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justament.de, 12.5.2025: “An der Schwelle zu einem autoritären Zeitalter”

Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk im Gespräch am 80. Jahrestag des Zweiten Weltkkriegsendes, Teil 1

Es ist Feiertag in Berlin, und das nur in Berlin. Kein Mensch arbeitet heute hier. Nur der Historiker und streitbare Publizist Ilko-Sascha Kowalczuk ist uns zum Interview zugeschaltet. Er ist bestens gelaunt, trotz all der wenig erfreulichen Dinge, die er uns gleich erzählen wird.

ISK: Wir haben 45 Minuten Zeit.

Kriegen wir hin. Erste Frage: Warum wird die weitgehend rechtsextreme Partei AfD – inzwischen kann man ja sogar sagen: die gesichert rechtsextremistische Partei AfD – in Ostdeutschland fast doppelt so viel gewählt wie in Westdeutschland?

ISK: Also ich sage schon seit Jahren, dass das eine faschistische Partei ist. Und in jeder faschistischen Partei gibt es auch Leute, die keine Faschisten sind. Also insofern ist das für mich keine neue Erkenntnis, die der Verfassungsschutz jetzt offizialisiert hat. In Ostdeutschland sind mehrere Dinge zu berücksichtigen, die sich unterscheiden vom Westen. Der Faschismus und rassistische Ideologien siedeln dort nicht am Rand der Gesellschaft, sondern in der Mitte der Gesellschaft, und zwar seit vielen Jahren und Jahrzehnten. Das ist eine Mainstreamkultur. In Ostdeutschland ist der Rassismus viel stärker ausgeprägt. Er ist auch viel aggressiver und offensiver dort vorhanden. Das alles hängt mit einer nicht geleisteten gesellschaftlichen Aufarbeitung des Nationalsozialismus zusammen, mit einer nicht die Gesellschaft erreicht habenden Aufarbeitung des Kommunismus. Das hängt mit den Erfahrungen in der Transformationszeit zusammen, also dem Übergang vom Kommunismus zur Bundesrepublik. Mit den Erfahrungen, die die Menschen dort millionenfach machen mussten und die sie in der Konsequenz vom westlichen Liberalismus, vom westlichen System haben abrücken lassen. Und deswegen gibt es heute einen großen Hass auf den Westen, auf das westliche politische System. Und das äußert sich unter anderem in der Zuwendung zur faschistischen AfD und in der Zuwendung zum Bündnis Sahra Wagenknecht. Für mich sind Sahra Wagenknecht und AfD zwei Seiten einer Medaille, und beide sind kremltreue Parteien, die die Narrative aus Moskau übernehmen und sich insofern dort mit Russland gemein machen nach dem Motto: Der Feind meines Feindes ist mein Freund.

Ganz kurze Zwischenfrage: Wie ist Ihre aktuelle Einschätzung zum Bündnis Sahra Wagenknecht? Sind die jetzt nach dem Nichteinzug in den Bundestag und diversen internen Querelen in einzelnen Bundesländern “weg vom Fenster”? Oder werden sie noch mal zurückkommen?

ISK: Also das kann gegenwärtig keiner so richtig sagen. Wir beobachten ja mit großem Interesse, dass die Linkspartei gerade so ein erstaunliches Revival erfährt. Die haben gerade heute verkündet, dass sie einen neuen Mitgliederrekord in den letzten 20 Jahren aufgestellt haben. Also die haben einen ungebrochenen Zulauf. Zugleich haben sie in den letzten Wochen seit dem erstaunlichen Erfolg bei den Bundestagswahlen ihre Rhetorik enorm verschärft, viel stärker linksradikale Töne anschlagend nach dem Motto: Wir wollen das System überwinden. Das ist ja auch eine Losung von Bündnis Sahra Wagenknecht, allerdings aus einer ganz anderen Richtung. Und insofern ist jetzt gerade meines Erachtens ein bisschen offen, wer sich da gegenseitig das Wasser abgräbt. Es wird sicherlich auch daran hängen, wie sich die Linkspartei in den nächsten Wochen zur Ukraine, zu Russland, zu China positioniert. Und insofern würde ich da aktuell keine Prognose abgeben wollen oder können, weil das nicht seriös wäre. Aber ich halte es für verfrüht, einen Abgesang auf das BSW zu singen. Sahra Wagenknecht hat ja noch ein, zwei, drei Tage vor den Wahlen gesagt: Wenn sie scheitert, zieht sie sich aus der aktiven Politik zurück. Das hat sie nicht getan, sondern sie führt gerade Machtkämpfe in ihrer Partei, hat den ersten in Thüringen verloren. Auf die Umfragen – alle sechs Stunden gibt es eine neue Umfrage – kann man da nicht so großen Wert legen. Es wird in hohem Maße auch davon abhängen, ob Sahra Wagenknecht über kurz oder lang wieder so eine hohe mediale Präsenz erreicht, wie sie es im Bundestagswahlkampf und in den Monaten davor hatte. Wenn die Medien ihr wieder diese Podien bieten, dann, glaube ich, wird sie auch zurückkommen. Aber es hängt natürlich auch wieder davon ab: Was werden wir jetzt für eine Politik haben von der neuen Regierung? Und was werden wir für eine Opposition jenseits der Faschisten haben? Also insofern gibt es noch viel abzuwarten. Aber ich würde die Partei noch nicht für tot erklären.

