Category Archives: Über Filme

www.justament.de, 20.4.2015: Schrilles Vergnügen

Recht cineastisch, Teil 22: Oskar Roehlers Berlin-Groteske „Tod den Hippies – Es lebe der Punk!”

Thomas Claer

ddp_4.07425864Die Berlinale hat diesen Film abgelehnt. Sie hätte ihn nehmen sollen, denn „Tod den Hippies – Es lebe der Punk!“ ist ein großer Spaß. Auch wenn er, wie alle Werke von Oskar Roehler, reichlich überkandidelt ist. Es beginnt in der westdeutschen Provinz in den frühen Achtzigern. Der junge Robert (Tom Schilling) hält es in Schule und Internat mit all den Friedensbewegungs- und Ökospießern nicht mehr aus. Er wird, na was schon?, Punk natürlich! Und er zieht, wohin schon? Klar, nach West-Berlin! Dort lebt sein Vater (Samuel Finzi), der frühere „Kassenwart der RAF“, als Lektor und Schriftsteller und hütet den Schatz der Terroristen, gut hunderttausend DM in Banknoten, die noch von einem Banküberfall mit Gudrun Ensslin stammen. Doch Robert, dem eine Laufbahn als Schriftsteller und Punkmusiker vorschwebt, sieht vom Vater zunächst keinen Pfennig. Stattdessen helfen ihm seine einzigen beiden Bekannten in Berlin auf die Sprünge: der Peepshow-Conférencier Schwarz (Wilson Gonzales Ochsenknecht) und der schwule Nazi und Bandleader Gries (Frederick Lau). Schwarz verschafft Robert seinen ersten Job im Erotik-Club am Bahnhof Zoo: Er muss die von den Kunden vollgespritzten Glasscheiben putzen und für die Striptease-Damen etwas zu essen herbeischaffen. Dabei macht er die intime Bekanntschaft gleich zweier blonder Sexbomben (Emilia Schüle und Anna-Maria Hirsch), die beide ungeheuer scharf auf ihn und später aufeinander eifersüchtig sind. Außerdem lässt Gries ihn noch in seiner Band Gitarre spielen. Als Wohnung dient Robert eine Art Kellerverschlag, an dessen Wand „No Future!“ gesprüht ist. Gemeinsam mit seinen Freunden stürzt er sich ins Berliner Nachtleben und begegnet dort neben anderen lebendigen Speed-Leichen den leibhaftigen Blixa Bargeld und Nick Cave, die hier als bizarre Witzfiguren auftreten. Und es passiert dann noch so viel Verrücktes, dass es hier nicht einmal ansatzweise wiedergegeben werden kann. Während man bei anderen Filmemachern mitunter einen Mangel an Ideen beklagen muss, leidet Oskar Roehler ganz eindeutig am Gegenteil davon: Über weite Strecken ist es bei ihm einfach zu viel des Guten! Doch Roehler kann nun einmal nicht anders. Bei ihm geht nur: schrill oder gar nicht. Amüsant ist das ganze aber allemal.

Tod den Hippies – Es lebe der Punk!
Deutschland 2015
Regie: Oskar Roehler
Drehbuch: Oskar Roehler
104 Minuten, FSK: 16
Darsteller: Tom Schilling, Frederick Lau, Wilson Gonzales Ochsenknecht, Hannelore Hoger, Samuel Finzi, Emilia Schüle, Anna-Maria Hirsch, Alexander Scheer u.v.a.

www.justament.de, 30.3.2015: Fünf Freunde

Recht cineastisch, Teil 21: „Als wir träumten“ von Andreas Dresen

Thomas Claer

als-wir-traeumtenSchon zweimal hat sich die Zusammenarbeit von Regisseur Andreas Dresen und Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase als Glücksfall erwiesen: in der Künstlerkomödie „Whisky, Wodka und Tango im Gesicht“ (2009) und im wunderbaren Prenzlauer Berg-Film „Sommer vorm Balkon“ (2006), vielleicht einem der schönsten Berlin-Filme überhaupt. Der 51-jährige Dresen und der 32 Jahre ältere Kohlhaase, haben, wie sie einmal selbst erklärten, „dieselbe Sicht auf die Welt“. Vielleicht liegt es ja an der Sozialisation beider im Osten, an der frühen Desillusionierung und an der doch strengen ästhetischen Schule. Kohlhaase: „Von Kunst wurde in der DDR viel erhofft – und zugleich viel befürchtet.” Typisch für beide ist der zarte Blick auf die kleinen Leute, die ewigen Verlierer. Nun haben sich Dresen und Kohlhaase also der Romanvorlage „Als wir träumten“ des gefeierten Leipziger Krawall-Poeten Clemens Meyer, 37, angenommen, in der dieser von seiner eigenen chaotischen Jugend in den Nachwendejahren berichtet. Man durfte gespannt sein, wie die beiden erprobten Leisetreter wohl mit diesem harten Action-Stoff zurechtkommen würden.
Die Geschichte geht so: Fünf Freunde, die schon seit Jahren gemeinsam die Schulbank gedrückt haben, werden als Jugendliche im Nachwende-Leipzig, das damals noch weit davon entfernt war, zum Hypezig, ja zum besseren Berlin geadelt zu werden, eine Straßengang, deren Leben sich vornehmlich um Kleinkriminalität, Alkohol, Drogen und Gewalt dreht. Mit großer Selbstverständlichkeit knacken sie Autos, rauben Supermärkte aus und zertrümmern reihenweise Schaufensterscheiben. Wie schon viele andere junge Leute vor ihnen fühlen sie sich als „die Größten“, doch gibt es in den Nachwende-Wirren kaum noch Autoritäten, die ihnen Grenzen setzen könnten. Besonders verstörend wirken die immer wieder eingeschobenen Rückblenden auf den einst gemeinsam erlebten sozialistischen Schulalltag. Welch ein Kontrast zur Zeit danach! (Unterschwellig klingt immer auch die Frage an, was eine autoritäre Erziehung mit jungen Menschen macht.) Doch ist nicht alles, was die Freunde tun, nur destruktiv. Sie gründen einen Underground-Techno-Club, es sind halt die frühen Neunziger, und bringen so einen kräftigen Schuss Hippness in ihre Metropole, die immerhin die zweitgrößte Stadt der DDR war. Doch es kommt, wie es kommen muss: Rivalisierende Neonazi-Schläger, die die fünf Freunde ohnehin von Anbeginn in ausgedehnte und brutale Revierkämpfe verwickelt haben, zertrümmern die coole Keller-Disco und machen dem Party-Spaß ein Ende. Natürlich kommt es noch viel schlimmer: Einer der Jungen krepiert an seinen Drogen. Sein dealender Freund, der ihm das Zeug verkauft hat, muss sich schuldig fühlen. Wiederum zwei andere der Freunde kommen wegen ihrer unzähligen Delikte ins Gefängnis. Erst im traurigen letzten Drittel des Films offenbart sich vollends die Handschrift von Regisseur und Drehbuchautor. Ein wilder und melancholischer Film über das Erwachsenwerden in Umbruchzeiten, über Freundschaft und Verrat.

