justament.de, 12.7.2021: An der Nordseeküste
„Daheim“, der zweite Roman von Judith Hermann
Thomas Claer
Also doch wieder ein Roman. Nach ihrem von der Kritik – vorsichtig gesagt – zwiespältig aufgenommenen Roman-Erstling „Aller Liebe Anfang“ (2014) wollte es Judith Hermann, inzwischen auch schon 51, offenbar noch mal wissen, sich auch nicht auf das Image einer Immer-nur-Kurzgeschichten-Autorin festnageln lassen. Und um gleich mit dem Positiven zu beginnen: Ihr neuer Roman liest sich deutlich besser als der vorige, ist spannender und abwechslungsreicher.
Das liegt vor allem auch am Plot, der diesmal deutlich mehr hergibt: Die 47-jährige namenlose Ich-Erzählerin hat sich nach dem Auszug ihrer gerade erwachsen gewordenen Tochter von ihrem Mann getrennt, einem Messi, der die Großstadtwohnung mit allerhand Kram vollgestellt hat, den er auf der Straße gefunden hat. Sie lebt nun neuerdings in einem kleinen Ort am Meer in Norddeutschland, hat Arbeit als Kellnerin in der Kneipe ihres dort ansässigen Bruders gefunden und bewohnt ein winziges baufälliges Haus in der Einöde. Und hier macht sie Bekanntschaft mit ihrer Nachbarin, einer aus der Umgebung stammenden Künstlerin. Über sie lernt sie deren Bruder kennen, einen von seiner Ehefrau verlassenen Bauern, der an die 1000 Schweine besitzen soll, und beginnt mit ihm eine Liaison bzw. wird allmählich die Frau an seiner Seite. Wobei die Ich-Erzählerin gleichzeitig aber auch noch sehr an ihrem Ex-Mann zu hängen scheint, der seinerseits lange Briefe an sie schreibt… Parallel dazu unterhält der 60-jährige Bruder der Ich-Erzählerin, der Kneipenwirt, der früher einmal mit der Nachbarin der Erzählerin liiert gewesen ist, eine Liebesbeziehung zu einem 20-jährigen jungen Mädchen, einer ziemlich grotesken Figur, die angeblich ihre ganze Kindheit hindurch von ihrer Mutter in einer Kiste eingesperrt worden war.
Doch was bis hierhin noch vielversprechend und schlüssig klingt, enthält im Detail leider beträchtliche Ungereimtheiten. Es fängt schon an mit dem Alter der Protagonisten: Die Ich-Erzählerin, so heißt es, ist 47, ihr Bruder 60 Jahre alt. Doch später im Roman erinnern sich die Geschwister daran, wie sie als Kinder nach der Schule regelmäßig gemeinsam vor der Wohnungstür auf die Ankunft ihrer Mutter gewartet haben. Sonderlich plausibel erscheint das nicht gerade bei diesem Altersunterschied. Man fragt sich, wie viele Ehrenrunden der Bruder dann wohl gedreht haben müsste…
Der norddeutsche Ort am Meer, wo sich die Ich-Erzählerin angesiedelt hat, soll „an der Ostküste“ liegen, heißt es. Nun gibt es Ost- und Westküsten zwar in Amerika oder Korea, nicht aber in Deutschland, das nur nördliche Küsten besitzt, nämlich jene an Nord- und Ostsee. (Allenfalls im Bundesland Schleswig-Holstein ließe sich sinnvoller Weise von einer West- und einer Ostküste sprechen.) Dann wird das Kaff wohl an der Ostsee liegen, denkt man. Aber weit gefehlt: Es gibt dort, wie berichtet wird, Ebbe und Flut (was an der Ostsee niemals vorkommt), und die alteingesessenen Bewohner tragen alle friesische Namen. Also muss es doch an der Nordsee sein.
