freiheitsschock” ist somit insbesondere ein engagiertes Buch, eine Mischung aus Analyse, Autobiographie, Weckruf und Pamphlet, mit großem Unterhaltungswert, aber auch hohem Grusel-Faktor.

Ilko-Sascha Kowalczuk
Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute
Verlag C.H. Beck, 2024
240 Seiten: 22,00 Euro
ISBN: 978-3-406-82213-1

justament.de, 17.2.2025: Der grollende Osten (2)

“Lütten Klein” von Steffen Mau ist eins der wichtigsten Bücher über die Transformation in der Ex-DDR

Thomas Claer

Wer das jüngst an dieser Stelle hinreichend gewürdigte “Ungleich vereint” gelesen hat, ist selbstverständlich auch neugierig auf Steffen Maus bereits 2019 erschienenes Vorgängerbuch “Lütten Klein”. Dieses ebenfalls vieldiskutierte Werk nimmt den großen Umbruch im Osten am Beispiel des titelgebenden Rostocker Plattenbauviertels unter die Lupe, in welchem der Verfasser zu DDR-Zeiten aufgewachsen ist. Und “Lütten Klein” ist noch weitaus detaillierter und tiefschürfender als sein Nachfolger, vor allem aber – obwohl schon vor sechs Jahren geschrieben – gerade wieder bestürzend aktuell. Seinerzeit war noch nicht abzusehen, dass die weitgehend rechtsextreme AfD in mehreren östlichen Bundesländern zur stärksten oder beinahe stärksten politischen Kraft werden würde und diese Länder – auch durch die Erfolge des rechtslinkspopulistischen BSW – an den Rand der Unregierbarkeit gebracht werden könnten. Wer aber die Analysen von Steffen Mau studiert hat, den können diese verhängnisvollen politischen Entwicklungen keineswegs überraschen…

Aus westlicher Sicht sind die Bewohner des Ostens vor allem undankbar. Unzählige Millionen aus sauer verdienten westlichen Steuergeldern wurden in den Osten gepumpt, um dort vernünftige Strukturen aufzubauen und die nicht wettbewerbsfähigen Neubürger zu alimentieren. So weich wie in den neuen Bundesländern in die nun gesamtdeutschen Sozialsysteme ist wohl niemand im früheren Ostblock gefallen. Doch statt dafür auch nur einmal danke zu sagen, maulen und nörgeln diese Ossis in einem fort, beschweren sich über die Arroganz der “Besserwessis” und wählen nun sogar extremistische Parteien.

Aus östlicher Sicht betrachtet ergibt sich jedoch ein vollkommen anderes Bild. Eine ganze Generation wurde aus ihren gewohnten Lebenszusammenhängen gerissen, von heute auf morgen in die Arbeitslosigkeit entlassen und zu Bürgern zweiter Klasse im wiedervereinigten Land degradiert. Alles, was diese Menschen in ihrem bisherigen Leben gelernt und geleistet hatten, war nun nicht mehr gefragt. Nur ein kleiner Teil der Ostdeutschen, der mobil und flexibel war, konnte sich mit den neuen Verhältnissen arrangieren. Viele aber wurden nun nicht mehr gebraucht und in zumeist unsinnigen Umschulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen geparkt und ruhiggestellt, schließlich in den Vorruhestand abgeschoben. Für die Betreffenden, in deren Lebensmittelpunkt bis dahin ihre Berufstätigkeit gestanden hatte, war damit eine Welt zusammengebrochen und ihr Leben zerstört.

Natürlich musste damals angesichts der völlig überraschenden deutschen Wiedervereinigung alles ganz schnell gehen. Wichtige Positionen in Wirtschaft und Gesellschaft wurden daher nach der Wende im Osten fast ausschließlich mit Westimporten neu besetzt. Dies war zweifellos viel effektiver, als erst noch umständlich Einheimische für die jeweiligen Jobs auszubilden. Im Eifer des Gefechts hatte allerdings niemand daran gedacht, was es mit den Menschen einer Region macht, wenn dort plötzlich nur noch Zugewanderte den Ton angeben, wenn beinahe sämliche Führungspositionen von Zugezogenen bekleidet und die Alteingesessenen auf die Straße gesetzt werden.

Erschwerend kommt hinzu, dass der Osten vor der Wende eine reine Angestellten-Gesellschaft gewesen ist. Freies Unternehmertum gab es nur vereinzelt im Kleinstsegment. Fast niemand verfügte über größere Ersparnisse oder gar über Immobilien-Eigentum. (Und falls doch, dann waren es zumeist Häuser in ländlichen und zunehmend entvölkerten Regionen, die sich nach der Wende als unverkäuflich erwiesen.) Sehr drastisch schildert Steffen Mau, welcher Orkan der Zerstörung bestehender Strukturen in den Transformationsjahren über Ostdeutschland hinweggefegt ist. Die neu eingezogene Freiheit und Marktwirtschaft traf auf eine Population, die nicht im Geringsten darauf vorbereitet war und damit größtenteils überhaupt nicht umgehen konnte.

In Lütten Klein, dem einstigen Vorzeige-Wohngebiet der Ostsee-Metropole, dessen Bewohner zu DDR-Zeiten noch stolz darauf waren, eine der damals heiß begehrten Neubauwohnungen ergattert zu haben, war der Absturz sogar noch drastischer, denn nun hieß es plötzlich: “Man wohnt nicht mehr in der Platte”. Wer etwas auf sich hielt, suchte schnell das Weite, und übrig blieben dort bald nur noch die Abgehängten und Genügsamen.

