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justament.de, 2.11.2020: Eigene Propaganda

Recht historisch Spezial: Vor 75 Jahren erschien “Die offene Gesellschaft und ihre Feinde” von Karl R. Popper

 Thomas Claer

“All unser Wissen ist nur Vermutungswissen.” Oder: “Lasst Theorien sterben, nicht Menschen!” Schon im zarten Alter von 15 oder 16 Jahren hat mich der österreichisch-britische Philosoph Karl Raimund Popper (1902-1994), von dem diese und viele weitere großartige Zitate stammen, tief beeindruckt. Damals, in den späten Achtzigern, bin ich über die populärwissenschaftlichen Bücher von Hoimar v. Ditfurth und Konrad Lorenz auf ihn gestoßen, die ich regelrecht verschlungen habe. Vielleicht auch, weil es sich um Bücher aus dem Westen, also gewissermaßen um verbotene Früchte, handelte, die zu jener Zeit für einen Ost-Jugendlichen wie mich nur schwer zu kriegen waren. So lernte ich Karl Popper zunächst im Umfeld der Evolutionären Erkenntnistheorie als Wissenschaftstheoretiker und Begründer des Kritischen Rationalismus kennen, der im Anschluss an Immanuel Kant die Menschen Demut und Bescheidenheit lehrte: Die Wirklichkeit, die “objektive Realität” (Kant hatte vom ominösen “Ding an sich” gesprochen), können wir mit unseren unzuverlässigen Sinnesorganen, die nur evolutionär erworbene Überlebensinstrumente sind, schlichtweg nicht erkennen. Wie in Platons berühmtem Höhlengleichnis sitzen wir, bildlich gesprochen, in der Dunkelheit und tasten uns nur mühsam voran bzw. rätseln über die Bedeutung der von den äußeren Dingen geworfenen Schatten an der Höhlenwand. “Ich weiß, dass ich nichts weiß”, wusste Sokrates, und damit schon weitaus mehr als andere. Dementsprechend geht Karl Poppers Wissenschaftstheorie von der menschlichen Unwissenheit aus, die sich durch Versuch und Irrtum, also durch Hypothesen und ihre Widerlegung (Falsifikation) der Wahrheit anzunähern versucht, diese aber notwendigerweise nie erreichen kann. Beweise (Verifikationen) können nämlich immer nur vorläufig sein, da spätere Falsifikationen niemals auszuschließen sind.

Zugegeben: Wer sich als Jugendlicher für solche Themen interessiert, wird zwangsläufig zum Außenseiter, schon weil man sich unter normalen Umständen mit keinem Gleichaltrigen darüber austauschen kann (und mit Erwachsenen in der Regel auch nicht). Und damals gab es ja auch noch kein Internet, über das man sich anderweitig hätte vernetzen können… So war es für mich zu jener Zeit also ein recht einsames Vergnügen, mit Karl Popper die alltäglichen Gewohnheitsmeinungen kritisch zu hinterfragen. Was mich dann aber regelrecht in Entzücken versetzte, war meine spätere Entdeckung, dass er die Grundprinzipien seiner Wissenschaftstheorie auch auf die menschliche Gesellschaft übertragen hat und daraus das Buch “Die offene Gesellschaft und ihre Feinde” entstanden ist. Sehr effektvoll wurde dieses Buch vor 75 Jahren, just am Ende des Zweiten Weltkriegs, der ja auch schon eine Art Krieg der Systeme gewesen ist, von Karl Popper veröffentlicht. Und ebenfalls sehr effektvoll, wurde dieses Buch dann vor gut 30 Jahren, just zwischen Mauerfall und deutscher Wiedervereinigung, am vermeintlichen Endpunkt der Geschichte, als ich bereits im Westen war, von mir gelesen.

Nun hat dieses zweibändige, gar nicht dünne Buch, was aber angesichts meiner biographischen Prägung so überraschend auch wieder nicht ist, eine unvergessliche Wirkung auf mich gehabt. Klar, wenn man mit 17 oder 18 Jahren ein gesellschaftstheoretisches philosophisches Werk liest, das alles, was man bisher in der Schule gelernt hat, auf den Kopf stellt, das von einer solch suggestiven Klarheit und Überzeugungskraft ist und das dem jugendlichen Leser auch noch die schmeichelhafte Illusion einflößt, nun über die Grundprinzipien in der Welt aber ein für alle Mal Bescheid zu wissen… Dabei hätte ich nur die Grundgedanken der Popperschen Skepsis auch auf sein eigenes Werk anwenden müssen: “Wir wissen nicht, wir raten.” Aber dieses Buch ist einfach zu verführerisch in seiner Schwarzweißmalerei, hierin dem von ihm so heftig kritisierten Marxismus gar nicht so unähnlich.

