Interview mit Buchautor Thomas Claer im Bargain Magazine
„Meistens irrt man sich, wenn man später denkt, man hätte sich geirrt“
am Juni 1, 2014 von Daniel
Bargain-Interview mit Börsen-Buchautor Thomas Claer
Dr. Thomas Claer ist Jurist und Publizist in Berlin, Chefredakteur der Zeitschrift Justament (www.justament.de), Autor des Buches „Auf eigene Faust: Aktiensparen für Kleinanleger“ sowie selbst leidenschaftlicher Anleger. Dem bargain-Magazine steht er nun für ein Interview über sein Buch und seinen langjährigen Erfahrungsschatz zur Verfügung, wofür wir ihm sehr dankbar sind.
b.m.
Thomas, Du beginnst Dein Werk mit der einleitenden Bemerkung, Aktien seien in den Augen von vielen Deutschen „Teufelszeug“ und weist zurecht auf viele Problemfälle wie den „Neuen Markt“ hin, die dazu führen, dass Neulinge sich regelmäßig die Finger verbrennen und anschließend der Börse gezeichnet fernbleiben. Wie beurteilst Du momentan die Lage? Hält sich der Deutsche nach wie vor von dem teuflischen Anlagevehikel fern oder entdeckt er angesichts eines von Höchststand zu Höchststand eilenden Leitindex langsam die Aktie wieder?
T.C.
Es gibt leider unverändert, und längst nicht nur bei uns in Deutschland, eine große Zahl an Kleinanlegern, die mit ihren Geldanlagen auf die Nase fallen. Diese Leute gehen häufig ohne grundlegende Kenntnisse der Kapitalmärkte in wenig lukrative oder zweifelhafte Anlagen, oft genug noch ermuntert von ihren provisionsgetriebenen Bankberatern.
Auf der anderen Seite steht die – glücklicherweise immer weiter wachsende – qualifizierte Minderheit der „aufgeklärten Kleinanleger“, die sich selbst um ihre Geldanlagen kümmert. Und die profitiert natürlich derzeit ganz stark von den Höchstständen in den Aktienindizes.
b.m.
Wie ließe sich dieser Mechanismus verändern – sprich: was kann man als Anleger machen, um sich nicht die Finger zu verbrennen?
T.C.
Wer zu dieser qualifizierten Minderheit der eigenverantwortlichen Selbstanleger gehören will, sollte sich zunächst aus unabhängigen Quellen über die grundlegenden Zusammenhänge informieren und sich dann schrittweise eine „Technik“ des überlegten Anlegens aneignen. Dazu gehört unbedingt eine wirksame Methode der Risikobegrenzung, womit ich aber gerade nicht das Setzen von Stopp Loss-Marken meine, sondern vielmehr eine breite Streuung durch Diversifizierung. Außerdem hat in meinen Augen das Liquiditätsmanagement eine überragende Bedeutung, d.h. wie gut sich ein Wertpapierdepot entwickelt, hängt entscheidend davon ab, nie voll investiert zu sein, sondern immer auch eine angemessene Cash-Reserve zurückzubehalten.
b.m.
Wieviel Zeit (auf Tages-, Wochen- oder Monatsbasis) ist Deiner Meinung nach mindestens erforderlich um sich sinnvollerweise selbst um seine Anlagen zu kümmern? Wie viel Zeit verwendest Du selbst dafür?
T.C.