Das Ergebnis aus all diesen jahrelangen Frustrationen lässt sich mittlerweile an den ostdeutschen Wahlergebnissen ablesen. Die Menschen im Osten sind bockig, missmutig, ressentimentgetrieben gegen alles Westliche. Sie behandeln migranische Neuankömmlinge so schlecht, wie sie selbst sich mehr als drei Jahrzehnte lang von den Westdeutschen behandelt fühlten. Sie flüchten sich aus der Wirklichkeit des Fachkräftemangels in Fantasiewelten nationaler Autarkie. Doch geht die Schere überall im Osten weiter auseinander zwischen den vielen Kleinstädten und ländlichen Gebieten auf der einen Seite, die abgehängt und in fremdenfeindlicher Selbstabschottung immer tiefer in den Abwärtsstrudel geraten, und den wenigen längst wieder aufstrebenden Großstädten auf der anderen Seite, die dank Ansiedlung von Migranten wieder wachsen und mit neu entstandenen Jobs und noch vergleichsweise günstigem Wohnraum mittlerweile so mancher West-Stadt den Rang ablaufen.

Sehr lebendig und untermalt mit vielen O-Tönen aus zu Recherchezwecken selbst geführten Interviews mit den Bewohnern schildert Steffen Mau den Werdegang “seines” Viertels in Vor- und Nachwendezeit. Trotz einiger soziologischer Fachtermini ist das Buch flüssig geschrieben und liest sich durchweg unterhaltsam. Hinzu kommt eine Vielzahl an einschlägigen Zahlen und Diagrammen, die das Werk zu einer wahren Fundgrube machen. Nur eins liefert der Autor in diesem Buch leider nicht (und in seinem besagten späteren Buch “Ungleich vereint” dann auch nur ansatzweise): Rezepte für Auswege aus der beschriebenen Malaise. Und den Leser beschleicht die düstere Ahnung, dass der ostdeutschen “Generation Wiedervereinigung” wohl nicht mehr zu helfen ist. Stattdessen muss es jetzt darauf ankommen, die von den Erzählungen ihrer Eltern kontaminierten ostdeutschen Nachwendegenerationen “abzuholen” und “mitzunehmen”, was nach Erkenntnissen der soziologischen Forschung am besten durch Studienaufenthalte der jungen Ostler in Westdeutschland gelingt, aber auch durch den Kontakt mit aus dem Westen zugezogenen Studierenden an ostdeutschen Universitäten. Je mehr Austausch zwischen den jungen Generationen in Ost und West, desto besser. Und je mehr weitere trübsinnige Abschottung der östlichen Frustrations-Kollektive, desto schlimmer.

Steffen Mau
Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft
Suhrkamp Verlag 2019
285 Seiten; 22,00 Euro
ISBN: 978-3-518-47092-3

justament.de, 27.1.2025: Der grollende Osten (1)

Steffen Mau liefert mit “Ungleich vereint” die präziseste Analyse des “Problemfelds Ost”

Thomas Claer

Da gibt es eine Gegend, die zu den wohlhabendsten Regionen Europas zählt, doch ihre Bewohner sind voller Groll, denn ihren weiter westlich lebenden Landsleuten geht es noch ein Stück weit besser als ihnen, und das nicht immer einfache Zusammenwachsen mit jenen hat bei ihnen schwere Traumata zurückgelassen, die sie offenbar auch schon an die nächste Generation witergegeben haben. Mehrere vieldiskutierte Bücher über die schwierige deutsche Einheit und den zumindest in seiner Selbstwahrnehmung noch immer problembeladenen Osten sind in den letzten Jahren erschienen. Selbstverständlich wurden sie alle – ohne Ausnahme! – von aus Ostdeutschland stammenden Autorinnen und Autoren verfasst. Denn warum sollten Westdeutsche sich mit Problemfeldern auseinandersetzen, die in ihren Augen überhaupt nicht existieren, die sie zumindest nicht als solche zu erkennen vermögen?

Die besagten Bücher wenden sich entweder gegen die Arroganz des Westens gegenüber dem Osten (Dirk Oschmann) oder gegen die Ignoranz des Ostens gegenüber der Demokratie (Ilko-Sascha Kowalczuk), oder sie erzählen die Geschichte der untergegangenen DDR noch einmal ganz anders und stark beschönigend (Katja Hoyer). Und dann ist da auch noch der aus Rostock stammende Berliner Soziologie-Professor Steffen Mau (geb. 1968), der in seinem schmalen Bändchen namens “Ungleich vereint” unaufgeregt und ausgewogen, pointiert, aber nie polemisch all das analysiert und auf den Punkt bringt, was sich in gut drei Jahrzehnten (plus DDR-Vorgeschichte) in den noch immer so genannten Neuen Bundesländern so zusammengebraut hat.

