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justament.de, 19.5.2025: “Wir leben längst im Krieg”

Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk im Gespräch am 80. Jahrestag des Zweiten Weltkriegsendes, Teil 2

Man sprach ja zu DDR-Zeiten vom “Tal der Ahnungslosen”. Das waren die Regionen in der DDR ohne Westfernseh-Empfang, also vor allem die Gebiete in Vorpommern und östlich von Dresden. Wirkt das “Tal der Ahnungslosen” vielleicht heute noch nach? Haben nicht diese Gegenden tendenziell einen besonders hohen AfD-Anteil bei Wahlen? Und könnte nicht insbesondere auch die zu DDR-Zeiten fehlende Empfangbarkeit von westlichen Kindersendungen, die ja sehr multikulturell und reformpädagogisch waren (wie “Sesamstraße” oder “Sendung mit der Maus”), die Menschen in diesen Gegenden viel anfälliger für Rassismus gemacht haben?

Also es war zu DDR-Zeiten so, dass insbesondere in Südost-Sachsen, wo es keinen einfachen Empfang von Westmedien gab (was allerdings so auch nicht ganz stimmte), die Ausreisewellen und -quoten höher waren als anderswo im Land. Das hat man sich damals so erklärt, dass dort eine größere Romantisierung des Westens erfolgte als dort, wo man westfernsehen konnte. Das traf aber bereits auf die Achtzigerjahre nicht mehr richtig zu, weil dann schon Gemeinschaftsantennen gebaut wurden, die irgendwann nicht mehr verhindert wurden. Es gab sogar in Zeitschriften wie “praktika”oder in nachrichtentechnischen Zeitschriften Arbeitsanleitungen, wie man solche Gemeinschaftsantennen bauen kann, und die auf dem Berg erichtet, so dass das ganze Dorf Westfernsehen schauen kann. Das hatte damals durchaus hohe Auswirkungen. Heute glaube ich an diese Art Spätfolgen diesbezogen nicht, weil: Klar, wir haben uns immer über das “Tal der Ahnungslosen” in diesen beiden von Ihnen genannten Gebieten lustig gemacht, aber so ahnungslos waren die auch nicht. Den Deutschlandfunk konnte man dort trotzdem empfangen über Mittelwelle. Das haben auch viele gemacht. Ich glaube, da wirken ganz andere Kräfte, historische Traditionen, viel stärker, gerade in Sachsen: der Abscheu gegenüber Preußen, der Abscheu gegenüber dem Zentrum in Berlin. Das sind alles viel ältere Ressentiments, die zu Ost-Zeiten weiterwirkten und danach, nach 1990, neu aufbrachen. Und so weiter und so fort, das kann man auch anhand der Weimarer Republik sehen. Deshalb diese unterschiedlichen Entwicklungen in verschiedenen Regionen. Und wenn man sich heute die Wahlen anschaut, das politische Klima, dann wird man zwischen dem Landkreis Plauen, direkt an der Grenze zu Hof gelegen, und Görlitz keinen großen Unterschied feststellen. Das gleiche gilt für Greifswald und Wismar. Da gibt es in den ländlichen Regionen auch keine großen diesbezüglichen Unterschiede mehr in den Negativentwicklungen.

Nächste Frage: War es aus Ihrer Sicht richtig, zu den Gedenkfeiern am heutigen 8. Mai keine russischen und belarussischen Vertreter einzuladen?

Aber selbstverständlich. Die Hauptlosung lautete: “Nie wieder!” Die Russländische Föderation mit Unterstützung von Belarus ist aktuell Kriegsführer. Das ist ein Vernichtungsfeldzug gegenüber der Ukraine. Diese einen Angriffskrieg führenden Parteien haben bei einer Feier zum Gedenken an ein Kriegsende nichts zu suchen. Hinzu kommt noch die kriegspolitische Offerte: Russland instrumentalisiert ja den Zweiten Weltkrieg als seinen Krieg, als ob keine anderen auf seiner Seite beteiligt gewesen seien. Die größte Opfergruppe in diesem Krieg auf Seiten der Sowjetunion waren aber die Ukrainer und die Belarussen. Das unterschlagen Putin und der Kreml geflissentlich im Geschichtsunterricht und überall. Insofern ist es selbstverständlich, dass die nicht eingeladen werden. Wir stehen, jedenfalls politisch und was viele Menschen betrifft, auf der Seite der Ukraine. Und da haben die Russen gerade bei diesen Feierlichkeiten nichts zu suchen. Sie müssen auf allen Ebenen in absoluter Gänze isoliert werden. Das gelingt auf der weltpolitischen Ebene nicht, nicht zuletzt wegen China und Indien. Aber wir als Europäer sollten das so machen. Ich finde das richtig. Wobei ich erwähnen möchte, dass ich ukrainische Vorfahren habe. Ich rede hier also gewissermaßen parteiisch und betroffen. Für mich ist das in Russland ein Verbrecherregime. Die gehören eigentlich gar nicht an den Verhandlungstisch, sondern die gehören nach Den Haag (Sitz des “Haager Tribunals”, des Internationalen Strafgerichtshofs; d. Red.).

Apropos Isolation: Denken Sie, dass sich auf mittlere und lange Sicht das Konzept der Brandmauer gegen die AfD noch aufrechterhalten lässt? Besonders in vielen ostdeutschen Regionen und Bundesländern ist es ja schon sehr schwierig geworden, das durchzuhalten, und möglicherweise wird es in Zukunft sogar noch schwieriger werden…

Man muss ja immer unterscheiden zwischen Landes-/Bundesebene und der kommunalen Ebene. Mir ist vollkommen klar, dass auf einer kommunalen Ebene, wo sich die Leute alle kennen, in den kleinen Städten, auf den Dörfern, wenn da 30, 40, 50, 60 Prozent die AfD wählen – neulich war ich in einem Dorf, da waren sogar 70 Prozent AfD-Wähler, – da kann man schlecht von Brandmauern reden, weil: die kennen sich alle. Da kann man pragmatisch rangehen und sagen: O.k., auf der Ebene einer Kleinstadt wird nicht Krieg und Frieden verhandelt, sondern da geht es um die Reparatur der Freiwilligen Feuerwehr, um den Stadtpark und den Dorfteich, und da müssen die miteinander reden. Aber das gilt halt nicht für die Landesebene und für die Bundesebene. Was passiert nun, wenn nächstes Jahr bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt die AfD die absolute Mehrheit erringen sollte? Und das droht. Das wird der Lackmus-Test nächstes Jahr. Dann wird man sehen, dann gibt es kein Halten mehr. Und insofern kann ich nur sagen: Es sind in der Vergangenheit dramatische Fehler von der Politik gemacht worden. Es ging da los, dass man ein Verbotsverfahren gegen diese faschistische Partei schon längst hätte in Gang setzen müssen. Wahrscheinlich ist es dafür jetzt zu spät, egal was der Verfassungsschutz sagt. Ich finde es ja eigentlich spannend, ob jemand jetzt noch den Mut aufbringt, ein Verbotverfahren in Gang zu setzen. Ich glaube das eigentlich nicht, denn man würde sich ja automatisch gegen 10 Millionen WählerInnen stellen. Das darf man nicht vergessen. Das ist also die eine Katastrophe. Die zweite Katastrophe war, wenn wir uns den letzten Bundestagswahlkampf anschauen: Fast alle Parteien haben die AfD-Sprache übernommen. Sie haben nicht nur die Themen übernommen, sondern auch die Sprache. Und das ist ein Riesenproblem. Man schlägt nicht einen Feind der Demokratie und Freiheit, indem man versucht, ihn rechts zu überholen, sondern man greift die Themen auf und füllt sie mit eigenen Inhalten und widerspricht dem. Und das ist viel zu selten passiert. Und insofern ist das jetzt eine Situation, die mir fast wie eine Sackgasse erscheint. Und deswegen habe ich auch vorhin davon gesprochen, dass wir an der Schwelle zu einem autoritären Zeitalter stehen, weil wir auch jetzt beobachten können: Die AfD wird in der Gunst ihrer potenziellen WählerInnen nicht verlieren. Sie wird vermutlich in den nächsten Wochen und Monaten eher noch zulegen. Und dann haben wir nicht nur ein politisches Problem, und ich schaue wirklich düster in die Zukunft.