Poppers Thesen lauten kurzgefasst so: Zwei grundlegende und einander entgegengesetzte Konzepte stehen seit alters her in Wettbewerb zueinander, das der Offenen Gesellschaft und das der Geschlossenen Gesellschaft. Die Linie der letzteren führt über Platon und Hegel direkt zu Karl Marx. Die Linie der Offenen Gesellschaft dagegen von Sokrates bis zu Kant und – natürlich – zu Karl Popper selbst. Die Offene Gesellschaft (Demokratie) ermöglicht Regierungswechsel ohne Blutvergießen, was in der Geschlossenen Gesellschaft so in der Regel nicht möglich ist, wie es sich ja gegenwärtig exemplarisch an Herrn Lukaschenko in Belarus beobachten lässt. (Die deutsche 89er Revolution, die ohne einen einzigen Schuss und nur dank Schabowskis Zettel zum Mauerfall führte, gehört insofern zu den seltenen gnädigen Ausnahmen…) In der Tat großartig ist der Parallelismus zu Poppers Wissenschaftstheorie: Jede Regierung ist gewissermaßen eine Hypothese, wie das jeweilige Land regiert werden sollte. Und bei Nichtgefallen nach vier oder fünf Jahren darf der Souverän, das Volk, diese Regierung gegen eine neue eintauschen, also quasi falsifizieren. Und so geschieht es auch mit der nächsten, auch sie wird nach einiger Zeit kritisch überprüft und, wenn sie nicht geliefert hat, in die Wüste geschickt wie eine alte, längst widerlegte wissenschaftliche Theorie. Diktaturen und autoritäre Herrscher hingegen sind den vermeintlichen ewigen Wahrheiten (wie den Ideologien und Religionen) ähnlich, die keine Kritik an sich heranlassen und sich mangels Überzeugungskraft oft nur mit Gewalt und Einschüchterung Andersdenkender an der Macht halten können.

Eine besondere Pointe liegt natürlich darin, dass Popper den Marxismus, diese im Ansatz doch zweifellos emanzipatorische Bewegung, in die Schublade “Geschlossene Gesellschaft” steckt. Aber hat er nicht Recht damit? “Die Lehre von Karl Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist.” So und in ähnlichen Variationen stand es immer und immer wieder auf leuchtend roten Transparenten in den Straßen meiner Kindheit und Jugend in der DDR geschrieben. Laut Karl Popper war der Realsozialismus keineswegs eine Pervertierung einer ursprünglich guten Idee, sondern die unausweichliche Konsequenz aus seinem schon im Ansatz verfehlten Weltbild. Für Popper ist nämlich die alte Frage “Wer soll regieren?” falsch gestellt. Es sei eigentlich gar nicht so wichtig, wer regiert: ob diese oder jene Partei, ob die eine oder andere Bewegung. Hauptsache sei vielmehr, dass man die Regierenden jeweils auf einfachem Wege und gewaltlos in regelmäßigen Abständen wieder loswerden könne.

Wohl kaum jemand hat das Wesen und die Vorzüge der liberalen Demokratie auf so einleuchtende Weise auf den Punkt gebracht wie Karl Popper. Und das gilt auch heute noch, nach 75 Jahren, während wir uns in einer Krise der demokratischen Systeme befinden, wie sie die Welt seit fast einem Jahrhundert nicht mehr erlebt hat. Und doch darf man nie vergessen: Es ist und bleibt unsere eigene Propaganda, und man ist gut beraten, zumindest nicht unreflektiert auf sie hereinzufallen. Sie stützt sich ganz wesentlich auf ein Axiom, mit dem gewissermaßen alles übrige steht oder fällt. Und das lautet: Zwar kann nicht jeder von uns selbst einen Staat lenken, aber es kann doch jeder von uns beurteilen, ob ein Staat gut oder schlecht gelenkt wird. Mit diesen Worten zitiert Popper bereits auf den vordersten Seiten seines Werkes einen (wenig bekannten) altgriechischen Vorläufer der “Offenen Gesellschaft”. Aber genau das ist die Frage, ob das wirklich immer jeder so gut beurteilen kann (oder zumindest eine Mehrheit es kann), und wenn nicht, wo und nach welchen Kriterien wollte man dort eine Grenze ziehen? Und vor allem: Wer könnte darüber entscheiden? In über zweihundert Jahren Demokratiegeschichte haben wir erfahren: Manchmal funktioniert es sehr gut mit der Demokratie, manchmal weniger gut und manchmal gar nicht gut. Und an manchen Orten der Welt und in manchen Kulturen funktioniert es überhaupt nicht. Oder anders gesagt, anschließend an Böckenförde: Die Offene Gesellschaft lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann. Karl Popper hat das sehr wohl gesehen. Er nannte es: das Paradox der Demokratie, das darin bestehe, dass die Demokratie sich selbst mit demokratischen Mitteln abschaffen könne, sobald eine Mehrheit nicht mehr hinter ihr steht. Unsere Mütter und Väter des Grundgesetzes haben angesichts der noch frischen Erfahrungen des Untergangs der Weimarer Republik und der NS-Zeit diese Gefahr ebenfalls gesehen und deshalb die “Ewigkeitsklausel” ins Grundgesetz geschrieben (Art. 79 Abs. 3). Doch ist auch das letztlich nur ein propagandistischer Akt, ähnlich der berüchtigten Koran-Sure, dass niemand auch nur einen Buchstaben der heiligen Schrift verändern dürfe, denn sobald die große Mehrheit nicht mehr hinter der Demokratie steht, dürfte ein Staatsstreich, der die alte Verfassung durch eine neue ersetzt, nur noch Formsache sein…