Um es gleich vorweg zu sagen: Dieses kleine Büchlein sollte unbedingt jeder gelesen haben, der ein Interesse an der Ost-Thematik mitbringt, der im Osten wohnt oder mit dem Osten und seinen Bewohnern zu tun hat. Steffen Maus zentrale These lautet: Der Osten ist in vieler Hinsicht anders als der Westen – und er wird es auch weiterhin bleiben. Damit ist zugleich gesagt, dass diese kleine Studie vermutlich noch für Jahrzehnte relevant sein wird! Die Anschaffung und Lektüre dieses Buches dürfte sich also mit großer Sicherheit voll armortisieren…

Das Buch richtet sich sowohl an Ostdeutsche, die sich über ihre Besonderheiten und ihren einheitsbedingten psychischen Knax klarwerden wollen, als auch an Westdeutsche, die wissen wollen, warum ihre ostdeutschen Brüder und Schwestern aus ihrer Sicht so seltsam sind. (“Ich möchte das Thema Ostdeutschland aus der dünkelhaften und selbstgewissen Ecke herausholen, in Ost wie in West.”, S.9) Es geht los mit dem unerwarteten Befund der Verfestigung bestehender Ost-West-Unterschiede, die man lange Zeit als nur vorübergehend angesehen hatte. Konkret wird sodann die “ausgebremste Demokratisierung” des Ostens unter die Lupe genommen. Wie konnte es passieren, dass die demokratischen Institutionen und Parteien auch nach über 30 Jahren im Osten noch alles andere als fest verwurzelt sind? Sehr aufschlussreich ist vor allem das Kapitel “Kein 1968”. Darin wird einerseits deutlich, wie tiefgreifend Westdeutschland von der anti-autoritären Generationenrevolte “von unten” seit den späten Sechzigern geprägt wurde und wie stark seine heutige hohe demokratische Kultur damit zusammenhängt. Genau dies fehlt aber andererseits dem Osten, denn es mangelt ihm an jeglichen Voraussetzungen für vergleichbare Generationen-Protestbewegungen. (“Die Älteren saßen nicht saturiert in ihren Wohn- und Amtsstuben, sondern standen oft genug in der Schlange des Arbeitsamts.”, S.64)

Die zweite Hälfte des Buches widmet sich dann ganz überwiegend der sich stattdessen vor unseren Augen im Osten abspielenden autoritären Revolte von rechtsaußen. Sehr treffend bemüht Steffen Mau hier den aus dem Versicherungswesen stammenden Begriff des “Allmählichkeitsschadens”. Mit der Zeit, angefangen von den “Baseballschlägerjahren” in den Neunzigern und ihren rechtsradikalen Vorläufern in der späten DDR über den Einzug von Neonazi-Kadern aus dem Westen in den Osten bis hin zum heutigen verstärkten Aufgreifen von Ost-Befindlichkeiten durch die AfD, hat sich über die Jahre eine trübe Melange aus Ost-Trotz, Ressentiment und Hetze so ausgebreitet, dass sie nun die Grundpfeiler von Demokratie und Rechtsstaatslichkeit anzugreifen droht. Immerhin, die gute Nachricht ist, dass die AfD im Westen (und damit auch auf Bundesebene) ihr Stimmenpotential mit 20 Prozent plus x sehr wahrscheinlich schon weitgehend ausgereizt hat. Im Osten allerdings könnte sie angesichts der dort vor allem im kleinstädtischen und ländlichen Raum stark verbreiteten antidemokratischen Misstrauenskultur sogar noch weiter wachsen. (Und gerade jene Orte, die infolge starken Einwohnerrückgangs besonders auf Zuwanderung angewiesen wären, drohen durch ihre fremdenfeindliche Abschottung in eine fatale Abwärtsspirale zu geraten.) Um so wichtiger ist es insofern, dass die vielzitierte Brandmauer nach rechtsaußen unbedingt weiter halten muss. Aber das ist leichter gesagt als umgesetzt, wenn wir es vielerorts im Osten bereits mit einer massiv “angebräunten Zivilgesellschaft” zu tun haben.

Na gut, der Rechtspopulismus und -extremismus ist derzeit leider weltweit enorm auf dem Vormarsch, weshalb womöglich gar nicht das dafür stark anfällige Ostdeutschland, sondern vielmehr das dafür kaum anfällige Westdeutschland die Besonderheit darstellt. Doch habe, so Mau, der Rechtsruck im Osten andere, nämlich eigene Ursachen. Dazu zählt z.B. auch der wahrhaft schockierende Umstand, dass unsere (allesamt im Westen erscheinenden) gehobenen Qualitätszeitungen von FAZ und Süddeutscher Zeitung bis zu SPIEGEL und ZEIT im Osten schlichtweg kaum gelesen werden. Nur zwei bis fünf Prozent ihrer Abonnenten leben in den Neuen Bundesländern! Stattdessen liest man im Osten offenbar lieber das Desinformations-Organ Berliner Zeitung oder informiert sich in den verhetzten Sozialen Netzwerken. Da muss man sich natürlich nicht wundern…

Als möglichen Ausweg aus der Misere empfiehlt Mau abschließend zur Ergänzung zum als elitär und abgehobenen wahrgenommenen Parlamentsbetrieb den forcierten Einsatz von Bürgerräten. Vielleicht würde es ja helfen.