Das ist sehr beunruhigend, für uns auch. Kommen wir noch zu den aktuellen Faschismusdebatten: Ist Trump in Ihren Augen ein Faschist? Das haben Sie schon beantwortet, ganz klar. Ist Putin ein Faschist? Ja, selbstverständlich auch. Wie ist es mit den Tech-Milliardären aus Amerika?

Die sind ja die eigentlichen Machthaber. Das haben wir in den letzten Wochen so eindringlich vor Augen geführt bekommen, wie sich das Karl-Eduard von Schnitzler nicht hätte träumen lassen. (Der berühmteste Propagandist des kommunistischen Regimes, der jede Woche montags im DDR-Fernsehen eine halbe Stunde lang gehetzt hat.) Das hätte sich ja niemand träumen lassen, dass das so offen funktioniert. Dass die Tech-Milliardäre so offen ihre Macht demonstrieren. Dass sie die eigentliche Macht haben. Und das ist auch das eigentliche Problem in unserer Welt: Wir erleben ja gegenwärtig eine globale digitale Revolution, und niemand weiß, wohin uns diese globale digitale Revolution führt. Niemand weiß, ob unser Arbeitsplatz, den wir heute haben, morgen noch existieren wird. Das verunsichert viele Menschen. Viele Menschen sind getrieben von Verlustängsten, gerade in der westlichen Welt, weil nur dort die Menschen wirklich verlieren können in breiten Schichten. Diese Verlustängste sind extrem, und diese Verlustängste treiben dann viele Menschen in die Arme derjenigen, die ganz einfache Antworten haben. Diese Extremisten sagen ja nichts anderes als: Wir führen euch in die Zukunft, und die Zukunft wird so aussehen, wie die harmonisierte Vergangenheit schon mal war. Also sie arbeiten mit Lügen, mit völkischen Argumenten, mit rassistischen Argumenten. Sie sagen ja auch immer, wer schuld ist, das sieht man ja ganz klar. Es sind immer rassistische Argumente, indem man Schuldgruppen definiert. Es sind alles letztlich faschistische Argumente. Und da sind die Tech-Milliardäre in den USA keine Kräfte, die das aus rein egoistischen Gründen machen. Ich habe bisher immer gedacht, sie machen das nur aus Profitgründen. Aber sie wollen ja tatsächlich die Macht haben. Das hat man nun an Musk sehr gut gesehen. Das sieht man an den anderen Falken ganz genauso, wie sie auch eingeknickt sind vor Trump. Und insofern: Ja, sie sind Teil des faschistischen Systems.

Würden Sie eine Prognose wagen, wie der Ukraine-Krieg ausgehen wird?

Am Verhandlungstisch. Das war von Anfang an klar. Jeder Krieg endet am Verhandlungstisch. Ich hoffe, dass das ein Verhandlungstisch wird wie in Deutschland oder wie in Japan, wo die Schuldigen am Krieg entsprechend bedingungslos eine Kapitulationsurkunde unterzeichnen müssen. Aber das ist natürlich eine Hoffnung, die nicht in Erfüllung gehen wird. Das ist mir vollkommen klar. Es wird mit einem schlimmen Kompromiss enden. Egal, wie auch immer, es wird ein schlimmer Kompromiss. Schlimm deshalb, weil Putin und sein Regime – oder zumindest der Kreml, denn vielleicht stirbt Putin vorher – über einen Kompromiss zurück auf die Weltbühne finden werden. Über ihre Verbündeteten China, Indien und Brasilien, die sie auf die Weltbühne zurückhieven werden, mit Unterstützung wahrscheinlich von Trump. Der schlimme Kompromiss wird sein, dass die Waffen scheinbar schweigen, aber die Russen Gebiete okkupieren können, also ukrainisches Territorium behalten können, höchstwahrscheinlich die Krim, wahrscheinlich Teile der Ost-Ukraine. Das war auch von Anfang an irgendwie klar. Es hängt natürlich auch mit dem unentschiedenen Handeln Europas zusammen, sozusagen einer Politik, die der Ukraine alles gibt, damit sie nicht verliert, aber nichts gibt, damit sie gewinnt. Das sind ja zwei verschiedenene Dinge. Sie kriegt genügend, um nicht zu verlieren, aber nicht genug, um zu gewinnen. Und deswegen wird das wahrscheinlich mit einem schlimmen Kompromiss enden. Russland wird am Ende auch nicht als strahlender Sieger dastehen: mit zerrütteter Wirtschaft, mit völlig zerrütteten Staatsfinanzen, die nicht über Nacht wieder in Ordnung gebracht werden können. Die NATO hat jetzt mit Russland eine 1.500 km längere Grenze als vorher. Vorher gab es kaum NATO-Grenzen mit Russland. Jetzt hat Russland eine extrem lange NATO-Grenze mit Finnland. Für Russland ist das alles also auch kein großer Sieg, aber sie werden das anders verkaufen. Ich gehe aber davon aus, dass der Krieg noch länger dauert, als es uns allen recht ist. Und nochmal, damit keine Missverständnisse aufkommen: Ich hoffe auf einen Sieg der Ukraine auf ganzer Front.

Das hoffen wir auch, aber wahrscheinlich vergeblich… Sie haben sich ja vorhin schon kritisch geäußert über die verteidigungspolitischen Fähigkeiten von Deutschland aktuell. Halten Sie es zumindest mittelfristig für denkbar, dass Deutschland eine verteidigungspolitische Führungsrolle in Europa übernehmen kann? Deutschland wurde ja zuletzt ausdrücklich von einigen amerikanischen Stimmen darum gebeten. Etwa Prof. Timothy Snyder hat sich so geäußert. Halten Sie das für realistisch?

