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www.justament.de, 17.9.2018: Sommerhaus, 20 Jahre später

Justament-Autor Thomas Claer erinnert sich an Judith Hermanns gefeierten Erstling

Herbst 1998. Dieser kleine Erzählungsband einer gerade erst 28-jährigen Debütantin schlug ein wie eine Bombe. Ein seltsam verzückter Marcel Reich-Ranicki bekannte im Literarischen Quartett: „Ob das ein gutes, ein sehr gutes Buch ist, ich weiß es nicht. Aber ich weiß etwas anderes: dass wir eine neue Autorin bekommen haben und eine hervorragende Autorin. Nicht alle diese Geschichten sind gut, gewiss, aber es sind etwa vier, fünf, die mir ungewöhnlich scheinen… Der zentrale Satz dieses Buches lautet, und dieser Satz hat mich verblüfft, er scheint mir ungeheuerlich. Ich habe diesen Satz so noch nicht gelesen: ‚Glück ist immer der Moment davor.‘ Ein ganz erstaunlicher Satz. Und davon erzählen diese Geschichten…“ Sein Kollege Hellmuth Karasek glaubte, den „Sound einer neuen Generation“ zu hören und erkannte „neue Landschaften in der Literatur, neue Realitäten, auf die wir gewartet haben, und die es so dargestellt noch nicht gegeben hat.“ Nur Frau Löffler hatte wie üblich etwas zu bekritteln („Ein sehr eng umschriebenes Milieu, ein überschaubares Ambiente“).

Tags darauf kaufte ich mir das Buch in der Bielefelder Universitätsbuchhandlung und begann sofort zu lesen. Es war ganz nach meinem Geschmack. Die Geschichten spielten in einer Welt, die mir fremd war, aber gerade dadurch eine große Anziehungskraft auf mich ausübte. Waren wir damals eigentlich schon auf dem Sprung nach Berlin? Jedenfalls hat wohl auch dieses Buch dazu beigetragen, vier Jahre später endlich diesen Schritt zu wagen. Eine tiefe Melancholie durchzieht diese Erzählungen; ihr besonderer Zauber liegt in der sprachlichen Verknappung und den vielfältigen zarten Andeutungen. Nun ist es eine Binsenweisheit, dass jeder Leser eines Buches jeweils ein anderes Buch liest. Doch diese Geschichten mit ihren vielen Leerstellen fordern die Phantasie des Lesers auf besondere Weise heraus. Die Tragik dieser Autorin liegt darin, dass sie in ihren späteren Veröffentlichungen niemals wieder auch nur annähernd dieses hohe erzählerische Niveau erreichen konnte. (So ist das, wenn eine junge, hoffnungsvolle Autorin durch die Verwertungsmühlen des Literaturbetriebs gedreht wird.) Doch ändert dies – auch im Rückblick nach zwei Jahrzehnten – nichts am einzigartigen Rang von „Sommerhaus, später“.

Es versteht sich von selbst, dass man bei erneuter Lektüre mit großem zeitlichen Abstand wiederum ein anderes Buch liest. Besonders aufgefallen ist mir erst jetzt die – eigentlich sehr traditionelle – Immobilien-Metaphorik, vor allem in der Titelgeschichte. „Riesig und fremd und schön“ wirken die Häuser in der Frankfurter Allee auf die Ich-Erzählerin. Sie hat den Blick der jungen West-Berliner jener Zeit, denen sich neben ihrer alten Stadt plötzlich und unerwartet eine andere, neue geöffnet hat, die es zu entdecken gilt. Der junge, schöne (aus dem Osten stammende!) Taxifahrer, der die Ich-Erzählerin immer wieder durch die Frankfurter Allee kutschiert, während sie Massive Attack hören, versucht einiges, um ihre Liebe zu gewinnen. In ihrer freizügigen Künstler-Clique fühlt er sich nie so richtig wohl. Obwohl es hinsichtlich ihrer Freundinnen heißt: „Er vögelte sie alle“, ist es am Ende doch nur die Ich-Erzählerin, die ihm etwas bedeutet. Schließlich geht er aufs Ganze und kauft – nur für sie! – ein verfallenes Sommerhaus in Brandenburg, um ihr darin gewissermaßen ein Nest zu bauen. Kaufpreis: 80.000 Mark. („Woher hast du 80.000 Mark??“ „Du stellst die falschen Fragen.“) Sie muss nur noch einziehen. Aber ihr geht das zu schnell. Monatelang lässt sie alle seine Postkarten unbeantwortet; wenn aber mal einen Tag keine kommt, ist sie enttäuscht. „Später“, denkt sie. Am Ende hat sie zu hoch gepokert, und die Katastrophe nimmt ihren Lauf. Oder liegt gerade hierin der ultimative Liebesbeweis?