Steffen Mau
Ungleich vereint
Suhrkamp Verlag, 2024
168 Seiten; 18,00 Euro
ISBN: 978-3-518-02989-3

justament.de, 23.12.2024: Mann der Ordnung, im Home-Office

Hans Hugo Klein über Goethe als Jurist

Thomas Claer

Längst haben wir uns mittlerweile daran gewöhnt, dass das alltägliche Leben unserer Prominenten (und oftmals auch das ganz gewöhnlicher Zeitgenossen) für ein jeweils interessiertes Publikum in allen Einzelheiten dokumentiert ist. Historisch gesehen war einer der Ersten, vermutlich sogar der Erste, über dessen Lebensführung wir auch heute noch genauestens und detailliert Bescheid wissen, der Großdichter und Multitasker Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832). Dank seinem langjährigen Vertrauten Eckermann sowie der Sammelwut der damaligen und erst recht der späteren Goethe-Forschung gibt es im 83 Jahre währenden Leben des Dichterfürsten wohl mittlerweile keine blinden Flecken mehr. So ist zuletzt sogar aus heutiger Sicht wenig Vorteilhaftes über Goethe ans Licht gekommen, nämlich dessen Missbilligung bestimmter Reformen zur Judenemanzipation in Preußen (gegenüber seinem Freund Friedrich v. Müller, dem Staatskanzler des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach).

Natürlich ist Goethes so hinlänglich dokumentiertes Leben auch eine Fundgrube für alle, die sich bestimmten Aspekten seines Wirkens auch jenseits der schönen Künste näher widmen möchten. Hierzu hat der Ex-Verfassungsrichter Hans Hugo Klein in zehn Aufsätzen für diverse juristische Festschriften eine Menge Erhellendes zusammengeragen, das nun erstmals auch in Buchform – und ergänzt um ein Zusatzkapitel über “Goethes letzte Amtshandlung” – erschienen ist. Allerdings führt der Titel dieser Aufsatzsammlung “Der Jurist Goethe” doch etwas in die Irre, denn um Goethes im engeren Sinne juristische Tätigkeit (seine vier Jahre als Rechtsanwalt, in denen er 28 Prozesse führte, ohne dabei jemals vor Gericht anwesend gewesen zu sein) geht es hier nur am Rande. Vielmehr behandelt der Band vor allem Goethes administrative Rolle im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach, u.a. als Staatsminister, Mitglied des Geheimen Collegiums (der höchsten Regierungsbehörde des Landes), leitender Oberaufseher in sämtlichen Angelegenheiten der Wissenschaft und Kultur, Direktor des Weimarer Theaters sowie Mitglied und Leiter diverser Wirtschafts- und Finanzkommissionen.

Der Hintergrund all dessen ist, dass der junge Goethe als aufstrebender Literat mit juristischer Ausbildung das Gück hatte, im zehn Jahre jüngeren Herzog (ab 1815 Großherzog) von Sachsen-Weimar-Eisenach einen großen Fan seiner Werke zu haben. Carl August holte Goethe also zu sich nach Weimar, versah ihn mit einem fürstlichen Salär und kaufte ihm ein prächtiges Stadthaus mit 18 Räumen in bester Innenstadtlage, in dem Goethe alsdann jedes Zimmer in jeweils anderen Farbtönen streichen ließ (Empfangsräume gelb, Arbeitszimmer grün, Gesellschaftsräume rot, Schlafräume weiß) und später seine immensen Sammlungen u.a. antiker Skulpturen unterbrachte. Auch für Goethes eineinhalbjährige Bildungsreise nach und durch Italien kam Carl August auf. Im Gegenzug nahm Goethe neben seiner literarischen Tätigkeit bis zu seinem Lebensende auch allerlei administrative Aufgaben im Großherzogtum wahr und stellte so seine Expertise und insbesondere auch seinen gesunden Menschenverstand in den Dienst des Großherzogs.

Goethe versah diese Ämter, wie wir aus Kleins Sammelband erfahren, stets sehr gewissenhaft und wendete viel Mühe, Kraft und Zeit für sie auf (ohne über ihnen freilich jemals sein literarisches Schaffen, seine Naturstudien oder seine privaten Korrespondenzen zu vernachlässigen). Zumeist erledigte er seine administrativen Aufgaben im häuslichen Arbeitszimmer, da sich alle erforderlichen Unterlagen stets rasch durch seine Bediensteten herbeischaffen ließen. Goethe war glänzend organisiert und gnadenlos effektiv, nutzte etwaige Wartezeiten regelmäßig zum Nachdenken über andere laufende Projekte; schließlich arbeitete er fortwährend an mehreren parallel.

In der Tagespolitik nahm Goethe, im Unterschied zu seinem für liberale Reformen aller Art zumeist aufgeschlossenen Freund und Vorgesetzten Carl August, eher den konservativen Part ein. Eine der hervorstechendsten Eigenschaften Goethes in allen Lebensbereichen war seine unbedingte Ordnungsliebe. Klein vermutet, dass Goethe die von damaligen Zeitgenossen vielfach angeprangerte Unsauberkeit im Straßenbild der Stadt Karlsruhe (offenbar hat es dort seinerzeit ähnlich ausgesehen wie heute in Berlin!) zu den folgenden Sentenzen in seinem Epos “Hermann und Dorothea” (1797) inspiriert hat:

“Sieht man am Hause doch gleich so deutlich, wes Sinnes der Herr sei, wie man, das Städtchen betretend, die Obrigkeiten beurteilt. Denn wo die Türme verfallen und Mauern, wo in den Gräben Unrat sich häufet und Unrat auf allen Gassen herumliegt, wo der Stein aus der Fuge sich rückt und nicht wieder gesetzt wird, wo der Balken verfault und das Haus vergeblich die neue Unterstützung erwartet: der Ort ist übel regieret. Denn wo nicht immer von oben die Ordnung und Reinlichkeit wirket, da gewöhnet sich leicht der Bürger zu schmutzigem Saumsal, wie der Bettler sich auch an lumpige Kleider gewöhnet.”