Wir reden ja immer auf zwei Ebenen. Die eine Ebene ist Technik, ist Personal, also sprich Geld. Das ist nicht Deutschlands Problem. Das war Deutschlands Problem, weil in den letzten 30 Jahren die Armee massiv abgerüstet wurde, vernachlässigt wurde. Das lässt sich beheben. Das ist eine Frage von Geld, und Deutschland hat viele Probleme, aber keine Geldprobleme. Das wird immer nur so dargestellt. Das eigentliche Problem ist aber: Verteidigung fängt im Kopf an. Du brauchst eine Mentalität und eine Bereitschaft, dein Land und deine Werte zu verteidigen. Und diese Bereitschaft gibt es in Deutschland nicht. Um es auf den Punkt zu bringen: Wenn Russland Deutschland angreifen würde, das erste, was in Deutschland ausverkauft wäre, wären weiße Bettlaken. Und das ist das eigentliche Problem. Ich bin nach wie vor ein großer Verteidiger des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung. Das ist in meinen Augen ein Menschenrecht. Das gehört zu unserer politischen DNA. Aber das ist kein Widerspruch dazu, dass trotzdem eine Gesellschaft bereit sein muss, sich, ihre Grenzen und ihre Werte zu verteidigen. Und diese Bereitschaft sehe ich kaum. Wir sind eine stark pazifizierte Gesellschaft, was zu Friedenszeiten ein großer Vorteil ist. Aber wir haben keine Friedenszeiten mehr, um das ganz klar zu sagen. Wir leben längst im Krieg. Wir haben längst einen Weltkrieg. Die meisten Menschen akzeptieren das bloß nicht, weil es sie nicht interessiert. Weil sie es sozusagen ignorieren, dass tagtäglich auf die kritischen Infrastrukturen unserer Gesellschaft Angriffe stattfinden. Und das sind keine Bombenangriffe. Das sind Cyberangriffe, die weitaus größere Auswirkungen haben, als vielen Menschen bewusst ist. Vor allem auch psychologische, psychische Auswirkungen. Und Russland und China sind unentwegt dabei, diesen Cyberkrieg zu führen, der teilweise ja auch ein physischer ist, wenn man daran denkt, wie sie Unterseekabel kappen u.s.w. Das ist ja Teil ihres Cyberkriegs. Und wenn man an ihren Propagandakrieg denkt, wie Narrative mit hunderttausenden Bots nach Europ einfließen, wie auch hier in der Politik überall Agenten und Spitzel sind u.s.w., da gibt es meines Erachtens keine adäquate Reaktion darauf aus der Gesellschaft heraus. Und insofern: Die Verteidigung, die in den Köpfen anfängt, ist in Deutschland ganz anders als in den skandinavischen Ländern, ganz anders als in Polen, ganz anders als in den Niederlanden, ganz anders als in England oder Frankreich oder Spanien, wo es das alles gibt. Das alles gibt es in Deutschland nicht. Und es hat natürlich auch etwas mit dem Nationalsozialismus zu tun und den Jahrzehnten danach, mit der Politik, und dann aber eben auch mit einer verfehlten Sicherheits- und Verteidigungspolitik seit der Herstellung der Deutschen Einheit. Das ist aber kein Schuldvorwurf. Ich habe das natürlich auch nicht anders gesehen. Ich fand das auch wie viele, vor allem in den Neunzigerjahren, toll. Allerdings bin ich auch umgeschwenkt. Damals in den Neunzigerjahren gehörte ich sehr frühzeitig zu den Befürwortern militärischer Einsätze auf dem Balkan zur Verhinderung von Massenmorden, zur Wiederherstellung der Menschenrechte. Da war ich unter meinen politischen Freunden in den Neunzigerjahren in einer absoluten Minderheit. Aber das musste ich eben auch erst lernen. Und jetzt müssen viele Deutsche lernen, dass die Verteidigungsbereitschaft zu unserer politischen DNA zählen muss, wenn man nicht untergehen will, denn ich bin fest davon überzeugt, dass Russland längst an weiteren Plänen arbeitet und sich massiv darauf vorbereitet, Europa anzugreifen, denn es geht hier nicht um Gebietseroberungen. Es geht hier nicht um Territorien, sondern es geht um die Frage: Diktatur oder Freiheit? Und wenn du ein Imperium hast, an dessen Grenzen Freiheit herrscht, und du selber hast eine Diktatur, dann bedroht dich diese Freiheit, weil da dieser Bazillus immer wieder auf dein Imperium überspringen könnte. Und Putin als KGB-Offizier, als Sowjetmensch ist das sozusagen noch ins Fleisch eingeschrieben, dass das sowjetische Imperium nicht zuerst im Zentrum unterging, sondern an seinen Rändern. In Polen zum Beispiel, weil dort der Freiheitsbazillus nicht mehr zu beherrschen war. Und genau das will er versuchen einzudämmen, und deshalb ist er der Feind Europas.

Sollte Deutschland die Wehrpflicht wieder einführen?

Da habe ich keine Ahnung von. Ich glaube aber nicht, dass das das Problem ist. Wir haben andere Länder auf der Welt ohne Wehrpflicht. Schauen Sie in die USA, schauen Sie in andere Länder. Wehrpflicht ja oder nein? Ich würde eher eine Debatte führen wollen über einen Sozialen Dienst. Ich finde das vernünftig, wenn junge Menschen nach der Schule ein Jahr in der Gesellschaft sind, volle Arbeit machen, um auch andere Ecken der Gesellschaft kennenzulernen. Aber Wehrpflicht ist nicht das Grundproblem, wenn es um Verteidigungsbereitschaft geht. Es gibt genug Leute, die in der Armee dienen wollen. Im übrigen: Selbst wenn wir morgen die Wehrpflicht wieder einführen würden, die wir abgeschafft haben – ich war auch dafür -, dann würde man Jahre brauchen, um die Strukturen wieder herzustellen, um diese Wehrpflicht überhaupt wieder mit Leben erfüllen zu können, weil diese Strukturen auch gar nicht mehr existieren.

Letzte Frage: Sollte sich zumindest auf Ebene der Bundesländer die CDU auch für eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei öffnen?

Ich habe ein, zwei Tage nach der Bundestagswahl ein Statement abgegeben, was dann durch die Medien ging, dass ich es in Ordnung finde, dass die Linkspartei solchen Erfolg hatte, weil das ein Zeichen der verfehlten Politik der anderen ist, weil sie sich eben auch auf wichtige sozialpolitische Punkte orientierten. Das fand ich gut. Insofern war das gerechtfertigt. Ich bin kein Freund dieser Partei. ich bin immer wieder ein scharfer Kritiker dieser Partei und habe aber gerade gestern auch gepostet, was eine große Verbreitung fand in den sozialen Medien, dass nach diesem Desaster, was Merz bei der Kanzlerwahl im ersten Wahlgang erlebt hat und nachdem die Linkspartei dann signalisiert hat, sie sind für die Veränderung der Geschäftsordnung, dass es nun endgültig vorbei sein muss mit dem Unvereinbarkeitsbeschluss, der im übrigen ja wegen Sahra Wagenknecht erfolgt ist. Und ich habe auch damals schon gesagt, als Wagenknecht aus der Linken ausgetreten ist: Jetzt ist es aber Zeit, diesen Unvereinbarkeitsbeschluss mit der Linkspartei aufzuheben, auch wenn ich nach wie vor diese Partei ablehne, während man aber einen Unvereinbarkeitsbeschluss mit dem BSW treffen müsste, denn das ist die systemfeindliche Partei. Und dazu ist es nicht gekommen, weil man sie in Thüringen brauchte, was ich für einen Skandal halte. Ich habe ein gemeinsames Buch mit Bodo Ramelow geschrieben, das im August erscheint und das eben auch zeigt, dass ich der Meinung bin: Das sind DemokratInnen in dieser Partei, und unter Demokraten muss man miteinander reden, selbst wenn man in vielen Punkten unterschiedlicher Meinung ist. Aber ich unterstelle einem Mann wie Bodo Ramelow, dass er nur das Beste für unsere Gesellschaft will, auch wenn ich andere Dinge wichtiger finde.

Wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Interview führten Juyeon Han und Thomas Claer.