Ebenfalls um ein Sommerhaus geht es in der Erzählung „Diesseits der Oder“, die mir schon damals besonders gefallen hat. Ein 47-jähriger Berliner Drehbuchautor verbringt die warme Jahreszeit mit Frau und kleinem Kind im Oderbruch. „Alles Schwachsinn. Er reibt sich die Augen und fühlt sich müde. Die Zeiten, in denen er jedermann: ‚Was denkst du?‘ und ‚Was machst du?‘ gefragt hat, sind vorbei. Koberling kann sich nicht vorstellen, diese Fragen überhaupt je gestellt zu haben. Widerliche, fast peinvolle Erinnerung an nächtelanges Kneipenhocken, an Idealaustausch, Illusionszertrümmerung, emporgezüchtete Gemeinschaftlichkeit. Verlogen alles, denkt Koberling.“ Und: „Liegenbleiben. Einfach liegenbleiben, im Erschöpfungszustand, in der Schaukel zwischen Wachen und Träumen. Niemals hat er sich am Morgen, nach achtstündigem Schlaf, erfrischt und ausgeruht gefühlt. Immer erschöpft. Früher, in den Nächten in seiner Einzimmerwohnung, Berlin und Winter, war er eingeschlafen mit einem Grauen vor all den Tagen, Monaten, Jahren, die da noch auf ihn warteten. Eine Zeit. Eine Zeit, die ausgefüllt, besiegt, zunichte gemacht werden musste. Dann kam Constanze…“ Einen solch tiefen Blick eines so jungen schreibenden Menschen in die Seele seiner literarischen Figuren gab es wohl zuletzt 1901, als Thomas Mann 25-jährig die „Buddenbrooks“ verfasste…

Die vielleicht verstörendste Geschichte in „Sommerhaus, später“ ist „Sonja“. Beim erneuten Lesen konnte ich mich kaum noch an irgendwelche Einzelheiten der Handlung erinnern, und schon gar nicht an das Ende, dafür aber sehr genau an die Atmosphäre: Berlin der Nachwendezeit, verfallene Häuser, riesige Altbauwohnungen mit Kohleofenheizungen, Partys mit Tom Waits-Beschallung und absonderlichen Gesprächen unter absonderlichen Menschen. Ein Künstler, dessen Leben anfangs in ruhigen Bahnen verläuft, trifft auf eine kleine exzentrische junge Dame, die sich beharrlich in sein Leben drängt und ihn schließlich emotional von sich abhängig macht…

Und schließlich spielt noch eine der Geschichten weit weg von Berlin, auf einer Karibikinsel, wo zwei Freundinnen zusammensitzen. „Das Spiel heißt ‚Sich-so-ein-Leben-vorstellen‘, es hat keine Regeln. Man kann es spielen, wenn man auf der Insel abends bei Brenton sitzt, man sollte zwei, drei Zigaretten rauchen und Rum-Cola trinken…“ Von diesen kleinen, feinen, so sehr dem damaligen Zeitgeist verhafteten und dennoch ganz zeitlosen Erzählungen kann man sich immer wieder aufs Neue bezaubern lassen.

Judith Hermann
Sommerhaus, später
Fischer Taschenbuchverlag
192 Seiten; 12,00 Euro
ISBN: 978-3-596-14770-0