Und dann heißt es über die 20-jährige Freundin des Bruders, sie könne nicht lesen und nicht schreiben, da sie ja nie eine Schule besucht habe, sie war ja immer in der Kiste eingesperrt. Aber später wird berichtet, der Bruder, der Kneipenwirt, schreibe ihr ständig lange Textnachrichten, auf die sie entweder gar nicht oder mit Kürzeln wie OMG oder LOL antwortet. Also zumindest ein wenig lesen und schreiben können müsste sie dafür aber schon… Und es gibt im Verlauf der Romanhandlung noch weitere solcher Merkwürdigkeiten…
Aber vielleicht ist das ja gar kein „realistischer Roman“, der sich mit Kriterien der Logik beurteilen ließe? Dafür könnte sprechen, dass sich die Ich-Erzählerin zum Ende des Buches hin plötzlich fragt, ob sie „das alles“ vielleicht nur geträumt habe… Doch kann eine solche Deutung keineswegs zufriedenstellen, denn dafür ist der Roman über weite Strecken viel zu nahe am sehr realen Alltag seiner Figuren. Auch wenn sich deren Erinnerungen mitunter als widersprüchlich und unzuverlässig erweisen.
Judith Hermann, das muss man trotz allem betonen, schreibt wirklich gut. Sehr genau schildert sie Landschaft und Bebauung des Ortes und seiner Umgebung, die Verhaltensweisen der Bewohner. Und eher beiläufig geht es sogar um große Fragen: „Welche Wurzeln hast du?“, wird die Ich-Erzählerin von ihrer Nachbarin gefragt, deren Familie schon seit Generationen Land in dieser Gegend besitzt. Darüber hat die Erzählerin noch nicht nachgedacht. Sie und ihr Bruder hätten gar keine Wurzeln, ist ihre Antwort. Sie kommen, das wird zwar niemals ausgesprochen, ergibt sich aber aus ihren Eigenschaften und ihrem Verhalten, sehr wahrscheinlich aus Berlin, dem großen Moloch, und werden nun in ihrer neuen Umgebung mit den Eigenheiten der norddeutschen Landbevölkerung konfrontiert…
Vieles davon ist gekonnt und anschaulich beschrieben. Die ländliche Einsamkeit treibt die Romanfiguren zueinander, und nach ein paar Schnäpsen findet der Schweinebauer die Ich-Erzählerin dann auch hinreichend schön und begehrenswert, während sie ihrerseits schon vom ersten Moment an Feuer gefangen hat, wo doch der muskulöse Bauer mit seinen behaarten Armen so hinreißend nach Gülle und Aftershave riecht…
Punktuell ist also durchaus einiges gelungen im Roman, aber man fragt sich beim Lesen doch die ganze Zeit, wo das alles hinführen soll und wird. Und am Ende bewahrheitet sich dann auch tatsächlich die fortwährend gehegte Befürchtung, dass dies alles nirgendwohin führen könnte. Es hört plötzlich und unvermittelt auf, die Schlusspointe ist ziemlich unerheblich. Die Auflösung diverser Rätsel und Handlungsstränge bleibt die Autorin uns schuldig. Bei manchen Büchern mag so etwas in Ordnung gehen, hier aber ist es für den Leser reichlich unbefriedigend. Kurz gesagt, es ist dann also doch wieder nichts wirklich Rundes aus diesem Roman geworden.
Und so bleibt es dabei: An ihr gefeiertes Debüt „Sommerhaus, später“ (1998) kann Judith Hermann leider auch diesmal nicht anknüpfen. Gekonnt geschrieben zwar, gute Grundidee, aber erhebliche konzeptionelle Schwächen bei der Umsetzung.
Judith Hermann
Daheim. Roman
S. Fischer, 2021
191 Seiten; 21,00 Euro
ISBN 978-3-10-397035-7
www.justament.de, 16.10.2017: Eindrucksvolle Milieustudie
„Wiener Straße“ von Sven Regener
Thomas Claer
Ah, es gibt Neues von Sven Regener. „Wiener Straße“ ist der nunmehr fünfte Roman in seiner beliebten Lehmann-Reihe. Und er springt, den Nachwende-Exkurs des Vorgängers „Magical Mystery oder Die Rückkehr des Karl Schmidt“ hinter sich lassend, noch einmal zurück ins gute alte Kreuzberg im Herbst 1980 und erzählt exakt da weiter, wo „Der kleine Bruder“, sein Vorvorgänger, aufgehört hat. Denn schließlich möchte man als langjähriger Regener-Leser ja auch noch erfahren, wie der junge Frank Lehmann eigentlich zu seinem Job als Barkeeper in Erwin Kächeles Kneipe „Einfall“ gekommen ist, den er dann bis ins Wendejahr 1989 innehatte und wohl auch noch etwas darüber hinaus innegehabt haben muss – bis zu seinem späteren Aufstieg als Gesellschafter einer auf Partygastronomie spezialisierten GmbH (an der Seite von Erwin Kächele), von dem in „Magical Mystery“ beiläufig die Rede war.