Aktuelle Buchempfehlung:

Ilko-Sascha Kowalczuk – Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute, Verlag C.H. Beck, 2024, 22,00 EUR, ISBN: 978-3-406-82213-1

Am 21.8.2025 erscheint:

Ilko-Sascha Kowalczuk und Bodo Ramelow – Die neue Mauer. Ein Gespräch über den Osten, Verlag C.H. Beck, 2025, 23,00 EUR, ISBN-10: 3406838316

justament.de, 20.2.2023: Von Russland lernen…

Nationale Neueste Nachrichten

Thomas Claer

Prinz Heinrich XIII. meldet sich zu Wort, in den Abendnachrichten, zur besten Sendezeit, mit einer Ansprache an das deutsche Volk. Das Scholz-Regime hat abgedankt. Die nationale Querfront hat nunmehr das Kommando übernommen, unterstützt von den volkstreuen Kräften der früheren Bundeswehr, die nun endlich wieder den stolzen Namen Wehrmacht tragen darf. Die Angehörigen dieser notorischen Quasselbude namens Bundestag wurden bereits sämtlich inhaftiert, mit Ausnahme des völkischen Lagers aus AfD und Teilen der Linkspartei, die ab sofort das neue deutsche Parlament, den Reichstag, stellen, der künftig die Beschlüsse der neuen Reichsregierung unter Führung von Prinz Heinrich in treuer Ergebenheit absegnen wird. Als Angehörige der zunächst kommissarischen Reichsregierung werden vorgestellt: Reichsaußenminister Bernd Höcke, Reichsinnenminister Alexander Gauland, Reichsjustizminister Hans-Georg Maaßen, Reichspropagandaministerin Alice Weidel, Reichsfamilienministerin Beatrix von Storch und Reichsarbeitsministerin Sahra Wagenknecht. Niemand soll sagen, dass wir die Frauenquote nicht einhalten. Für das Amt des Reichspräsidenten ist bereits Thilo Sarrazin angefragt.

Sodann trägt der frischgebackene Reichsaußenminister Höcke seine außenpolitische Agenda vor: Lange Jahre haben wir den Provokationen und Bedrohungen unserer Nachbarn tatenlos zugesehen. Sie wollen uns vernichten, daran besteht kein Zweifel, aber jetzt ist das Maß voll. Seit fünf Uhr 45 wird zurückgeschossen. Unsere Truppen haben Elsass-Lothringen und das Sudetenland bereits komplett eingenommen. Das gleiche gilt für Österreich. Dieses Gebiet ist urdeutsches Kernland. Dass man es jemals für einen eigenen Staat gehalten hat, ist ein Irrtum der Geschichte; siehe dazu den jüngst von Prinz Heinrich publizierten Aufsatz “Über die historische Einheit von Deutschen und Österreichern”. Es ist unser gutes Recht, uns das zurückzuholen, was uns zusteht. Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt!

Kein einziger Leopard-Panzer wird mehr an die Ukraine geliefert. Das zieht doch eh nur den Krieg dort, ach was: die militärische Spezialoperation sinnlos in die Länge. Das russische Volk soll sich nehmen, was ihm gehört. Ein Land namens Ukraine hat es nie gegeben. Was reden manche Leute vom Baltikum und von Moldawien? Solche Länder kennen wir nicht. Wir nennen diese Gebiete Nowaja Rossia. Das südöstliche Polen soll unser Freund Putin bitte auch gleich mitübernehmen. Dann können wir nämlich aus der anderen Richtung endlich wieder in Ostpreußen, Pommern und Schlesien einmarschieren. Allerdings müssen wir mit Putin noch mal über Königsberg reden, denn dort wurde schließlich Preußen gegründet. Darauf kann ein deutscher Staat unmöglich verzichten. Das wäre ja gerade so wie Serbien ohne Amselfeld oder Russland ohne die Krim. Wir stellen ein Ultimatum zur Anerkennung der Grenzen von 1939 innerhalb von zwei Wochen. Jeder, der sich uns in den Weg stellt, wird Dinge erleben, die er noch nie erlebt hat. Pardon wird nicht gegeben! Jeder Schuss ein Russ! Jeder Tritt ein Brit! Jeder Stoß ein Franzos!

Glückwünsche zur Machtübernahme kommen bereits aus Budapest von Viktor Orban, ebenso aus Pjöngjang, Nicaragua, Iran und Venezuela. Natürlich auch von der heldenhaften Junta in Myanmar und von den Taliban aus Kabul. China beobachtet den Machtwechsel in Berlin mit wohlwollender Neutralität, ebenso Saudi-Arabien. Der türkische Präsident Erdogan stellt eine enge Zusammenarbeit mit der neuen Reichsregierung in Aussicht, sofern sie bereit sei, endlich alle Terroristen auszuliefern, die in Deutschland noch immer frei herumrumlaufen. Vor allem gelte das für alle diese feindlichen Elemente, die sich Kurden nennen, aber in Wirklichkeit nur gemeine Bergtürken sind.

Eine Woge der Begeisterung zieht durch das wieder erwachte Deutschland. Germany first! Am deutschen Wesen soll die Welt genesen! Deutschland, Deutschland über alles! Denen, die jetzt ihre Koffer packen und schnell ins Exil gehen, weinen wir keine Träne nach. Wir werden sie ausspeien wie ein lästiges Insekt. Aber wenn es zu viele werden sollten, die abhauen, dann passt mal gut auf: Wir können auch ganz anders, können in kürzester Zeit wieder eine Mauer, d.h. einen antifaschistischen Schutzwall, um unser Land errichten. Die Gegner unserer völkischen Ordnung sind nämlich allesamt Nazis! Jawohl, denn wer Nazi ist, bestimmen immer noch wir. Die schlimmsten Nazis waren übrigens die Juden. Hatte nicht Hitler auch jüdische Vorfahren? So war es doch, oder irren wir uns da?

Unsere Soldaten sollen sich nicht fürchten, wenn sie in die… äh… militärische Spezialoperation ziehen. Es gibt ja wohl Schlimmeres als den Tod. Süß und ehrenvoll ist es doch, fürs Vaterland zu sterben. Andere sterben, weil sie sich totsaufen. Also dann doch wohl lieber auf dem Schlachtfeld. Wer im Kampfe fällt, hat doch sein Lebensziel erreicht. Und wenn wir nicht mehr genug Soldaten haben, dann gibt es eben eine allgemeine Mobilmachung. Das wäre doch gelacht!

Sollte jemand etwas dagegen sagen, dann gelten unsere neuen “Bestimmungen gegen die Verbreitung von Falschinformationen”. Da kennen wir keine Gnade. Beim ersten Mal gibt es nur eine drakonische Geldstrafe, wir sind ja keine Unmenschen. Aber schon beim zweiten Mal geht es direkt in den Knast. Und für den Fall, dass sich höhere Verwaltungsleute oder gar Prominente künftig auf unpassende Weise äußern: Es passieren ja ständig irgendwelche Unfälle. Die Leute fallen aus dem Fenster oder sie vergiften sich versehentlich beim Essen und Trinken. So etwas kann schon mal vorkommen. Von Russland lernen, heißt siegen lernen. Heil dir, Prinz Heinrich! Hipp, hipp, hurra!

justament.de, 5.9.2022: Unser Befreier

Zum Tod von Michail Gorbatschow (1931-2022)

Thomas Claer

Putins Erzählung lautet so: Was russische Führer über Jahrhunderte mühsam aufgebaut haben, ist vor drei Jahrzehnten innerhalb weniger Monate leichtfertig verspielt worden. (Überflüssig zu erwähnen, wem allein er die Schuld am Zerfall der Sowjetunion, der angeblich größten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts, gibt.) Das andere Narrativ, das man in Russland aber wohl mittlerweile gar nicht mehr aussprechen darf, ohne dafür gleich hinter Gitter zu wandern, ist hingegen: Was Freiheits- und Demokratiebewegung nach 70 respektive 40 düsteren Jahren endlich erreicht hatten: die triumphale Beseitigung von Zwangsherrschaft und Diktatur in halb Europa, ist in Russland während der beiden vergangenen Dekaden Schritt für Schritt wieder gründlich zurückgedreht worden – und nun soll auch noch das alte Imperium mit aller Macht wieder herbeigebombt werden.

