justament.de, 26.2.2024: Ende einer Verschwörung?
Landgericht Bielefeld entscheidet: Bielefeld gibt es doch
Thomas Claer
Schon seit langen Jahren ist sie in aller Munde: die sogenannte Bielefeld-Verschwörung. Irgendwelche Witzbolde hatten die Legende in Umlauf gebracht, dass es die Metropole am Teutoburger Wald mitsamt Dr. Oetker, Sparrenburg und Reform-Uni in Wirklichkeit gar nicht gebe. Doch nun hat das Landgericht Bielefeld – endlich, muss man sagen – ein Machtwort gesprochen: Wie erst jetzt bekannt wurde, erging bereits im vergangenen Herbst (Urt. v. 26.09.2023, Az. 1 O 181/22) das Urteil, wonach die Millionenklage eines Schlaubergers gegen die Marketing-Abteilung der Stadt Bielefeld auf Auszahlung von einer Million Euro abgewiesen wurde. 2019 hatte die Marketing-Abteilung ein Preisgeld in dieser Höhe für denjenigen ausgelobt, der beweisen könne, dass es Bielfeld tatsächlich nicht gebe. Der Mann hatte daraufhin als Beweis für die Nichtexistenz der Stadt ein mathematisches Axiom eingereicht, womit er aber, wie jetzt feststeht, nicht durchgekommen ist. Entscheidend – und auch wegweisend über das Verfahren hinaus – ist die Urteilsbegründung der Bielefelder Richter, in der es u.a. heißt: “Der erforderliche Erfolg wäre, nach dem objektiven Empfängerhorizont nur der offensichtlich unmögliche empirische Beweis der Nichtexistenz Bielefelds gewesen. Der axiomatische Beweis innerhalb eines axiomatischen Systems war nicht erfasst.” Und nun der entscheidende Satz: “Dass die Stadt Bielefeld existiert, ist eine offenkundige Tatsache und bedarf keines Beweises (im Sinne der ZPO), § 291 ZPO.” Großartig. Das musste doch einmal festgestellt werden. Der abgewiesene Kläger hat nun Gerichtskosten im fünfstelligen Bereich sowie die Anwaltskosten der Marketing GmbH zu tragen, welche bereits vorgerichtlich bei fast 8.500 Euro gelegen haben sollen…
justament.de, 12.2.2024: Stimme der kritischen Vernunft
Stimme der kritischen Vernunft
Zum Tod von Alfred Grosser (1925-2004)
Thomas Claer
Nun hat er also die 100 doch nicht mehr ganz geschafft. In den letzten Jahren war es zwar ruhiger um ihn geworden, doch blieb der umtriebige Politologe und Publizist Alfred Grosser bis zuletzt ein engagierter und streitbarer Geist im Dienste der Aussöhnung und Toleranz. Geboren in Deutschland und schon als Jugendlicher während der Nazi-Herrschaft nach Frankreich emigriert, legte er sich von dort aus dann unermüdlich für die deutsch-französische Verständigung ins Zeug und prägte als Hochschullehrer und Person des öffentlichen Lebens mehrere Generationen seiner Studenten, Leser und Zuhörer. In seinen späten Jahren hat er einmal einen seiner Kniffe verraten: War er irgendwo zu einem Vortrag eingeladen, was sehr häufig vorkam, dann sagte er dort immer auch etwas, was sein jeweiliges Publikum gar nicht gerne hören wollte. So erinnerte er die christlichen Kirchen an ihre historischen Verbrechen und die deutschen Gewerkschaften an ihre Kapitulation vor Hitler. Damals, 1991, wusste ich das noch nicht, als ich mit 19 Jahren das Glück hatte, bei einem seiner Auftritte dabei zu sein, was ich vor vier Jahren wie folgt geschildert habe:
„Doch noch in der aufgeheizten Phase während des Golfkriegs bekam unsere Schule Besuch von einem berühmten Intellektuellen. Der deutsch-französische Politologe Alfred Grosser hielt bei uns einen Vortrag – durch Vermittlung, wie es hieß, des stellvertretenden Rektors der Schule, der bekanntermaßen ein CDU-Mann war. Damals konnte man noch nicht einfach jemanden mal eben googeln. Daher steckte ich den armen Alfred Grosser gedanklich sogleich in die für mich unliebsame Schublade “konservativ”, zumal er in seinem Vortrag auch gleich entsprechend loslegte: Dass er mit erheblicher Verspätung erschienen sei, das liege an diesen sogenannten Friedens-Demonstrationen, die mal wieder den ganzen Verkehr lahmgelegt hätten. Dabei sei der Name “Friedensbewegung” doch ziemlich anmaßend, denn er suggeriere schließlich, dass alle anderen nicht für den Frieden wären, was aber überhaupt nicht der Fall sei. Und zur innenpolitischen Kontroverse anlässlich des Golfkriegs, den er ausdrücklich unterstützte, meinte er: Deutschland hätte sich auch an dieser internationalen Militäraktion mit UN-Mandat beteiligen müssen. Das wiedervereinigte Deutschland müsse lernen, auch selbst Verantwortung in der Welt zu übernehmen. Es müsse sich verabschieden vom Traum, eine Art Schweiz sein zu wollen und sich immer aus allem rauszuhalten. Dafür sei das Land zu groß und zu bedeutsam. Er habe gerade lange darüber mit seinen Freunden bei den hessischen Grünen diskutiert. (An dieser Stelle fragte ich mich irritiert, wie jemand mit solchen Ansichten Freunde bei den Grünen haben konnte. Ich hielt diesen Hinweis daher für wenig glaubhaft und vermutete einen Trick, um sich bei uns, den linksalternativen Bremer Schülern, irgendwie “einzuschleimen”.) Mehrere Wortmeldungen von Schülern und Lehrern führten