Kurz gesagt: Die Offene Gesellschaft ist ständig legitimationsbedürftig, vor allem in Krisenzeiten. Denn spätestens dann muss sie beweisen, dass sie es besser kann als die autoritäre und diktatorische Systemkonkurrenz. Und der Ausgang ist, wie sich auch gerade aktuell angesichts der globalen Corona-Herausforderung zeigt, ziemlich ungewiss. Ja, immerhin: Der Ausbruch von Corona hätte wohl in einer Offenen Gesellschaft nicht so lange unter den Teppich gekehrt werden können, wie es im diktatorischen Einparteienstaat China geschehen ist. Und womöglich wäre durch eine solche frühzeitige Transparenz der Welt die Verbreitung dieser Seuche erspart geblieben. Kann sein, ist aber keineswegs sicher. Denn im anschließenden Krisenmanagement hatte das diktatorische China dann wiederum sehr eindeutig die Nase vorn, vor allem gegenüber der größten westlichen Demokratie der Welt. Aber auch gegenüber der zahlenmäßig größten Demokratie der Welt in seiner Nachbarschaft, wobei genau genommen Indien auch schon wieder unter den tendenziell autoritären Demokratien einzuordnen wäre. Und genau hier liegt ein weiterer Knackpunkt: Die Unterscheidung zwischen Offenen und Geschlossenen Gesellschaften wird mit der Zeit immer, immer schwieriger, denn inzwischen gibt es wahrscheinlich schon eine deutliche Mehrheit von Staaten auf der Welt, die sich nicht mehr eindeutig ins eine oder andere Lager einordnen lässt, sondern irgendwo dazwischen anzusiedeln ist: in der breiten Grauzone, mit unzähligen feinsten Abstufungen, zwischen den längst nur noch schmalen schwarzen und weißen Rändern mit lupenreinen Geschlossenen oder Offenen Gesellschaften. Selbst im Iran gibt es freie Wahlen zwischen durchaus unterschiedlichen Positionen und Programmen. Hingegen nimmt es schon beinahe ganz Osteuropa mit der Trennung der Staatsgewalten und mit den Minderheitenrechten nicht (mehr) besonders genau…

Und schließlich könnte man Karl Poppers Konzeption auch noch ihren unterschwelligen Eurozentrismus ankreiden. Aber das lässt sich wohl gegen jeden universalistischen Denkansatz ins Feld führen: Die ganze Welt wird gleichsam durch die westliche Brille der okzidentalen Ideengeschichte betrachtet, was natürlich zum Ergebnis führt, dass die westliche Welt tendenziell offen und fortschrittlich und die außerwestliche Welt tendenziell geschlossen und rückständig ist. Man könnte das auch einen kolonialen Blick auf die Welt nennen. Würde man aber auf diesen universalistischen Ansatz verzichten, dann wäre es auch wieder nicht richtig, denn ein Werte-Relativismus, also unterschiedliche Kriterien für unterschiedliche Länder und Regionen, würde erst recht Tür und Tor öffnen für eine Ausgrenzung der nichtwestlichen Anderen…