Wenn man ganz neu anfängt, dann kostet es sicherlich eine Menge Zeit und Kraft, sich nach und nach ein ausgewogenes und vernünftiges Wertpapierdepot zusammenzustellen. Aber um es mal ganz krass zu sagen: Wer sich einmal mit Bedacht ein solches Depot aufgebaut hat, der braucht danach eigentlich nur noch alle paar Monate kurz nach dem Rechten zu sehen und sich gelegentlich über den Newsflow aus den Unternehmen auf dem Laufenden zu halten. Und einmal im Jahr, am besten im September, weil da oft ein temporäres Tief an den Märkten ausgebildet wird, kann man dann die Dividendeneinnahmen des laufenden Jahres sowie etwaige zusätzliche Mittel, die man dem Depot zugeführt hat, für Nachkäufe verwenden. Also sagen wir durchschnittlich einmal im Monat zehn Minuten zum Nachsehen im Depot, ein paar Stunden Recherche im September, welche Positionen aufgestockt werden sollten. Das würde theoretisch reichen, sofern man sich für solide Werte mit nachhaltigem Geschäftsmodell entschieden hat. Sollte es aber zwischenzeitlich an der Börse zu so heftigen Turbulenzen kommen, dass in den Fernsehnachrichten ausführlich darüber berichtet wird oder die Schlagzeilen auf den ersten Seiten der Zeitungen das Thema aufgreifen, dann könnte es sich lohnen, aktiv zu werden – natürlich auf der Kaufseite. Also in solchen Phasen noch ein paar Stunden Recherche für günstige Nachkäufe – das war’s. Umgekehrt darf man natürlich in Phasen irrationalen Überschwangs, wo sich die Märkte in absurden Höhen bewegen, auch mal an teilweise Gewinnmitnahmen denken. (Solche krassen Überbewertungen hatten wir aber zuletzt im Jahr 2000, heute kann davon – zumindest mit Blick auf den Gesamtmarkt – noch absolut keine Rede sein, wie übrigens auch nicht 2008 und 2011.) Dagegen macht alles Hin und Her, was über das Beschriebene hinausgeht, langfristig meistens doch nur die Taschen leer. Klar, man kann sich auch mal irren mit einem Investment, aber wenn man bei seinen Entscheidungen gründlich und überlegt vorgeht, dann kommt das nur selten vor. Meistens irrt man sich nämlich dann, wenn man später denkt, dass man sich beim Kauf geirrt habe. Aber wenn eine gute Aktie billiger wird, dann sollte man sie nicht verkaufen, sondern abwarten oder sogar nachkaufen.
Ich selbst mache es aber beim Zeitaufwand etwas anders. Ich verwende jeden Tag mindestens 15 Minuten, meistens etwas länger, um die Neuigkeiten der Unternehmen, in denen ich investiert bin, zu verfolgen und manchmal auch um die Meinungen bekannter Börsengurus über den Gesamtmarkt und über bestimmte Hintergründe zu lesen, zu hören oder anzusehen, die es ja alle frei im Internet gibt. Das mache ich aber in erster Linie, weil es mir Spaß macht, und nicht, weil es unbedingt nötig wäre.
b.m.
Du legst in Deinem Buch auch Kritikpunkte an aktiv gemanagten Fonds dar. Was hältst Du von Indexfonds und ETF`s, also von einer Anlagephilosophie a la John Bogle?
T.C.
Wer das will, kann das durchaus machen. Nur mit Indexfonds und ETF ist man zwar wegen der Gebühren immer ein wenig schlechter als der Gesamtmarkt, aber doch besser als 80 Prozent der aktiv gemanagten Fonds. Wer sich allerdings ein wenig mehr Arbeit macht und auf Einzeltitel setzt, hat gute Chancen, besser als der Markt abzuschneiden, schon weil man als Kleinanleger – anders als die Profis – völlig frei in seinen Entscheidungen ist und keinen Zwängen unterliegt.
b.m.
Freilich gehören Kostolanys 4 G`s (Geld, Gedanken, Geduld und Glück), die in Deinem Buch als Kapitelüberschriften dienen, untrennbar zusammen. Wenn Du einem Leser aber ein Kapitel aus Deinem Buch besonders ans Herz legen möchtest, welches wäre es dann? Und warum?
T.C.
Ich würde zwei Kapitel besonders hervorheben wollen, nämlich „Geld“ und „Geduld“. Die werden am meisten unterschätzt. Dass zum Börsenerfolg auch viel Glück gehört, wird niemanden überraschen. Dass man sich gleichwohl eine Menge Gedanken machen sollte, leuchtet auch jedem ein. (Manche Marktteilnehmer laufen sogar Gefahr, sich zu viele Gedanken über ihre Investments zu machen.) Mindestens die Hälfte des Börsenerfolgs hat aber mit Geld und Geduld zu tun.