Als wir träumten
Deutschland 2015
Regie: Andreas Dresen
Drehbuch: Wolfgang Kohlhaase
Romanvorlage: Clemens Meyer
117 Minuten, FSK: 12
Darsteller: Merlin Rose, Julius Nitschkoff, Joel Basman, Marcel Heuperman, Frederic Haselon, Ruby O. Fee u.v.a.

www.justament.de, 2.2.2015: Mal eben ein Pogrom

Recht cineastisch, Teil 20: „Wir sind jung. Wir sind stark“ von Burhan Qurbani

Thomas Claer

Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen (Foto: Wikipedia)

Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen (Foto: Wikipedia)

Rostock-Lichtenhagen im August 1992: Hunderte rechtsradikale jugendliche Gewalttäter werfen Brandsätze auf eine Aufnahmestelle für Asylbewerber und das benachbarte Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter. Tausende Schaulustige applaudieren ihnen dabei und rufen Parole wie: „Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!“ Im brennenden Wohnheim befinden sich noch über hundert Vietnamesen und ein Kamerateam des ZDF. Zwischenzeitlich zieht sich die Polizei völlig zurück und überlässt die im Haus Eingeschlossenen, die in Todesangst auf das Dach zu flüchten versuchen, ihrem Schicksal… Im Rückblick wirken die Ereignisse eher noch monströser und ungeheuerlicher als aus damaliger Sicht. Hinzu kommt, dass sich seinerzeit auch die deutsche Politik auf allen Ebenen, um es vorsichtig auszudrücken, nicht gerade mit Ruhm bekleckert hat. (Näheres hierzu unter Wikipedia.)

Der afghanischstämmige 34-jährige Filmregisseur Burhan Qurbani hat jenen dunklen 24. August 1992 in einem 128-minütigen Drama eingefangen und geht dabei implizit auch der Frage nach, wie es soweit überhaupt kommen konnte. Am Ende verlässt man das Kino tief erschüttert, aber nicht unbedingt viel klüger als zuvor. Die jugendliche Nazi-Clique, die am Abend die Brandsätze werfen wird, besteht aus zwei bis drei fanatischen Ideologen und mehreren tendenziell gleichgültigen Mitläufern, letzteres trifft vor allem auf die Mädchen in der Gruppe zu. Alle sind von den mächtigen Umwälzungen der letzten Jahre irgendwie frustriert und wissen nicht viel mit sich und der plötzlichen großen Freiheit anzufangen. Zwar hat der Filmtitel, der die jugendliche Stärke der Akteure betont, durchaus seine Berechtigung, aber genauer müsste er eigentlich heißen: „Wir sind jung. Wir sind verwirrt. Wir fühlen uns ohnmächtig und schwach, aber doch noch stark genug, um Jagd auf noch Schwächere zu machen und daraus neues Selbstbewusstsein für uns selbst zu ziehen.“ Noch viel erschreckender als die Ausschreitungen der jungen Leute (Jugend und Randale – das gibt es schließlich häufiger, und es ist Sache der Polizei, sich darum zu kümmern) ist natürlich die klatschende, antreibende und Parolen grölende Menschenmenge um sie herum. Es sind unzufriedene Menschen in einem trostlosen Plattenbaubezirk aus den Siebzigerjahren. Aber wir befinden uns immerhin in Rostock, das zu DDR-Zeiten – anders als etwa Dresden – keineswegs ein „Tal der Ahnungslosen“ gewesen ist. Rostock war immer stolz darauf, eine weltoffene Hansestadt zu sein. Sein Hafen war in der kleinen, engen DDR so etwas wie ein Tor zur großen, weiten Welt.

Was für mich besonders bedrückend ist: Ein paar Jahre zuvor bin ich im 60 km von Rostock entfernten Wismar und in einem Dorf in Nordwestmecklenburg zur Schule gegangen. Die Wende habe ich allerdings bereits im Westen erlebt. Später hörte ich, dass ehemalige Mitschüler von mir, darunter sogar ein früherer guter Freund, den ich noch Anfang 1990 von Bremen aus in Wismar besucht hatte, in die rechte Szene abgedriftet seien. Traurig, aber wahr.

Wir sind jung. Wir sind stark
Deutschland 2015
Regie: Burhan Qurbani
Drehbuch: Martin Behnke / Burhan Qurbani
Darsteller: Devid Striesow, Jonas Nay, Joel Basman, Le Hong Tran, Saskia Rosendahl, Thorsten Merten, David Schütter u.v.a.

www.justament.de, 8.9.2014: Geschwisterliebe

Recht cineastisch, Teil 19: „Die geliebten Schwestern“ von Dominik Graf

Thomas Claer

die-geliebten-schwesternWas ist denn das schon wieder für eine Männerphantasie? Ein noch wenig bekannter und in prekären finanziellen Verhältnissen lebender Dichter um die dreißig wird von zwei bildhübschen adeligen jungen Damen heiß begehrt, die noch dazu Schwestern sind und nicht nur alle ihre Geheimnisse, sondern auch ihre Leidenschaft für den jungen Mann miteinander teilen. Und es bleibt auch keineswegs beim bloßen Begehren, ganz ausdrücklich ist im Film von einer „Vertiefung“ der so vielfach bekundeten Freundschaft beider Mädchen mit dem Dichter die Rede, die dann auch noch jeweils ausgiebig vollzogen wird. Bemerkenswerterweise entsteht dadurch keinerlei Eifersucht zwischen den Beteiligten. Eine gelebte Utopie der freien Liebe gewissermaßen, und das 180 Jahre vor Rainer Langhans, Uschi Obermaier und der Kommune 1! Davon handelt „Die geliebten Schwestern“, der neue Kostümfilm von Dominik Graf, in dem die überaus pikante Menage-a-trois des späteren Großschriftstellers Friedrich Schiller (Florian Stetter) mit Caroline (Hannah Herzsprung) und Charlotte (Henriette Confurius) von Lengefeld geschildert wird. Ob sich die Dinge damals, in den Jahren 1787 ff., tatsächlich so abgespielt haben, ist zwar in der Schiller-Forschung noch nicht restlos geklärt, doch gibt es schwerwiegende Hinweise, die eine Deutung, wie der Film sie suggeriert, sehr nahelegen. Insbesondere existieren spärliche Überbleibsel des anscheinend äußerst regen Briefverkehrs zwischen den drei zentralen Gestalten: Seinerzeit schrieben sie sich, wann immer sie ihre Zeit nicht gemeinsam verbringen konnten, mehrmals täglich und meist ausführlich munter im Dreieck. Was allerdings feststeht, ist der Umstand, dass Friedrich Schiller die jüngere der Schwestern, Charlotte, 1790 ehelichte, wobei aber Grund zur Annahme besteht, dass er doch eigentlich eine Spur mehr Gefallen an der älteren, Caroline, gefunden hatte. Da diese aber ihrerseits bereits unglücklich verheiratet war (eine „Vernunftehe“ mit einem reichen Langweiler), übernahm die jüngere Charlotte den Part der Ehefrau, um ein dauerhaftes Beieinanderbleiben der drei Liebenden zu ermöglichen.
Natürlich konnte das nicht ewig gutgehen. Als nach ein paar Jahren Kinder ins Spiel kommen, deren Urheberschaft – zumindest in Carolines Fall – nicht eindeutig aufzuklären ist, bricht mit der Zeit erbitterte Feindschaft und rasende Eifersucht zwischen den einst so mustergültig miteinander harmonierenden Schwestern aus. Wüste Beschimpfungen werden ausgetauscht, Porzellan durchs Zimmer geworfen und zerbrochen. Kurz, sie verhalten sich dann doch noch wie ganz normale Menschen. Ein sehenswerter Filmgenuss mit einer umwerfenden Hannah Herzsprung.