daraufhin die Argumente der Friedensbewegung ins Feld, doch Prof. Grosser hielt argumentativ gekonnt dagegen, indem er sich auf die westliche Wertegemeinschaft berief und darauf, dass Deutschland sich, gerade aufgrund seiner Vergangenheit, nie wieder international isolieren dürfe. Es war wirklich schwer, noch etwas dagegen vorzubringen, was mich auch irgendwie wütend machte. Darüber hinaus bemerkte Alfred Grosser, dass er den letzten Bundestagswahlkampf vor der Wiedervereinigung “sehr traurig” gefunden habe, denn die konservative Bundesregierung habe den Eindruck erweckt, die deutsche Einheit sei ohne große Anstrengung zu erringen und die Opposition habe immer nur vorgerechnet, wie viel alles kosten würde. Kein deutscher Politiker habe den Menschen gesagt, dass zwar große Herausforderungen auf sie zukämen, aber mit großer gemeinsamer Kraftanstrengung alle Schwierigkeiten zu überwinden seien… Dabei entging mir nicht, dass Prof. Grosser in seinen Ausführungen die SPD als “Sozialisten” bezeichnet hatte. Ha, dachte ich, so will er sie diskreditieren, indem er sie in die linksradikale Ecke stellt. Keinen Moment lang dachte ich daran, dass in Frankreich, wo Alfred Grosser als Hochschullehrer tätig war, die Sozialdemokraten schlicht unter der Bezeichnung “Sozialisten” firmieren…
Bald darauf wurde ich von der Redaktion der Schülerzeitung gefragt, ob ich nicht einen Artikel über den Vortrag von Prof. Grosser an unserer Schule schreiben könnte. Natürlich ließ ich mich nicht lange bitten, denn dies war gewissermaßen meine erste journalistische Arbeit, auf die ich rückblickend aber keineswegs stolz bin. Denn ich ging in diesem Text, der die Überschrift “Macht der Sprache” trug, hart mit Alfred Grosser ins Gericht und kritisierte ihn dafür, dass er mit “rhetorischen Taschenspielertricks” am Ende scheinbar immer Recht behielt, ohne wirklich auf das berechtigte Ansinnen der Friedensbewegung einzugehen. Es dauerte aber nicht lange, ich glaube es war schon nach wenigen Monaten, da bereute ich zutiefst, was ich da geschrieben hatte. Denn mittlerweile war ich ein regelrechter Fan von Alfred Grosser geworden, den ich endlich als unabhängige liberale Stimme näher kennen- und schätzen gelernt hatte. Auf dem Flohmarkt an der Bremer Bürgerweide hatte ich zum Preis von 50 Pfennigen ein schon ziemlich zerknicktes und ramponiertes Exemplar seines Buches “Versuchte Beeinflussung. Reden und Aufsätze” aus den frühen Achtzigern erstanden und mit wachsender Begeisterung gelesen. Auch verfolgte ich nun regelmäßig die Fernseh-Gesprächsrunde “Baden-Badener Disput”, ausgestrahlt zu später Stunde auf 3Sat, in der Alfred Grosser ein ebenso ständiger Gast war wie der Philosoph Peter Sloterdijk, dessen “Kritik der zynischen Vernunft” ich auch schon eifrig studiert hatte…
Und so kann ich mich nun, nach dreißig Jahren, endlich bei Alfred Grosser, der gottlob noch lebt, aber mittlerweile auch schon 95 Jahre alt ist, für meinen damaligen unqualifizierten Text in der Schülerzeitung öffentlich entschuldigen.“
Am vergangenen Mittwoch ist der große europäische Intellektuelle und deutsch-französische Brückenbauer nun mutmaßlich in die ewigen Jagdgründe des aufgeklärten Denkens eingetreten.
justament.de, 29.1.2024: Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat in Gefahr
75 Jahre Grundgesetz und Ausblick auf ein Schicksalsjahr
Thomas Claer
Rückblickend betrachtet sind die 75 Jahre Grundgesetz in Westdeutschland und immerhin auch schon 34 Jahre Grundgesetz in Gesamtdeutschland, die wir in diesem Jahr feiern können, eine enorme Erfolgsgeschichte. Vor allem auch, wenn man bedenkt, zu welch märchenhaftem Wohlstand es die Deutschen in dieser Zeit gebracht haben. Selbst den Ärmsten geht es hierzulande – rein materiell gesehen – weit besser als jemals zuvor und so gut wie kaum irgendwo sonst auf der Welt. Die ungebrochene Attraktivität Deutschlands als Einwanderungsland legt hiervon ebenfalls Zeugnis ab. Insbesondere hat auch die deutsche Einheit, also die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West, in den zurückliegenden dreieinhalb Jahrzehnten letztlich eine sehr positive Entwicklung genommen. Wenn auch die Wirtschaftskraft der neuen Bundesländer noch immer hinter der im Westen zurückbleibt, so ist doch die massenhafte Abwanderung überwiegend junger Menschen aus dem Osten, die noch bis in die Zehnerjahre hinein zu beklagen war, nicht nur längst zum Stillstand gekommen, sondern hat sich mancherorts schon beinahe umgekehrt. Zuletzt haben sich sogar vermehrt bedeutende internationale Unternehmen für den Auf- und Ausbau von Standorten in Ostdeutschland entschieden. Selbst die heftigen Krisen der letzten drei Jahre, zuerst Corona, dann Ukraine-Krieg und vorübergehender Energiemangel, haben den Big Player in der Mitte Europas keineswegs aus der Bahn geworfen. Das aktuell leichte Schwächeln der Konjunktur geschieht auf kaum vermindert hohem Niveau. Soweit die Fakten.