Mit Geld meine ich ausdrücklich nicht, dass man an der Börse von vornherein über eine große Menge Geld verfügen sollte, die dann auf einen Schlag angelegt wird. Viel effektiver ist ein kontinuierliches Ansparen notfalls auch kleinerer Beträge und deren nur teilweise Investition. Vor allem ist wichtig, nie sein ganzes Pulver zu früh zu verschießen! Das nächste Schnäppchen kommt bestimmt.
Und schließlich kann man die wichtige Rolle der Geduld, des langen Atems gar nicht genug betonen. Wer stets zu schnell und voreilig entscheidet, dem nutzen auch die besten Gedanken nicht viel, der wird am Ende auch noch sein Glück verlieren.
b.m.
Stichwort Liquiditätsmanagement: mit welcher Cashquote bezogen auf das Gesamtportfolio fühlst Du Dich wohl?
T.C.
Es kommt immer auf die Marktsituation und die persönliche Situation an. Unmittelbar nach den Crashs 2000-2002, 2008/09 und 2011 waren die Märkte so billig, dass es ausnahmsweise angebracht war, zu annähernd 100 Prozent investiert zu sein. Inzwischen haben wir nach dem steilen Anstieg der letzten Jahre schon wieder so hohe Bewertungen, dass ein Viertel oder sogar ein Drittel Cash womöglich keine schlechte Idee wäre.
Ein junger Mensch, der ja noch viel Lebenszeit vor sich hat, sollte immer auf genug Cash in der Hinterhand achten, denn manche Chancen – so wie die genannten Crashs – kommen nur wenige Male im Leben. Wer da knapp bei Kasse ist, weil er schon voll investiert ist, hat wirklich etwas verpasst. Wer im mittleren Alter ist und idealerweise schon einiges Vermögen akkumuliert hat, kann es sich eher erlauben, die Liquidität niedrig und die Investitionsquote hoch zu halten, denn ihm bleiben ja immerhin die regelmäßigen stattlichen Dividendeneinnahmen, während sich die Kursschwankungen noch mühelos aussitzen lassen. Im noch weiter fortgeschrittenen Alter schließlich, wo man nicht mehr weiß, ob sich die Börsenschwankungen überhaupt noch aussitzen lassen und die Aufregung über Kursverluste auch zum gesundheitlichen Risiko werden kann, ist dann wieder eine höhere Liquiditätsquote angemessen.
Eine starre Regel für die Cashquote kann es also nicht geben. Es ist immer auch eine Frage der Situation und des Fingerspitzengefühls. Ich selbst habe im Moment nur zehn Prozent Liquidität im Depot, aber das hat vor allem persönliche Gründe.
b.m.
Stichwort Aktiensuche: Welche Methoden gefallen Dir besonders gut, um potenzielle Investmentkandidaten aus der schier endlosen Menge an börsennotierten Gesellschaften herauszufiltern?
T.C.
Man hört oder liest irgendwo von einem Unternehmen, z.B. in einem Börsenblog oder sogar im Wirtschaftsteil der Tageszeitung, dessen Geschäftsmodell man plausibel und vielversprechend findet. Dann sieht man sich im Internet die Kennzahlen näher an, um herauszufinden, ob es noch günstig bewertet ist. Aus der Entwicklung der Unternehmensgewinne der letzten zehn Jahre sieht man auch gleich, wohin der Trend geht. Besonders wichtig ist aber der Gesamteindruck hinsichtlich der Zuverlässigkeit und Seriosität der Firma. Wenn da irgendwann früher schon mal unschöne oder intransparente Sachen gelaufen sind, lässt man besser die Finger davon. Ebenso bedenklich ist es, wenn ständig Gewinnwarnungen kommen, also das Management regelmäßig die selbstgesetzten Ziele verfehlt. Oft sehr wertvoll sind Börsenforen im Internet wie Wallstreet Online. Wenn da zu einem Wert schon zig Diskussionen parallel ablaufen, sollte man dort lieber nicht mehr einsteigen. Wenn es aber nur etwa fünf bis zehn qualifizierte Kommentare pro Monat gibt, könnte das auf eine gute Aktie hindeuten, die noch nicht von der breiten Masse entdeckt worden ist.