Welch ein erbärmliches Weltbild steckt doch hinter einer politischen Haltung, die den Sinn des menschlichen Lebens heute noch – im 21. Jahrhundert! – in der kriegerischen bzw. spezialoperativen Eroberung möglichst großer Landmassen und der Knechtung ihrer Bewohner erblickt, noch dazu wenn man bereits das flächenmäßig größte Land der Erde ist!, statt sich endlich einmal um die Verbesserung des Lebensstandards der eigenen Bevölkerung zu bemühen, die weiterhin perspektivlos in einer rückständigen und hochkorrupten Günstlingswirtschaft sondergleichen feststeckt. Was für eine Lichtgestalt hingegen war doch vor dreieinhalb Dekaden der Glasnost- und Perestroika-Generalsekretär, der mehr als hundert Millionen Menschen in die Freiheit entließ und uns Deutschen den Fall der Mauer sowie die friedliche Revolution und Wiedervereinigung ermöglichte.

Doch hat die jahrelange Putinsche Gehirnwäsche ihre Wirkung bei seinen Untertanen offenbar nicht verfehlt: Der mit Abstand Unbeliebteste unter allen russischen und sowjetischen Führern ist dort – seit Jahren unverändert – Michail Gorbatschow, der ja das stolze Großreich ruiniert hat. Der Beliebteste dagegen ist – ebenfalls schon seit langen Jahren – Josef Stalin (1878-1953), der je nach Zählweise bis zu 60 Millionen (!) Bürger seines Landes um die Ecke gebracht hat, übrigens überwiegend Mitglieder der Kommunistischen Partei, also seine eigenen Anhänger. Und seinen einzigen „Erfolg“, den militärischen Sieg über Hitler-Deutschland im 2. Weltkrieg, nutzte er zu Landraub und Unterjochung anderer Völker in allergrößtem Stil. Echt ein toller Typ! Man stelle sich nur einmal vor, in Deutschland hielte eine Mehrheit Adolf Hitler für den größten Staatsmann aller Zeiten. Wie sagte mein ukrainischer Mieter: Eigentlich bräuchte die russische Bevölkerung eine Umerziehung wie die Deutschen nach dem zweiten Weltkrieg. Dem ist nichts hinzuzufügen. Nur dass leider niemand in Sicht ist, der diese Aufgabe übernehmen könnte.

Und so bleibt es wohl bis auf weiteres dabei, dass im einstigen Land des roten Oktobers nicht das Sein das Bewusstsein bestimmt, sondern die Welt als Wille und Vorstellung.

justament.de, 14.3.2022: Impressionen von der Anti-Kriegs-Demo

Justament-Reporter Thomas Claer berichtet aus Berlin

Es ändert vielleicht nicht viel, ist aber immerhin ein starkes Signal, wenn in diesen Tagen Menschen weltweit zu Tausenden auf die Straße gehen, um ihre Solidarität mit der überfallenen Ukraine auszudrücken und der Lügenpropaganda der russischen Führung etwas entgegenzusetzen. So auch an diesem sonnigen Vorfrühlingstag in Berlin, wo wir uns mit selbstgebasteltem Transparent in die Reihen der Demonstranten am Alexanderplatz begeben. Erfreulich ist ferner, welch ein breites Bündnis diese Kundgebung unterstützt. Selbst die Partei “Die Linke” ist mit wehenden roten Fahnen dabei. Womöglich plagt ja die zahlreichen Putin-Versteher in ihren Reihen nun doch ein schlechtes Gewissen… Auch sieht man viele der obligatorischen weißen Friedenstauben auf blauem Grund. Nur haben offenbar manche Vertreter der Friedensbewegung ganz buchstäblich den Schuss noch nicht gehört, oder wie soll man ein Banner mit der Aufschrift “Abrüstung jetzt! Europa ohne Atomwaffen!” sonst verstehen?! Fehlte nur noch, dass sie auch weiterhin, wie sie es jahrzehntelang getan haben, die Auflösung der NATO empfehlen. Noch deutlicher könnte man die Einladung an den Despoten im Kreml, sich noch weitere Länder aus dem früheren Sowjetimperium zurückzuholen, gar nicht formulieren.

Überhaupt bekommt man den Eindruck, dass die bitteren neuen Realitäten die gewohnten politischen Positionen mächtig durcheinandergewirbelt haben. Das jüngst von Alt-Bundespräsident Joachim Gauck geforderte “Frieren für die Freiheit” wird heute von mehreren Plakatträgern unterstützt: “Kein russisches Öl und Gas!”, “Rather a cold ass than Putin’s gas!” So sieht es nach jüngstem Politbarometer auch eine Mehrheit von 55 Prozent der Wahlberechtigten hierzulande. Hingegen will Klima-Minister Robert Habeck im Einklang mit Bundeskanzler Scholz zunächst weiter an den russischen Importen festhalten, was vielleicht schon deshalb der vernünftigere Ansatz ist, weil man im (leider zu befürchtenden) Falle weiterer russischer Eskalationen dann noch genügend Pfeile im Köcher hat, um weiter schrittweise darauf reagieren zu können. Das “Frieren für die Freiheit” könnte uns eh noch früh genug blühen, wenn Russland uns aus eigenem Antrieb nicht mehr beliefern sollte…

Aus den Lautsprechern erschallt Rockmusik – und dann ein ukrainisches Freiheitslied. Jung und alt haben sich versammelt, man hört verschiedenste Sprachen, aber besonders häufig Russisch. Oder ist es Ukrainisch? Nur Eingeweihte können dies unterscheiden, was die Berichte über angebliche Diskriminierungen von Russischsprechenden wenig glaubhaft macht. Auch wenn man natürlich nichts ausschließen sollte, liegt es doch nahe, dass russische Trolle das ausgeheckt haben. Zumindest würde es bestens ins Bild passen… Der Demonstrationszug bewegt sich immer weiter in Richtung Westen. Wir schenken uns die Abschlusskundgebung an der Siegessäule, denn mittlerweile knurrt uns gewaltig der Magen…

www.justament.de, 6.11.2017: 100 Jahre Russische Revolution

Recht historisch Spezial: Justament-Autor Thomas Claer erinnert sich an den 70. Jahrestag der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ vor 30 Jahren

Steht ein besonderes Jubiläum ins Haus, dann sollte man rechtzeitig mit den Vorbereitungen beginnen. Das lernte ich bereits in der Schule, als unser Kunsterziehungslehrer vor ziemlich genau 31 Jahren, im Herbst 1986, vor versammelter Klasse verkündete: „Im nächsten Jahr begehen wir den 70. Jahrestag der Oktoberrevolution. Und dazu sollt ihr nun jeder ein Poster entwerfen.“ Das war keine ganz leichte Aufgabe für einen Neuntklässler ohne künstlerische Begabung, der ich damals war. Meine Noten in diesem Fach lagen nur dank der Kunstinterpretationen, also dem mir weitaus mehr liegenden gepflegten Geschwafel über Werke berühmter Maler oder Bildhauer, im erträglichen Bereich. Und nun sollte ich ein Poster zeichnen. Aber glücklicherweise gab es ja noch meinen Vater, für den solche Herausforderungen ein Klacks waren. Sehr gelegen kam mir, dass wir die Kunstwerke, an denen wir gerade arbeiteten, zwischen den Kunstunterrichtsstunden zur weiteren Ausgestaltung mit nach Hause nehmen durften. Mein Vater brauchte kaum eine Minute, da hatte er schon die rettende Idee: Er zeichnete mit dem Bleistift den Panzerkreuzer Arora, im Wasser liegend, aus dem Schornstein in seiner Mitte stieg als Rauchwolke die Zahl 70. Drumherum ein paar Fahnen, die später noch rot auszumalen waren, darunter die Beschriftung „Große Sozialistische Oktoberrevolution“ – fertig. Mein Kunstlehrer war begeistert. Eine Glanzleistung, für die ich die Note 1 bekam.

