justament.de, 21.11.2022: Ästhetische Negativität
Ästhetische Negativität
Ein Besuch im Käthe-Kollwitz-Museum Berlin, neuerdings im Theaterbau am Schloss Charlottenburg
Thomas Claer
Das Käthe-Kollwitz-Museum ist vor einigen Wochen umgezogen: aus der Fasanenstraße nahe dem Ku’damm, wo es seit 1986 seinen Sitz hatte, in den Theaterbau am Schloss Charlottenburg. Und wenn man schon nur ein paar Ecken davon entfernt wohnt, ist es doch – und nicht nur im buchstäblichen Sinne – naheliegend, es endlich einmal zu besuchen, zumal man dies schon immer mal vorhatte.
Wer seine Kindheit und Jugend in der DDR verbracht hat, der kennt natürlich Käthe Kollwitz (1867-1945), die bekannte Berliner Grafikerin, Malerin und Bildhauerin, aus den offiziellen Schulbüchern, in denen viele ihrer Werke immer wieder abgedruckt, erläutert und gewürdigt wurden. Käthe Kollwitz galt sozusagen als sozialistische Künstlerin par excellence, was aber genau genommen nicht ganz richtig ist; wirklich falsch ist es allerdings auch nicht. Zwar war sie niemals Mitglied einer politischen Partei, doch hat sie aus ihrer Sympathie für die sozialistische (und wohl auch kommunistische) Bewegung nie ein Geheimnis gemacht und vor allem auch in ihrer Kunst – so wurde es zumindest weithin empfunden – stets einen eindeutigen „Klassenstandpunkt“ vertreten. Allerdings war es für die DDR auch denkbar einfach, sie voll und ganz für ihre Sache zu vereinnahmen, denn sie konnte sich ja infolge ihres Todes bereits kurz vor Kriegsende nicht mehr dagegen wehren. Eine offene Frage bleibt indessen, ob sie den neuen Machthabern im Arbeiter- und Bauern-Staat womöglich kritisch begegnet wäre, sich ihnen – horribile dictu – sogar durch Abwanderung in den Westen entzogen hätte oder ob sie, was ihren Nachruhm angeht, von Glück sagen kann, dass sie nicht noch länger gelebt hat, da sie ansonsten leicht zur stalinistischen Kulturfunktionärin hätte werden können. (So wie z.B. der „progressive“ Schriftsteller Heinrich Mann nach aktuellem Stand der Forschung nur durch sein vorzeitiges Ableben vor einer solchen, eigentlich schon mit ihm ausgehandelten Rolle in der DDR bewahrt wurde.)
Wie auch immer, zumindest hat ihre politische Wirkung und posthume propagandistische Instrumentalisierung Käthe Kollwitz bis heute nicht nachhaltig geschadet. Denn künstlerisch hat sie in der Tat Außerordentliches zu bieten. Der erste Eindruck ihrer im Theaterbau versammelten Werke, die einen Großteil ihres Schaffens ausmachen dürften, ist überwältigend. Eindringlich, grell und enorm plakativ wirken ihre Bilder, obwohl sie alle nur in Schwarz-Weiß gehalten sind. Man merkt, dass sie vom Expressionismus kommt. Schließlich ist sie gerade einmal 14 Jahre jünger als Vincent van Gogh (1853-1890). Und ganz ähnlich intensiv wie bei diesem sind ihre Werke, nur ohne jede Leichtigkeit. Die Stimmungslage geht bei ihr vielmehr ins Anti-Euphorische, ins abgrundtief Traurig-Verzweifelte, allzeit Schwermütige. Aber nicht in stillem Leiden, sondern gleichsam immerfort laut aufschreiend, nur eben bildlich. (Man fühlt sich in dieser Ausstellung auch ständig an den „Schrei“ von Munk erinnert.) Thematisch geht es immer um dieselben Themen: Die Not und das Elend der kleinen Leute, der Arbeiter und Bauern, die mörderische Sinnlosigkeit der Kriege.