Nun sollte dies alles doch eigentlich Anlass sein zu einem selbstbewussten und zuversichtlichen Blick nach vorn, aber das ist es leider ganz und gar nicht. Im Gegenteil: Die Stimmung ist offenbar so miserabel wie noch nie. Unsere Bundesregierung, die das Land in vielerlei Hinsicht mit Bravour durch die besagten schweren Krisen geführt, die in kürzester Frist die Energieversorgung radikal umgestellt und dennoch erfolgreich gesichert, die mit dem 49-Euro-Ticket breiten Bevölkerungsschichten zu unkomplizierter, kostengünstiger und umweltverträglicher Mobilität verholfen hat, ist nach der Hälfte der Legislaturperiode so unbeliebt wie keine ihrer Vorgängerregierungen. Doch auch die demokratischen Oppositionskräfte stehen keineswegs blendend da. Stattdessen liegt eine laut Verfassungsschutz in zumindest drei Landesverbänden “gesichert rechtsextremistische” Partei, die u.a. Millionen Zugewanderte zwangsweise “remigrieren” sowie unser Land aus der Europäischen Union hinausführen (und diese zerstören) will, in gleich drei ostdeutschen Bundesländern, wo in diesem Herbst Landtagswahlen anstehen, mit weitem Abstand vorne. So wie sie auch in den beiden anderen östlichen Ländern an erster Stelle und bundesweit stabil mit mehr als 20 Prozent auf Platz zwei liegt. Noch vor wenigen Jahren hätte man eine solche Situation für vollkommen unvorstellbar gehalten. Also was ist da los?
Nun gut, teilweise hat unsere Regierung etwas unglücklich und ungeschickt operiert wie etwa beim neuen Heizungsgesetz, das aber im Grunde genommen schon vor spätestens einem Jahrzehnt überfällig gewesen wäre (und dessen Äquivalente etwa in skandinavischen Ländern schon vor dreißig Jahren auf den Weg gebracht wurden, im überparteilichen Konsens wohlgemerkt), nur dass die Vorgängerregierungen sich fortwährend davor gedrückt haben und nun scheinheilig der Ampel den Schwarzen Peter dafür zuschieben. Die begreiflicherweise wenig populären aktuellen Sparmaßnahmen infolge des unglückseligen BVerfG-Urteils sind letztlich auch nur eine Spätfolge der krisenbedingten Zahlenakrobatik bereits der vorherigen Regierung, die aber damit beim höchsten Gericht noch durchgekommen ist…
Doch ist die Wahrnehmung offenbar in nicht unbeträchtlichen Teilen der Bevölkerung eine andere. Der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa hat in seinem Umfeld die folgende, anscheinend weit verbreitete Haltung beobachtet: “Eigentlich ist unser Dörfchen okay – und dann kommt der Staat und setzt uns ein Flüchtlingsheim hin. Und dann will die Regierung an die Heizung ran. Es reicht ihr also offenbar nicht, dass sie ins Dorf eindringt, sie will in mein Haus. Und mit der Impfung dringt sie sogar in meinen Körper vor. Und mein Denken will sie auch noch beeinflussen, ich darf das N-Wort nicht mehr sagen, ich muss gendern.” (Süddeutsche Zeitung vom 26.1.2024) Das mögen die enttäuschten Stimmen derer sein, die sich von der Politik nicht gehört fühlen. Aber sollte man auf solche Stimmen hören? Doch wohl besser nicht. Es macht wirklich einigermaßen fassungslos, wenn Menschen, die mindestens neun Jahre lang in diesem Staat zur Schule gegangen sind, sich erkennbar von jeder Vernunft ab- und verschwörerischen Weltsichten zugewandt haben.
In der gestrigen ZDF-Nachrichtensendung erklärte ein befragter Passant in einem thüringischen Landkreis: “Die Partei der Mitte ist für mich die AfD.” Erschreckenderweise sind solche absonderlichen Auffassungen vor allem im ostdeutschen kleinstädtischen und ländlichen Raum längst keine Seltenheit mehr. Der Berliner Soziologe Steffen Mau konstatiert: “Insbesondere die Entwicklung im Osten ist beunruhigend: Die Partei ist da vielerorts im Grunde schon eine Volkspartei. Zumal Untersuchungen zeigen, dass die Leute, die dort inzwischen für die AfD eintreten oder sogar Parteifunktionäre sind, vielfach überhaupt nicht mehr vom klassischen rechtsradikalen Rand kommen, sondern Teil der Zivilgesellschaft waren und sind, also seit Jahr und Tag aktiv in Vereinen und Verbänden, lokal oder regional bekannt und vernetzt. Die viel beschworene Brandmauer und Dämonisierung im sozialen Alltag lässt sich da schwer durchhalten…” (Süddeutsche Zeitung ebd.)