So habe ich bis vor etwa acht Jahren meine Investmentkandidaten ausgesucht. Seitdem beschränke ich mich im wesentlichen auf die Beobachtung der Unternehmen, die ich schon kenne und in denen ich früher mal investiert war oder es noch bin.
b.m.
Ideen „klauen“ ist ja grundsätzlich nicht verboten… welche in der Finanzwelt bekannten Investoren beeinflussen Dich besonders stark? Die Antwort „Warren Buffett“ zählt übrigens nicht… J
T.C.
Ich höre mir gerne an, was Heiko Thieme immer so erzählt. Ähnlich wie der alte Kostolany hat er ja auch etwas von einem Komiker und ist immer sehr unterhaltsam. Auch was Jens Ehrhard und Max Otte in ihren Kolumnen schreiben, ist immer sehr lesenswert. Ein ganz großer Börsendenker ist für mich Robert Rethfeld von http://www.wellenreiter.de. Der hat ein paar Jahre lang mit seiner Zyklentheorie und seinem Korrelationsansatz den Börsenverlauf ganz großartig vorausgesagt. Aber im vorigen Jahr lag er dann katastrophal daneben, so wie alle anderen, sofern sie Prognosen abgeben, sich ja auch recht häufig irren. Vorigen Sommer hat mich ein Freund, als der DAX bei über 8.000 Punkten stand, gefragt, ob man noch einsteigen könnte. Ich riet ihm, eine Korrektur auf 7.200 Punkte abzuwarten. Die ist aber nie gekommen. Jetzt stehen wir fast bei 10.000. Bei kurz- und mittelfristigen Vorhersagen ist der Glücksfaktor eben immer ziemlich hoch. Langfristig wird sich die Börse aber – unter heftigen Schwankungen – wahrscheinlich immer etwas besser als das Wirtschaftswachstum entwickeln. Du weißt ja, dass Kostolany das Verhältnis von Börse und Konjunktur mit dem zwischen einem Hund und seinem Herrchen beim Spaziergang verglichen hat. Mal läuft der Hund weit voraus, mal deutlich hinterher, aber er kommt irgendwann immer wieder zum Herrchen zurück. Und wenn man auf Unternehmen setzt, die auf lange Sicht kontinuierlich ihre Gewinne steigern können und deren Geschäftsmodell das auch für die Zukunft erwarten lässt, dann wird man dafür langfristig sehr wahrscheinlich auch durch steigende Aktienkurse und Dividendenausschüttungen belohnt.
b.m.
Du beziehst Dich im Hinblick auf die Problemstellung der Diversifizierung in Deinem Buch auf eine Untersuchung, wonach die Streuung bis zu ca. 15 Einzeltitel eine Verbesserung des Risikoprofiles bringen kann. Wieviele Titel hältst Du momentan?
T.C.
Ich kann mich genau daran erinnern, dass ich vor ein paar Jahren mal in einem Börsenblog von einer solchen Untersuchung gelesen habe, kann die Quelle aber jetzt leider nicht mehr finden. Man kann es sich aber auch denken: Je breiter man streut, desto weniger fällt ein Totalausfall, den man ja an der Börse nie ganz ausschließen kann, ins Gewicht. Aber wenn man so viele Einzelwerte hat, dass man kaum noch mit ihrer Beobachtung hinterher kommt, oder viel schlimmer: dass darunter die Sorgfalt bei ihrer Auswahl leidet, dann bringt die Streuung natürlich nichts.