Auffällig ist zunächst, dass der Roman formal neue Wege geht. Waren die ersten drei Bände noch Musterbeispiele des „personalen Erzählens“, d.h. es wurde alles ausschließlich aus der Sicht des Protagonisten Frank Lehmann geschildert, allerdings nicht in der Ich-Form, so hatten wir es in „Magical Mystery“ mit Lehmann-Kumpel Karl Schmidt als Ich-Erzähler zu tun. Nun aber wird abwechselnd die Sicht immer anderer Romanfiguren eingenommen, ohne dass es einen auktorialen (allwissenden) Erzähler gäbe, man könnte dies als multipersonales Erzählen bezeichnen. Somit ist Frank Lehmann in diesem Buch nur noch einer von vielen, die ihre jeweilige Sicht der Dinge darlegen, wenn auch stets in der Er- bzw. Sie-Form. Nacheinander kommen so Erwin Kächele (er besonders ausführlich), der Performance-Künstler H.R. Ledigt, Erwins Nichte Chrissie, deren aus Schwaben anreisende Mutter Kerstin, der Fake-Hausbesetzer P. Immel (der in Wirklichkeit Hauseigentümer ist und dessen wahrer Name Peter v. Immel lautet), sein Mitbewohner Kacki, der ZDF-Reporter Prohaska, der für ein Kulturmagazin aus dem besetzten Haus berichtet, sowie der Kunstausstellungskurator Wiemer zu Wort.
Nun wurde dem Roman vorgehalten, und zwar von keinem Geringeren als Gustav Seibt in der Süddeutschen Zeitung, dass er nur eine recht belanglose Handlung habe und allenfalls als volkstümliche Mundart-Prosa überzeugen könne. Tatsächlich wird diesmal auch der eingeborenen Berliner Bevölkerung, den „Allet frisch-Berlinern“, die u.a. als Verkäuferinnen, Polizisten und Kaffeemaschinen-Monteure auftreten, breiter Raum gewidmet („Uff jeden, sa‘ ick ma.“). Doch dürfte man diesem Buch eher gerecht werden, wenn man es nicht nur als solitäres Werk, sondern auch als Etappe in der besagten Reihe betrachtet. Es erzählt einen Teil der Vorgeschichte der liebgewonnenen Figur Frank Lehmann – und das ganze Drumherum. Wir lernen mehrere Nebenfiguren besser kennen. Kurz gesagt, wer bis hierhin alle Regener-Romane gelesen hat, wird auch von „Wiener Straße“ nicht enttäuscht sein. Ganz im Gegenteil.
Und überhaupt das damalige Leben in West-Berlin… Es ist schon eine Art Schlaraffenland gewesen, vor allem nach heutigen Maßstäben. Für ein WG-Zimmer im Altbau mitten in Kreuzberg (allerdings auch nur mit Ofenheizung) zahlte man 150 Mark. Die Stundenlöhne in der Kneipe lagen bei 8 bis 10 Mark. Heute, 37 Jahre später, schlagen sich die Gastronomie-Mitarbeiter (und nicht nur sie) mit nominal ganz ähnlichen Stundenlöhnen von 4 bis 5 Euro durch. Das WG-Zimmer kostet aber durchschnittlich 450 Euro, also das Sechsfache von damals! Und natürlich ist auch fast alles andere entsprechend teurer geworden. Wer soll da noch Zeit und Kraft z.B. für Kunst haben, wenn schon das Bestreiten des Lebensunterhalts derart kostspielig geworden ist. Seinerzeit, 1980, ging das aber noch sehr gut!
Bemerkenswert ist ferner noch die sich mit jedem Band steigernde Virtuosität des Regenerschen Satzbaus. Mitunter erinnern die ausufernden Wortkaskaden schon an Regeners heimliches Vorbild Thomas Bernhardt. Und schließlich lässt der Roman inhaltlich eine nicht ganz unbedeutende Frage offen und weckt so den Appetit des Lesers auf weitere Fortsetzungen: Wird sich die bislang nur sehr subtile Annäherung zwischen Frank Lehmann und Erwin Kächeles Nichte Chrissie weiter fortsetzen? Die Antwort gibt es, vielleicht, in ein paar Jahren.