Doch sind tatsächlich vor allem die Ostdeutschen verrückt geworden? Vielleicht als Spätfolge der Vereinigungsschocks und -traumata? Der Soziologe Hartmut Rosa hält dem sehr pointiert entgegen: “Mit Blick auf verblüffend ähnliche Probleme in Frankreich, Ungarn, Polen, der Schweiz oder den Niederlanden würde ich sagen, dass nicht die Situation in Ostdeutschland ein Sonderfall ist, sondern die in Westdeutschland.” (Süddeutsche Zeitung ebd.) Stimmt, denn ganz ähnlich bekloppte Einstellungen und Äußerungen wie aus sächsischen Dörfern kennen wir zur Genüge von Trump-Anhängern in den USA, von Bolsonaro-Fans in Brasilien und vielen anderen mehr. Deutschland hingegen gehört zu den wenigen Ländern, die den Rechtspopulismus bisher noch einigermaßen kleinhalten konnten. Noch funktionieren hier ganz überwiegend – und das nicht nur im “alten Westen” – die Zivilgesellschaft, die Demokratie, die rechtsstaatlichen Institutionen, wie auch die noch nicht völlig von den asozialen Fake-Netzwerken samt ihren Putin-Trollen verdrängten “alten” Medien.
In diesem Jahr wird es aber nun wirklich ernst: Europawahlen im Juni, drei Landtagswahlen in Ostdeutschland im Herbst und schließlich, am wichtigsten und folgenreichsten: die US-Präsidentschaftswahl im November. Schon bei den drei Landtagswahlen steht laut Steffen Mau “die Demokratie auf der Kippe”, bei den US-Wahlen gilt gleiches für unsere Sicherheit. Man kann nur inständig hoffen, dass hinter den Kulissen – auf nationaler wie auf europäische Ebene – bereits jetzt die nötigen Vorkehrungen getroffen werden, um dem Worst Case zumindest etwas entgegensetzen zu können. Aber vielleicht geschieht ja doch noch ein Wunder und Michelle Obama kandidiert statt Joe Biden und besiegt Trump, und alles wird gut. Doch das wäre wohl zu schön, um wahr zu werden…
justament.de, 8.1.2024: Compliance-Panne im Roten Rathaus?
Der Regierende Bürgermeister von Berlin und seine Bildungssenatorin sind nun offiziell ein Paar. Kann das gutgehen?
Thomas Claer
Frisch verliebte Politiker sind oft gar nicht mal die schlechtesten. Als seinerzeit Rudolf Scharping mit seiner Gräfin im Pool planschte und dabei medienwirksam von den Bildzeitungs-Paparazzi abgelichtet wurde, galt er als “der beste Verteidigungsminister, den Deutschland je hatte” (so jedenfalls Willi Winkler in der Süddeutschen Zeitung). Die letzten beiden französischen Präsidenten vor dem aktuell amtierenden hatten ebenfalls frische Liebesgeschichten am Laufen, was aber im sprichwörtlichen Land der Galanterie gar keine besonders große Sache war. Oder Joschka Fischer, der als Außenminister plötzlich eine blutjunge Journalistin ehelichte, die dann aber schon nach wenigen Monaten wieder Reißaus nahm. Doch schon bald darauf hatte er wieder eine Neue. Na gut, von Boris Johnson und seinen Eskapaden wollen wir hier lieber schweigen…
Blind und unzurechnungsfähig sind die frisch Verliebten zumeist nur im Hinblick auf das Objekt ihres Begehrens. Ansonsten machen sie in der Regel sogar einen besonders guten Job. Was sie auch anpacken, es gelingt ihnen mit spielender Leichtigkeit. Die Verliebtheit verleiht ihnen Flügel. Besonders gut ist das derzeit am Regierenden Bürgermeister von Berlin zu beobachten. Noch vor einem Jahr galt seine Nominierung zum CDU-Spitzenkandidaten in der Hauptstadt als äußerst umstritten. Sollte dieser steife, verkniffene Typ wirklich eine Wahl gewinnen könnten? Als das dann aber – durch für ihn glückliche Umstände, muss man wohl sagen – wider Erwarten geklappt hatte, konnte er das Amt der Bildungssenatorin mit seiner Wunschkandidatin besetzen. Und seitdem hat er, wie man so sagt, einen Lauf. Kaum im neuen Amt angekommen präsentierte der einstige rechtslastige Grantler sich plötzlich weltoffen-liberal, grenzte sich schärfer als beinahe alle anderen in seiner Partei gegen die rechte AfD ab und traute sich dabei sogar, sich mit Parteichef Friedrich Merz anzulegen. Sein Wahlversprechen, für mehr innere Sicherheit zu sorgen, hat er zumindest mit einem großen Polizeiaufgebot an Silvester in Neukölln eindrucksvoll eingelöst. (Nur von mehr Sauberkeit in Berlin, seinem anderen großen Wahlversprechen, kann angesichts der hier weiterhin überall vermüllten Straßen und Wege leider keine Rede sein…)
Vor drei Tagen gaben Kai Wegner und Katharina Günther-Wünsch nun ihre Verbindung offiziell bekannt, nachdem es schon monatelang darüber Gerüchte gegeben hatte. Aber ein frisch gebackenes Liebespaar innerhalb ein und derselben Regierung eines Bundeslandes? Kann so etwas gutgehen? Verboten ist es nicht, und es verstößt auch nicht einmal gegen bestehende senatsinterne Compliance-Grundsätze. Aber auch wenn Bürgermeister und Senatorin noch so sehr beteuern, Privates und Berufliches stets sauber voneinander trennen zu können, sind die Interessenkonflikte doch vorprogrammiert. Allein der Eindruck, hier könnte bereits bei der Postenvergabe nicht ganz unerheblich gemauschelt worden sein, und dass solches erst recht für die Zukunft zu befürchten ist, hat eine verheerende Wirkung auf das Außenbild des Berliner Senats. Zumindest hierzulande ist eine solche Konstellation in der Politik auch beispiellos. Daher kann es aus all dem nur eine Konsequenz geben: Entweder der Regierende Bürgermeister muss seinen Posten räumen oder die Bildungssenatorin den ihren!