Nur stellt man sich im Laufe der Besichtigung dann irgendwann doch die Frage, woher die geradezu monomanische Obsession dieser Künstlerin für diese Themen kommt. Keine Frage, ihre Empörung über die sozialen Missstände ihrer Zeit, über Krieg und Militarismus ist vollauf berechtigt. Aber es gibt bei ihr tatsächlich keine anderen Themen und vor allem auch keine anderen Stimmungen. Niemals entsteht so etwas wie Frohsinn, Entspannung oder vielleicht Sinnlichkeit. Selbst ihren Aktzeichnungen und -skulpturen fehlt wirklich jede Spur, ja jeder Hauch von Erotik. Die Schönheit der Natur oder von Architektur? Kommt bei ihr nicht vor. Und was ihrer Kunst erst recht abgeht, sind Humor oder gar Ironie. Wie anders hat doch ihr Kollege Heinrich Zille (1858-1929) seine ganz ähnlichen Sujets – sogar mit ähnlichen Mitteln – wiedergegeben: heiter, spitzbübisch, augenzwinkernd. Bei Käthe Kollwitz dagegen herrscht nur existentieller Ernst. Wenn nicht alles so nüchtern wäre, könnte man dazu fast sagen: bierernst.
Natürlich ist so etwas immer auch eine Temperamentsfrage. Vielleicht hat diese Künstlerin ja wirklich ein Leben im mentalen Ausnahmezustand geführt. Einen ihrer beiden Söhne und dazu noch einen Enkel hat sie in den beiden Weltkriegen verloren. Aber ihr Sohn hatte sich im Alter von 18 Jahren freiwillig zum Kriegseinsatz an der Front gemeldet, obgleich seine Eltern zweifellos bereits zu dieser Zeit (1914) offen pazifistisch und antinationalistisch eingestellt gewesen waren. Und ihr Enkelsohn wollte gar „nicht der Enkel von Käthe Kollwitz sein“ und verstand sich als überzeugter Nationalsozialist, als er 1940 tödlich verwundet wurde. Wieviel Protesthaltung gegen die dominante Mutter respektive Großmutter wird dabei im Spiel gewesen sein? Im menschlichen Umgang war Käthe Kollwitz vermutlich nicht immer so ganz einfach…
Dennoch sollte, wer es noch nicht getan hat, unbedingt das Käthe-Kollwitz-Museum besuchen. Auch wenn es, was eigentlich denkbar unpassend ist, nun in einem alten preußischen Schloss untergebracht ist. Oder sollte der Hintergedanke dieser Ortsauswahl gerade darin liegen, die verblichenen Hohenzollernkönige mit sozialer Not und Kriegselend zu konfrontieren, was sie während ihrer Herrschaft kaum jemals interessiert haben dürfte?
justament.de, 6.12.2021: Mehr als desselbe in Hellgrün
Recht kulinarisch: Gerichtskantinentest nach Neueröffnung im Landgericht am Tegeler Weg in Berlin-Charlottenburg
Thomas Claer
Man hatte ja schon fast nicht mehr daran geglaubt, dass die Landgerichts-Kantine am Tegeler Weg eines Tages wieder öffnen würde. Mehrere Jahre lang wollte sich, warum auch immer, offenbar partout kein Betreiber finden. Immerhin waren die großzügigen Räume im obersten Stockwerk des Gerichtsgebäudes mit dem prächtigen Blick auf den Schlosspark Charlottenburg zu jener Zeit unverschlossen geblieben, und wer wollte, konnte sich aus einem dort aufgestellten Getränke-Automaten versorgen und einsam den schönen Ausblick genießen. Doch dann war irgendwann auch noch der Automat defekt. Es war zum Verzweifeln… Vor ein paar Monaten jedoch geschah dann das kaum noch für möglich Gehaltene: Eine Kette namens Gastfroh hat den Betrieb übernommen. Und seitdem gibt es dort endlich wieder die von Gerichtsmitarbeitern und Anwohnern so langersehnte Kantinenverköstigung.