Die geliebten Schwestern
Deutschland 2014
Regie: Dominik Graf
Drehbuch: Dominik Graf
170 Minuten, FSK: 6
Darsteller: Hannah Herzsprung, Florian Stetter, Henriette Confurius u.v.a.

www.justament.de, 28.7.2014: Die schrecklichen Studies der Jetztzeit

Sehr witzig: Die Generationenkomödie „Wir sind die Neuen“ – Recht cineastisch, Teil 18

Thomas Claer

wir-sind-die-neuenWenn man neu in ein Mietshaus einzieht und dort ausgerechnet eine Studenten-WG über einem wohnt, denkt man vielleicht an ständiges Halli Galli und ausufernde Lärmbelästigung. Eine solche Erwartung haben in Ralf Westhoffs neuer Filmkomödie „Wir sind die Neuen“ jedenfalls Anne (Gisela Schneeberger), Eddi (Heiner Lauterbach) und Johannes (Michael Wittenborn), drei nicht mehr oder nur noch sporadisch berufstätige Münchener, die sich mit Anfang 60 nach 35 Jahren noch einmal zu einer Neuauflage ihrer eigenen früheren Studenten-WG zusammengefunden haben. (Letzteres ist natürlich nicht ganz freiwillig geschehen: Die Biologin Anne muss raus aus ihrer Wohnung und kann sich im teuren München keine Wohnung nur für sich allein mehr leisten. Doch auch der idealistisch-altlinke Anwalt Johannes, der vornehmlich klamme Bürgerbewegungen und sozial Schwache vertritt, und der ewige Schwerenöter Eddi sind finanziell nicht auf Rosen gebettet und lassen sich bereitwillig auf Annes verrückte Idee mit der Senioren-WG ein.) Als die drei also ihre Möbel nach oben tragen, sagt Anne noch mit Blick auf die jungen Leute: „Hoffentlich kiffen die nicht die ganze Zeit, das hab ich ja nun wirklich hinter mir.“ Doch weit gefehlt: Die jungen Leute sind so völlig anders, als es sich die drei Alt-68er vorgestellt haben. In der Studie-WG herrscht Ordnung, absolute Ruhe und disziplinierter Lerneifer. Schon beim Antrittsbesuch der neuen Mieter stellen die Studenten klar: „Um gar nicht erst falsche Erwartungen zu wecken: Wir können euch nicht helfen. Dafür haben wir keine Kapazitäten mehr.“ Katharina (Claudia Eisinger) und Thorsten (Patrick Güldenberg) stehen vor ihrem ersten juristischen Staatsexamen, Barbara (Karoline Schuch) schreibt gerade ihre Magisterarbeit in Kunstwissenschaft. „Wenn ihr damals etwas flotter studiert hättet, dann hätten wir heute nicht solche Probleme mit der Regelstudienzeit“, ergänzt Barbara noch. Während sich die Senioren sodann mit lauter Rockmusik und geräuschvollen Diskussionen in ihrem neuen Zuhause einrichten, kommen von den Studenten ständige Beschwerden wegen Ruhestörung und wird so manche unverschämte Bemerkung auf die neuen Nachbarn losgelassen. Mit der Zeit verhärten sich die Fronten immer weiter. Erst als die jungen Leute in diverse Nöte geraten und die rüstigen Nachbarn ihnen hilfsbereit unter die Arme greifen, kommt es zur überraschenden Annäherung.
Der Film erinnert etwas an „Männer“ von Doris Dörrie (1985), der auch auf heitere und bissige Weise das Leben in einer WG thematisiert, ebenfalls mit (dem damals noch ziemlich jungen) Heiner Lauterbach in einer der  Hauptrollen. Doch ist „Wir sind die Neuen“, das lässt sich ohne Übertreibung sagen, sogar noch eine Spur witziger. Der Film kommt völlig ohne Längen oder auch nur kleinere Hänger aus. Die Handlung ist von vorne bis hinten genau durchdacht. Ganz entscheidend lebt diese Komödie aber von ihren brillanten Dialogen. Kostprobe: Die drei Senioren befinden sich anfangs auf Wohnungssuche und nehmen an der Gruppenbesichtigung einer hübschen Altbauwohnung teil. Eine junge Frau fragt Eddi (Heiner Lauterbach): „Sind Sie der Vermieter?“ Darauf Eddi: „Nein, sehe ich aus wie ein Vermieter?“ Die junge Frau: „Ich dachte nur wegen des Alters und weil sie so … angezogen sind. Als Vermieter hat man es ja nicht so nötig…“ Der nachlässig gekleidete Eddi lächelnd: „Ich bin ein Konkurrent von Ihnen.“ Die Frau, ihn genau musternd: „Nein, das sind Sie nicht.“ Nur durch persönliche Beziehungen (eine frühere Geliebte von Eddi sitzt in einer Wohnungsverwaltung) kommen die Drei überhaupt an eine Wohnung in München.
Laut Wikipedia hat ein Kritiker dem Film Oberflächlichkeit vorgeworfen, weil er sich nicht tiefgehender mit dem Generationenkonflikt auseinandersetze. Mir scheint eher, dass sich der Film der Problematik sehr wohl bewusst ist, sich aber klugerweise auf deren diskrete Andeutung beschränkt. Abschließend noch ein herausragend komischer Spruch von Eddi: Als er die prall gefüllte Plastiktüte mit den leeren Weinflaschen seiner feierfreudigen Alten-WG zum Glascontainer bringt, trifft er auf die Studentin Barbara mit zwei Weinflaschen in der Hand und fragt sie: „Die sind wohl noch vom letzten Silvester, oder?“

Wir sind die Neuen
Deutschland 2014
Regie: Ralf Westhoff
Drehbuch: Ralf Westhoff
91 Minuten, FSK: 0
Darsteller: Gisela Schneeberger, Heiner Lauterbach, Michael Wittenborn, Claudia Eisinger u.v.a.