www.justament.de, 22.8.2016: Kinder, Kinder

Der Erzählungsband „Lettipark“ von Judith Hermann

Thomas Claer

LettiparkNeue Kurzgeschichten von Judith Hermann? Sieben Jahre nach ihrem letzten Erzählungsband und zwei Jahre nach ihrem verunglückten Roman-Debüt, das wir ihr längst verziehen haben? Da freut man sich doch gleich und beginnt erwartungsvoll zu lesen. Aber schnell merkt man, dass die Judith Hermann von 2016 nicht mehr jene von 1998 ist, die uns seinerzeit in „Sommerhaus, später“ mit dem „Sound einer neuen Generation“ betörte. (Womöglich ließe sich in diesem Zusammenhang auch von der „Generation Berlin“ sprechen, denn nicht wenige von uns sind damals sozusagen mit diesem Buch im Gepäck – gleich neben Sven Regeners „Herr Lehmann“ und Wladimir Kaminers „Russendisko –  in die Hauptstadt gezogen, auf der Suche nach dem wilden Leben in der noch unfertigen Metropole.) Inzwischen jedoch ist mit der Autorin auch das Personal ihrer Erzählungen um fast zwei Jahrzehnte gealtert, was nicht unbeträchtliche Spuren hinterlassen hat.
Nun sind die insgesamt 17, allesamt recht kurzen Geschichten dieses Buches sowohl inhaltlich als auch personell sehr heterogen. (Stilistisch sind sie es nicht unbedingt, dafür aber qualitativ.) Judith Hermanns Ich-Erzähler schlüpfen in die unterschiedlichsten Charaktere, sind mal männlich, mal weiblich, mal arm, mal gut situiert. Doch sind sie fast alle verheiratet und haben Kinder, manche sind geschieden und leben in Patchwork-Familien. Überhaupt dreht sich bei ihnen fast alles um den Nachwuchs. Wo bleiben da, so fragt man sich, die vielen Singles, die fast 50 Prozent kinderlosen Akademiker? Nun, auch sie treten vereinzelt auf, etwa als besessene Frau mit fanatischem Kinderwunsch, die schließlich ein russisches Kind adoptiert, woraufhin ihr Lebensgefährte sich fragt, ob er nicht besser die Reißleine ziehen sollte. Es liegt wohl auch daran, dass Leute mit Kindern meistens nur Leute mit Kindern kennen und Kinderlose meistens nur Kinderlose. Problematisch daran ist allein, dass die häufige Fixierung auf Kinder und Jugendliche diesen Geschichten nicht unbedingt guttut. Marcel Reich Ranicki muss es wohl geahnt haben, als er Judith Hermann nach ihren ersten Erfolgen mit den Worten warnte: „Bekommen Sie bloß kein Kind. Dann werden Sie nie wieder ein gutes Buch schreiben!“
Eine Geschichte, „Papierflieger“, die von einer alleinerziehenden Mutter und ihrem Freund handelt, den sie aber nur zum Aufpassen auf den Kleinen gebrauchen kann und will, ist trotzdem richtig gut geworden. Die kleinen poetischen Momente des Lebens vermag diese Autorin manchmal sehr gut einzufangen, mitunter auch die großen existentiellen wie in der Titel-Erzählung „Lettipark“, wo die Protagonistin zufällig an der Supermarktkasse eine alte Bekannte trifft – und alles, was früher einmal gewesen ist, kommt wieder in ihr hoch. Was Judith Hermann nicht so gut kann, ist das Setzen von Schluss-Pointen, mit denen sie jedenfalls in diesem Band regelrecht auf Kriegsfuß steht. Manche Geschichten werden durch ihr schwaches Ende regelrecht ruiniert. Ansonsten wird in diesen Erzählungen viel gereist, dafür aber – in krassem Gegensatz zu früher – fast gar nicht mehr geraucht. Geblieben jedoch ist die Melancholie, die über allen Geschichten liegt. Lachen musste ich beim Lesen nur ein einziges Mal, als die Ich-Erzählerin von einem gesprächigen Freund berichtete. Beim Telefonat mit diesem legte sie zwischenzeitlich den Hörer beiseite, um den Geschirr-Abwasch zu erledigen. Als sie ihn wieder aufnahm, redete ihr Freund noch immer munter weiter und hatte die längere Abwesenheit des Gegenübers gar nicht bemerkt. Kam mir irgendwie bekannt vor.

Judith Hermann
Lettipark. Erzählungen
Fischer Verlag Frankfurt a. M. 2016
187 Seiten, 18,99 EUR
ISBN: 978-3-10-002493-0