Warum hat es nach Ihrer Meinung die deutsche Gesellschaft in den letzten 35 Jahren nicht geschafft, Ostdeutschland und die Ostdeutschen demokratisch zu integrieren?

ISK: Naja, also ich glaube die Frage ist schon ein bisschen problematisch. Demokratie und Freiheit sind keine Dienstleistungseinrichtungen, wo man darauf warten sollte, dass irgendwer etwas für einen macht, sondern Demokratie und Freiheit leben von dem Engagement der Menschen. In meinem Verständnis bedeutet Freiheit, sich in seine eigenen Angelegenheiten einzumischen. Sich für sich und die Gesellschaft zu engagieren, soziale Verantwortung zu übernehmen, politische Verantwortung zu übernehmen, sich einzumischen und Kompromisse auszuhandeln. Demokratie ist keine Konsensgesellschaft, sondern eine Kompromissgesellschaft. Und genau das sind alles Dinge, die viele Ostdeutsche nicht gelernt haben, die sie nicht lernen wollten und die sie bis heute auch nicht akzeptieren, weil sie letztendlich immernoch in einer obrigkeitsstaatlichen Mentalität verfangen sind. Deshalb sehnen sie sich auch nach autoritären Kräften wie der AfD oder Sahra Wagenknecht. Deshalb himmeln sie Putin an, weil das ihnen in ihrer Wahrnehmung genau das erfüllt, was sie wollen. Und genau deshalb bin ich auch viel gnädiger, was die Beurteilung westdeutschen Handelns anbelangt. Da sind viele Ungerechtigkeiten passiert. Da sind viele Dinge passiert, die man hätte verhindern können. Manches konnte man nicht verhindern. Am Ende des Tages muss man aber auch feststellen, dass die Ostdeutschen insgesamt viel zu inaktiv waren, um gewissermaßen auch ihre Beiträge zur deutschen und europäischen Demokratie zu leisten.

Was bedeutet für sie persönlich Freiheit?

ISK: Also für mich ist Freiheit der Dreh- und Angelpunkt meines Denkens und Lebens. Ich habe bis 1989 in einer Diktatur gelebt, in einem extrem gewaltvollen und unfriedlichen System. Einem System, das die Menschen eingemauert hat, und zwar nicht nur an den Grenzen, sondern auch überall im Land. Jede Schulstunde war von Mauern gekennzeichnet, von Denkverboten, von Sprechverboten. Davon war jeder Mensch in der DDR betroffen. Den meisten war es irgendwann gar nicht mehr bewusst, wie dramatisch und schlimm das war. Und insofern war für mich die Freiheitsrevolution von 1989 eine echte Befreiung. Ich begreife mich auch als Teil dieser Freiheitsrevolution. Ich bin der festen Überzeugung, dass Freiheit das Wichtigste ist, was menschliche Gesellschaften aufzubieten haben. Dass es nichts gibt, was wichtiger ist als Freiheit, weil es nichts anderes gibt ohne Freiheit. Es gibt auch keinen Frieden ohne Freiheit.

Auf welche Weise könnte man der gegenwärtigen Gefahr entgegenwirken, dass sich die Demokratie in Deutschland selbst abschafft?