www.justament.de, 20.1.2014: Unter Geistern

Recht cineastisch Spezial: Vor 35 Jahren erschien die DDR-Fernsehserie „Spuk unterm Riesenrad“

Thomas Claer

Spuk-unterm-RiesenradEnde der Siebziger- und Anfang der Achtzigerjahre verbrachte ich im Sommer manchmal ein oder zwei Ferienwochen bei meinen Großeltern in einer ostmecklenburgischen Kleinstadt ohne Farb- und – was viel schlimmer war! – ohne Westfernsehen. Es war schon starker Tobak für ein fernsehverwöhntes Kind wie mich, ausgerechnet in den Schulferien mit nur zwei Programmen auskommen zu müssen, wie man sie sich langweiliger und eintöniger nicht vorstellen kann: DDR 1 und DDR 2! Manchmal fing auch noch das Bild zu flackern an. Dann stand mein Opa auf, ging bedächtig zu jenem großen Holzkasten mit Röhre, den man damals Fernsehapparat nannte, und klopfte einmal kräftig mit der Faust drauf. Das Bild wurde davon zwar meistens auch nicht besser, aber mein Opa konnte wenigstens mal so richtig seinen Ärger rauslassen.
Doch hatte es eine glückliche Fügung mit sich gebracht, dass gerade als ich in diesem „Tal der Ahnungslosen“ weilte (so nannte man damals die Gebiete des Ostens ohne Westfernsehempfang), im Ferienprogramm zum wiederholten Male die wirklich unübertreffliche Kinder-Serie „Spuk unterm Riesenrad“ ausgestrahlt wurde: eine Folge täglich. Was konnte es Schöneres geben? Ich kann mich auch nicht erinnern, dass überhaupt jemals irgendeine DDR-Filmproduktion bei uns westfernsehverdorbenen Ost-Kindern so gut angekommen wäre wie diese schaurig-schöne Spukgeschichte, von der es wegen ihres großen Erfolgs später auch noch eine zweiteilige Kino-Version gab. Drei Kinder im Grundschulalter verbringen die Ferien (so ähnlich wie ich in der Wirklichkeit) bei ihren Großeltern – allerdings nicht in irgendeinem Kaff, sondern auf einem Rummel, genau genommen im größten Freizeitpark der DDR in Berlin-Plänterwald. Ihr Großvater betreibt dort die Gespensterbahn, und auf mysteriöse Weise werden seine drei furchterregendsten lebensgroßen Figuren, nämlich Hexe, Riese und Rumpelstilzchen, zum Leben erweckt. Die drei Geister machen sich aus dem Staub und werden von den Kindern im Auftrag ihres Opas und bald auch von der Volkspolizei gejagt. Sie, die letztmalig irgendwann im Mittelalter lebendig waren, irren durch Ost-Berlin, wundern sich über dieses und jenes, fahren U-Bahn (man erkennt den U-Bahnhof Samariterstraße, heute absolute Friedrichshainer Szenelage) und besuchen das HO-Centrum-Warenhaus am Alexanderplatz (heute Galeria Kaufhof). Zwischendurch warten sie mit allerhand Zauberkunststücken auf.
Wie sehr dabei eigentlich unentwegt der triste DDR-Alltag mit seinen heiter-tragischen Momenten auf die Schippe genommen wird, ist mir so richtig erst jetzt beim Ansehen der DVD klar geworden. Und die bürokratisch-vertrottelten Volkspolizisten! Und die nachgestellten stocksteifen Nachrichten der „Aktuellen Kamera“, die am Anfang jeder Folge über die Flucht der Gespenster berichten! Das ist mitunter von atemberaubender Komik. Überhaupt entdeckt man so viele kleine Nebensächlichkeiten. Wie schlecht zum Beispiel die Kinder zu jener Zeit behandelt wurden! Damals im Osten durfte man fremde Kinder einfach so anbrüllen oder ihnen Schläge androhen, da fand niemand etwas dabei. Es hat schon seinen Grund, wenn wir Ostdeutschen unserer Generation, jedenfalls verglichen mit gleichaltrigen Westdeutschen, immer etwas gehemmt und vorsichtig sind. Bei manchen Klassentreffen ist das schon ziemlich auffällig.
Es geht dann so weiter, dass die Hexe im Warenhaus keinen Besen finden kann und stattdessen einen Staubsauger erwirbt. (Da die Geister völlig mittellos sind, muss sie ihn stehlen, so wie der stets hungrige Riese allerhand Würstchen aus der Fleischabteilung und Rumpelstilzchen kostbaren Schmuck erbeutet.) Auf dem Staubsauger – die Stromversorgung gelingt, indem sie den Stecker dem stets wütenden Rumpelstilzchen kurzerhand in die Nase stecken – fliegen die Drei dann in den Harz und verschanzen sich schließlich in der Burg Falkenstein, wo die Hexe in besseren Tagen einmal ein edles Burgfräulein gewesen ist, das erst durch einen bösen Zauber zur Hexe mutierte. Am Ende werden Hexe und Riese, zwischen denen sich eine zunehmende erotische Spannung entwickelt („Ach, lieber Gevatter!“) durch gezielten Gegenzauber zu guten Menschen und anständigen DDR-Bürgern (ihnen werden feierlich die blauen Personalausweise ausgehändigt), während das unverbesserlich böse Rumpelstilzchen, das zwischenzeitlich ein kleines Mädchen entführt und um ein Haar die Burg angezündet hätte, zur Strafe wieder in eine Geisterbahn-Puppe zurückverwandelt wird.
Das namengebende Riesenrad ist im Plänterwald noch heute als Ruine zu bewundern. Überhaupt ist der Spreepark, wie er seit der Wende heißt, inzwischen ein verwunschener Ort geworden, seit der letzte Investor aus dem Westen bei seinem Versuch einer Wiederbelebung der Fuhr- und sonstigen Geschäfte vor zwölf Jahren Pleite ging. Es gab seitdem schon die verrücktesten Ideen, wie man das Gelände in bester Wasserlage, gleich hinter dem Treptower Park mit seinem kolossalen sowjetischen Ehrenmal, künftig nutzen könnte. (Erich von Däniken wollte dort sogar einmal einen Erlebnispark für Außerirdische errichten.) Bis heute wurden aber alle potentiellen Investoren von dem noch vom letzten Spreepark-Betreiber herrührenden immensen Schuldenberg abgeschreckt, der auf dem Pachtvertrag für das Grundstück lastet, in den jeder neue Investor einzutreten hätte. Als Zwischennutzung finden dort manchmal Popkonzerte statt, wie jenes legendäre im Mai 2013, als die Gruppe „The XX“ dort vor über 12.000 Berliner Hipstern spielte. Ach, wäre man da doch nur dabei gewesen!