Nun gab es aber in den folgenden Monaten zwei Ereignisse, die mein Revolutionsplakat und seine Benotung nachträglich in einem anderen Licht erscheinen ließen. Zum einen beging mein Vater, der mir gerade noch – zu rein schulischen Zwecken – bei der Glorifizierung der Oktoberrevolution geholfen hatte, kurz nach Weihnachten Republikflucht. Er kam von einem Besuch meiner Oma in Westdeutschland, der ihm immerhin von den DDR-Behörden genehmigt worden war (vielleicht ja, weil er Frau und Kind im Osten zurückließ), nicht mehr zurück. Kurz darauf stellte meine Mutter für sich und mich den berühmten Ausreiseantrag auf Familienzusammenführung. Von nun an waren wir in der DDR so etwas wie Staatsfeinde.

Zum anderen wurde mein Kunstlehrer, der außerdem noch Deutsch und Englisch unterrichtete (ausgerechnet die Sprache des Klassenfeindes!) zum neuen Schuldirektor befördert, nachdem der bisherige Amtsinhaber, ein nervöser Kettenraucher, der ständig herumschrie, an einem Magengeschwür verstorben war.

Der Sozialismus und ich – das ist eine lange Geschichte, in der nun, zum Jahreswechsel 1987, im 70. Jahr nach der Oktoberrevolution, ein neues Kapitel aufgeschlagen wurde. So richtig überzeugt von der „wissenschaftlichen Weltanschauung der Arbeiterklasse“ war ich wohl – trotz aller Gehirnwäsche, der ich in diesem Lande fortwährend ausgesetzt war – nicht einmal in den unteren Schulklassen. Beim Fahnenappell, als immer wieder von der unverbrüchlichen und ewig währenden Freundschaft zwischen unserer DDR und der Sowjetunion die Rede war, stellte ich mir schon als ca. Neunjähriger die ketzerische Frage, wie das denn sein könne mit der „Ewigkeit“. Es erschien mir dann doch höchst fragwürdig, ob diese beiden Staaten wirklich für alle Zeiten Bestand hätten, auch noch in 100 oder in 1000 Jahren. Allerdings ahnte ich damals nicht, dass es sie alle beide schon in weniger als zehn Jahren nicht mehr geben würde…

Diese Fahnenappelle, auf denen man manchmal eine geschlagene Stunde draußen in der Kälte herumstehen und langweilige propagandistische Reden ertragen musste, hatten zwar den von manchem meiner Mitschüler empfundenen Vorteil, dass dafür eine Stunde regulärer Unterricht ausfiel. (Es gab solche Appelle in unregelmäßigen Abständen, ca. alle zwei Monate, zu irgendwelchen Anlässen.) Mir waren sie aber immer sehr unsympathisch. Besonders seit ich einmal als sehr junger Schüler erleben musste, wie drei ältere Schüler sich vor allen versammelten Klassen der Schule vorne hinstellen mussten und unter den in barschem Ton vorgebrachten Anschuldigungen des Direktors von der Schule verwiesen wurden. Ihr Vergehen: Sie hatten sich einen Jux gemacht, indem sie eine Wandzeitung auf frevelhafte Weise veränderten. Dort hatte ursprünglich so etwas gestanden wie: „In fester Solidarität zur ruhmreichen UdSSR!“ und „Wider die Lügen des USA-Imperialismus!“ Und sie hatten ein paar Buchstaben vertauscht, so dass dort anschließend zu lesen war: „In fester Solidarität zur ruhmreichen USA!“ und „Wider die Lügen des UdSSR-Imperialismus!“ Als der Direktor den „Tatbestand“ schilderte, bemerkte ich, wie mehrere ältere Schüler dabei grinsen mussten…

Jahre später war ich selbst eine Zeit lang Wandzeitungsverantwortlicher im Pionierrat und hatte mit zwei Mitschülerinnen die politische Wandzeitung unseres Klassenraumes zu gestalten. Das Thema war meistens vorgegeben. Ich bemühte mich damals, da mir die Gefahr bewusst war, sich bei einem ideologischen Fehltritt großen Ärger einzuhandeln, sozusagen um Subversion durch übertriebene Erfüllung der Vorgaben. Ich textete also für die Wandzeitung Überschriften und Beiträge in so grotesker Floskelhaftigkeit, dass sie selbst die Artikel im „Neuen Deutschland“ in den Schatten stellten. Immer wieder benutzte ich Adjektive wie „heldenhaft“, „ruhmreich“ „unerschütterlich“, auch dort, wo es überhaupt nicht passte. Doch niemand schien meine Übertreibungen und Veralberungen zu bemerken. Meine Mitschülerinnen waren froh, dass ich für sie so schnell einen passenden Text schrieb, die Lehrerin fand ihn sehr schön, und auch sonst nahm keiner daran Anstoß. (Es interessierte wohl auch niemanden besonders, was genau dort geschrieben stand, Hauptsache es machte keinen Ärger.)

Von meinen Eltern war ich weder für noch gegen den Sozialismus erzogen worden, nur zur unbedingten Vorsicht. „Pass bloß auf, was du in der Schule sagst“, war ihr fortwährendes Mantra. Dabei war mein Vater noch weitaus ängstlicher als meine Mutter. Als diese mir einmal den Unterschied zwischen „Arbeitgebern“ und „Arbeitnehmern“ erklärte – diese Begriffe hatte ich in den Westnachrichten aufgeschnappt, die ich schon als Kind stets mit großem Interesse verfolgte – intervenierte mein Vater umgehend und rief aufgeregt: „Was erzählst du ihm denn da?! Das kann man auch genau andersherum sehen, wer die Arbeit gibt und nimmt! Sei bloß vorsichtig!“ Und ich solle das ja nicht in der Schule erzählen. Zwanzig Jahre später, lange Jahre nach der Wiedervereinigung, las mein Vater meine Dissertation Korrektur und fragte mich an einer Stelle, wo es um so etwas wie (berechtigte) Kapitalismuskritik ging: „Sag mal, musst du das hier so  formulieren? Kriegst du da keinen Ärger??“ Dass ich im Westen einen marxistischen Doktorvater hatte, der meine Formulierung wohl eher noch zu mild gefunden hätte, konnte er sich nicht vorstellen…

Nein, nicht einmal als Schüler war ich ein gläubiger Sozialist. Und doch: Was ich gar nicht mochte, war der weit verbreitete Zynismus meiner Mitschüler. Viele von ihnen hatten für alles, was aus unserem Staat stammte, nur Verachtung übrig. Alles, was aus dem Westen kam, war in ihren Augen haushoch überlegen. Vor allem galt das für die Qualität des Fußballs. Auch wenn sie objektiv gesehen völlig Recht hatten, empörte es mich, eine so schlechte Meinung vom eigenen Land zu haben. Und so stritt ich mit ihnen regelmäßig und verteidigte vehement „unseren Fußball“. Nahezu alle Jungs unserer Klasse waren Fans des Hamburger SV oder des FC Bayern München. Nur ich allein hielt zu „unserem“ FC Hansa Rostock. Ich muss zugeben, dass es mir wohl auch aus diesem Grunde ein Jahrzehnt später eine tiefe Genugtuung bereitete, als nach der Wende „mein“ FC Hansa in der Bundesliga die Münchener Bayern sensationell mit 2:1 im Olympiastadion bezwang…