justament.de, 1.1.2024: Viel Gutes bewirkt
Zum Tod von Wolfgang Schäuble (1942-2003)
Thomas Claer
Wolfgang Schäuble war ein Vollblutpolitiker, der sich in vielfacher Weise um unser Land verdient gemacht hat. Ein halbes Jahr vor dem Mauerfall unter Helmut Kohl zum Bundesinnenminister geworden handelte er als Verhandlungsführer auf westdeutscher Seite die Verträge zur deutschen Einheit aus. Querschnittsgelähmt durch ein Attentat eines Geistesgestörten auf ihn neun Tage nach der Wiedervereinigung setzte er seine politische Karriere im Rollstuhl fort und wurde so zum Role Model für viele Menschen mit Handicap. Doch nicht nur das. Mit einer fulminanten Rede während der entscheidenden Debatte im Bundestag sorgte er 1991 maßgeblich dafür, dass Berlin zur Deutschen Hauptstadt wurde, wofür sich die Stadt später mit der Verleihung der Ehrenbürgerschaft an ihn bedankte. Eigentlich wäre Schäuble der “natürliche” Kohl-Nachfolger im Kanzleramt gewesen, doch es kam anders. Wegen seiner Verstrickungen in die CDU-Spendenaffäre, die er als treuer Parteisoldat offenbar nicht vermeiden konnte, musste er später, nach sieben Jahren Rot-Grün, einer jungen politisch unbelasteten Frau aus dem Osten den Vortritt lassen. Während ihrer Kanzlerschaft diente er ihr dann 12 Jahre lang loyal als Minister, bis er seine Karriere schließlich als Bundestagspräsident ausklingen ließ.
Beispielhaft für seine politische Urteilskraft sei hier sein Satz vor einer Schulklasse im März 2014 im Zuge der Annexion der Krim durch Russland erwähnt: „Das kennen wir alles aus der Geschichte. Mit solchen Methoden hat schon der Hitler das Sudetenland übernommen – und vieles andere mehr.“ Dieser Vergleich führte damals zu scharfer Kritik aus Regierungsparteien und Opposition gleichermaßen. Kanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier distanzierten sich von ihm, und Schäuble, damals Finanzminister, musste klarstellen, dass er Putins Russland nicht mit dem deutschen Nazi-Regime gleichgesetzt habe… Der weitere Fortgang der Dinge ist bekannt.
Schäubles letzte politische Großtat war dann, dass er 2021 innerhalb seiner Partei energisch auf die Kanzlerkandidatur Armin Laschets bestanden und dadurch sehr wahrscheinlich einen skrupellosen Populisten mit notorischem Hang zu Schmutzeleien im Kanzleramt verhindert hat. Ferner ist anzunehmen, dass sich Schäubles stetiger beratender Einfluss auch mäßigend auf den amtierenden CDU-Vorsitzenden ausgewirkt hat, weshalb nun umso größerer Anlass zur Sorge besteht, dass dem womöglich künftigen Bundeskanzler noch öfter als bisher die Gäule durchgehen könnten…
Am zweiten Weihnachtstag ist Wolfgang Schäuble endgültig von der politischen Bühne abgetreten.
justament.de, 20.2.2023: Von Russland lernen…
Nationale Neueste Nachrichten
Thomas Claer
Prinz Heinrich XIII. meldet sich zu Wort, in den Abendnachrichten, zur besten Sendezeit, mit einer Ansprache an das deutsche Volk. Das Scholz-Regime hat abgedankt. Die nationale Querfront hat nunmehr das Kommando übernommen, unterstützt von den volkstreuen Kräften der früheren Bundeswehr, die nun endlich wieder den stolzen Namen Wehrmacht tragen darf. Die Angehörigen dieser notorischen Quasselbude namens Bundestag wurden bereits sämtlich inhaftiert, mit Ausnahme des völkischen Lagers aus AfD und Teilen der Linkspartei, die ab sofort das neue deutsche Parlament, den Reichstag, stellen, der künftig die Beschlüsse der neuen Reichsregierung unter Führung von Prinz Heinrich in treuer Ergebenheit absegnen wird. Als Angehörige der zunächst kommissarischen Reichsregierung werden vorgestellt: Reichsaußenminister Bernd Höcke, Reichsinnenminister Alexander Gauland, Reichsjustizminister Hans-Georg Maaßen, Reichspropagandaministerin Alice Weidel, Reichsfamilienministerin Beatrix von Storch und Reichsarbeitsministerin Sahra Wagenknecht. Niemand soll sagen, dass wir die Frauenquote nicht einhalten. Für das Amt des Reichspräsidenten ist bereits Thilo Sarrazin angefragt.