Die erste signifikante Veränderung im Vergleich zu früher betrifft die Optik der Räume: Diese erstrahlen nun in einem leuchtenden Hellgrün. Doch auch der tägliche Speiseplan ist nunmehr – was man vom Angebot des früheren Betreibers nicht unbedingt sagen konnte – voll und ganz in der Gegenwart angekommen. Täglich vier Mittagsgerichte, die sich gottlob längst nicht nur auf deutsche Hausmannskost oder gar den unvermeidlichen Kantinen-Klassiker Currywurst mit Pommes Frites beschränken, erwarten die hungrigen Besucher. Gekocht wird vielfältig, nicht selten sogar international. Ein vegetarisches Gericht ist immer dabei, mitunter sogar “Wellness-Food”. Und was ganz wichtig ist: Das Preisniveau ist durchaus moderat, vor allem gemessen daran, was einem hier geboten wird. Schon ab 3,50 Euro kommt man beim vegetarischen Essen zum Zuge, der Spitzenpreis für die “Empfehlung des Tages” liegt bei immer noch überschaubaren 5,80 Euro. Ein Wermutstropfen ist allerdings der Zuschlag von 50 Cent, der von externen Kantinenbesucher erhoben wird. Doch ist diese kleine Abschreckungs-Maßnahme verständlich, denn sonst ließe sich der Ansturm aus den umliegenden Straßen womöglich nicht mehr bewältigen.
Das Entscheidende ist nämlich: In dieser Kantine schmeckt es in der Regel ganz ausgezeichnet. Und das ist nicht nur meine unmaßgebliche Sicht der Dinge, denn beim Essen bin ich zugegebenermaßen leicht zufriedenzustellen, Hauptsache die Portionen sind groß genug (was aber hier glücklicherweise auch der Fall ist, zumindest meistens). Weitaus schwerer wiegt jedoch der Umstand, dass meine Frau in aller Regel keine Einwände gegen dieses Kantinenessen vorzubringen hat, was schon als äußerst bemerkenswert gelten kann, da man es ihr ansonsten beim Kochen kaum jemals rechtzumachen vermag… Noch ein Wort zum Kaffee: Der kostet nur 60 Cent und ist gar nicht schlecht. Meine Frau lobt vor allem die schöne Form der Tassen (siehe Foto).
Fazit: Die neue Gerichtskantine am Tegeler Weg ist für Mitarbeiter und Anwohner ein Segen. Das Gesamturteil lautet: voll befriedigend (12 Punkte).
Informationen: https://www.gastfroh.de/resources/speisekarten/landgericht_berlin.pdf
www.justament.de, 10.12.2018: 50 Jahre Schlacht am Tegeler Weg
Ein Film- und Diskussionsabend in Berlin-Charlottenburg
Thomas Claer
Gestern im „Haus am Mierendorffplatz“. Der kleine Raum ist rappelvoll. Auf der Leinwand läuft ein Dokumentarfilm aus den Achtzigern. Hier, rund ums nahe gelegene Landgericht Berlin am Tegeler Weg, wurde Rechtsgeschichte geschrieben. Damals, vor fünfzig Jahren, tobte dort die legendäre „Schlacht am Tegeler Weg“. Während im Gericht über die Aberkennung der Anwaltszulassung des damaligen Apo-Anwalts Horst Mahler wegen „Unwürdigkeit“ gestritten wurde (er hatte zuvor an einer Demonstration gegen die Springer-Presse teilgenommen), hatten sich draußen hunderte Studenten und Sympathisanten versammelt und lieferten sich eine wilde Straßenschlacht mit der Polizei. Am Ende standen 130 verletzte Polizisten. Einige der damaligen Demonstrationsteilnehmer sind anwesend, auch die Regisseurin des gezeigten Films. Nur leider fehlt Alt-Aktivist und LinksanwaltHans-Christian Ströbele, mittlerweile 79. Zunächst hatte er seine Teilnahme zugesagt, musste dann aber leider doch aus gesundheitlichen Gründen passen. Bei der letzten Großdemo gegen den Mietenwahnsinn sei er noch dabei gewesen, heißt es.