ISK: Ich habe darauf keine Antwort. Deutschland ist zwar ein großes Land in Europa. Weltpolitisch gesehen ist Deutschland eine der größten Volkswirtschaften, ich glaube aktuell die drittgrößte Volkswirtschaft, hinter den USA und China, noch vor Japan, vor Frankreich, vor Italien, vor Südkorea. Was wir aber beobachten, ist in vielen, vielen Ländern des politischen Westens eine Erosion der Demokratie. Und da kann keiner irgendwie alleine im luftleeren Raum agieren. In Europa haben wir die Situation, dass in vielen Ländern die Faschisten auf dem Vormarsch sind. Sie sitzen in Finnland mit in der Regierung, wir haben rechtsextreme Kräfte in Portugal mit 20 Prozent. Der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union war ein Werk der Rechtsradikalen. Wir sehen, was in Frankreich droht. Egal, wo wir hinschauen: Wir haben mit Orban in Ungarn einen Verbündeten von Putin an der Macht. (Und Ungarn gehört zur Europäischen Union!) Das droht uns jetzt als nächstes in Rumänien. Und so weiter. Wir können hinschauen, wo wir wollen. Aber es gibt auch Hoffnungszeichen. Ein Hoffnungszeichen waren die Wahlen in Polen vor anderthalb Jahren. Da ist die PIS abgewählt worden. Aber zugleich ist das praktisch ein fast totes Rennen gewesen, da es ein 50-zu-50-Prozent-Ergebnis war. Und das eigentliche politische Erdbeben auf der Welt fand in den USA statt. Europa ist auf eine fahrlässige Weise von den USA abhängig, insbesondere verteidigungspolitisch. Das ist die einzige Forderung von Trump, die ich immer verstanden und geteilt habe: dass es ein unmöglicher Zustand ist, dass die reichste Region der Welt, Europa, verteidigungspolitisch abhängig ist von den USA. Das ist total absurd. Und insbesondere Deutschland! Deutschland ist wirklich nicht in der Lage, russländischen Truppen auch nur 24 Stunden Gegenwehr zu bieten. Gott sei Dank haben wir die Polen vor uns, Gott sei Dank haben wir die Skandinavier, die alle viel mehr dazu bereit sind. In Deutschland ist auch keine Mehrheit der Gesellschaft bereit, sich zu verteidigen. Es ist also eine ganz dramatische Situation. Aber das Hauptproblem ist, dass wir gerade weltweit Zeugen davon werden, wie ein faschistisches Regime in Echtzeit errichtet wird in den USA. Das wird mit einem großen Erstaunen und auch mit einem gewissen Schweigen in der westlichen Welt hingenommen, als wenn das alles noch im Rahmen von vertretbaren Grenzen ablaufen würde, was es aber nicht tut. Und wenn sich dort dieses autoritäre, womöglich faschistische Regime weiter etabliert, dann hat das natürlich enorme Auswirkungen auf Europa und insbesondere auch auf Deutschland. Und ich kann Ihnen leider keinen positiven Ausblick mitgeben. Ich glaube, wir stehen an der Schwelle zu einem autoritären Zeitalter. Das kann ganz schlimm werden. Aber noch sind wir in Deutschland, die wir Demokratie und Freiheit verteidigen wollen, in der Mehrheit. Und deshalb müssen wir halt darum kämpfen. Aber das Problem ist: Viele Menschen in Westeuropa kennen nichts anderes als Demokratie und Freiheit. Das ist eben der grundlegende Unterschied zu Ostdeutschland, zu Polen, zu den baltischen Staaten. Die Menschen glauben, dass Demokratie und Freiheit, weil sie nichts anderes kennen, wie gottgemacht sind. Das ist eben immer so gewesen, und das wird auch immer so bleiben. Und ich sage den Leuten dann immer: Liebe Leute, das ist menschengemacht. Das kann auch wieder kaputtgehen und kann verlorengehen. Und das mögen manche Intellektuellen geistig begreifen, aber das kommt nicht an ihre Herzen ran. Sie können sich das nicht vorstellen. Und das ist ein Riesenproblem, denn wenn man sich nicht vorstellen kann, dass das, was man hat, zu Ende gehen kann, dann verteidigt man es auch nicht engagiert. Und genau in dieser Situation leben wir gerade in Europa und können das tagtäglich beobachten. Und das ist eine meiner Antriebsfedern, weshalb ich mich Tag für Tag versuche zu engagieren für Demokratie und Freiheit.

Kurze Anschlussfrage: Trotz allem, was sie gesagt haben, hat Deutschland durch seine Nazi-Vergangenheit vielleicht doch eine bessere Ausgangsposition, um diese rechtsautoritäre Bedrohung abzuwehren und um zu verhindern, dass solche Kräfte an die Macht kommen. Insbesondere vielleicht Westdeutschland, weil Westdeutschland ja eine sozusagen “Entnazifizierung von unten” erlebt hat durch die Achtundsechziger-Bewegung – im Gegensatz zu Ostdeutschland. Kann sich das nicht als wichtiger Vorteil erweisen im Vergleich zu anderen Ländern ohne eine solche Nazi-Vergangenheit?

ISK: Also ich hätte Ihnen bis vor kurzem Recht gegeben tendenziell. Vor zwei, drei Tagen ist eine wissenschaftliche Studie veröffentlicht worden, in der erstmals festgestellt wurde, dass eine relative Mehrheit der Deutschen einen Schlussstrich unter die Aufarbeitung des Nationalsozialismus ziehen will: 38 Prozent. Und weitere 26 Prozent haben keine Meinung dazu. Und das korrespondiert mit dem Aufstieg der Faschisten in Deutschland. In Ostdeutschland können sich zwei Drittel vorstellen, unter einem autoritären Regime zu leben. In Westdeutschland sind das mittlerweile auch 20 Prozent. Jeder Fünfte! Und das sind wachsende Tendenzen. Also insofern: Es gibt diesen Unterschied zwischen Ost und West. Das kann man gut historisch begründen. Das haben Sie eben sehr gut gemacht, das könnte ich mit weiteren Sachen machen. Aber Ostdeutschland ist deswegen interessant als Betrachtungsobjekt, und es sollte auch für viele andere interessant sein als Betrachtungsobjekt, weil in Ostdeutschland sich Entwicklungen nur früher, schneller und radikaler zutragen als anderswo. Und andere Regionen, insbesondere andere Regionen in Europa ziehen dann nach. Und das können wir auch über die letzten 20 Jahre im Ost-West-Deutschland-Vergleich beobachten, dass zum Beispiel die Akzeptanz von Freiheit im Westen abnimmt, dass die Zustimmungswerte zunehmen für: “Gleichheit ist wichtiger als Freiheit” und viele solche Dinge. Auch die Verteidigungsbereitschaft nimmt im Westen ab, die im Osten nie richtig da war. Es gibt nach wie vor einen großen Unterschied in der Bewertung der NATO. Während im Westen nach wie vor die NATO das Verteidigungsbündnis ist, das auch mehrheitlich begrüßt wird, gibt es diese Zustimmung im Osten nicht und auch nicht die Einschätzung, dass die NATO ein Verteidigungsbündnis ist. Da gibt es natürlich große Unterschiede. Es gibt auch einen großen Unterschied in der Parteibindungsquote. Deutschland ist eine Parteiendemokratie laut Grundgesetz. Und da hat man natürlich ein Problem, wenn kaum Leute in einer Partei sind. Im Osten gibt es Regionen, die sind gewissermaßen parteifrei. Und die Parteibindungsquote ist zehnmal so gering wie im Westen. Auch da geht die Parteibindungsquote extrem zurück, aber sie ist immer noch relativ stabil. Das heißt, dass das politische System noch handlungsfähig ist. Das ist in Ostdeutschland aber nicht mehr der Fall. Bei Kommunalwahlen haben wir das Phänomen, dass die Parteien nicht mehr genug Leute haben, um die Ämter zu besetzen. Um ganz zu schweigen von der schwachen Zivilgesellschaft in Ostdeutschland. Die Zivilgesellschaft als Korrektiv der parlamentarischen repräsentativen Demokratie ist extrem wichtig für eine funktionierende Demokratie. Die funktioniert in Westdeutschland sehr gut, nach wie vor. Und die ist nach wie vor in Ostdeutschland extrem unterentwickelt. Sie ist schon stärker jetzt als vor zehn oder 20 Jahren, und das hat in hohem Maße auch mit Zuzug aus dem Westen zu tun. Es sind ja nicht nur sehr viele Menschen aus dem Osten in den Westen gegangen. Fast ein Drittel der Bevölkerung ist abgewandert! Das muss man sich mal vorstellen! Also Ostdeutschland hat heute einen extremen Männerüberschuss, ist extrem überaltert. Aber bestimmte demografische Faktoren konnten dort nur deshalb einigermaßen abgemildert werden, weil es auch eine Zuwanderung von 2 Millionen Menschen aus dem Westen gab. Die im übrigen auch dafür sorgt, dass die Wahlergebnisse im Osten nicht noch desaströser ausfallen, weil die zugewanderten Westler im Osten eher die traditionellen Parteien und keine Extremisten wählen.