Spuk unterm Riesenrad
DDR 1979
Länge: 200 Minuten (in 7 Teilen)
Regie/Drehbuch: C.U. Wiesner, Günter Meyer
Musik: Thomas Natschinski
Darsteller: Katja Paryla (Hexe), Stefan Lisewski (Riese), Siegfried Seibt (Rumpelstilzchen), Kurt Radeke (Opa), Käthe Reichel (Oma), Katrin Raukopf, Dima Gratschow, Henning Lehmbäcker (Kinder), Harry Pirtzsch (Leutnant Märzenbecher)

www.justament.de, 16.12.2013: Unser Snobismus

Recht cineastisch, Teil 17: „Blue Jasmine“ von Woody Allen

Thomas Claer

blue-jasmineDieser Woody Allen-Film ist keine Komödie. So stand es überall geschrieben. Davon ist natürlich kein Wort wahr. Ich gestehe hier sogar, lange nicht mehr so in einem Film gelacht zu haben wie in diesem. Klar, da muss auch eine gehörige Portion Schadenfreude mit im Spiel sein, um angesichts des erschütternden sozialen Abstiegs der dem Film ihren Namen gebenden Protagonistin auf so herzlose Weise in Gelächter auszubrechen. Aber was soll man machen, dieser Film kitzelt auf raffinierte Weise die Ressentiments nur so aus einem heraus. Er hält dem Zuschauer letztlich auch den Spiegel seiner eigenen moralischen Abgründe vor.
Erzählt wird hier, und das so effektiv und elegant wie stets beim späten Woody Allen, die Geschichte von der Luxusdame Jasmine, die – völlig mittellos geworden – von New York nach San Francisco fliegt (natürlich in der Luxusklasse, damit geht es schon los!), um bei ihrer bescheiden lebenden Adoptivschwester Ginger, einer Supermarkt-Kassiererin, unterzukommen. Jasmine, Anfang oder Mitte 40 und ziemlich attraktiv, war ihrem Ehemann Hal, gespielt von Alec Baldwin, der in dieser Rolle optisch wirklich sehr an Klaus Wowereit erinnert, auf die Schliche gekommen, denn dieser hatte hinter ihrem Rücken unzählige Affären mit anderen, natürlich viel jüngeren, Frauen. Nun war Hal aber ein millionenschwerer Finanzbetrüger im Stile von Bernie Madoff, der u.a. auch Jasmines Schwester Ginger und deren Ex-Mann Augie um ihr gesamtes Vermögen, einen Lottogewinn von 200.000 Dollar, gebracht hat. Hal hatte ihnen bei angeblich geringem Risiko eine Rendite von  jährlich 20 Prozent versprochen. Jeder weiß, dass daran, sofern es einem nicht Warren Buffett höchstpersönlich verspricht, etwas faul sein muss. Aber Ginger und Augie wussten es nicht. Als also die gekränkte Jasmine – Hal hat gerade etwas mit dem 18-jährigen Au-pair-Mädchen angefangen  –, ihren Mann aus Wut beim FBI anschwärzt, wird gegen diesen ermittelt, und der ganze Finanzschwindel fliegt auf. Alles Geld ist weg, es bleiben nur Schulden. Später erhängt sich Hal dann im Gefängnis.
Jasmine, obzwar psychisch schwer angeschlagen und viel Alkohol und Tabletten in sich hineinschüttend, lässt sich doch keineswegs unterkriegen, nimmt all das als Herausforderung an und versucht einen Neuanfang. Ihr Studium hatte sie damals abgebrochen, als sie Hal kennengelernt hatte. Doch nun wird eben sehr zielstrebig eine eigene Karriere anvisiert. Bald merkt sie aber, wie mühsam das ist, und sucht stattdessen gezielt nach einem steinreichen Mann. Dabei kommen ihr ihre Upper-Class-Manieren sehr zupass. Mit spielerischer Leichtigkeit erobert sie auf einer High Society-Party einen angehenden Diplomaten mit riesiger Villa. Um ein Haar hätte es auch mit einer schnellen Hochzeit geklappt. Nur durch einen dummen Zufall kommen Details aus Jasmines Vorleben heraus, und sie verstrickt sich so in ihrem Lügengespinst, dass ihre Eroberung schnell das Interesse an ihr verliert. Am Ende des Films sitzt Jasmine nach einem Streit mit ihrer Schwester völlig desorientiert und mit zerzausten Haaren auf einer Parkbank.
Doch Mitleid ist hier völlig fehl am Platze. Die hochmütige Verachtung, mit der sie ihrer Schwester und ihrem Verlobten, einem Autoschlosser, und allen seinen Freunden bis zuletzt begegnet, sowie ihre unablässig zur Schau gestellte Anspruchsunverschämtheit bestärken einen während des Films immer wieder aufs Neue darin, dass sie es wirklich nicht anders verdient hat. Jasmine ist so durchdrungen von ihrem Überlegenheitsgefühl gegenüber ihrer in ihren Augen tief in der Mittelmäßigkeit feststeckenden Adoptivschwester, dass man als Zuschauer, zumal als bescheidener und sparsamer Mensch, den Ausgang der Handlung schon reflexhaft als gerechte Strafe für den hybriden Übermut der Protagonistin empfindet. Und gerade weil es im wirklichen Leben ja eigentlich immer anders läuft und ein bestimmter Frauentyp auf diese Tour bekanntlich noch in allen Zeiten gut durchgekommen ist, macht dieser Film, in dem so eine Frau mal so richtig auf die Schnauze fliegt, soviel Spaß.
Doch ist das nicht alles zu viel Schwarzweißmalerei? So wurde u.a. von Tobias Kniebe in der Süddeutschen Zeitung kritisiert, der Film bleibe oberflächlich, da die Figur der Jasmine so eindimensional gezeichnet sei. Aber ja nun, warum denn nicht? Wäre es anders, wäre der Film bestimmt nicht so witzig geworden! Und wenn manche Kritiker Woody Allen vorwerfen, er drehe inzwischen einfach nur noch einen Film nach dem anderen und gebe sich gar keine richtige Mühe mehr, dann muss man feststellen: Wahrscheinlich hat er sich mit diesem Film wirklich keine besondere Mühe gegeben. Das hat dem Film aber nicht geschadet, im Gegenteil. Denn darin, in der karikaturhaften Zuspitzung seiner Charaktere, ist Woody Allen nun einmal am besten. Und dafür braucht einer wie er schon lange keine Anstrengung mehr, das macht er gewissermaßen mit links. Man mag es vielleicht bedauern, dass er so viele gute Filme in die Welt setzt wie einst Balzac gute Romane und dadurch selbst zur inflationären Entwertung seiner Werke beiträgt, aber sehenswert bleiben seine Filme deshalb trotzdem.