Als positive Gegenbeispiele für ordentliche und reinliche Städte nennt das Werk im Folgenden übrigens “Straßburg und Frankfurt und das freundliche Mannheim, das gleich und heiter gebaut ist”.

Auch wenn Kleins Goethe-Aufsätze angesichts ihrer vielen Fußnoten mitunter etwas schwer lesbar sind (anders als etwa die weniger akademisch gehaltenen Goethe-Bücher von Rüdiger Safranski oder Manfred Osten), so gewähren sie doch eine Menge hochinteressante Einblicke in ein außergewöhnliches und lückenlos erfasstes Leben vor 200 Jahren.

Hans Hugo Klein
Der Jurist Johann Wolfgang von Goethe. Eine Spurensuche in Werk und Wirken
Verlag C.H. Beck, 2024
290 Seiten; 29,95 EUR
ISBN: 978-3-406-81474-7

justament.de, 26.8.2024: Witzig ist’s, wenn jemand lacht

Sven Regeners acht Jahre alte Vorlesung über “Humor in der Literatur”erscheint als kleines Büchlein

Thomas Claer

Vermutlich um den zahlreichen Regener-Fans die Wartezeit bis zum nächsten Lehmann-Roman zu verkürzen, ist der Galiani-Verlag auf die Idee gekommen, die im Rahmen seiner Gastprofessur an der Uni Kassel bereits 2016 vom Autor gehaltene Poetik-Vorlesung “Über Humor in der Literatur” als schmales Bändchen herauszubringen. Dabei täuscht die Seitenzahl von immerhin 90 angesichts des sehr großen gewählten Schriftbilds sogar noch über den tatsächlich viel knapperen Umfang des Textes hinweg, zumal im Buch auch ein Anhang mit einer (noch älteren) Regener-Laudatio für den Kollegen Frank Schulz enthalten ist, aus der noch dazu im Hauptteil mehr als vier Seiten wörtlich zitiert werden. Aber schlimm ist das natürlich alles nicht. Auch nicht, dass auf dem Buchdeckel etwas hochtrabend von einem “kühnen Versuch über ein großes, fast unerforschtes Thema” die Rede ist. Im Gegenteil muss man froh sein, dass der Verfasser auf die zahlreichen existenten Humor-Theorien nicht weiter eingegangen ist (abgesehen von einem kurzen Exkurs zu den einschlägigen Ausdeutungen Sigmund Freuds), denn bis heute hat wohl noch niemand überzeugend darlegen können, was es mit dem Lustigen und Komischen in der Welt nun wirklich auf sich hat. Das kann selbstredend auch der Romanautor und Musiker Sven Regener nicht leisten, aber ihm gelingen in seinen knappen Annäherungen und Einkreisungen der Thematik doch einige bemerkenswerte Treffer, und das vor allem bezugnehmend auf sein eigenes Romanwerk.

Ob Humor zwingend eine, wie es bei Regener heißt, “kalte Technik, herz- und mitleidlos” sein muss, das mag man bezweifeln. Aber sein Ansatz, dass das Witzige und Lustige eine Art der Daseinsbewältigung neben mehreren anderen wie etwa Kunst oder Religion ist und den Menschen dabei hilft, sich mit ihrer Existenz mitsamt dem Wissen um ihre eigene Vergänglichkeit zu versöhnen, ist sicher nicht von der Hand zu weisen. Ebenso plausibel ist Regeners Humor-Begriff (anknüpfend an den legendären Kunstbegriff seines Romanhelden Karl Schmidt), wonach darunter schlichtweg alles fällt, was mindestens einen anderen Menschen zum Lachen bringt. Brauchbar ist ferner die Kategorisierung des Humors in die drei Spielarten übel, flach und gut, wobei sich hieran allerdings bemängeln ließe, dass damit eine moralische und eine qualitative sowie eine aus beidem gemischte Kategorie einander gegenübergestellt werden. Gut kann nämlich sowohl handwerklich gut gemacht (im Gegensatz zu schlecht oder mangelhaft gemacht) als auch moralisch gut (im Gegensatz zu böse) bedeuten. Würde man also auch noch zwischen diesen beiden Arten von gut differenzieren, ergäbe sich ein vierachsiges dreidimensionales Koordinatensystem mit den Polen moralisch gut und böse auf der einen und den Polen handwerklich gut und schlecht auf der anderen Ebene. Demnach gäbe es dann also auch handwerklich gut gemachten, aber moralisch verwerflichen Humor, etwa solchen, der sich gegen Schwächere oder Minderheiten richtet. Und es gäbe auch politisch korrekten Humor, der aber einfach nur flach ist. Am schlimmsten wäre, so gesehen, natürlich ein übler und zugleich flacher Humor, und die beste Variante wäre einer mit Niveau und zugleich tadelloser Gesinnung, wobei letztere allerdings auch nicht zu indiskret im Vordergrund stehen dürfte, denn das zöge dann wiederum das Niveau herab…