Sodann trägt der frischgebackene Reichsaußenminister Höcke seine außenpolitische Agenda vor: Lange Jahre haben wir den Provokationen und Bedrohungen unserer Nachbarn tatenlos zugesehen. Sie wollen uns vernichten, daran besteht kein Zweifel, aber jetzt ist das Maß voll. Seit fünf Uhr 45 wird zurückgeschossen. Unsere Truppen haben Elsass-Lothringen und das Sudetenland bereits komplett eingenommen. Das gleiche gilt für Österreich. Dieses Gebiet ist urdeutsches Kernland. Dass man es jemals für einen eigenen Staat gehalten hat, ist ein Irrtum der Geschichte; siehe dazu den jüngst von Prinz Heinrich publizierten Aufsatz “Über die historische Einheit von Deutschen und Österreichern”. Es ist unser gutes Recht, uns das zurückzuholen, was uns zusteht. Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt!
Kein einziger Leopard-Panzer wird mehr an die Ukraine geliefert. Das zieht doch eh nur den Krieg dort, ach was: die militärische Spezialoperation sinnlos in die Länge. Das russische Volk soll sich nehmen, was ihm gehört. Ein Land namens Ukraine hat es nie gegeben. Was reden manche Leute vom Baltikum und von Moldawien? Solche Länder kennen wir nicht. Wir nennen diese Gebiete Nowaja Rossia. Das südöstliche Polen soll unser Freund Putin bitte auch gleich mitübernehmen. Dann können wir nämlich aus der anderen Richtung endlich wieder in Ostpreußen, Pommern und Schlesien einmarschieren. Allerdings müssen wir mit Putin noch mal über Königsberg reden, denn dort wurde schließlich Preußen gegründet. Darauf kann ein deutscher Staat unmöglich verzichten. Das wäre ja gerade so wie Serbien ohne Amselfeld oder Russland ohne die Krim. Wir stellen ein Ultimatum zur Anerkennung der Grenzen von 1939 innerhalb von zwei Wochen. Jeder, der sich uns in den Weg stellt, wird Dinge erleben, die er noch nie erlebt hat. Pardon wird nicht gegeben! Jeder Schuss ein Russ! Jeder Tritt ein Brit! Jeder Stoß ein Franzos!
Glückwünsche zur Machtübernahme kommen bereits aus Budapest von Viktor Orban, ebenso aus Pjöngjang, Nicaragua, Iran und Venezuela. Natürlich auch von der heldenhaften Junta in Myanmar und von den Taliban aus Kabul. China beobachtet den Machtwechsel in Berlin mit wohlwollender Neutralität, ebenso Saudi-Arabien. Der türkische Präsident Erdogan stellt eine enge Zusammenarbeit mit der neuen Reichsregierung in Aussicht, sofern sie bereit sei, endlich alle Terroristen auszuliefern, die in Deutschland noch immer frei herumrumlaufen. Vor allem gelte das für alle diese feindlichen Elemente, die sich Kurden nennen, aber in Wirklichkeit nur gemeine Bergtürken sind.
Eine Woge der Begeisterung zieht durch das wieder erwachte Deutschland. Germany first! Am deutschen Wesen soll die Welt genesen! Deutschland, Deutschland über alles! Denen, die jetzt ihre Koffer packen und schnell ins Exil gehen, weinen wir keine Träne nach. Wir werden sie ausspeien wie ein lästiges Insekt. Aber wenn es zu viele werden sollten, die abhauen, dann passt mal gut auf: Wir können auch ganz anders, können in kürzester Zeit wieder eine Mauer, d.h. einen antifaschistischen Schutzwall, um unser Land errichten. Die Gegner unserer völkischen Ordnung sind nämlich allesamt Nazis! Jawohl, denn wer Nazi ist, bestimmen immer noch wir. Die schlimmsten Nazis waren übrigens die Juden. Hatte nicht Hitler auch jüdische Vorfahren? So war es doch, oder irren wir uns da?
Unsere Soldaten sollen sich nicht fürchten, wenn sie in die… äh… militärische Spezialoperation ziehen. Es gibt ja wohl Schlimmeres als den Tod. Süß und ehrenvoll ist es doch, fürs Vaterland zu sterben. Andere sterben, weil sie sich totsaufen. Also dann doch wohl lieber auf dem Schlachtfeld. Wer im Kampfe fällt, hat doch sein Lebensziel erreicht. Und wenn wir nicht mehr genug Soldaten haben, dann gibt es eben eine allgemeine Mobilmachung. Das wäre doch gelacht!
Sollte jemand etwas dagegen sagen, dann gelten unsere neuen “Bestimmungen gegen die Verbreitung von Falschinformationen”. Da kennen wir keine Gnade. Beim ersten Mal gibt es nur eine drakonische Geldstrafe, wir sind ja keine Unmenschen. Aber schon beim zweiten Mal geht es direkt in den Knast. Und für den Fall, dass sich höhere Verwaltungsleute oder gar Prominente künftig auf unpassende Weise äußern: Es passieren ja ständig irgendwelche Unfälle. Die Leute fallen aus dem Fenster oder sie vergiften sich versehentlich beim Essen und Trinken. So etwas kann schon mal vorkommen. Von Russland lernen, heißt siegen lernen. Heil dir, Prinz Heinrich! Hipp, hipp, hurra!
justament.de, 16.1.2023: Und schuld daran war nur die SPD
Klassenkampf am Abendbrotstisch: Vor 50 Jahren hatte die Serie “Ein Herz und eine Seele” TV-Premiere
Thomas Claer
Vor ein paar Jahren fragte mich meine türkische Nachhilfeschülerin, was eigentlich meine Lieblingsserie sei. Meine Antwort war, dass ich mich damit nicht auskenne und gar keine Serien gucke. Aber meine Schülerin insistierte: “Wie, Sie gucken keine Serien?! Jeder guckt Serien!!” Und dann fiel mir ein, dass ich ja eigentlich doch eine Lieblingsserie habe. Die ist nur mittlerweile 50 Jahre alt und für die heutige junge Generation begreiflicherweise nicht besonders relevant. Doch zählt “Ein Herz und eine Serie” aus der Feder von Wolfgang Menge bis heute unbestritten zu den absoluten Sternstunden deutscher TV-Unterhaltung.