Und doch: Im Konzept der Offenen Gesellschaft, heute verbreitet etwa durch die “Open Society Foundations” von George Soros, der einst ein Schüler von Karl Popper in London gewesen ist, liegt so etwas wie die freiheitliche DNA des Westens. Auch wenn sie keineswegs perfekt ist, ungenau und teilweise in sich widersprüchlich. Auch heute noch lohnt es sich, für sie zu streiten. Selbstbewusst, aber besser ohne Selbstgewissheit. Denn es könnte ja sein, dass gelegentlich auch die Feinde der Offenen Gesellschaft einmal Recht haben. Oder womöglich sogar die besseren Konzepte…

www.justament.de, 31.12.2018: In der DDR gab es kein 1968

Über die grundverschiedene mental-kulturelle Prägung in Ost- und Westdeutschland

Thomas Claer

Ein mächtiger Sturm tobte über Europa, nein, längst nicht nur über Europa, sondern über der ganzen westlichen Welt und selbst noch in Teilen Asiens und Nordafrikas: der Sturm der Studentenproteste – und des gesellschaftlichen Wandels überhaupt. Damals, vor 50 Jahren, hörten junge Leute plötzlich nicht mehr Schlagerkitsch, sondern fetzige Rockmusik. Und von ihren Eltern ließen sie sich schon gar nichts mehr sagen. Langhaarige junge Männer rotteten sich in den Straßen zusammen und riefen „Ho-Ho Ho-Chi-Minh!“ Junge Frauen entblößten in Hör- und Gerichtssälen ihre Brüste und forderten Emanzipation. „Unter den Talaren“ ihrer Professoren hatten empörte Studenten „den Muff von tausend Jahren“ ausgemacht und begaben sich auf den „Marsch durch die Institutionen“, um das „kapitalistische Schweinesystem“ mal so richtig von Grund auf umzugestalten. Fortan gehörte, „wer zweimal mit der Selben“ pennte, bereits „zum Establishment“. Und selbstverständlich traute man „keinem über 30“… Kaum zu glauben, dass es ein Fleckchen Erde mitten in Europa gab, das von all dem kaum etwas mitbekommen hatte. Und doch es gab diese Region der Ahnungslosen, man nannte sie den Ostblock. Dort wehte der Wind der Veränderung, wenn überhaupt, nur als ein laues Lüftchen. Mauer und Stacheldraht hatten hier zwar längst nicht alles vom neuen Zeitgeist zurückhalten können, aber doch genug, um eine Menge von dem zu konservieren, was die westlichen Gesellschaften nach 1968 längst überwunden glaubten, auf dem „Müllhaufen der Geschichte“ wähnten: autoritäre Strukturen, Disziplin und Gehorsam, Homophobie und Fremdenfeindlichkeit zum Beispiel. Und so kam es, dass an der Nahtstelle zwischen Ost und West, an der innerdeutschen Grenze, nicht nur zwei entgegengesetzte politische Welten jahrzehntelang nebeneinander her lebten, sondern deren Bewohner auch grundverschiedene kulturelle Prägungen durchlaufen hatten. Sie sprachen dieselbe Sprache und konnten einander, wie sich später zeigen sollte, doch nur sehr begrenzt verstehen. Ein großes soziologisches Freiluftexperiment am lebenden Objekt gewissermaßen.

Ich selbst war 1968 noch gar nicht geboren. Erst drei Jahre später erblickte ich das Licht der Welt, doch konnte ich die Auswirkungen dieser weitgehend entgegengesetzten sozialen Codierungen in Ost und West sehr eindrucksvoll in der Schule studieren: erst im Osten – in einem Dorf nahe der innerdeutschen Grenze mit starker Armee-Präsenz – und später im Westen: in einer besonders liberalen Großstadt. Einen stärkeren Kontrast, als ich ihn damals erlebt habe, kann man sich nicht vorstellen. Das einzig Verbindende zwischen diesen beiden Welten war (neben der norddeutsch eingefärbten Sprache) die ironischerweise ihnen beiden zugeschriebene Farbe Rot. Aber ansonsten: Wie vollkommen unterschiedlich sich gleichaltrige junge Menschen doch verhalten konnten!