Nachdenklich macht eher ein anderer Aspekt, der einem vor Augen führt, wie hintergründig diese mit so leichter Hand gewebte Geschichte letztendlich doch ist und wie tief man gewissermaßen auch selbst im Schlamassel drinsteckt. Die Rede ist von Jasmines demonstrativ vorgeführtem Snobismus, welcher ja immer die hässliche Fratze eines selbstbewussten Individualismus ist. Als sie – noch in glücklichen Zeiten – ihren feudal anmutenden Altbau-Palast bezieht, sagt sie: „Ich kann nicht verstehen, wie Leute in Wohnungen mit niedrigen Decken ziehen können, ich würde dort ersticken.“ Das erinnert mich an eine gute Bekannte, die sich früher einmal über das geräuschvolle Surren der „Billig-Laptops“ in der Uni-Bibliothek echauffierte und forderte, dass alle Notebooks, die lauter als ihr eigenes IBM-Gerät seien, verboten werden müssten. (Heute hat sie wahrscheinlich längst ein Teil von Apple.) In der scheinbar harmlosen Benennung einer persönlichen Vorliebe, die einen in Geschmacksfragen von anderen unterscheidet, grenzt man sich doch in Wahrheit über den dickeren Geldbeutel von ihnen ab, und lässt das deutlich mit anklingen. Für Jasmine – wir sind wieder im Film – ist es eine unvorstellbare Schande, sich das vornehme Manhattan nicht mehr leisten zu können. „Stell dir vor“, sagt sie zu ihrer Schwester, die von all dem nur träumen kann, „ich musste mir eine Wohnung in Brooklyn mieten.“  (Das ist ungefähr so, als würde sich jemand über einen Umzug von Berlin-Mitte nach Berlin-Schöneberg grämen.) Eine ganz ähnliche Haltung haben wir aber auch schon vor zehn Jahren in Berlin erlebt: Eine Freundin meiner Frau erklärte mir, nachdem sie uns dankenswerter Weise beim Einzug in unsere große und schöne damalige Wohnung im ärmlichen Bezirk Wedding geholfen hatte, dass sie künftig bestimmt nie wieder freiwillig einen Fuß in diese unmögliche Gegend setzen werde. (Sie selbst wohnte damals im feinen Wilmersdorf, inzwischen hat sie – natürlich – Karriere in Frankfurt am Main gemacht. Sie hat uns später – trotz mehrerer Einladungen – auch tatsächlich nie mehr in Wedding besucht.) Und sie fügte damals noch hinzu: „Wenn man schon einen Holzdielenfußboden hat, dann sollten die Dielen aber schon abgezogen und nicht gestrichen sein.“ Das hat gesessen. Wie bei James Bond: Nicht geschüttelt, sondern gerührt. Damals waren wir einfach nur froh, überhaupt ein Dach über dem Kopf gefunden zu haben. Das Schlimme ist aber: Heute wohnen wir, obwohl der Wedding inzwischen schon als regelrecht cool gilt, wenn er auch noch längst nicht so angesagt ist wie der andere frühere Igitt-Bezirk Neukölln, schon lange nicht mehr dort. Unseren jetzigen Dielenboden haben wir auch nicht gestrichen, sondern abgeschliffen. Dabei ist gegen das Fußbodenstreichen eigentlich auch nichts zu sagen, nur dass abgezogene Dielen in der Tat schöner aussehen. Wo genau verläuft eigentlich die Grenze zwischen Coolness und Snobismus? Und ist es nicht ein aussichtsloses Unterfangen, sich von letzterem fernhalten zu wollen? Auch sei an dieser Stelle daran erinnert, dass der eigentlich so sympathische Herr Lehmann in Sven Regeners gleichnamigem Roman auf einem nächtlichen Nachhauseweg in seine Kreuzberger Wohnung extra einen Umweg macht, nur um nicht, und seien es auch nur ein paar Schritte, durch Neukölln gehen zu müssen. Mit anderen Worten: Selbst er ist ein Snob. (Es muss sich, nebenbei gesagt, um den nördlichen, in Kreuzberg gleichsam hineinragenden Zipfel Neuköllns, den Postleitzahlbezirk 12047 am Maybachufer, gehandelt haben, der heute ironischerweise zum Inbegriff einer hippen Wohngegend geworden ist, wo die Angebotsmieten zwischen 2008 und 2012 um sage und schreibe 62,9 Prozent gestiegen sind!)
Neulich habe ich im Bus ein Gespräch zwischen zwei jungen Mädchen belauscht. Die eine sagte: „Das ist eben der Unterschied: In Hamburg kommt es immer darauf an, seinen Reichtum zu präsentieren, in Berlin hingegen geht es darum, cool zu erscheinen.“ Gefährlich wird es spätestens dann, wenn das eine nicht mehr vom anderen zu unterscheiden ist.

Blue Jasmine
USA 2013
Regie: Woody Allen
Drehbuch: Woody Allen
98 Minuten, FSK: 6
Darsteller: Cate Blanchett, Alec Baldwin, Sally Hawkins, Bobby Cannavale, Andrew Dice Clay u.v.a.

www.justament.de, 18.11.2013: Einer wie keiner

Recht cineastisch, Teil 16: Die andere Heimat von Edgar Reitz

Thomas Claer

bild-heimatAhnenforschung hat mittlerweile Hochkonjunktur in Deutschland (Justament September 2012 berichtete). Und so dachte sich wohl auch der inzwischen über 80-jährige Filmemacher Edgar Reitz, der für sein Lebenswerk, die wunderbare dreißigteilige Filmreihe “Heimat” (1982-2004), immer wieder verdientermaßen gefeiert wurde, hier ließe sich doch noch eins draufsetzen, indem man einfach mal anderthalb Jahrhunderte zurückgeht. “Die andere Heimat”, diesmal als vierstündiger Kinofilm konzipiert, spielt nun um 1840 in der Welt der Vorfahren der aus den früheren Heimat-Filmen bekannten Familie Simon im fiktiven Hunsrück-Dörfchen Schabbach. (Gedreht wurde in einem Ort namens Gehlweiler.) Edgar Reitz vermischt hier auf einprägsame Weise Erfundenes mit Biographischem aus dem Leben seiner Ahnen. Zugegeben, ein vierstündiger Kinofilm – das wirkt erst einmal abschreckend. Und man kann auch nicht behaupten, dass sich in ihm nun ständig etwas Aufregendes ereignen würde. Doch gerade diese – im besten Sinne des Wortes – Langatmigkeit des filmischen Erzählens, verbunden mit einer sehr subtilen Kameraführung und den radikal-ästhetischen Schwarzweiß-Bildern, gelegentlich und unvermittelt unterbrochen durch kurzzeitige Ausflüge ins Farbige, macht die Edgar Reitz-Filme so einzigartig. Und in der “Anderen Heimat” kommt noch die weitgehend authentisch hergerichtete historische Dorfkulisse hinzu.
Der Zuschauer erfährt, in welch bitterer Armut die Menschen im ländlichen Raum – damals die große Mehrheit der Bevölkerung – zu jener Zeit leben. Da findet es wenig Verständnis beim Schmied Johann Simon, dass sein Sohn Jakob einer so seltsamen Tätigkeit wie Bücherlesen nachgeht. Immer wieder prügelt er Jakob und wirft sein Buch auf den Misthaufen. Vielleicht wird man ja wirklich vor allem dadurch zum Individualisten, dass man es eigentlich nicht sein darf, dass einen Eltern und Umfeld mit sehr klaren Erwartungen konfrontieren, denen man aber auf gar keinen Fall entsprechen möchte. Jakob träumt vom Auswandern nach Brasilien, verschlingt förmlich die entsprechenden Reiseberichte und lernt schließlich die Sprache der Indianer vom Amazonas. “So einen wie dich gibt es im ganzen Hunsrück nicht!”, sagt ihm, halb anerkennend, halb vorwurfsvoll, seine Freundin Jettchen. Auf berührende Weise erzählt der Film die sich zunächst anbahnende, dann verhinderte und schließlich sich doch noch auf überraschende Weise wenigstens für kurze Zeit erfüllende Liebesgeschichte zwischen Jakob und Jettchen. Stark!

Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht
Deutschland / Frankreich 2013
Regie: Edgar Reitz
Drehbuch: Edgar Reitz / Gert Heidenreich
230 Minuten
Darsteller: Jan Dieter Schneider, Antonia Bill, Maximilian Scheidt, Marita Breuer, Rüdiger Kriese, Philine Lembeck, Christoph Luser u.v.a.

Justament Sept. 2013: Mächtig gewaltig

Vor 45 Jahren gab es den ersten Film der Olsenbande

Thomas Claer

24 RECHT HISTORISCH TC -_OLSENBANDE08Etwas Besseres kann einem eigentlich gar nicht passieren, als an einem freien Sonntagnachmittag beim Durchzappen vor dem Fernseher beim MDR oder RBB hängenzubleiben, wenn dort ein kleinen Mann im verbeulten Anzug mit altmodischem Hut und Zigarre strahlenden Auges verkündet: “Ich hab einen Plan!” Und ein anderer Mann im etwas lächerlichen karierten Jackett kommentiert das stets mit den Worten “Mächtig gewaltig, Egon!” Auch wenn man alle 14 Folgen der “Olsenbande”, so der Titel dieser aus Dänemark stammenden Gangsterkomödien-Reihe aus den 70er und 80er Jahren, nicht nur einmal und nicht nur mehrmals, sondern wohl schon unzählige Male gesehen hat, wird man es kaum über sich bringen, die Episode, in die man zufällig hineingeraten ist, nicht bis zum Ende weiterzugucken.
Immer vorausgesetzt allerdings, man hat seine Sozialisation in der DDR erlebt, denn einem Westdeutschen die Olsenbanden-Filme nahebringen zu wollen, ist ein völlig sinnloses Unterfangen. Er wird es schlichtweg nie begreifen. In den Kritiken der Zeitschrift TV-Spielfilm ist bislang noch jede Olsenbanden-Folge als unsäglich albern und banal, als billigster Klamauk abgekanzelt worden. Hingegen erblicken Filmexperten aus dem Osten in den Filmen mit dem dänischen Gauner-Trio Sternstunden der Filmgeschichte, etwa in jener berühmten Szene, als die Olsenbande sich im “Königlichen Theater” in Kopenhagen während der Overtüre von Friedrich Kuhlaus “Elverhoj” im Takt der Musik mit Hilfe von Brecheisen und Sprengsätzen unbemerkt bis in den Zuschauerraum vorarbeitet, wo sie eine kostbare Vase und einen Geldkoffer entwenden kann (“Die Olsenbande sieht rot”, 1976). Es ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten schon ausgiebig diskutiert worden, sogar in Universitätsseminaren der Filmwissenschaften, woran diese so unterschiedliche Rezeption der Olsenbanden-Filme in Ost- und West wohl liegen könnte. Erkannten die Ostdeutschen in Egon Olsens immer wieder vergeblichen Bemühungen um den ganz großen Coup wirklich ihre zum Scheitern verurteilte Planwirtschaft wieder? Lag es an der sehr gelungenen, ganz eigene Akzente setzenden DEFA-Synchronisation mit zahlreichen Insider-Jokes? Manche Diskutanten konstatierten am Ende eine tiefgreifende mentale Andersartigkeit von Ost- und Westdeutschen und ihres jeweiligen Humors und resümierten, die DDR hätte sich statt mit der BRD doch lieber mit Dänemark vereinigen sollen.
Mit heutigen Augen betrachtet taucht man in diesen Filmen allerdings in eine in vieler Hinsicht längst vergangene Zeit ein, bei deren Betrachtung sogar die alten Ost- und West-Unterschiede ein wenig verblassen. Was da überall an alltäglicher Gemächlichkeit und Gemütlichkeit vorexerziert wird, man denke nur an die ausgiebig Kaffee trinkenden verbiesterten Bahnbeamten in “Die Olsenbande stellt die Weichen” (1975), das hat es damals wohl ganz ähnlich im Westen wie im Osten, in beiden Deutschlands wie in Dänemark gegeben. Heute ist all das in unserer von Controllern gnadenlos auf schlanke Strukturen, Kostenersparnis und Effektivität getrimmten Welt  nahezu vollkommen verschwunden.
Es war jene (auch im östlichen Realsozialismus) zutiefst sozialdemokratische Ära kurz vor dem von Maggy Thatcher und Ronald Reagan angeschobenen Neoliberalismus, in der man noch grundsätzlich fünfe gerade sein ließ und nichts so heiß gegessen wurde, wie es gekocht worden war. Ja, gerade diese so weit verbreitete Nachlässigkeit und Gutmütigkeit all der Wachmänner und Beamten, der Müllkutscher und sogar der Geldleute war es, die Schlitzohr Egon Olsen und seinen beiden loyalen Mitstreitern Benny und Kjeld ein ums andere Mal die Chance eröffnete, mit sehr einfachen Mitteln immense kleinkriminelle Husarenstücke zu vollbringen und dabei sogar den ganz großen Wirtschaftsverbrechern in die Quere zu kommen.
In einer der letzten Folgen deutet sich allerdings der drohende Epochenwechsel an: Ein Computerexperte namens Georg hat ebenfalls einen – allerdings auf modernste Technik setzenden – Plan, lässt Benny und Kjeld für sich arbeiten und Bandenchef Egon vorübergehend ganz schön alt aussehen. Doch Egon kann mit einem raffinierten Akt der Sabotage (ein in der Öffnung eines Computers versenkter Nagel legt die gesamte IT-Anlage lahm) noch einmal den Status Quo und die Gefolgschaft seiner beiden Kumpane zurückerobern.
Heute lässt sich bei Wikipedia der Plot jeder einzelnen Folge nachlesen. Vor allem die immer wieder auftretenden haarsträubenden Korruptionsfälle in Politik und Großkapital, die Lenkung der Polizei per Telefon durch den zuständigen Minister persönlich, die unbedingt verhindern soll, dass bestimmte brisante Fälle jemals aufgeklärt werden, zeigen, welche überaus kapitalismuskritische Gesellschaftssatire diesen Klamauk-Krimis dann doch zugrundelag.
Aus juristischer Sicht ist noch anzumerken, dass die Olsenbande in ihren 14 Filmen zwar Diebstähle und Unterschlagungen, Sachbeschädigungen und kleinere Betrügereien in großer Zahl beging, auch – allerdings eher zufällig und ohne selbst das Ausmaß zu überblicken – einige kapitale Wirtschaftsdelikte, doch niemals Tötungen oder auch nur Körperverletzungen, letztere allenfalls fahrlässig oder in mittelbarer Täterschaft. Der allererste Olsenbanden-Film, in dem allerdings einige später stilbildende Details noch nicht ganz ausgereift waren, erblickte vor 45 Jahren das Licht der Welt.

www.justament.de, 17.6.2013: Willkommen in der Wirklichkeit!