Teil 2 des Gesprächs folgt in einer Woche an dieser Stelle.

Das Interview führten Juyeon Han und Thomas Claer.

Aktuelle Buchempfehlung:

Ilko-Sascha Kowalczuk – Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute, Verlag C.H. Beck, 2024, 22,00 EUR, ISBN: 978-3-406-82213-1

Am 21.8.2025 erscheint:

Ilko-Sascha Kowalczuk und Bodo Ramelow – Die neue Mauer. Ein Gespräch über den Osten, Verlag C.H. Beck, 2025, 23,00 EUR, ISBN-10: 3406838316

November 2022: Interview als Zeitzeuge

Mitwirkung an einem Video des südkoreanischen Ministeriums für Wiedervereinigung: Rückblick auf 32 Jahre deutsche Einheit (ab 1:49)

www.bargain-magazine.com, 1.6.2014: “Meistens irrt man sich, wenn man später denkt, man hätte sich geirrt”

Interview mit Buchautor Thomas Claer im Bargain Magazine

„Meistens irrt man sich, wenn man später denkt, man hätte sich geirrt“

am Juni 1, 2014 von Daniel

Bargain-Interview mit Börsen-Buchautor Thomas Claer

Dr. Thomas Claer ist Jurist und Publizist in Berlin, Chefredakteur der Zeitschrift Justament (www.justament.de), Autor des Buches „Auf eigene Faust: Aktiensparen für Kleinanleger“ sowie selbst leidenschaftlicher Anleger. Dem bargain-Magazine steht er nun für ein Interview über sein Buch und seinen langjährigen Erfahrungsschatz zur Verfügung, wofür wir ihm sehr dankbar sind.

b.m.

Thomas, Du beginnst Dein Werk mit der einleitenden Bemerkung, Aktien seien in den Augen von vielen Deutschen „Teufelszeug“ und weist zurecht auf viele Problemfälle wie den „Neuen Markt“ hin, die dazu führen, dass Neulinge sich regelmäßig die Finger verbrennen und anschließend der Börse gezeichnet fernbleiben. Wie beurteilst Du momentan die Lage? Hält sich der Deutsche nach wie vor von dem teuflischen Anlagevehikel fern oder entdeckt er angesichts eines von Höchststand zu Höchststand eilenden Leitindex langsam die Aktie wieder?

T.C.

Es gibt leider unverändert, und längst nicht nur bei uns in Deutschland, eine große Zahl an Kleinanlegern, die mit ihren Geldanlagen auf die Nase fallen. Diese Leute gehen häufig ohne grundlegende Kenntnisse der Kapitalmärkte in wenig lukrative oder zweifelhafte Anlagen, oft genug noch ermuntert von ihren provisionsgetriebenen Bankberatern.

Auf der anderen Seite steht die – glücklicherweise immer weiter wachsende – qualifizierte Minderheit der „aufgeklärten Kleinanleger“, die sich selbst um ihre Geldanlagen kümmert. Und die profitiert natürlich derzeit ganz stark von den Höchstständen in den Aktienindizes.

b.m.

Wie ließe sich dieser Mechanismus verändern – sprich: was kann man als Anleger machen, um sich nicht die Finger zu verbrennen?

T.C.