Natürlich war das damals Zeitgeist pur: Die Jahre nach 1968. In den (westdeutschen) Familien, am kleinbürgerlichen Abendbrotstisch prallten nicht selten sehr entgegengesetzte Weltsichten aufeinander. Und besonders schön ließ sich das illustrieren, wenn zwei Paare, die zugleich stellvertretend für ihre Generationen standen (damals hatte dieser notorisch unscharfe Begriff noch seine Berechtigung durch unabweisbare Evidenz) unter demselben Dach wohnten, genauer gesagt in einem Reihenhaus im Ruhrgebiet: der Büroangestellte Alfred Tetzlaff (Heinz Schubert) und seine etwas einfältige Gattin Else (Elisabeth Wiedemann), deren Tochter Rita (Hildegard Krekel) und der aufmüpfige Schwiegersohn Michi (Diether Krebs). “Ekel” Alfred verkörperte dabei den nur mühsam an die bundesrepublikanischen Verhältnisse angepassten altdeutschen autoritären Obrigkeitsgeist, konservativ und deutschnational bis auf die Knochen. Schwiegersohn Michi hingegen, Willy Brandt-Anhänger und SPD-Mitglied, stand gewissermaßen für die neue Zeit.
Wer heute eine Spaltung der Gesellschaft beklagt, der sollte sich einmal diese Sitcom-Serie der ersten Stunde zu Gemüte führen. Mit welch schweren Geschützen damals verbal aufeinander gefeuert wurde… Es war aber auch unglaublich witzig, besonders wenn “Ekel” Alfred loslegte und seinem Schwiegersohn die Leviten las: “Ihr habt doch sogar extra eine Partei gegründet, um den anständigen Bürgern das Geld aus der Tasche zu ziehen!”, befand er hinsichtlich der auch damals gerade heftig grassierenden Inflation, für die er natürlich “die Sozis” verantwortlich machte. Getreu nach der seinerzeit auch von Rudi Carrell besungenen Maxime: “Schuld daran ist nur die SPD”.
Seine eher nicht so kluge Ehefrau Else bemerkte aber immerhin sofort, wenn ihr Mann einmal ausnahmsweise einen SPD-Politiker lobte, nämlich den schneidigen früheren Wehrmachts-Offizier Helmut Schmidt, und am damaligen Oppositionsführer Rainer Barzel (CDU) herummäkelte. Wofür sich Alfred dann mit den Worten rechtfertigte: “Dis is Dialektik, dis verstehst du nich, du dusselige Kuh.” Und über seine Nachbarin Frau Suhrbier urteilte er: “Ist Hausbesitzerin und wählt SPD. Die fällt ihrer eigenen Klasse in den Rücken.”
Eigentlich sollten doch, so denkt man sich, auch die heutigen bewegten Zeiten reichlich Stoff für eine lustige politische Familienserie ähnlicher Art liefern, aber bisher ist, zumindest nach meiner Kenntnis, noch nichts Vergleichbares entstanden. Warum eigentlich nicht?
justament.de, 5.12.2022: Ikone des Feminismus
Zum 80. Geburtstag von Alice Schwarzer
Thomas Claer
An Alice Schwarzer scheiden sich zumeist die Geister. Die einen preisen sie für ihren unermüdlichen lebenslangen Einsatz für Gleichberechtigung und Frauenrechte. Den anderen ist sie wohl schon immer schrecklich auf die Nerven gegangen. Nun, nach acht wirkungs- und ereignisreichen Jahrzehnten, sollte man sich aber unbedingt vor ihrem Lebenswerk verneigen. Mit ihrem Engagement hat sie nämlich den Weg für alle weiblichen Wesen geebnet, die heute wie selbstverständlich die Früchte ihrer Bemühungen ernten, oftmals sogar ohne sich dessen bewusst zu sein…
Dass Alice Schwarzer als streitbare Publizistin immer auch viel Widerspruch provoziert hat, spricht keineswegs gegen sie. Und dass sie als altlinke Kämpferin zuletzt zweimal in Folge mit CDU-Ticket (!) als Prominente in der Bundesversammlung saß, verrät vermutlich mehr über den Wandel des Zeitgeistes und den unserer konservativen Volkspartei als über ihren eigenen, denn anders als bei vielen ausgeprägten Renegaten aus ihrer Generation hat sich ihre inhaltliche Positionierung über die Jahre hin eigentlich kaum verändert. Gegen muslimische Kopftücher ist sie auch schon vor vierzig Jahren gewesen. Nur ist damals noch niemand auf die Idee gekommen, ihr deshalb Rassismus vorzuwerfen.