Recht cineastisch, Teil 15: „Before Midnight“ mit Julie Delpy und Ethan Hawke

Thomas Claer

beforemidnightcoupleRomantischer geht es nicht: Sie treffen sich in einem Zug! Der 23-jährige Amerikaner Jesse (Ethan Hawke) und die gleichaltrige Französin Celine (Julie Delpy) lernen sich als Rucksackreisende zwischen Budapest und Wien kennen, unterhalten sich angeregt und beschließen spontan, in Wien gemeinsam auszusteigen, um dort einen wunderbaren Tag und – wie sich aber erst viel später herausstellen wird – auch eine wunderbare Nacht miteinander zu verbringen. So beginnt „Before Sunrise“, der erste Film aus Richard Linklaters Trilogie der Before-Filme, deren dritten wir nun, 18 Jahre nach dem Erstling, erleben dürfen. Um es gleich vorweg zu sagen: Wer „Before Midnight“ begreifen will, sollte unbedingt zuerst die beiden Vorgänger „Before Sunrise“ (1995) und „Before Sunset“(2004) gesehen haben. Also bitte erst die zwei Euro Leihgebühr und drei Stunden Zeit zum DVD-Gucken investieren, und dann ab ins Kino!
Es war natürlich eine andere Zeit damals, 1994, als es mit Jesse, dem witzigen und charmanten Slacker, und Celine, dem anmutigen Wesen mit idealistisch-umweltbewegtem Weltbild, begann. Wer seinerzeit etwas auf sich hielt, war im Sommer mit dem Rucksack und einem Interrail-Ticket unterwegs. Junge Leute mit Rollkoffern hätte man damals vermutlich als peinlich empfunden. Jedenfalls flanieren Jesse und Celine durch die Wiener Schallplattenläden, Antik-Läden und Cafès und reden, reden, reden. Sie haben sich einfach eine Menge zu sagen. Doch da beide schon anderweitig verplant sind, ist nach einem Tag und einer Nacht Schluss. Sie verlieren sich aus den Augen (Facebook und dergleichen ist noch nicht erfunden), und begegnen sich erst neun Jahre später im nächsten Film wieder. Da ist Jesse, es sind auch im Leben der Filmfiguren neun Jahre vergangen, ein von der Kritik gefeierter Schriftsteller geworden, dessen Roman-Debüt Celine gelesen und sich darin wiedererkannt hat. Nach Jesses Lesung in Paris komm es zum Wiedersehen. Und wieder haben sich die beiden unendlich viel zu erzählen. Allerdings ist Jesse inzwischen anderweitig verheiratet und Vater eines Sohnes, Celine hingegen, die mittlerweile in einer großen Umweltorganisation arbeitet, von der Männerwelt enttäuscht worden. Als der zweite Film endet, läuft Jesse Gefahr, über seinem Gespräch mit Celine den Flieger zu seiner Familie in die Staaten zu verpassen.
Erst jetzt, nach – sowohl in der Filmhandlung als auch tatsächlich – neun weiteren Jahren, erfahren wir, dass es wirklich so gekommen ist. Jesse und Celine, inzwischen Anfang vierzig, sind doch noch ein Paar geworden und haben inzwischen sogar zwei gemeinsame Töchter in die Welt gesetzt. Doch das Leben als Patchwork-Familie gibt immer wieder Anlass zu erbitterten Auseinandersetzungen. Celine beschreibt ihr Dasein als Karriere-Frau in einer Umweltorganisation und Mutter zweier Kinder so: „Die einzige Zeit, die ich mal wirklich für mich selbst habe, ist die auf der Toilette. Ich assoziiere inzwischen schon Nachdenken mit dem Geruch von Scheiße.“ Jesse schiebt dagegen als freier Schriftsteller, der es auf mittlerweile drei Romane gebracht hat, eine deutlich ruhigere Kugel. Die so unterschiedlichen Existenzformen der beiden sorgen ebenso für Konfliktstoff wie die gelegentlichen kulturell bedingten Dissonanzen in der binationalen Partnerschaft. Erst der gemeinsame Urlaub in Griechenland, in dem der Film seine Protagonisten einen Tag lang begleitet (ein berühmter griechischer Schriftsteller hat Jesse in sein Gästehaus eingeladen), ermöglicht wieder eine Kommunikation zwischen beiden wie in alten Zeiten. Doch kaum haben sie endlich einmal Ruhe, um Sonne, Wind und Meer und überhaupt die mediterrane Süße des Lebens genießen zu können, fangen sie an zu streiten. Es macht etwas traurig mit anzusehen, wie der so vielfach erfahrene Liebeskiller Alltag auch bei diesem Traumpaar eine Menge der einstigen Magie absorbiert hat. Der Satz von Jesse, der Celine endgültig zur Weißglut bringt, lautet: „Wenn du nur einen Bruchteil der Energie, die du für deine ständigen Nörgeleien und Zickereien aufwendest, für sinnvollere Dinge nutzen würdest…“ Diskussionen dieser Art dürften wohl auch so manchem Zuschauer bekannt vorkommen… Andererseits deutet der Umstand, dass Jesse und Celine auch nach so vielen gemeinsamen Jahren noch so munter und ausgedehnt miteinander reden, eher auf eine weitere gemeinsame Zukunft der beiden hin. Wir warten gespannt auf eine etwaige Fortsetzung im Jahr 2022.

PS: Dass der Film von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien als „FSK: 6“ eingestuft wurde, obwohl Julie Delpy dort minutenlang mit entblößten Brüsten herumläuft und sich dem, allerdings durch heftigen Streit unterbrochenen, leidenschaftlichen Liebesspiel mit Jesse hingibt, geht natürlich im Zeitalter allgegenwärtiger Online-Pornographie völlig in Ordnung.

Before Midnight
USA 2013
Regie: Richard Linklater
Drehbuch: Richard Linklater, Julie Delpy, Ethan Hawke
109 Minuten, FSK: 6
Darsteller: July Delpy, Ethan Hawke  u.v.a.