Wer zu dieser qualifizierten Minderheit der eigenverantwortlichen Selbstanleger gehören will, sollte sich zunächst aus unabhängigen Quellen über die grundlegenden Zusammenhänge informieren und sich dann schrittweise eine „Technik“ des überlegten Anlegens aneignen. Dazu gehört unbedingt eine wirksame Methode der Risikobegrenzung, womit ich aber gerade nicht das Setzen von Stopp Loss-Marken meine, sondern vielmehr eine breite Streuung durch Diversifizierung. Außerdem hat in meinen Augen das Liquiditätsmanagement eine überragende Bedeutung, d.h. wie gut sich ein Wertpapierdepot entwickelt, hängt entscheidend davon ab, nie voll investiert zu sein, sondern immer auch eine angemessene Cash-Reserve zurückzubehalten.

b.m.

Wieviel Zeit (auf Tages-, Wochen- oder Monatsbasis) ist Deiner Meinung nach mindestens erforderlich um sich sinnvollerweise selbst um seine Anlagen zu kümmern? Wie viel Zeit verwendest Du selbst dafür?

T.C.

Wenn man ganz neu anfängt, dann kostet es sicherlich eine Menge Zeit und Kraft, sich nach und nach ein ausgewogenes und vernünftiges Wertpapierdepot zusammenzustellen. Aber um es mal ganz krass zu sagen: Wer sich einmal mit Bedacht ein solches Depot aufgebaut hat, der braucht danach eigentlich nur noch alle paar Monate kurz nach dem Rechten zu sehen und sich gelegentlich über den Newsflow aus den Unternehmen auf dem Laufenden zu halten. Und einmal im Jahr, am besten im September, weil da oft ein temporäres Tief an den Märkten ausgebildet wird, kann man dann die Dividendeneinnahmen des laufenden Jahres sowie etwaige zusätzliche Mittel, die man dem Depot zugeführt hat, für Nachkäufe verwenden. Also sagen wir durchschnittlich einmal im Monat zehn Minuten zum Nachsehen im Depot, ein paar Stunden Recherche im September, welche Positionen aufgestockt werden sollten. Das würde theoretisch reichen, sofern man sich für solide Werte mit nachhaltigem Geschäftsmodell entschieden hat. Sollte es aber zwischenzeitlich an der Börse zu so heftigen Turbulenzen kommen, dass in den Fernsehnachrichten ausführlich darüber berichtet wird oder die Schlagzeilen auf den ersten Seiten der Zeitungen das Thema aufgreifen, dann könnte es sich lohnen, aktiv zu werden – natürlich auf der Kaufseite. Also in solchen Phasen noch ein paar Stunden Recherche für günstige Nachkäufe – das war’s. Umgekehrt darf man natürlich in Phasen irrationalen Überschwangs, wo sich die Märkte in absurden Höhen bewegen, auch mal an teilweise Gewinnmitnahmen denken. (Solche krassen Überbewertungen hatten wir aber zuletzt im Jahr 2000, heute kann davon – zumindest mit Blick auf den Gesamtmarkt – noch absolut keine Rede sein, wie übrigens auch nicht 2008 und 2011.) Dagegen macht alles Hin und Her, was über das Beschriebene hinausgeht, langfristig meistens doch nur die Taschen leer. Klar, man kann sich auch mal irren mit einem Investment, aber wenn man bei seinen Entscheidungen gründlich und überlegt vorgeht, dann kommt das nur selten vor. Meistens irrt man sich nämlich dann, wenn man später denkt, dass man sich beim Kauf geirrt habe. Aber wenn eine gute Aktie billiger wird, dann sollte man sie nicht verkaufen, sondern abwarten oder sogar nachkaufen.

Ich selbst mache es aber beim Zeitaufwand etwas anders. Ich verwende jeden Tag mindestens 15 Minuten, meistens etwas länger, um die Neuigkeiten der Unternehmen, in denen ich investiert bin, zu verfolgen und manchmal auch um die Meinungen bekannter Börsengurus über den Gesamtmarkt und über bestimmte Hintergründe zu lesen, zu hören oder anzusehen, die es ja alle frei im Internet gibt. Das mache ich aber in erster Linie, weil es mir Spaß macht, und nicht, weil es unbedingt nötig wäre.

b.m.

Du legst in Deinem Buch auch Kritikpunkte an aktiv gemanagten Fonds dar. Was hältst Du von Indexfonds und ETF`s, also von einer Anlagephilosophie a la John Bogle?

T.C.

Wer das will, kann das durchaus machen. Nur mit Indexfonds und ETF ist man zwar wegen der Gebühren immer ein wenig schlechter als der Gesamtmarkt, aber doch besser als 80 Prozent der aktiv gemanagten Fonds. Wer sich allerdings ein wenig mehr Arbeit macht und auf Einzeltitel setzt, hat gute Chancen, besser als der Markt abzuschneiden, schon weil man als Kleinanleger – anders als die Profis – völlig frei in seinen Entscheidungen ist und keinen Zwängen unterliegt.

b.m.

Freilich gehören Kostolanys 4 G`s (Geld, Gedanken, Geduld und Glück), die in Deinem Buch als Kapitelüberschriften dienen, untrennbar zusammen. Wenn Du einem Leser aber ein Kapitel aus Deinem Buch besonders ans Herz legen möchtest, welches wäre es dann? Und warum?

T.C.

Ich würde zwei Kapitel besonders hervorheben wollen, nämlich „Geld“ und „Geduld“. Die werden am meisten unterschätzt. Dass zum Börsenerfolg auch viel Glück gehört, wird niemanden überraschen. Dass man sich gleichwohl eine Menge Gedanken machen sollte, leuchtet auch jedem ein. (Manche Marktteilnehmer laufen sogar Gefahr, sich zu viele Gedanken über ihre Investments zu machen.) Mindestens die Hälfte des Börsenerfolgs hat aber mit Geld und Geduld zu tun.