Doch zum Glück wird in Regeners Vorlesung gar nicht so viel theoretisiert, sondern auch ausführlich auf die veritable Problematik der missverstandenen Humorrezeption eingegangen. Immer liegt es ja auch maßgeblich am jeweiligen Leser, was in der Literatur als witzig empfunden und worüber aus welchen Gründen gelacht wird. Und der Autor hat darauf am Ende gar keinen Einfluss mehr. So werden etwa Leser, die in Herrn Lehmann eine verkrachte Existenz sehen und sich über sein ambitionsloses Bierzapferdasein lustig machen, womöglich aus ganz anderen Gründen beim Lesen des Romans lachen als andere Leser, die ihn von Anfang an ins Herz geschlossen und sich vielleicht in ihm wiedererkannt haben, denn letztere lachen ja dann zugleich auch über sich selbst. Und so ist anzunehmen, dass auch eher Leserinnen und Leser mit Humor und Herz zu diesem Bändchen greifen werden.

Sven Regener
Zwischen Depression und Witzelsucht: Humor in der Literatur
Galiani Verlag Berlin, 1. Aufl. 2024
90 Seiten; 14,00 Euro
ISBN: 978-3-86971-310-6

justament.de, 10.7.2023: Ruf nach der Feuerwehr

Peter Sloterdijks fulminanter Essay “Die Reue des Prometheus”

Thomas Claer

Gibt es eigentlich nicht schon mehr als genug alarmistische Publikationen zum bevorstehenden Klimawandel? Ist denn nicht längst schon wirklich alles darüber gesagt? Nun, das mag schon sein. Doch so pointiert und originell wie nun von Peter Sloterdijk, dem einstigen Enfant terrible der deutschen Philosophie, haben wir es bislang noch nicht gehört. Dabei schien Sloterdijk als Buchautor, man muss es so sagen, zuletzt schon auf dem absteigenden Ast zu sein. Nach den grandiosen “Schrecklichen Kindern der Neuzeit” (2014) mit dem überaus witzigen Kapitel über Jesus von Nazareth wurden seine Werke zuletzt zusehends verschwurbelter und fremdwortüberladener. Doch nun ist er gottlob wieder zugänglicher geworden, fast schon allgemeinverständlich. Nicht zufällig endet sein schmales Bändchen, das man beinahe ein Manifest nennen könnte, mit den an zwei prominente Kollegen angelehnten Worten: “Fire-Fighters aller Länder, dämmt die Brände ein!”

Er redet nun Tacheles, nimmt kein Blatt vor den Mund und positioniert sich politisch – nach all den Irritationen der vergangenen Jahrzehnte – nunmehr eindeutig im aufgeklärt-demokratisch-ökologischen Lager. Na gut, ein paar ironische Spitzen gegen die immer zu optimistischen Freunde des Fortschritts kann er sich auch diesmal nicht verkneifen. Aber dafür teilt er auch ordentlich aus gegen die in seinen Augen Hauptschuldigen am sich vor unseren Augen vollziehenden Weltenbrand durch Verfeuerung unserer “unterirdischen Wälder”: “Es ist eine brandstifterische Elite von Ingenieuren und interkontinental operierenden Handelsgesellschaften, die – vom Europa des späten 18. Jahrhunderts, danach von den USA ausgehend – ein weltweites Netzwerk von nahezu schicksalhaften, bis auf weiteres fast irreversiblen Energieabhängigkeiten geschaffen hat.” Vor allem adressiert er seinen Vorwurf dabei an die rohstoffreichen Länder, die keinen Millimeter von ihren unheilvollen Geschäftsmodellen abrücken wollen: “Die Vorsprecher der pyromanischen Internationale machen keinen Hehl aus ihrer Absicht, den Sektor der flüssigen und gasförmigen Brennstoffe den wachsenden Anforderungen eines zuverlässig blinden und gierigen Weltmarkts anzupassen.” Und: “Ohne Zweifel wird man die aktuellen Praktiken eines Tages, bei nahender Erschöpfung der Vorkommen, als Extraktionsverbrechen verurteilen, so wie man heute viele Aspekte des Kolonialismus verurteilt… Die Malignität des bestehenden Systems manifestiert sich besonders grell an einem rein fossil-parasitischen System wie Russland, das außer seinen flüssigen und gasförmigen Bodenschätzen nur einen einzigartigen Exportüberschuss an Lügen und gewollter Demoralisierung vorzuweisen hat.” Nimm das, Putin! (Diesen bezeichnet Sloterdijk übrigens en passant sehr treffend als “die momentan evidenteste Personifikation eines Feindes des Menschengeschlechts”.) Hinsichtlich der Araber heißt es: “Die Öl- und Gasdespotien… fürchten die Emanzipation ihrer oft noch in stammesfamiliären, gelegentlich halb sklavischen Mentalitätsverhältnissen fixierten Populationen, besonders was deren weibliche Hälften betrifft.” Und über China schreibt er: “Ein nahezu lückenloses, die Generationen übergreifendes System permanenter Gehirnwäsche generiert bei der Mehrheit der Subjekte forcierter Sinisierung eine Art von Einverständnis, zu dessen Deutung und Prognose man in die Archive einer schwarzen Sozialpsychologie zurückgehen müsste.”