Irgendwann, wohl ca. in der 6. Klasse, ging es los mit der Berufsberatung. Ich wollte Journalist werden, am liebsten Sportreporter. „Dann musst du drei Jahre zur Armee“, sagte man mir. „Sonst wird das nichts.“ Für mich war das eine ziemlich schreckliche Vorstellung. Aber ich erinnere mich noch genau, wie ich mich schließlich zu dem Entschluss durchrang, notfalls in diesen sauren Apfel zu beißen. (Es war ein bisschen so ähnlich wie später beim Entschluss zum Jurastudium. Der Zweck heiligt manchmal die Mittel.) Aber glücklicherweise musste ich dann doch niemals zur Armee, weil nach Stellung unseres Ausreiseantrags alle meine Karriereplanungen in diesem Staate hinfällig geworden waren.

Abschließend noch einmal zurück zu meinem Kunst- und Englischlehrer, dem späteren Schuldirektor. Wenn ich so zurückdenke, dann hat er in seinen Ansprachen beim Fahnenappell mitunter ganz erstaunliche und weitsichtige Dinge gesagt. Natürlich war auch er, wie alle anderen Lehrer, die ich im Osten erlebte, sehr autoritär – im krassen Gegensatz zu den Lehrern auf dem Bremer Gymnasium, das ich nur zwei Jahre später besuchten sollte. Gewiss, auch dieser Direktor mag politische Phrasen gedroschen haben, weil das so von ihm erwartet wurde. Aber dann redete er auch vom „lebenslangen Lernen“, das uns mit Sicherheit bevorstehe. Unsere Abschlussprüfung in der 10. Klasse sei nur die erste von unzähligen weiteren Prüfungen, die uns im Leben noch erwarteten. Besonders betonte er den rasanten technischen Wandel, der jedem von uns eine ständig neue Umstellung abverlange. „So wie wir heute einen Kühlschrank und eine Waschmaschine und einen Fernseher im Haushalt benutzen, wird eines Tages der Computer ein selbstverständlicher Alltagsgegenstand werden.“ Ja, jeder von uns werde irgendwann selbst einen Computer haben und müsse dann lernen, damit umzugehen. Und wir dachten etwas irritiert an die schrottigen DDR-Computer, mit denen wir es bislang zu tun hatten… Auf den US-Imperialismus hat er, soweit ich mich erinnere, niemals geschimpft. Und die Freundschaft zur Sowjetunion kam bei ihm auch nur ganz am Rande vor. Vielleicht hatte er ja schon eine Vorahnung, was bald geschehen sollte…

Eigentlich hätte ich in diesem „Memoir“, wie man das heute nennt, noch weitaus mehr zu berichten. Aber der Abgabetermin naht, der 7. November, der Jahrestag der Oktoberrevolution. (Für die Westdeutschen, Zugewanderten und Nachgeborenen: Die Oktoberrevolution fand ungeachtet ihres Namens tatsächlich erst im November statt, nur galt seinerzeit in Russland noch der julianische Kalender, wonach es dort der 25. Oktober war. Das lernte in der DDR jedes Kind in der Schule. Heute wissen es nur noch Experten.) Hätte ich also rechtzeitig vor dem Jubiläum zu schreiben begonnen und nicht erst ein paar Tage vorher, dann wäre womöglich ein ganzes Buch herausgekommen mit dem Titel „Der Sozialismus und ich. Eine Jugend in der DDR“. Ja, man sollte rechtzeitig vor dem Jubiläum mit seinen Vorhaben beginnen, auch hierin hatte mein damaliger Kunstlehrer also recht. Aber vielleicht schreibe ich dieses Buch ja trotzdem noch, dann eben verspätet. Oder vielleicht zum 30. Jahrestag des Mauerfalls in zwei Jahren…

www.justament.de, 22.1.2013: Der Klassiker zum Ehebruch

Recht cineastisch, Teil 14: „Anna Karenina“ nach Lew Tolstoi

Thomas Claer

Anna-Karenina„Am Anfang der literarischen Moderne stand der Ehebruch als Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Bindung“, befand unlängst Willi Winkler in der Süddeutschen Zeitung. Und dafür stehen vor allem die drei großen Ehebruchsromane des 19. Jahrhunderts: „Madame Bovary“, “Effi Briest” und … ja, genau: „Anna Karenina“. Dass sich in ihnen wohlbehütete Ehefrauen, denen es doch eigentlich an nichts fehlt, auf so etwas einlassen, erklärte Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki einmal wie folgt: Zwar seien ihre Ehemänner tüchtige, brave und bis zu einem gewissen Grade sogar verständnisvolle Partner ihrer temperamentvollen Gattinnen. Nur hätten sie einen einzigen Fehler: Sie seien Langweiler. So einfach ist das also. Auf Fürst Alexei Alexandrowitsch Karenin, den Gatten der Anna Karenina, trifft das gewiss noch weniger zu als auf den trockenen Formalisten Instetten oder den mediokren Landarzt Charles Bovary, doch kann er, der ehrgeizige Politiker, der seine Frau nur als Dekoration empfindet, sich der erotisch ausgehungerten Anna schon aus Zeitgründen niemals so widmen wie der Playboy und versierte Verführer Graf Alexei Kirillowitsch Wronski. So nimmt das Unheil seinen Lauf, und der historisch interessierte Jurist erhält tiefe Einblicke in das Familienrecht im Russland des 19. Jahrhunderts.

Doch kann die aktuelle Verfilmung von Joe Wright überhaupt Tolstois großem Gesellschaftstroman aus dem Jahr 1878 gerecht werden? Natürlich nicht, da muss man keine großen Worte drüber verlieren. Das Zusammenschnurren der komplexen Handlung auf 130 Minuten lässt den Film eher als einen Trailer erscheinen, der seine Stärken genau da hat, wo er sich an die Romanvorlage hält. Doch das meiste wird verkürzt und verfälscht, man kann durchaus sagen banalisiert. Keira Nightley spielt ihre Rolle zwar wirklich gut, doch passt sie in ihrer knochigen Strenge schon vom Typ her überhaupt nicht zur Roman-Anna, die im Buch ausdrücklich als „üppig“ beschrieben wird. Schon aus physiognomischen Gründen will hier die ganze Figur nicht recht funktionieren. Das Beste, was sich über diesen Film sagen lässt, ist, dass man ihn sich zum Anlass nehmen kann, wieder oder endlich einmal das Buch zu lesen. Oder sich als Ehemann mehr und besser um seine bessere Hälfte zu bemühen, man kann ja nie wissen…

Anna Karenina
Großbritannien/ Frankreich 2012
Regie: Joe Wright
Drehbuch: Tom Stoppard nach der Romanvorlage von Lew Tolstoi
130 Minuten, FSK: 12
Darsteller: Keira Nightley, Aaron Taylor-Johnson, Jude Law, Kelly Macdonald, Matthew Macfadyen, Alicia Vikander u.v.a.