Mit Geld meine ich ausdrücklich nicht, dass man an der Börse von vornherein über eine große Menge Geld verfügen sollte, die dann auf einen Schlag angelegt wird. Viel effektiver ist ein kontinuierliches Ansparen notfalls auch kleinerer Beträge und deren nur teilweise Investition. Vor allem ist wichtig, nie sein ganzes Pulver zu früh zu verschießen! Das nächste Schnäppchen kommt bestimmt.

Und schließlich kann man die wichtige Rolle der Geduld, des langen Atems gar nicht genug betonen. Wer stets zu schnell und voreilig entscheidet, dem nutzen auch die besten Gedanken nicht viel, der wird am Ende auch noch sein Glück verlieren.

b.m.

Stichwort Liquiditätsmanagement: mit welcher Cashquote bezogen auf das Gesamtportfolio fühlst Du Dich wohl?

T.C.

Es kommt immer auf die Marktsituation und die persönliche Situation an. Unmittelbar nach den Crashs 2000-2002, 2008/09 und 2011 waren die Märkte so billig, dass es ausnahmsweise angebracht war, zu annähernd 100 Prozent investiert zu sein. Inzwischen haben wir nach dem steilen Anstieg der letzten Jahre schon wieder so hohe Bewertungen, dass ein Viertel oder sogar ein Drittel Cash womöglich keine schlechte Idee wäre.

Ein junger Mensch, der ja noch viel Lebenszeit vor sich hat, sollte immer auf genug Cash in der Hinterhand achten, denn manche Chancen – so wie die genannten Crashs – kommen nur wenige Male im Leben. Wer da knapp bei Kasse ist, weil er schon voll investiert ist, hat wirklich etwas verpasst. Wer im mittleren Alter ist und idealerweise schon einiges Vermögen akkumuliert hat, kann es sich eher erlauben, die Liquidität niedrig und die Investitionsquote hoch zu halten, denn ihm bleiben ja immerhin die regelmäßigen stattlichen Dividendeneinnahmen, während sich die Kursschwankungen noch mühelos aussitzen lassen. Im noch weiter fortgeschrittenen Alter schließlich, wo man nicht mehr weiß, ob sich die Börsenschwankungen überhaupt noch aussitzen lassen und die Aufregung über Kursverluste auch zum gesundheitlichen Risiko werden kann, ist dann wieder eine höhere Liquiditätsquote angemessen.

Eine starre Regel für die Cashquote kann es also nicht geben. Es ist immer auch eine Frage der Situation und des Fingerspitzengefühls. Ich selbst habe im Moment nur zehn Prozent Liquidität im Depot, aber das hat vor allem persönliche Gründe.

b.m.

Stichwort Aktiensuche: Welche Methoden gefallen Dir besonders gut, um potenzielle Investmentkandidaten aus der schier endlosen Menge an börsennotierten Gesellschaften herauszufiltern?

T.C.

Man hört oder liest irgendwo von einem Unternehmen, z.B. in einem Börsenblog oder sogar im Wirtschaftsteil der Tageszeitung, dessen Geschäftsmodell man plausibel und vielversprechend findet. Dann sieht man sich im Internet die Kennzahlen näher an, um herauszufinden, ob es noch günstig bewertet ist. Aus der Entwicklung der Unternehmensgewinne der letzten zehn Jahre sieht man auch gleich, wohin der Trend geht. Besonders wichtig ist aber der Gesamteindruck hinsichtlich der Zuverlässigkeit und Seriosität der Firma. Wenn da irgendwann früher schon mal unschöne oder intransparente Sachen gelaufen sind, lässt man besser die Finger davon. Ebenso bedenklich ist es, wenn ständig Gewinnwarnungen kommen, also das Management regelmäßig die selbstgesetzten Ziele verfehlt. Oft sehr wertvoll sind Börsenforen im Internet wie Wallstreet Online. Wenn da zu einem Wert schon zig Diskussionen parallel ablaufen, sollte man dort lieber nicht mehr einsteigen. Wenn es aber nur etwa fünf bis zehn qualifizierte Kommentare pro Monat gibt, könnte das auf eine gute Aktie hindeuten, die noch nicht von der breiten Masse entdeckt worden ist.

So habe ich bis vor etwa acht Jahren meine Investmentkandidaten ausgesucht. Seitdem beschränke ich mich im wesentlichen auf die Beobachtung der Unternehmen, die ich schon kenne und in denen ich früher mal investiert war oder es noch bin.

b.m.

Ideen „klauen“ ist ja grundsätzlich nicht verboten… welche in der Finanzwelt bekannten Investoren beeinflussen Dich besonders stark? Die Antwort „Warren Buffett“ zählt übrigens nicht… J

T.C.