Doch natürlich kriegen auch wir westlichen Wohlstandsmenschen unser Fett weg, und das nicht zu knapp: “Die in die Produktion einschießenden Exzesse an fossilen Energien des 19. und 20. Jahrhunderts trieben den Massenausstoß von Gütern in solchem Maße voran, dass aus den abhängig Beschäftigten der Industriegesellschaftsära mehr und mehr auch eine Population von Konsumenten übernotwendiger Güter werden musste… Oscar Wildes Bonmot ‘Lasst mich in Luxus schwelgen, auf das Notwendige kann ich verzichten!’ ist in den Snobismus der Massen eingegangen.” … “Eine extensive und invasive Gesundheits-, Schönheits- und Wellness-Industrie überflutet die entfalteten Freizeitgesellschaften mit weiteren Angeboten an Mitteln zur Selbstsorge und zum Selbstgenuss… Daher gleichen moderne Gesellschaften eher Konsumvereinen…” “So ergibt sich für jeden erwachsenen Angehörigen der Industriegesellschaften ein Zuschuss an disponibler Kraft, der (je nach seinem oder ihrem Aufwand an Mobilität, Reisetätigkeit, Garderobe, Wohnkultur und Tischkonsum) dem Leistungsvermögen von zwanzig bis fünfzig Haushaltssklaven entspräche, in einzelnen Fällen sehr viel mehr… Die Erwartungen in Bezug auf Teilhabe an den quasi anonym und massenhaft anströmenden Überflussgütern wurden für große Mehrheiten zu einer zweiten Natur. … An zahlreichen Erzeugnissen, auch solchen, die man inzwischen für basal hält, lässt sich ein Aspekt von Abhängigkeiten beobachten, die Analogien zum Drogenkonsum aufweisen… darstellbar an den unterschiedlichen Entzugserscheinungen bei gelegentlichem Fehlen von Nachschub…” Hinzu kommt: “Die fleischproduzierende Industrie hat sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zu einem globalen Gulag der Tiere entwickelt.” Das vierte Kapitel “Moderne Welt. Die Ausbeutungsverschiebung”, aus dem die meisten hier aufgeführten Zitate stammen, kann man als besonderen Höhepunkt von Sloterdijks Formulierungskünsten, nicht nur innerhalb dieses Buches, ansehen.

Doch wie realistisch ist es denn nun, dass die globale Klimakatastrophe noch abgewendet oder zumindest abgemildert oder auch nur ein wenig verzögert werden kann? Laut Sloterdijks Analyse hätte dazu längst den rohstoffreichen Ländern das Eigentum an ihren jeweiligen Vorräten entzogen und in die Zuständigkeit internationaler Organisationen überführt werden müssen. “Was man die Vereinten Nationen nennt, wäre eine weniger farcenhafte Organisation, wenn sie rechtzeitig die Macht gefordert und erlangt hätte, aus dem Gebot der Bewahrung des Weltbodenschatzes geltendes Recht zu schaffen.” Doch da solche radikalen Schritte derzeit kaum umsetzbar erscheinen, bleibt am Ende nur große Skepsis und das Prinzip Hoffnung, auch im Hinblick auf neue Technologien, die mit der Zeit einen sparsameren und effizienteren Energieverbrauch ermöglichen könnten. Im Schlusskapitel untersucht Sloterdijk noch die Positionen der “ökologischen Leninisten” (u.a. “Letzte Generation”) versus der “ökologischen Sozialdemokratie” und ergreift Partei für letztere.

Betrachtet man allerdings aktuell den Aufschrei in unserer ganz überwiegend in absurdem Luxus – siehe oben – schwelgenden Wohlstandsgesellschaft angesichts des von der Ampelkoalition geplanten neuen Heizungsgesetzes, dann gibt es wohl leider nicht viel Anlass zu Optimismus für einen rechtzeitigen und erfolgreichen ökologischen Umbau.

Peter Sloterdijk
Die Reue des Prometheus. Von der Gabe des Feuers zur globalen Brandstiftung
Suhrkamp Verlag 2023
79 Seiten; 12,00 Euro
ISBN: 978-3-518-02985-5

justament.de, 5.12.2022: Meerjungfrauen-Fetisch und Produktivität im Bett

Die letzten kleinen Schriften des verstorbenen Karl Heinz Bohrer sind eine fesselnde Lektüre

Thomas Claer

Dieser kleine rote Essay-Band mit „Dreizehn alltäglichen Phantasiestücken“ des großen Literaturwissenschaftlers und -kritikers Karl Heinz Bohrer (1932-2021) ist kurz nach seinem Tod erschienen und zeigt den Verfasser – man kann es nicht anders sagen – noch einmal in schriftstellerischer Bestform. Auf jeweils nur zehn bis fünfzehn Seiten widmet er sich darin ganz unterschiedlichen Themen, von der apokalyptisch anmutenden Sommerhitze auf einer Bahnfahrt von Köln nach London bis zur „Seuche von heute mit ihrem fast schon poetischen Namen Corona-Virus“. Viele der Texte sind sehr persönlich gehalten, fungieren gewissermaßen als Nachträge zu seiner zweibändigen Autobiographie und sind in der Summe eine Art von „Was ich noch sagen wollte“ geworden, wie Ex-Kanzler Helmut Schmidt vor einigen Jahren seine finalen Abhandlungen genannt hat, in denen er seinen Lesern quasi auf den letzten Metern noch einige durchaus heikle Dinge offenbarte. Dies tut nun auch Bohrer, indem er sich etwa über Freundschaften auslässt und noch einmal detailliert auf bestimmte Aspekte seiner Kindheit und Jugend zurückblickt: zum einen auf die „Kampfspiele“, d.h. seine Indianer- und Fußballbegeisterung, zum anderen auf sein sexuelles Erwachen.