Ich halte derzeit 11 Titel. Gottfried Heller, der mir auch immer sehr gefallen hat, sagt gerne: Ein gutes Depot muss aufgestellt sein wie eine Fußballmannschaft. Mit starker Defensive, die für Stabilität sorgt, einem breiten Mittelfeld und zwei bis drei Sturmspitzen. Die letzteren können viele Tore schießen, aber auch mal ein Totalausfall sein. 😉 Bei größeren Depotsummen halte ich etwa 20 Werte für perfekt, das wäre dann eine Fußballmannschaft mit allen Reservespielern.
b.m.
Als Jurist befragt: welche Implikationen hat Deiner Meinung nach die jüngste Kehrtwende des BGH in seiner Entscheidung am 8.10.2013 betreffend Delisting und Downlisting (Geschäftszahl II ZB 26/12)?
T.C.
Darauf bin ich auch erst durch Deinen Artikel aufmerksam geworden. Im Wertpapierrecht kenne ich mich aber zu wenig aus, um das fachjuristisch kommentieren zu können. Verfassungsrechtlich kann man das sicherlich als Eingriff in das Grundrecht auf Eigentum bedenklich finden. Andererseits sollte einem als Anleger schon klar sein, dass unseriöse Unternehmen immer einen Weg finden werden, wie sie ihre gutgläubigen Investoren über den Tisch ziehen können, ohne dass einen der Rechtsstaat vollständig davor schützen könnte. Deswegen sollte man besser nur in Firmen investieren, denen man vertraut, weil sie sich in der Vergangenheit auch immer als vertrauenswürdig erwiesen haben. Ein Restrisiko bleibt sicherlich immer, aber damit lässt sich leben.
b.m.
Schonungslose Ehrlichkeit erbeten: Wie oft gibst Du dem Impuls nach, auf Dein Portfolio zu schauen und seine Wertänderung zu verfolgen?
T.C.
Normalerweise einmal am Tag, immer abends. In Marktphasen, in denen die Kurse rasant steigen, gucke ich aber auch gerne mehrmals am Tag ins Depot und gönne mir die Freude. Es spricht ja nichts dagegen, sich das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Und was gibt es Angenehmeres als angenehme Gedanken? Im Gegensatz zu anderen angenehmen Dingen im Leben kosten die ja nichts!
In Marktphasen, in denen es rasant abwärts geht, sehe ich mir das Depot dafür manchmal tage- oder wochenlang nicht an. Warum sollte man sich auch über die schlechten Kurse ärgern? Wenn schon, dann sondiere ich in solchen Phasen intensiv die Märkte und suche nach Schnäppchen. Wenn man dafür aber keine Liqidität mehr hat, dann muss man die Schwächephase eben aussitzen.
b.m.
Wann hat für Dich das Interesse an Aktien begonnen? Was war die erste Aktie, die Du gekauft hast?
T.C.
Es ist immer ein großer Vorteil an der Börse, wenn man ein sparsamer Mensch ist, denn nur dann kann immer frisches Geld ins Depot fließen, auch wenn die Beträge noch so klein sind. Auf einer Klassenfahrt in der Schule habe ich mal als einziger mehr Geld wieder mit nach Hause gebracht, als ich mitgenommen hatte, weil ich nicht nur nichts ausgegeben, sondern zwischenzeitlich noch zwei unterwegs gefundene Pfandflaschen abgegeben hatte. Später im Zivildienst und im Studium habe ich immer einen Teil meiner Einkünfte zur Seite gelegt. Damals bekam man für Festgelder noch vier Prozent. Allerdings hab ich mich damals nie für Wirtschaft oder Börse interessiert. Dann kam der Börsenboom der späten 90er. Immer wieder hörte man von Kommilitonen, die mit kleinem Einsatz riesige Summen an der Börse verdient hatten. Und das waren oft gar nicht so die Hellsten… Ich ärgerte mich über mich selbst, dass ich so wenig Ahnung hatte und mit meinen vergleichsweise mickrigen Festgeldern Vorlieb nehmen musste. So begann ich, die Börse einige Monate lang zu beobachten. Auf einer Party prahlte ein Kommilitone, er habe gerade seine Telekom-Aktien für das Fünffache seines Einstandswertes verkauft. Da meinte eine Bekannte: „Mann, bist du blöd. Die hätte ich dir zu dem Preis aber sofort abgekauft.“ (Die Telekom-Aktie stand damals bei etwa 90 Euro.) Diese Bekannte riet mir auch, Deutsche Bank-Aktien zu kaufen. Die standen damals bei etwa 65 Euro. Mit denen könne man nun absolut nichts verkehrt machen. Und darüber hinaus sei die Commerzbank besonders zu empfehlen… Ich ließ mich bei meiner Bank beraten und investierte im April 2000 knapp ein Drittel meines damaligen Vermögens in verschiedene Aktien, darunter auch in solche der Deutschen Bank und des Neuen Marktes. Ein paar Monate später hatten sich die Kurse halbiert – und das sollte erst der Anfang sein.