Ich höre mir gerne an, was Heiko Thieme immer so erzählt. Ähnlich wie der alte Kostolany hat er ja auch etwas von einem Komiker und ist immer sehr unterhaltsam. Auch was Jens Ehrhard und Max Otte in ihren Kolumnen schreiben, ist immer sehr lesenswert. Ein ganz großer Börsendenker ist für mich Robert Rethfeld von http://www.wellenreiter.de. Der hat ein paar Jahre lang mit seiner Zyklentheorie und seinem Korrelationsansatz den Börsenverlauf ganz großartig vorausgesagt. Aber im vorigen Jahr lag er dann katastrophal daneben, so wie alle anderen, sofern sie Prognosen abgeben, sich ja auch recht häufig irren. Vorigen Sommer hat mich ein Freund, als der DAX bei über 8.000 Punkten stand, gefragt, ob man noch einsteigen könnte. Ich riet ihm, eine Korrektur auf 7.200 Punkte abzuwarten. Die ist aber nie gekommen. Jetzt stehen wir fast bei 10.000. Bei kurz- und mittelfristigen Vorhersagen ist der Glücksfaktor eben immer ziemlich hoch. Langfristig wird sich die Börse aber – unter heftigen Schwankungen – wahrscheinlich immer etwas besser als das Wirtschaftswachstum entwickeln. Du weißt ja, dass Kostolany das Verhältnis von Börse und Konjunktur mit dem zwischen einem Hund und seinem Herrchen beim Spaziergang verglichen hat. Mal läuft der Hund weit voraus, mal deutlich hinterher, aber er kommt irgendwann immer wieder zum Herrchen zurück. Und wenn man auf Unternehmen setzt, die auf lange Sicht kontinuierlich ihre Gewinne steigern können und deren Geschäftsmodell das auch für die Zukunft erwarten lässt, dann wird man dafür langfristig sehr wahrscheinlich auch durch steigende Aktienkurse und Dividendenausschüttungen belohnt.

b.m.

Du beziehst Dich im Hinblick auf die Problemstellung der Diversifizierung in Deinem Buch auf eine Untersuchung, wonach die Streuung bis zu ca. 15 Einzeltitel eine Verbesserung des Risikoprofiles bringen kann. Wieviele Titel hältst Du momentan?

T.C.

Ich kann mich genau daran erinnern, dass ich vor ein paar Jahren mal in einem Börsenblog von einer solchen Untersuchung gelesen habe, kann die Quelle aber jetzt leider nicht mehr finden. Man kann es sich aber auch denken: Je breiter man streut, desto weniger fällt ein Totalausfall, den man ja an der Börse nie ganz ausschließen kann, ins Gewicht. Aber wenn man so viele Einzelwerte hat, dass man kaum noch mit ihrer Beobachtung hinterher kommt, oder viel schlimmer: dass darunter die Sorgfalt bei ihrer Auswahl leidet, dann bringt die Streuung natürlich nichts.

Ich halte derzeit 11 Titel. Gottfried Heller, der mir auch immer sehr gefallen hat, sagt gerne: Ein gutes Depot muss aufgestellt sein wie eine Fußballmannschaft. Mit starker Defensive, die für Stabilität sorgt, einem breiten Mittelfeld und zwei bis drei Sturmspitzen. Die letzteren können viele Tore schießen, aber auch mal ein Totalausfall sein. 😉 Bei größeren Depotsummen halte ich etwa 20 Werte für perfekt, das wäre dann eine Fußballmannschaft mit allen Reservespielern.

b.m.

Als Jurist befragt: welche Implikationen hat Deiner Meinung nach die jüngste Kehrtwende des BGH in seiner Entscheidung am 8.10.2013 betreffend Delisting und Downlisting (Geschäftszahl II ZB 26/12)?

T.C.

Darauf bin ich auch erst durch Deinen Artikel aufmerksam geworden. Im Wertpapierrecht kenne ich mich aber zu wenig aus, um das fachjuristisch kommentieren zu können. Verfassungsrechtlich kann man das sicherlich als Eingriff in das Grundrecht auf Eigentum bedenklich finden. Andererseits sollte einem als Anleger schon klar sein, dass unseriöse Unternehmen immer einen Weg finden werden, wie sie ihre gutgläubigen Investoren über den Tisch ziehen können, ohne dass einen der Rechtsstaat vollständig davor schützen könnte. Deswegen sollte man besser nur in Firmen investieren, denen man vertraut, weil sie sich in der Vergangenheit auch immer als vertrauenswürdig erwiesen haben. Ein Restrisiko bleibt sicherlich immer, aber damit lässt sich leben.

b.m.

Schonungslose Ehrlichkeit erbeten: Wie oft gibst Du dem Impuls nach, auf Dein Portfolio zu schauen und seine Wertänderung zu verfolgen?

T.C.

Normalerweise einmal am Tag, immer abends. In Marktphasen, in denen die Kurse rasant steigen, gucke ich aber auch gerne mehrmals am Tag ins Depot und gönne mir die Freude. Es spricht ja nichts dagegen, sich das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Und was gibt es Angenehmeres als angenehme Gedanken? Im Gegensatz zu anderen angenehmen Dingen im Leben kosten die ja nichts!

In Marktphasen, in denen es rasant abwärts geht, sehe ich mir das Depot dafür manchmal tage- oder wochenlang nicht an. Warum sollte man sich auch über die schlechten Kurse ärgern? Wenn schon, dann sondiere ich in solchen Phasen intensiv die Märkte und suche nach Schnäppchen. Wenn man dafür aber keine Liqidität mehr hat, dann muss man die Schwächephase eben aussitzen.

b.m.

Wann hat für Dich das Interesse an Aktien begonnen? Was war die erste Aktie, die Du gekauft hast?