Sven Regener
Wiener Straße
Galiani-Berlin 2017
304 Seiten; 22,00 EUR
ISBN-10: 3869711361
www.justament.de, 27.10.2014: Nichts als Erinnerung
Judith Hermann mit ihrem ersten Roman „Aller Liebe Anfang“
Thomas Claer
Es gab in den Neunzigern ein paar Bücher, die den damaligen Berlin-Hype ungemein befeuerten: „Russendisko“ von Wladimir Kaminer zum Beispiel, sicherlich auch „Herr Lehmann“ von Sven Regener. Ganz besonders galt dies aber für den schmalen Erzählungsband „Sommerhaus, später“, das Debüt der Autorin Judith Hermann, Jahrgang 1970, die nach einer euphorischen Besprechung ihres Erstlings durch Marcel Reich-Ranicki im „Literarischen Quartett“ gleichsam über Nacht zum Shooting-Star am deutschen Literaturhimmel aufstieg. Es dauerte nicht lange, da wurde Judith Hermann, deren karge, lakonische Short-Storys das Lebensgefühl junger Hauptstädter in den Jahren nach dem Mauerfall beschrieben, schon als Stimme einer neuen Schriftstellergeneration gehandelt. Doch merkte man der so Gefeierten bereits damals an, dass ihr eine solche Rolle keineswegs behagte. Und es spricht auch zunächst einmal uneingeschränkt für diese Autorin, dass sie sich in der Folge weitgehend rarmachte und nur noch in Abständen halber Jahrzehnte weitere Bücher publizierte. Auf die etwas zwiespältige Erzählungssammlung „Nichts als Gespenster“ folgte mit „Alice“ eine Art Vorstufe eines Romans: fünf miteinander in Zusammenhang stehende Erzählungen, die alle um die titelgebende Hauptfigur kreisten. Judith Hermann bewies hierin erneut ihre große Begabung dafür, Situationen mit wenigen treffenden Sätzen vor dem inneren Auge des Lesers entstehen zu lassen. Vor allem aber erwies sie sich in diesen düsteren, allesamt den Tod vertrauter Mitmenschen der Protagonistin behandelnden Kurzgeschichten als Meisterin der virtuosen Moll-Färbung.
Man sieht also, an Vorschusslorbeeren für Judith Hermanns ersten Roman „Aller Liebe Anfang“ besteht kein Mangel. Doch diesmal verstört bereits die Konstellation. Die Hauptfigur, eine 37-jährige Krankenpflegerin namens Stella, hat sich einen muskulösen Bauarbeiter geangelt, der mit ihr eine Tochter erzeugt und der jungen Familie ein Einfamilienhaus am Stadtrand gekauft hat. Dort sitzt Stella nun tagaus, tagein, bringt die Tochter morgens in den Kindergarten, holt sie am späten Nachmittag wieder ab, absolviert zwischenzeitlich mit dem Fahrrad Hausbesuche bei pflegebedürftigen Kunden in der Siedlung, macht allerlei Hausarbeiten und genießt es im Übrigen, regelmäßig auch Zeit für sich selbst zu haben, denn ihr Mann befindet sich zumeist tagelang auf irgendwelchen entfernten Baustellen. Ausgiebig telefoniert und schreibt sich Stella mit ihrer besten Freundin, die als Hausfrau und Mutter und freischaffende Künstlerin andernorts in einer ausgebauten Wassermühle lebt, während ihr Mann als Lehrer in einer Schule unterrichtet. Bis vor einigen Jahren haben die Freundinnen gemeinsam in einer WG in einem Szeneviertel einer Großstadt gelebt. Zumeist tauschen sie neben Fragen hinsichtlich der Kindererziehung nun Erinnerungen an ihre gemeinsamen alten Zeiten aus. Dieser im Buch sehr ausführlich geschilderte Alltagstrott wird durchbrochen, als Stella plötzlich und von da an täglich durch einem Stalker belästigt wird, der untypischerweise kein zurückgewiesener früherer Geliebter ist, sondern ein vereinsamter junger Mann aus der Nachbarschaft.