Überhaupt besteht das Publikum hauptsächlich aus rüstigen Siebzigern, die in der anschließenden munteren Diskussion genüsslich in ihren Erinnerungen schwelgen. Die große Streitfrage ist mal wieder, wie schon im Dokumentarfilm, wie denn der LkW mit den Pflastersteinen, die später von den Demonstranten auf die Polizisten geworfen wurden, durch die Absperrungen der Polizei gelangen konnte. Zwei Theorien habe es damals gegeben: Verfassungsschutz und CIA. Demgegenüber zitiert ein Anwohner die Meinung seiner Nachbarin: In den Straßen seien doch damals überall die Straßenbahnschienen abmontiert und Pflastersteine aus den Straßen in LkWs verladen worden. Nein, widerspricht ein anderer, die besagten Steine seien doch viel größer gewesen, das habe man im Film doch deutlich erkennen können. Und ein Dritter berichtet, dass ein Polizist sogar zugegeben habe, als „agent provocateure“ gehandelt zu haben, doch den lassen wiederum andere nicht als zuverlässigen Zeugen gelten. Nein, diese Frage ist wohl einfach nicht mehr abschließend zu klären…
Eine Anekdote reiht sich an die nächste. Ein Herr im Pullover berichtet, wie er damals in der S-Bahn von Bauarbeitern angespuckt worden sei, die ihn als „Scheiß-Student“ beschimpften. Auch die Straßenbauarbeiter vor Ort hätten wohl übelste Beleidigungen in Richtung der Demonstranten gerufen. 90 Prozent der Zeitungslandschaft war Springer-Presse. Und die habe gehetzt, was das Zeug hielt. Ja, so war das damals. Eine aufregende Zeit sei das gewesen, da sind sich alle einig. Aber wie ist es denn heute? Doch eigentlich fast genauso aufregend! Und nun gehen die Meinungen munter auseinander. Die Gelbwesten in Frankreich? Ganz großartig, finden die einen. Oh nein, echauffieren sich die anderen. Und Rechts und Links lägen manchmal eben doch dicht beieinander, das sähe man doch an Horst Mahler, damals linker Apo-Aktivist, heute wegen mehrfacher Volksverhetzung verurteilter Rechtsextremist. Und in Frankreich stünden Rechte und Linke schon Seite an Seite, in Italien und Griechenland koalierten sie miteinander. Nein, das machen wir nicht mit, protestieren mehrere ältere Damen. Keine Gleichsetzung von Rechts- und Linksradikalismus! Das sei doch ein himmelweiter Unterschied! Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass die Diskussionsfreude der Aktivisten von einst auch nach 50 Jahren noch kaum nachgelassen hat und dass politisches Temperament wohl auch keine Frage von Alt oder Jung ist.
www.justament.de, 24.7.2017: Je oller, je doller
Peter Schneiders Berlin-New York-Roman “Club der Unentwegten”
Thomas Claer
Jeder Stadtbezirk in Berlin hat seine typische Bewohner-Generation. So trifft man in Friedrichshain vor allem die 20 bis 30-Jährigen, in Prenzlauer Berg die 35 bis 45-Jährigen. Und in Charlottenburg am Stuttgarter Platz, wo einst die legendäre Kommune 1 mit Uschi Obermaier und Rainer Langhans ihre Orgien feierte, sitzt heute zumeist die Generation 60 plus bei einem gepflegten Weißwein in den gediegenen Restaurants und Straßencafés. Um einen ganz überwiegend männlichen lockeren Freundeskreis, der sich dort immer mal wieder in einer italienischen Kneipe begegnet, geht es in Peter Schneiders neuem Roman „Club der Unentwegten“. Dieser besagte Club also, bestehend aus älteren, meist wohlhabenden, gebildeten und beruflich erfolgreichen Herren, ist eine muntere Klatsch- und Tratsch- und Debattierrunde, die sich hauptsächlich auf das wahrheitsgemäße Einander-Berichten selbsterlebter Liebesabenteuer mit überwiegend deutlich jüngeren Damen, größtenteils außerhalb etwaig bestehender ehelicher Bindungen, konzentriert. In ihrer gemeinsamen Überzeugung, dass andere Gesprächsthemen letztlich keinen besonderen Wert besitzen, haben es sich die „Club-Mitglieder“ zur Regel gemacht, dass Ausführungen über den eigenen Gesundheitszustand keinesfalls länger als zehn Minuten andauern dürfen und das Ansprechen politische Themen sogar strikt verboten ist. Jedoch müssen einmal begonnene Liebesgeschichten immer und unbedingt haargenau und vollständig zu Ende erzählt werden.