Aus heutiger Sicht war das für mich eine sehr heilsame Erfahrung. Ein Soziologie-Professor in Speyer, wo ich Ende 2000 ein Semester an der Hochschule für Verwaltungswissenschaft verbrachte, erklärte uns sinngemäß, dass die Börse nur dazu gemacht sei, den kleinen Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen. Ich hörte dort aber auch eine Einführungs-Vorlesung in Volkswirtschaft, wo der Professor sehr anschaulich erklärte, wie Märkte funktionieren und warum es immer Überinvestitionskrisen gibt u.s.w. Ich beschloss, mich näher mit Wirtschaft und Börse zu beschäftigen, um mir das in so kurzer Zeit verlorene Geld vielleicht irgendwann wieder zurückzuverdienen. Im Internet las ich auf einer Seite, die bald darauf eingestellt wurde, sehr viel über Value Investing und Unternehmensbewertung. Im Frühling 2001 verkaufte ich alle meine Positionen mit großem Verlust und kaufte stattdessen Werte, die ich mir selbst mit Verstand ausgesucht hatte: kleine aussichtsreiche deutsche Nebenwerte mit niedriger Bewertung. Als es dann bis März 2003 noch immer weiter abwärts ging, hielt ich durch (immerhin!), aber leider fehlte mir der Mut, auf diesem Niveau noch einmal richtig nachzukaufen. So dauerte es noch bis Ende 2004, bis ich meine Verluste wieder aufgeholt hatte. Erst dann kaufte ich wieder nach (natürlich schon wieder etwas zu teuer, aber langfristig gesehen war es noch in Ordnung). Beim nächsten Crash 2008/09 rutschte ich noch einmal vorübergehend ins Minus, aber da erkannte ich glücklicherweise, welche großartige Chance sich nun bot, und investierte alle Rücklagen, die ich hatte, in Qualitätsaktien zu Spottpreisen. Wahrscheinlich werden wir eine solche Gelegenheit wie Anfang 2009, als der DAX bei 3.300 Punkten notierte, in den nächsten Jahrzehnten nicht mehr bekommen. Aber Rücksetzer und Korrekturen, in denen es sich lohnt, beherzt zuzugreifen, wird es immer geben.
b.m.
Zum Schluss noch: Welche Ziele hast Du Dir für Deine finanzielle Zukunft gesetzt?
T.C.
Ich bin ja nur ein kleiner, bescheidener Freiberufler mit niedriger Rentenerwartung. Daher ist mein erklärtes Ziel als Anleger die Sicherung meiner Unabhängigkeit von staatlichen Transferzahlungen bis ins hohe Alter. Kostolany hat immer gesagt: Nicht reich muss man sein, sondern unabhängig. Das finde ich auch. Er hat aber auch noch gesagt, er habe als Aktionär immer ein gutes Leben führen können, und er meine damit nicht „das gute Leben eines Schotten“. Doch genau dieses „gute Leben eines Schotten“ gefällt mir eigentlich ganz gut. Denn wie sagte Seneca: „Reich nenne ich den, der arm ist an Begierden.“
Börsen-Buchautor Thomas Claer