Kam im Osten ein neuer Schüler in die Klasse, wurde er von seinen neuen Mitschülern zuerst interessiert angesehen, sodann auf Schritt und Tritt beobachtet und schließlich neugierig befragt, woher er denn komme und was er so treibe. Nichts davon im Westen. Niemand nahm Notiz von einem Neuankömmling. Überhaupt bestand so eine West-Klasse aus mehreren Grüppchen, die sich offenbar überhaupt nicht miteinander abgaben. Die Gruppenzugehörigkeit, das lernte ich schnell, manifestierte sich vor allem auch in der Kleidung (Ökos, Popper, Grufties, Rocker, Normalos…), während im Osten alle ganz ähnlich angezogen waren und fortwährend jeder mit jedem kommunizierte. Kam man dann schließlich doch mit den West-Kindern ins Gespräch, erwiesen sie sich mitunter als freundlich, doch – jedenfalls im Vergleich zur ganz natürlichen Herzlichkeit der Ostdeutschen – auch als irgendwie unterkühlt. Ganz anders aber war es bei den Lehrern! Während sich die Ost-Lehrer ausnahmslos als Autoritätspersonen präsentierten, die auch gerne mal laut wurden, um Ruhe und Ordnung durchzusetzen, traten die West-Lehrer in vielen Fällen als ausgesprochene Kumpeltypen auf, die sich mit ihren Schülern z.B. über Popmusik und Filme unterhielten und sogar mit ihnen Computerspiele tauschten. Manche männlichen West-Lehrer hatten lange Haare oder waren zerfetzt und abgerissen gekleidet. Und dann der Sportunterricht! Im Osten wurde man im Kasernenhofton herumkommandiert, musste am Anfang der Stunde strammstehen und auch öfter mal in Reih und Glied marschieren. Im Westen liefen eigentlich alle fortwährend durcheinander, ohne dass sich jemand daran gestört hätte. Das T-Shirt trugen die West-Kinder lässig über der Hose, im Osten wäre man dafür vom Lehrer angeschnauzt worden.

In der Schule hatte man im Osten pünktlich zu erscheinen, sonst gab es Ärger, aber so richtig. Im Westen hingegen trudelte alle paar Minuten ein weiterer Nachzügler ein. Wurde im Osten etwas Organisatorisches angesagt, dann geschah dies jeweils genau einmal. Hatte jemand etwas nicht gleich mitbekommen, weil er geträumt hatte oder abgelenkt war, und er fragte nach, so wurde er vom Lehrer vor der versammelten Klasse für seine Unaufmerksamkeit blamiert. Ganz anders im Westen: So ziemlich alles wurde von den Lehrern zweimal, dreimal oder viermal laut und deutlich wiederholt – und dennoch gab es fast immer noch eine Nachfrage: „Also wann sollen wir uns noch mal treffen??“ Wurde auf Klassenfahrten ein Treffpunkt vereinbart, dann waren im Osten stets alle zu der vorgegebenen Zeit anwesend. Im Westen plante man in solchen Fällen immer großzügig noch eine halbe Stunde Zeitpuffer ein – und doch fehlte am Ende noch der eine oder die andere.

Im Osten war es gefährlich, ein Außenseiter zu sein, denn dann wurde man vom Kollektiv gemobbt, wobei es dieses Wort damals noch gar nicht gab. Von den Lehrern hatte man dann wenig Hilfe zu erwarten, sondern wurde höchstens von ihnen ermahnt, sich doch endlich einmal besser ins Klassenkollektiv einzufügen. Ganz anders im Westen. Dort appellierten die Lehrer ausdrücklich an das Sozialverhalten, forderten ihre Schüler auf, niemanden auszugrenzen. Aber die West-Schüler kamen – anders als Ost-Schüler – zumeist gar nicht auf die Idee, andere zu mobben, weil diese ihnen völlig egal waren. Für West-Schüler zählte nur der eigene Freundeskreis; was andere taten oder nicht taten, kümmerte sie nicht.

Gibt es solche mentalen Unterschiede zwischen Ost und West auch heute noch? Wahrscheinlich längst nicht mehr so ausgeprägt wie vor 30 Jahren, aber ganz bestimmt gibt es sie noch. Gewisse regionale, auch personale Kontinuitäten lassen sich nicht so leicht aus der Welt schaffen, und warum auch? Gruppenspezifische mentale Unterschiede gibt es hierzulande schließlich auch zwischen Nord und Süd, zwischen Arm und Reich, zwischen Stadt und Land, zwischen Eingeborenen und Migranten.

Was folgt nun aus all dem? Ich weiß es nicht, nur so viel: Dass im Westen oder im vereinigten Deutschland alles in jeder Hinsicht besser wäre als damals im Osten, lässt sich nun wirklich nicht behaupten. Wo viel Licht ist, da ist immer auch viel Schatten. Und umgekehrt. Insbesondere ist die Freiheit, die sich vor 50 Jahren mit der 1968er Revolte ausgebreitet hat – nicht zuletzt im westlichen Erziehungssystem – ein durchaus zweischneidiges Schwert. Zu viel davon kann leicht fragwürdige Nebenwirkungen oder unbeabsichtigte Folgen mit sich bringen. Aber wenn ich mich entscheiden müsste: Dann doch bitte lieber zu viel Freiheit als zu wenig…