Viel mehr passiert nicht auf den 224 Seiten, nur dass sich die Dinge zum Ende hin noch etwas zuspitzen. Es entsteht weder eine nennenswerte Spannung beim Lesen, noch geschieht irgendetwas Überraschendes. Anders als in früheren Büchern der Autorin wird der Leser hier nicht in aufregende Welten entführt, sondern seitenlang mit dem Geschwätz von Stellas Patienten und Arbeitskolleginnen, den Albernheiten ihrer vierjährigen Tochter sowie den nicht sehr einfallsreichen Aktionen des durchgeknallten Stalkers Mr. Pfister malträtiert. Vielleicht war es ja einfach keine gute Idee, aus dem Stoff einen Roman zu machen. Möglicherweise wäre, eingedampft auf maximal ein Drittel des Umfangs, eine halbwegs passable Kurzgeschichte herausgekommen. Lag früher eine besondere Stärke Judith Hermanns in ihren punktgenauen Detailschilderungen, laufen diese jedenfalls diesmal völlig ins Leere. Wozu, so fragt man sich immer wieder, sollte man eigentlich so viel über diese Vorstadttristesse erfahren?
Nun muss man natürlich den Realitäten ins Auge sehen. Für eine Mehrheit der Deutschen, so sagen es aktuelle Umfragen, ist bis heute das Leben mit Familie und Auto in einem Einfamilienhaus am Stadtrand die bevorzugte oder angestrebte Lebensform. Immerhin kann man jener Klientel dieses Buch zum Zwecke der Abschreckung empfehlen. Alle anderen sollten besser zu „Sommerhaus, später“ oder „Alice“ greifen. Und Judith Hermann bitte künftig wieder Kurzgeschichten schreiben.
Judith Hermann
Aller Liebe Anfang. Roman
S. Fischer Verlag, 224 Seiten, 19,90 €
ISBN-13: 978-3-3100331830
Justament Okt. 2004: Böse Geister in Bonn
Die Juristin Juli Zeh schildert in ihrem zweiten Roman die Verwirrungen
pubertierender Schüler
Thomas Claer
Die Erfolgsautorin Juli Zeh – ihr Roman-Debüt “Adler und Engel” (2001) ist
mittlerweile in zwanzig Sprachen übersetzt worden – hat ein Problem, um das
man sie beneiden könnte: den Überdruss an erreichbaren Zielen, “denn was
machst du, wenn du es geschafft hast? Dann stehst du dumm da”, erläuterte
sie kürzlich in einem Interview. Daher setze sie sich grundsätzlich nur
noch Ziele, die immer etwas über dem Erreichbaren lägen. So beabsichtige
sie etwa, “das Buch zu schreiben, das alles in sich aufnimmt, was ich je zu
denken, zu sagen und zu fühlen hatte.” Mit diesem Ziel könne sie
gemütlich mit jedem neuen Versuch scheitern.
Geht’s nicht eine Nummer kleiner?
Vielleicht sollte ihr jemand den Tipp geben, es doch lieber mal eine Nummer
kleiner zu versuchen, denn ihre neue Veröffentlichung “Spieltrieb” will
nicht nur ein vielschichtiger Roman sein, was streckenweise sehr gut
gelingt, sondern auch noch explizit unser Zeitalter erklären, was den Bogen
dann aber weit überspannt und zwischen den Zeilen besser aufgehoben gewesen
wäre.
Die 15-jährige Ada ist Schülerin eines Privatgymnasiums in der alten
Bundeshauptstadt Bonn, dort Jahrgangsbeste und nicht recht ausgelastet, so
dass sie neben ihrem Schulpensum noch wöchentlich drei Werke der
Weltliteratur verschlingt. Ihren von ihr schlichtweg für dumm gehaltenen
Mitschülern bringt sie nur Verachtung entgegen – bis der charismatische,
drei Jahre ältere Halbägypter Alev in ihre Klasse kommt, dessen Charisma
sie in kürzester Zeit verfällt. Er wird als ein zeitgenössischer
Wiedergänger von Mephistopheles gezeichnet, ist impotent und spricht unter
dem halbverdauten Einfluss von Macchiavelli und Nietzsche gelegentlich
zynische Wahrheiten aus, erzählt daneben aber auch jede Menge aberwitziges
Zeug, das von Ada begierig aufgesaugt wird.