Manchmal wünschte man sich heute von ihr allerdings die eine oder andere Aktualisierung ihres Weltbildes, denn mittlerweile funktioniert ein Großteil der von ihr stets vehement kritisierten Prostitution ganz ohne Zuhälter und ein ebenso erheblicher Anteil der von ihr ebenso geschmähten Pornographie ohne jegliche Ausbeutung. Nun könnte man natürlich einwerfen, genauso sei es doch auch mit dem muslimischen Kopftuch, denn inzwischen tragen es doch zweifellos viele muslimische Frauen ganz selbstbewusst und freiwillig. So wie andere Frauen viel Freude aus ihrer Arbeit als Sexarbeiterinnen ziehen oder sich vollkommen selbstbestimmt freizügig im Netz exponieren. Womöglich sind das sogar alles Spielarten eines modernen Feminismus – im Gegensatz zu Alice Schwarzers altbackenem Altfeminismus. Wobei ich aber zugeben muss, dass mich davon die Umdeutung des berüchtigten Unterdrückungssymbols Kopftuch zur Insignie praktizierter religiöser Freiheit am wenigsten überzeugt… Hier sehe ich mich eher bei Alice Schwarzer.
Ganz anders als aktuell in der Ukraine-Frage. Ihren gemeinsam mit anderen verfassten „offenen Brief“ gegen Waffenlieferungen an die Ukraine halte ich für gefährlichen Unfug, der letztlich der Logik des Aggressors folgt. Aber gemessen an ihrer Lebensleistung fällt dies nicht so sehr ins Gewicht. Zum Glück hat sie mitunter sogar richtig viel Humor bewiesen. Es ist wirklich ein Jammer, dass ihr großartiger Talkshowauftritt aus den Achtzigern („NDR-Talkshow“ oder „3nach9“?), als sie den Schauspieler Klaus Löwitsch für sein Machotum durch den Kakao zog, bei YouTube nicht auffindbar ist. Herzlichen Glückwunsch an Alice Schwarzer zum Achtzigsten!
November 2022: Interview als Zeitzeuge
Mitwirkung an einem Video des südkoreanischen Ministeriums für Wiedervereinigung: Rückblick auf 32 Jahre deutsche Einheit (ab 1:49)
justament.de, 5.9.2022: Unser Befreier
Zum Tod von Michail Gorbatschow (1931-2022)
Thomas Claer
Putins Erzählung lautet so: Was russische Führer über Jahrhunderte mühsam aufgebaut haben, ist vor drei Jahrzehnten innerhalb weniger Monate leichtfertig verspielt worden. (Überflüssig zu erwähnen, wem allein er die Schuld am Zerfall der Sowjetunion, der angeblich größten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts, gibt.) Das andere Narrativ, das man in Russland aber wohl mittlerweile gar nicht mehr aussprechen darf, ohne dafür gleich hinter Gitter zu wandern, ist hingegen: Was Freiheits- und Demokratiebewegung nach 70 respektive 40 düsteren Jahren endlich erreicht hatten: die triumphale Beseitigung von Zwangsherrschaft und Diktatur in halb Europa, ist in Russland während der beiden vergangenen Dekaden Schritt für Schritt wieder gründlich zurückgedreht worden – und nun soll auch noch das alte Imperium mit aller Macht wieder herbeigebombt werden.
Welch ein erbärmliches Weltbild steckt doch hinter einer politischen Haltung, die den Sinn des menschlichen Lebens heute noch – im 21. Jahrhundert! – in der kriegerischen bzw. spezialoperativen Eroberung möglichst großer Landmassen und der Knechtung ihrer Bewohner erblickt, noch dazu wenn man bereits das flächenmäßig größte Land der Erde ist!, statt sich endlich einmal um die Verbesserung des Lebensstandards der eigenen Bevölkerung zu bemühen, die weiterhin perspektivlos in einer rückständigen und hochkorrupten Günstlingswirtschaft sondergleichen feststeckt. Was für eine Lichtgestalt hingegen war doch vor dreieinhalb Dekaden der Glasnost- und Perestroika-Generalsekretär, der mehr als hundert Millionen Menschen in die Freiheit entließ und uns Deutschen den Fall der Mauer sowie die friedliche Revolution und Wiedervereinigung ermöglichte.
Doch hat die jahrelange Putinsche Gehirnwäsche ihre Wirkung bei seinen Untertanen offenbar nicht verfehlt: Der mit Abstand Unbeliebteste unter allen russischen und sowjetischen Führern ist dort – seit Jahren unverändert – Michail Gorbatschow, der ja das stolze Großreich ruiniert hat. Der Beliebteste dagegen ist – ebenfalls schon seit langen Jahren – Josef Stalin (1878-1953), der je nach Zählweise bis zu 60 Millionen (!) Bürger seines Landes um die Ecke gebracht hat, übrigens überwiegend Mitglieder der Kommunistischen Partei, also seine eigenen Anhänger. Und seinen einzigen „Erfolg“, den militärischen Sieg über Hitler-Deutschland im 2. Weltkrieg, nutzte er zu Landraub und Unterjochung anderer Völker in allergrößtem Stil. Echt ein toller Typ! Man stelle sich nur einmal vor, in Deutschland hielte eine Mehrheit Adolf Hitler für den größten Staatsmann aller Zeiten. Wie sagte mein ukrainischer Mieter: Eigentlich bräuchte die russische Bevölkerung eine Umerziehung wie die Deutschen nach dem zweiten Weltkrieg. Dem ist nichts hinzuzufügen. Nur dass leider niemand in Sicht ist, der diese Aufgabe übernehmen könnte.
Und so bleibt es wohl bis auf weiteres dabei, dass im einstigen Land des roten Oktobers nicht das Sein das Bewusstsein bestimmt, sondern die Welt als Wille und Vorstellung.