Lange hatte der Kunsthistoriker und Privatgelehrte Roland, Hauptperson des Romans und erkennbar ein Alter Ego des Autors, in diesem Club nicht viel zu berichten, denn „das mit den Frauen“ war für ihn ja eigentlich schon seit Jahren vorbei. Doch während seiner Uni-Gastdozentur in New York hat es ihn, den alten Schwerenöter, dann doch wieder erwischt. Roland, inzwischen um die 70, hat eine Affäre mit der 30 Jahre jüngeren Leyla – „a striking beauty from Iran“, aber aufgewachsen in New York – begonnen. Wie kann das sein, fragt man sich, dass eine schöne junge Frau um die 40 auf so einen alten Knacker steht? Zunächst einmal, so erfahren wir, sieht Roland locker zehn bis 20 Jahre jünger aus, als er ist. Und dann gibt es einen gemeinsamen Bekannten, der die beiden regelrecht miteinander verkuppelt hat. (Oft genügt es ja im Leben, statt selbst besonders kontaktfreudig zu sein, einen oder mehrere „Multiplikatoren“ zu kennen, die einen dann mit aller Welt bekannt machen.) Schließlich ist Roland als Semiprominenter und gern gesehener TV-Talkshowgast für Leyla, die als Bilder-Verkäuferin in einer New Yorker Luxus-Galerie arbeitet und in einem Mikroapartment in der teuersten Gegend Manhattans lebt, offenbar eine interessante Partie. Zwar reagiert sie anfänglich schockiert, als sie sein wahres Alter erfährt, setzt aber dennoch unverdrossen ihre Liaison mit ihm fort.
Gewisse Schwierigkeiten ergeben sich aus dem sehr unterschiedlichen Kenntnisstand der beiden Liebenden hinsichtlich des Gebrauchs der modernen Kommunikationstechnologien. Immer wieder kommt es vor, dass Roland wichtige Nachrichten von Leyla auf seinem Handy verpasst oder sogar versehentlich gelöscht hat. Auch beim transkontinentalen Skypen tut Roland sich schwer, so dass Leyla ihn nicht selten vorwurfsvoll fragt, in welchem Jahrhundert er eigentlich lebe. Wirklich kompliziert wird es allerdings erst, als Leyla mit ihrem schon seit langem aufgeschobenen Kinderwunsch um die Ecke kommt. Roland, der bereits einen erwachsenen Sohn aus einer früheren Verbindung hat, kann es sich nicht so recht vorstellen, in absehbarer Zeit als womöglich gebrechlicher und vertrottelter Alter noch Erziehungsarbeit leisten zu müssen. Fortan betrachten beide ihre Beziehung als tendenziell interimistisch, kommen aber auch nicht so recht voneinander los, zumal Roland sich, was überaus detailliert beschrieben wird, als fabelhafter Liebhaber erweist …
Wie schon die früheren Bücher dieses Autors, hier sei vor allem an die ausgezeichneten Berlin-Romane „Paarungen“ und „Eduards Heimkehr“ aus den Neunzigern erinnert, liest sich auch der „Club der Unentwegten“ leicht und unterhaltsam. Ausführlich werden dem Leser die regionalen Besonderheiten der Romanschauplätze mitsamt ihren politisch-gesellschaftlichen Hintergründen erklärt. So staunt Roland, der zwischen seiner Charlottenburger Dachterrassenwohnung mit gut gefüllter „Weinbibliothek“ und seinem New Yorker Apartment im Gästehaus der NYU pendelt, immer wieder über die voll besetzten Tische auf den Berliner Trottoirs vor den Kneipen und Bars, insbesondere bei schönem Wetter. „Die meisten Gäste hatten ein Glas Wein vor sich stehen; und obwohl die Mittagszeit vorbei war, schien niemand es mit dem Zahlen und Gehen eilig zu haben. Nicht zum ersten Mal fragte Roland sich, welcher Arbeit all diese Leute nachgingen. Ein vergleichbarer Anblick an einem Werktag in New York war schwer vorstellbar. Berlin schien die Welthauptstadt der flexiblen Arbeits- und Entspannungszeit zu sein.“
Nebenbei zeichnet dieser Roman aber auch ein recht stimmiges Porträt der inzwischen in die Jahre gekommenen deutschen Achtundsechziger-Generation, zu deren Wortführern der Autor in seiner Jugend bekanntlich gehört hat. Diese so genannte Protest-Generation, das wird hier ganz deutlich, war jedenfalls wirtschaftlich gesehen eine goldene. Denn nach dem Abtreten der personell gelichteten und moralisch diskreditierten „Kriegsjahrgänge“ konnte ihr geradezu spielend der vielzitierte „Marsch durch die Institutionen“ gelingen, unbelastet von all den existentiellen Sorgen und Nöten, mit denen die darauffolgenden Generationen zu kämpfen hatten und haben. Am Ende des Buches unternimmt Roland mit Leyla noch einen traumhaften Ausflug in ein ganz zauberhaftes Hotel an der Küste Italiens. Die Toskana-Fraktion lässt grüßen!