Urenkel der Nihilisten
Schließlich hat er sie so weit, dass sie sich mit umfassendstem
Körpereinsatz an der Umsetzung seines Planes, der Verführung und
anschließenden Erpressung des sympathischen Lehrers Smutek beteiligt. Als
einziges Motiv für ihr Vorgehen dient den beiden die Auslebung eines – nach
dem Ende der Begründbarkeit jeglicher Werte und Moral als alleinige
Triebfeder menschlichen Verhaltens angenommenen – Spieltriebes. Die
Pennäler wähnen sich in jugendlichem Größenwahn als Aventgarde auf dem
Weg in eine neue Epoche und als Urenkel der Nihilisten. Dafür werden sie,
als alles auffliegt, von der Jugendrichterin erstaunlich ernst genommen und
tatsächlich für die Vorhut einer künftigen gesellschaftszersetzenden
Teufelsbrut gehalten.
Hölle der Pubertät
Juli Zeh, das beweist sie hier erneut, kann schreiben. Ihre Personen, nicht
zuletzt Adas hysterische Mutter und sämtliche Lehrerfiguren, sind
überzeugend konzipiert, der Plot wohldurchdacht und spannungsreich
inszeniert. Es gelingt ihr, die Hölle Pubertät aus der ungeschminkten
Perspektive von zwei Außenseitern zu schildern, die trotz enormer
Bildungsbeflissenheit letztlich genauso ratlos vor den Schrecken des
Erwachsenwerdens stehen wie ihre oberflächlichen und konsumorientierten
Altersgenossen. Ungeachtet des nicht unerheblichen Umfangs verläuft die
Geschichte meist tempo- und ereignisreich. Selbst die manchmal sehr bemüht
und weit hergeholt wirkenden Vergleiche sowie die eine oder andere
missglückte Naturschilderung wären der Autorin nachzusehen, wenn nur nicht
dieser pathetische und bedeutungsvoll von einer herannahenden Zeitenwende
raunende Rahmen wäre. Man mag die Reflexionen der Verfasserin über Recht,
Moral und den vielfach diagnostizierten Werteverfall für begründet halten
– der plumpe Transport von ideologischer Tendenz zieht das Buch an diesen
Stellen künstlerisch in den Keller: “Wenn das alles ein Spiel ist, sind wir
verloren. Wenn nicht, erst recht.” Du lieber Himmel!
Formal orientiert sich Juli Zeh vornehmlich an den großen Romanen des 19.
Jahrhunderts, die ihr auch die ewig aktuellen Themen der
zwischenmenschlichen Beziehungen an die Hand geben, namentlich das der
Machtausübung über andere, wie es in Dostojewskis “Dämonen” behandelt
wird. Daneben fungiert als großer Stichwortgeber Robert Musil – nicht nur
mit dem fleißig debattierten “Mann ohne Eigenschaften”, sondern mehr noch
mit den “Verwirrungen des Zöglings Törleß”.
Juli Zeh – Spieltrieb. Roman
Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung Frankfurt am Main 2004
566 Seiten
EUR 24,80
ISBN 3-89561-056-9
Juli Zeh, geboren am 30.6.1974 in Bonn. 1,0-Abitur, Jurastudium in Passau
und Leipzig, 1998 erstes juristisches Staatsexamen mit der besten
Abschlussnote in Sachsen, 2003 zweites Staatsexamen. 1996 bis 2000 Studium
am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 1999 bis 2001 Juristischer
Aufbaustudiengang “Recht der Europäischen Integration (Magister,
LL.M.Eur.). Bücher: 2001 Roman “Adler und Engel”; 2002 Reisebericht “Die
Stille ist ein Geräusch – Eine Fahrt nach Bosnien”, 2002 “Recht auf
Beitritt? Ansprüche von Kandidatenstaaten gegen die Europäische Union”,
September 2004 Roman “Spieltrieb”. Diverse Kurzgeschichten und Essays.
Preise: 1999 Preis der Humboldt Universität im Beiragswettbewerb “Recht und
Wandel”; 2000 Caroline Schlegel Preis für Essayistik; 2001 Bremer
Literaturpreis; 2002 Rauriser Literaturpreis und Deutscher Bücherpreis
(bestes Debüt); 2003 Förderpreis zum Hölderlin-Preis; 2003
Ernst-Toller-Preis; 2004 Preis als Inselschreiber auf Sylt.
www.juli-zeh.de