T.C.

Es ist immer ein großer Vorteil an der Börse, wenn man ein sparsamer Mensch ist, denn nur dann kann immer frisches Geld ins Depot fließen, auch wenn die Beträge noch so klein sind. Auf einer Klassenfahrt in der Schule habe ich mal als einziger mehr Geld wieder mit nach Hause gebracht, als ich mitgenommen hatte, weil ich nicht nur nichts ausgegeben, sondern zwischenzeitlich noch zwei unterwegs gefundene Pfandflaschen abgegeben hatte. Später im Zivildienst und im Studium habe ich immer einen Teil meiner Einkünfte zur Seite gelegt. Damals bekam man für Festgelder noch vier Prozent. Allerdings hab ich mich damals nie für Wirtschaft oder Börse interessiert. Dann kam der Börsenboom der späten 90er. Immer wieder hörte man von Kommilitonen, die mit kleinem Einsatz riesige Summen an der Börse verdient hatten. Und das waren oft gar nicht so die Hellsten… Ich ärgerte mich über mich selbst, dass ich so wenig Ahnung hatte und mit meinen vergleichsweise mickrigen Festgeldern Vorlieb nehmen musste. So begann ich, die Börse einige Monate lang zu beobachten. Auf einer Party prahlte ein Kommilitone, er habe gerade seine Telekom-Aktien für das Fünffache seines Einstandswertes verkauft. Da meinte eine Bekannte: „Mann, bist du blöd. Die hätte ich dir zu dem Preis aber sofort abgekauft.“ (Die Telekom-Aktie stand damals bei etwa 90 Euro.) Diese Bekannte riet mir auch, Deutsche Bank-Aktien zu kaufen. Die standen damals bei etwa 65 Euro. Mit denen könne man nun absolut nichts verkehrt machen. Und darüber hinaus sei die Commerzbank besonders zu empfehlen… Ich ließ mich bei meiner Bank beraten und investierte im April 2000 knapp ein Drittel meines damaligen Vermögens in verschiedene Aktien, darunter auch in solche der Deutschen Bank und des Neuen Marktes. Ein paar Monate später hatten sich die Kurse halbiert – und das sollte erst der Anfang sein.

Aus heutiger Sicht war das für mich eine sehr heilsame Erfahrung. Ein Soziologie-Professor in Speyer, wo ich Ende 2000 ein Semester an der Hochschule für Verwaltungswissenschaft verbrachte, erklärte uns sinngemäß, dass die Börse nur dazu gemacht sei, den kleinen Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen. Ich hörte dort aber auch eine Einführungs-Vorlesung in Volkswirtschaft, wo der Professor sehr anschaulich erklärte, wie Märkte funktionieren und warum es immer Überinvestitionskrisen gibt u.s.w. Ich beschloss, mich näher mit Wirtschaft und Börse zu beschäftigen, um mir das in so kurzer Zeit verlorene Geld vielleicht irgendwann wieder zurückzuverdienen. Im Internet las ich auf einer Seite, die bald darauf eingestellt wurde, sehr viel über Value Investing und Unternehmensbewertung. Im Frühling 2001 verkaufte ich alle meine Positionen mit großem Verlust und kaufte stattdessen Werte, die ich mir selbst mit Verstand ausgesucht hatte: kleine aussichtsreiche deutsche Nebenwerte mit niedriger Bewertung. Als es dann bis März 2003 noch immer weiter abwärts ging, hielt ich durch (immerhin!), aber leider fehlte mir der Mut, auf diesem Niveau noch einmal richtig nachzukaufen. So dauerte es noch bis Ende 2004, bis ich meine Verluste wieder aufgeholt hatte. Erst dann kaufte ich wieder nach (natürlich schon wieder etwas zu teuer, aber langfristig gesehen war es noch in Ordnung). Beim nächsten Crash 2008/09 rutschte ich noch einmal vorübergehend ins Minus, aber da erkannte ich glücklicherweise, welche großartige Chance sich nun bot, und investierte alle Rücklagen, die ich hatte, in Qualitätsaktien zu Spottpreisen. Wahrscheinlich werden wir eine solche Gelegenheit wie Anfang 2009, als der DAX bei 3.300 Punkten notierte, in den nächsten Jahrzehnten nicht mehr bekommen. Aber Rücksetzer und Korrekturen, in denen es sich lohnt, beherzt zuzugreifen, wird es immer geben.

b.m.

Zum Schluss noch: Welche Ziele hast Du Dir für Deine finanzielle Zukunft gesetzt?

T.C.

Ich bin ja nur ein kleiner, bescheidener Freiberufler mit niedriger Rentenerwartung. Daher ist mein erklärtes Ziel als Anleger die Sicherung meiner Unabhängigkeit von staatlichen Transferzahlungen bis ins hohe Alter. Kostolany hat immer gesagt: Nicht reich muss man sein, sondern unabhängig. Das finde ich auch. Er hat aber auch noch gesagt, er habe als Aktionär immer ein gutes Leben führen können, und er meine damit nicht „das gute Leben eines Schotten“. Doch genau dieses „gute Leben eines Schotten“ gefällt mir eigentlich ganz gut. Denn wie sagte Seneca: „Reich nenne ich den, der arm ist an Begierden.“

 

 

 

 

 

 

Börsen-Buchautor Thomas Claer