Peter Schneider
Club der Unentwegten
Kiepenheuer & Witsch S. Fischer Verlag Köln 2017
288 Seiten, 19,00 EUR
ISBN: 978-3-462-05018-9
www.justament.de, 3.5.2010: Everybody’s Darling
Eine Ausstellung im Schloss Charlottenburg zum 200. Todestag der preußischen Königin Luise
Thomas Claer
Vor zweihundert Jahren gab es natürlich noch keinen Popstarkult im eigentlichen Sinne. Aber wie will man es sonst nennen, wenn eine junge, schöne und allseits beliebte preußische Königin ihre Tücher auf besondere Weise um die Schultern zu tragen pflegte, und junge Menschen verschiedenster Stände imitierten es? Und all das entstand nur mit den Popularitätsverbreitungsmitteln der damaligen Zeit: Gemälden, immer wieder Gemälden, ein paar versprengten Journalen für die Gebildeten und ansonsten Hörensagen. Die Maler standen förmlich Schlange, um sie zu porträtieren. Doch weit mehr als ihre Schönheit war es ihr natürlicher Charme, der Luise von Mecklenburg-Strelitz (1776-1810), die siebzehnjährig den etwa sechs Jahre älteren späteren preußischen König Friedrich Wilhelms III. ehelichte, zum Gegenstand allgemeiner Verehrung machte. Und so makaber es klingen mag: Nichts ist dem unsterblichen Ruhm förderlicher als ein früher Tod. Mit nur 34 Jahren hat eine Lungenentzündung sie hinweggerafft – worauf die Vereinnahmung und Legendenbildung begann.
Ungezwungene Umgangsformen
Klar, ein solcher Stoff ist wie geschaffen für eine Sonderausstellung im ohnehin sehenswerten Schloss Charlottenburg in Berlin. Kein Wunder, dass die Besucher in Scharen dorthin strömen. Sie werden nicht enttäuscht. Mag man auch die anhaltende Tendenz zur Kommerzialisierung im Ausstellungswesen beklagen, ist es doch allemal anschaulicher, durch die Privatgemächer der Königin zu spazieren, als sich nur durch Wikipedia oder die zahlreichen Verfilmungen oder Bücher zu unterrichten.
Schon der erste Augenschein verrät: Luise wirkt überraschend zeitgenössisch, regelrecht modern mutet der Schnitt ihrer Kleidung auf etlichen Porträts an. Gepriesen wird in den Zitaten auf den Wandtafeln vor allem der für die damaligen Verhältnisse erfrischend unaristokratische Stil der Königin. Von ungezwungenen Umgangsformen ist die Rede, sie duzte sich sogar mit ihrem Gemahl. Doch ging sie bei ihren Tabubrüchen so behutsam vor und erwies der Etikette gerade noch so viel Respekt, dass sie konservative Kreise nicht völlig gegen sich aufbrachte.