Hier wird es natürlich besonders interessant, denn es passiert unendlich viel im Inneren des heranreifenden Jugendlichen, was auch in den buntesten Farben geschildert, jedoch – Spoiler – kaum jemals von entsprechenden „äußeren Ereignissen“ begleitet wird, bis der Bericht des Erzählers im Alter von 17 Jahren jählings abbricht… Karl Heinz Bohrers erste große Liebe war – wie könnte es anders sein – eine literarische Figur, genauer gesagt deren Abbildung. In seinem Märchenbuch befand sich eine hocherotische Darstellung von Hans Christian Andersens „Kleiner Meerjungfrau“, die er schon im frühen Kindesalter über lange Zeiträume hinweg mehrmals täglich ausgiebig betrachtete, dabei aber stets blitzschnell eine andere Seite aufschlug, sobald seine Mutter sein Zimmer betrat. Der Autor ist der Ansicht, dass seine lebenslange obsessive Fixierung auf weibliche Brüste letztlich aus dieser Märchenbuch-Illustration resultiere, wobei jedoch relativierend anzumerken ist, dass eine solche Vorliebe unter seinen Geschlechtsgenossen nicht gerade Seltenheitswert haben dürfte. Weitaus ungewöhnlicher ist da schon des Verfassers Begeisterung für den Fischschwanz der Meerjungfrau… Ein „reales“ Erlebnis, das ihn in jungen Jahren ähnlich tief geprägt hat, hatte er, als seine Mutter während der Abwesenheit des Vaters Besuch von einer Freundin erhielt, die dann gemeinsam mit der Mutter leicht bekleidet und Schokolade essend im Bett lag, wobei die Freundin der Mutter kurzzeitig vor dem Jungen ihre Brust entblößte… Karl Heinz Bohrers zweite große Liebe war dann einige Jahre später erneut eine Figur aus der Literatur, nämlich die feurige Gruschenka aus dem Roman „Die Brüder Karamasow“ von Fjodor Dostojewski. Bereits als Teenager schlägt ihm dann eine von ihm heiß begehrte Mitschülerin namens Helga einen gemeinsamen Waldspaziergang vor. Doch außer verstockten Gesprächen und heißen Blickwechseln geschieht dabei letztendlich nicht viel… Weitere Annäherungen an das weibliche Geschlecht verlaufen ähnlich ergebnislos.

Ein ebenfalls großartiger Text widmet sich dem Thema Schlaflosigkeit. Diese muss für einen Geistesarbeiter, anders als für gewöhnliche Menschen, die oftmals sehr darunter leiden, gar kein Unglück sein: „Denn der Schlaflose unterscheidet sich von demjenigen, der bloß ohne Schlaf bleibt, durch seine reflexive Existenz. Er denkt in der Nacht über Phänomene und Eindrücke nach, über die er in alltäglich wachem Zustand vielleicht nicht nachdenken würde.“ Dabei kann er dann sogar überaus produktiv werden und all das schon vorab druckreif konzipieren, was er dann beim eigentlichen Schreibvorgang am Folgetag nur noch aus dem Gedächtnis abzurufen braucht. Dem kann man übrigens auch als kleiner Rezensent nur beipflichten: Der überwiegende Teil des Geschriebenen entsteht auch bei einem selbst keineswegs am Schreibtisch, sondern entweder beim Warten aufs Einschlafen in der Horizontalen oder während monotoner Tätigkeiten wie Wäsche aufhängen, Spülmaschine ausräumen, Staub saugen und dergleichen. Oder in der Schlange an der Supermarktkasse. Karl Heinz Bohrer jedenfalls nennt seine in schlaflosen Nächten entstandenen Texte in Anlehnung an E.T.A. Hoffmann „Phantasiestücke“, was den Untertitel dieser kleinen Schriftensammlung erklärt.

Weitere Aufsätze behandeln die Fragen, was gute Filme und was gute Literatur ausmacht. In letzterem findet sich Bohrers ästhetische Theorie komprimiert auf wenigen Seiten: Einen besseren Einstieg in sein Gesamtwerk wird man schwerlich finden. In „Schöne, hässliche, interessante Städte“ wiederum verrät der passionierte Großstadt-Flaneur seine Präferenzen und kommt zum Befund, dass schöne Städte oftmals nicht besonders interessant, interessante Städte hingegen oft nicht besonders schön seien. „Was Berlin betrifft, so kommt eben das Interessante ins Spiel. Doch warum ist diese Stadt, manchmal schön und meistens hässlich, so interessant? (…) Wohin man auch fährt oder geht, wo immer man aussteigt – man ist konfrontiert: mit Aussichten, die das Interesse entweder in historisch-politischer oder kultureller Hinsicht wecken.“ Und ganz ähnlich geht es einem auch beim Lesen in diesem wunderbaren Büchlein: Wohin man auch blättert, es wird nie langweilig.

Karl Heinz Bohrer
Was alles so vorkommt. Dreizehn alltägliche Phantasiestücke
Suhrkamp Verlag 2021
185 Seiten; 18,00 Euro
ISBN 978-3-518-47213-2