www.justament.de, 27.10.2014: Nichts als Erinnerung

Judith Hermann mit ihrem ersten Roman „Aller Liebe Anfang“

Thomas Claer

judith-hermann-coverEs gab in den Neunzigern ein paar Bücher, die den damaligen Berlin-Hype ungemein befeuerten: „Russendisko“ von Wladimir Kaminer zum Beispiel, sicherlich auch „Herr Lehmann“ von Sven Regener. Ganz besonders galt dies aber für den schmalen Erzählungsband „Sommerhaus, später“, das Debüt der Autorin Judith Hermann, Jahrgang 1970, die nach einer euphorischen Besprechung ihres Erstlings durch Marcel Reich-Ranicki im „Literarischen Quartett“ gleichsam über Nacht zum Shooting-Star am deutschen Literaturhimmel aufstieg. Es dauerte nicht lange, da wurde Judith Hermann, deren karge, lakonische Short-Storys das Lebensgefühl junger Hauptstädter in den Jahren nach dem Mauerfall beschrieben, schon als Stimme einer neuen Schriftstellergeneration gehandelt. Doch merkte man der so Gefeierten bereits damals an, dass ihr eine solche Rolle keineswegs behagte. Und es spricht auch zunächst einmal uneingeschränkt für diese Autorin, dass sie sich in der Folge weitgehend rarmachte und nur noch in Abständen halber Jahrzehnte weitere Bücher publizierte. Auf die etwas zwiespältige Erzählungssammlung „Nichts als Gespenster“ folgte mit „Alice“ eine Art Vorstufe eines Romans: fünf miteinander in Zusammenhang stehende Erzählungen, die alle um die titelgebende Hauptfigur kreisten. Judith Hermann bewies hierin erneut ihre große Begabung dafür, Situationen mit wenigen treffenden Sätzen vor dem inneren Auge des Lesers entstehen zu lassen. Vor allem aber erwies sie sich in diesen düsteren,  allesamt den Tod vertrauter Mitmenschen der Protagonistin behandelnden Kurzgeschichten als Meisterin der virtuosen Moll-Färbung.
Man sieht also, an Vorschusslorbeeren für Judith Hermanns ersten Roman „Aller Liebe Anfang“ besteht kein Mangel. Doch diesmal verstört bereits die Konstellation. Die Hauptfigur, eine 37-jährige Krankenpflegerin namens Stella, hat sich einen muskulösen Bauarbeiter geangelt, der mit ihr eine Tochter erzeugt und der jungen Familie ein Einfamilienhaus am Stadtrand gekauft hat. Dort sitzt Stella nun tagaus, tagein, bringt die Tochter morgens in den Kindergarten, holt sie am späten Nachmittag wieder ab, absolviert zwischenzeitlich mit dem Fahrrad Hausbesuche bei pflegebedürftigen Kunden in der Siedlung, macht allerlei Hausarbeiten und genießt es im Übrigen, regelmäßig auch Zeit für sich selbst zu haben, denn ihr Mann befindet sich zumeist tagelang auf irgendwelchen entfernten Baustellen. Ausgiebig telefoniert und schreibt sich Stella mit ihrer besten Freundin, die als Hausfrau und Mutter und freischaffende Künstlerin andernorts in einer ausgebauten Wassermühle lebt, während ihr Mann als Lehrer in einer Schule unterrichtet. Bis vor einigen Jahren haben die Freundinnen gemeinsam in einer WG in einem Szeneviertel einer Großstadt gelebt. Zumeist tauschen sie neben Fragen hinsichtlich der Kindererziehung nun Erinnerungen an ihre gemeinsamen alten Zeiten aus. Dieser im Buch sehr ausführlich geschilderte Alltagstrott wird durchbrochen, als Stella plötzlich und von da an täglich durch einem Stalker belästigt wird, der untypischerweise kein zurückgewiesener früherer Geliebter ist, sondern ein vereinsamter junger Mann aus der Nachbarschaft.
Viel mehr passiert nicht auf den 224 Seiten, nur dass sich die Dinge zum Ende hin noch etwas zuspitzen. Es entsteht weder eine nennenswerte Spannung beim Lesen, noch geschieht irgendetwas Überraschendes. Anders als in früheren Büchern der Autorin wird der Leser hier nicht in aufregende Welten entführt, sondern seitenlang mit dem Geschwätz von Stellas Patienten und Arbeitskolleginnen, den Albernheiten ihrer vierjährigen Tochter sowie den nicht sehr einfallsreichen Aktionen des durchgeknallten Stalkers Mr. Pfister malträtiert. Vielleicht war es ja einfach keine gute Idee, aus dem Stoff einen Roman zu machen. Möglicherweise wäre, eingedampft auf maximal ein Drittel des Umfangs, eine halbwegs passable Kurzgeschichte herausgekommen. Lag früher eine besondere Stärke Judith Hermanns in ihren punktgenauen Detailschilderungen, laufen diese jedenfalls diesmal völlig ins Leere. Wozu, so fragt man sich immer wieder, sollte man eigentlich so viel über diese Vorstadttristesse erfahren?
Nun muss man natürlich den Realitäten ins Auge sehen. Für eine Mehrheit der Deutschen, so sagen es aktuelle Umfragen, ist bis heute das Leben mit Familie und Auto in einem Einfamilienhaus am Stadtrand die bevorzugte oder angestrebte Lebensform. Immerhin kann man jener Klientel dieses Buch zum Zwecke der Abschreckung empfehlen. Alle anderen sollten besser zu „Sommerhaus, später“ oder „Alice“ greifen. Und Judith Hermann bitte künftig wieder Kurzgeschichten schreiben.

Judith Hermann
Aller Liebe Anfang. Roman
S. Fischer Verlag, 224 Seiten, 19,90 €
ISBN-13: 978-3-3100331830