Vieles an ihr gilt als Produkt der Erziehung ihrer liberalen Großmutter in Darmstadt, bei der sie ab 1786 aufwuchs und, wie es hieß, so manche Freiheiten genoss. Über den Besuch der vierzehnjährigen Luise (gemeinsam mit Schwester und Oma) in Frankfurt schreibt die Mutter Goethes an ihren Sohn: “Das Zusammentreffen mit der Prinzessin von Mecklenburg hat mich außerordentlich gefreut … von einer steifen Hofetikette waren sie da in voller Freyheit – tantzend – sangen und sprangen den gantzen Tag …” Noch als Jugendliche wird Luise als “kindlich unbefangen und verspielt” beschrieben. Dabei war sie keine eifrige Schülerin, in ihren Briefen häuften sich Rechtschreibfehler. Doch tat das der ihr überall entgegengebrachten Bewunderung keinen Abbruch.
Liebesheirat mit Friedrich Wilhelm
Obgleich von den Eltern arrangiert kann ihre Ehe mit Friedrich Wilhelm als ausgesprochene Liebesheirat gelten, was seinerzeit bekanntlich eher die Ausnahme war. Zum ersten Mal traf Luise den 22-jährigen Kronprinzen am 14. März 1793, am 19. März machte er ihr persönlich seinen Heiratsantrag, und am 24. April fand die offizielle Verlobung statt. Bereits Weihnachten 1793 feierte man Hochzeit. Nach Berichten von Augenzeugen wirkte der Bräutigam, sonst eher schüchtern und introvertiert, an diesem Tag heiter und ausgelassen. Und was auch schon sehr modern anmutet, es gab einen Ehevertrag. Weniger fortschrittlich allerdings war sein Inhalt: Luise sollte eine bestimmte Summe Geldes “zu selbsteigener Disposition” erhalten, die sich bei der Geburt eines Sohnes, nicht aber bei der Geburt einer Tochter deutlich erhöhen würde. Tatsächlich gebar Luise, die 1797 mit 21 Jahren Königin wurde, dann nicht weniger als zehn Kinder in knapp 17 Ehejahren (sieben von ihnen erreichten das Erwachsenenalter), darunter den späteren deutschen Kaiser Wilhelm I. (Nebenbei gesagt ist Luise somit auch die Urgroßmutter des letzten deutschen Kaisers Wilhelm II.) Das hohe Ansehen der Königin war nicht zuletzt ihrem Pflichtbewusstsein geschuldet, das sie trotz eher leichtlebiger Veranlagung in ihrer hoheitlichen Position walten ließ.
Einsatz in der großen Politik
Sie unterstützte ihren Gatten bei dessen politischen Geschäften nach Kräften, machte Außenpolitik und eine gute Figur in ihren Begegnungen mit dem russischen Zaren Alexander und Napoleon. Über Zar Alexander (den Namensgeber des Berliner Alexanderplatzes) liest man in ihren Aufzeichnungen: “Er ist wunderbar gut gebaut und von sehr stattlicher Erscheinung. Er sieht aus wie ein junger Herkules.” Besonders ausführlich widmet sich die Ausstellung ihrem Aufeinandertreffen mit Napoleon, der anschließend an seine Frau nach Paris schreibt: “Die Königin von Preußen ist wirklich bezaubernd, sie ist voller Koketterie zu mir. Aber sei ja nicht eifersüchtig …”
Mausoleum, Insel, Propaganda
Gleich nach Luises Tod ließ Friedrich Wilhelm ein beeindruckendes Mausoleum im Park des Schlosses Charlottenburg errichten, wo sie (wie später noch andere wichtige Familienmitglieder) ihre letzte Ruhestätte fand. Ihr liebster Aufenthaltsort im Charlottenburger Schlosspark erhielt Skulpturen von Amor und Aphrodite, eine steinerne Büste mit ihrem Antlitz und fortan den Namen “Luiseninsel”. Weitgehend schuldlos ist Luise an ihrer postumen politisch-propagandistischen Instrumentalisierung durch deutschnationale Kreise. “Mehr als von der Verleumdung ihrer Feinde hat Luise von der Phrasenhaftigkeit ihrer Verehrer zu leiden gehabt”, befand Theodor Fontane in seinen “Wanderungen durch die Mark Brandenburg” (1862). Wie ungebrochen auch heute noch ihre Wirkung ist, beweist ein frisches Graffiti am Ausgang des Schlossparks zur Spree: ein Herz mit der Inschrift “Luise”.
Luise. Leben und Mythos der Königin
6. März – 30. Mai 2010
Schloss Charlottenburg, Berlin