Die Juristin Juli Zeh schildert in ihrem zweiten Roman die Verwirrungen
pubertierender Schüler
Thomas Claer
Die Erfolgsautorin Juli Zeh – ihr Roman-Debüt “Adler und Engel” (2001) ist
mittlerweile in zwanzig Sprachen übersetzt worden – hat ein Problem, um das
man sie beneiden könnte: den Überdruss an erreichbaren Zielen, “denn was
machst du, wenn du es geschafft hast? Dann stehst du dumm da”, erläuterte
sie kürzlich in einem Interview. Daher setze sie sich grundsätzlich nur
noch Ziele, die immer etwas über dem Erreichbaren lägen. So beabsichtige
sie etwa, “das Buch zu schreiben, das alles in sich aufnimmt, was ich je zu
denken, zu sagen und zu fühlen hatte.” Mit diesem Ziel könne sie
gemütlich mit jedem neuen Versuch scheitern.
Geht’s nicht eine Nummer kleiner?
Vielleicht sollte ihr jemand den Tipp geben, es doch lieber mal eine Nummer
kleiner zu versuchen, denn ihre neue Veröffentlichung “Spieltrieb” will
nicht nur ein vielschichtiger Roman sein, was streckenweise sehr gut
gelingt, sondern auch noch explizit unser Zeitalter erklären, was den Bogen
dann aber weit überspannt und zwischen den Zeilen besser aufgehoben gewesen
wäre.
Die 15-jährige Ada ist Schülerin eines Privatgymnasiums in der alten
Bundeshauptstadt Bonn, dort Jahrgangsbeste und nicht recht ausgelastet, so
dass sie neben ihrem Schulpensum noch wöchentlich drei Werke der
Weltliteratur verschlingt. Ihren von ihr schlichtweg für dumm gehaltenen
Mitschülern bringt sie nur Verachtung entgegen – bis der charismatische,
drei Jahre ältere Halbägypter Alev in ihre Klasse kommt, dessen Charisma
sie in kürzester Zeit verfällt. Er wird als ein zeitgenössischer
Wiedergänger von Mephistopheles gezeichnet, ist impotent und spricht unter
dem halbverdauten Einfluss von Macchiavelli und Nietzsche gelegentlich
zynische Wahrheiten aus, erzählt daneben aber auch jede Menge aberwitziges
Zeug, das von Ada begierig aufgesaugt wird.
Urenkel der Nihilisten
Schließlich hat er sie so weit, dass sie sich mit umfassendstem
Körpereinsatz an der Umsetzung seines Planes, der Verführung und
anschließenden Erpressung des sympathischen Lehrers Smutek beteiligt. Als
einziges Motiv für ihr Vorgehen dient den beiden die Auslebung eines – nach
dem Ende der Begründbarkeit jeglicher Werte und Moral als alleinige
Triebfeder menschlichen Verhaltens angenommenen – Spieltriebes. Die
Pennäler wähnen sich in jugendlichem Größenwahn als Aventgarde auf dem
Weg in eine neue Epoche und als Urenkel der Nihilisten. Dafür werden sie,
als alles auffliegt, von der Jugendrichterin erstaunlich ernst genommen und
tatsächlich für die Vorhut einer künftigen gesellschaftszersetzenden
Teufelsbrut gehalten.
Hölle der Pubertät
Juli Zeh, das beweist sie hier erneut, kann schreiben. Ihre Personen, nicht
zuletzt Adas hysterische Mutter und sämtliche Lehrerfiguren, sind
überzeugend konzipiert, der Plot wohldurchdacht und spannungsreich
inszeniert. Es gelingt ihr, die Hölle Pubertät aus der ungeschminkten
Perspektive von zwei Außenseitern zu schildern, die trotz enormer
Bildungsbeflissenheit letztlich genauso ratlos vor den Schrecken des
Erwachsenwerdens stehen wie ihre oberflächlichen und konsumorientierten
Altersgenossen. Ungeachtet des nicht unerheblichen Umfangs verläuft die
Geschichte meist tempo- und ereignisreich. Selbst die manchmal sehr bemüht
und weit hergeholt wirkenden Vergleiche sowie die eine oder andere
missglückte Naturschilderung wären der Autorin nachzusehen, wenn nur nicht
dieser pathetische und bedeutungsvoll von einer herannahenden Zeitenwende
raunende Rahmen wäre. Man mag die Reflexionen der Verfasserin über Recht,
Moral und den vielfach diagnostizierten Werteverfall für begründet halten
– der plumpe Transport von ideologischer Tendenz zieht das Buch an diesen
Stellen künstlerisch in den Keller: “Wenn das alles ein Spiel ist, sind wir
verloren. Wenn nicht, erst recht.” Du lieber Himmel!
Formal orientiert sich Juli Zeh vornehmlich an den großen Romanen des 19.
Jahrhunderts, die ihr auch die ewig aktuellen Themen der
zwischenmenschlichen Beziehungen an die Hand geben, namentlich das der
Machtausübung über andere, wie es in Dostojewskis “Dämonen” behandelt
wird. Daneben fungiert als großer Stichwortgeber Robert Musil – nicht nur
mit dem fleißig debattierten “Mann ohne Eigenschaften”, sondern mehr noch
mit den “Verwirrungen des Zöglings Törleß”.
Juli Zeh – Spieltrieb. Roman
Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung Frankfurt am Main 2004
566 Seiten
EUR 24,80
ISBN 3-89561-056-9
Juli Zeh, geboren am 30.6.1974 in Bonn. 1,0-Abitur, Jurastudium in Passau
und Leipzig, 1998 erstes juristisches Staatsexamen mit der besten
Abschlussnote in Sachsen, 2003 zweites Staatsexamen. 1996 bis 2000 Studium
am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 1999 bis 2001 Juristischer
Aufbaustudiengang “Recht der Europäischen Integration (Magister,
LL.M.Eur.). Bücher: 2001 Roman “Adler und Engel”; 2002 Reisebericht “Die
Stille ist ein Geräusch – Eine Fahrt nach Bosnien”, 2002 “Recht auf
Beitritt? Ansprüche von Kandidatenstaaten gegen die Europäische Union”,
September 2004 Roman “Spieltrieb”. Diverse Kurzgeschichten und Essays.
Preise: 1999 Preis der Humboldt Universität im Beiragswettbewerb “Recht und
Wandel”; 2000 Caroline Schlegel Preis für Essayistik; 2001 Bremer
Literaturpreis; 2002 Rauriser Literaturpreis und Deutscher Bücherpreis
(bestes Debüt); 2003 Förderpreis zum Hölderlin-Preis; 2003
Ernst-Toller-Preis; 2004 Preis als Inselschreiber auf Sylt.
www.juli-zeh.de