Justament Dez. 2002: 25 Jahre Deutscher Herbst und der moderne Terrorismus

Seit dem 11. September 2001 ist der in Deutschland fast schon vergessene Terrorismus wieder in das öffentliche Bewusstsein zurückgekehrt. So gewinnt die Erinnerung an die vor 25 Jahren kulminierenden Terrorakte der RAF eine bedrohliche Aktualität. Der moderne Terror, dessen Wiege vor ca. 130 Jahren in Russland stand, ist zum ständigen Begleiter der Menschheit geworden. 

Thomas Claer

Mit der jüngsten blutigen Geiselnahme tschetschenischer Rebellen in einem Moskauer Theater kehrte der Terrorismus als modernes Phänomen gleichsam an den Ort seiner Entstehung, die Metropolen Russlands, zurück. Mag es in den weiter zurückliegenden Epochen der Menschheitsgeschichte ähnlich geartete Akte des politischen Kampfes gegeben haben (die Cineasten werden sich die Aktionen der “Judäischen Volksfront” – oder war es die “Volksfront von Judäa”? – im “Leben des Bryan” erinnern), blieb es doch dem Sozialrevolutionär Sergej Netschajew (1847-1882) vorbehalten, in seinem “Katechismus”, der BIBEL des Terrors, die Lenin wie Horst Mahler beeinflusst haben soll, das Credo der terroristischen Moderne zu verkünden: Alles – bis hin zum Mord an Unschuldigen – sei erlaubt, um “Leid und Elend des Volkes zu steigern, damit es schließlich zu einem allgemeinen Aufstand getrieben wird”. Was später Generationen von Dissidenten der kommunistischen Bewegung “Bauchschmerzen” bereiten sollte, die Diskrepanz zwischen “humaner” Zielsetzung und den meist brachialen Mitteln des politischen Kampfes, wurde hier bereits abschließend als moralisches Problem eliminiert – zugunsten einer uneingeschränkten Bejahung der Gewalt als vermeintlicher Triebfeder des Fortschritts.

Ideale oder Machtrausch?
Diese “dialektische Schraube”, so ungeheuerlich sie für uns klingen mag, bedeutet per se noch  keinen Bruch mit den Ideen der Aufklärung, so wie auch ein konsequent durchgesetztes staatliches Gewaltmonopol (das im äußersten Falle “über Leichen geht”) nicht zuletzt dazu dient, die Freiheit des Einzelnen und – als deren physische Voraussetzung – die “innere Sicherheit” möglichst lückenlos zu gewährleisten. (Da keine menschliche Gesellschaft jemals ohne Gewalt ausgekommen ist, geht es in allen politischen Kämpfen auch vorrangig darum, wer mit welcher Legitimation über ihren Einsatz bestimmen kann.) Doch wurde schon im Roman “Die Dämonen” (oder wie ihn die neue Übersetzung nennt: “Böse Geister”) von Fjodor Dostojewski (1871/72), in welchem der damals noch lebende Netschajew als die Figur Pjotr Stepanowitsch Werchowenski auftauchte, der begründete Verdacht ausgesprochen, es gehe den maßgeblichen Protagonisten am Ende weniger um ihre Ideale als vielmehr um das Berauschtsein an der eigenen Machtausübung. Welchem Diktator, aber auch demokratischen Innenminister ist genau dies nicht auch schon einmal (mehr oder weniger begründet) vorgeworfen worden?

Terrorismus in Deutschland
Seit seinen frühen Anfängen in Russland breitete sich der Terrorismus als Methode des politischen Kampfes unaufhaltsam in alle Welt aus. In manchen Gegenden der Erde ist er zum Dauerzustand geworden. Deutschland hielt er knapp ein Jahrzehnt in Atem, geriet dann trotz gelegentlichen Aufflackerns nahezu in Vergessenheit – bis zu jenem Tag, der ein neues Zeitalter einleiten sollte, an dem, vorbereitet in drei Hamburger Studentenbuden, der einzigen globalen Supermacht der Krieg erklärt wurde. Nicht zuletzt diesem Wendepunkt und seinen von vielen als Parallelen zu damals empfundenen sicherheits- und rechtspolitischen Konsequenzen dürfte das gegenwärtig wieder aufkeimende Interesse am Geschehen des “Deutschen Herbstes” geschuldet sein.
Die später so bezeichneten Ereignisse im September und Oktober 1977, die Entführung der Lufthansa-Maschine “Landshut”, die Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer und die Selbstmorde der RAF-Terroristen Bader, Ensslin und Raspe (die damit dem Vorbild der ein Jahr zuvor aus dem Leben geschiedenen Ulrike Meinhof folgten) in Stammheim bildeten den dramaturgischen Höhepunkt jener “bleiernen Zeit”, die ihre sichtbarsten Spuren im gegenwärtigen Revolutions-chic in der Mode und in der Kunst hinterlassen hat.

Die Juristen des Deutschen Herbstes
Von der ideologischen Aufgeladenheit jener Epoche aber, die immerhin breite Schichten der damals jungen westdeutschen Bevölkerung mit den Zielen (wenn auch nicht mit den Mitteln) sympathisieren ließ, dem Fortschritts-Optimismus und dem Unter-Faschismus-Verdacht-Stellen demokratischer Institutionen und Politiker, ist heute kaum etwas geblieben. Auffällig ist die weit verbreitete Abgeklärtheit im Umgang mit dem radikalen Erbe, auch unter den damals in die Geschehnisse involvierten Juristen. Eine besondere, eigenartige Rolle kommt dabei drei damaligen Bewegungs- und Kampfgefährten zu, die heute nur noch die extreme Entgegengesetztheit ihrer inzwischen eingenommenen politischen Positionen zueinander verbindet – wobei jeder für sich einen charakteristischen Typus, eine bereits in den Anfängen angelegte mögliche Entwicklungslinie der damaligen radikalen Linken verkörpert.
Am wenigsten geändert oder von seinen damaligen Idealen entfernt hat sich fraglos Christian Ströbele, 1968 gemeinsam mit Horst Mahler und Klaus Eschen Gründer des ersten “sozialistischen Anwaltskollektivs” und einige Jahre später Verteidiger etlicher RAF-Terroristen. Noch vor wenigen Jahren als altlinkes Fossil und politisches Auslaufmodell belächelt, erwarb der Linksaußen der Grünen neuen Respekt in allen politischen Lagern durch sein unnachgiebiges, aufklärendes Engagement in den Parteispenden-Affären und holte bei den Bundestagswahlen in diesem Jahr als erster Vertreter seiner Partei ein Direktmandat.
Hingegen wandelte sich Otto Schily, einst ebenfalls RAF-Terroristen-Verteidiger und 1979 Mitunterzeichner des Gründungsaufrufs zum Republikanischen Anwaltsverein (RAV), welcher den Einsatz kritischer Juristen für Minderheiten, Asylrecht und Menschenrechte organisierte, als heutiger Bundesinnenminister und Schöpfer umfangreicher Anti-Terror-Gesetze zum ausgesprochenen “Law-and-Order-Mann”.
Am abenteuerlichsten – und bedrückendsten – verlief aber die Karriere und Wandlung Horst Mahlers vom Terroristen-Verteidiger, später aktiven RAF-Terroristen und langjährigen politischen Gefangenen zum heutigen NPD-Aktivisten und zur intellektuellen Speerspitze des Rechtsradikalismus. Sogar beruft sich Mahler ausdrücklich auf seine RAF-Vergangenheit und sieht seine Hinwendung zur nationalen Anti-Globalisierungsbewegung, gegen Liberalismus und Amerikanismus, als konsequente Weiterentwicklung seiner politischen Haltung an. Allen heute Herrschenden, so Mahler kürzlich in einem Interview, werde es im Falle einer nationalen Machtübernahme an den Kragen gehen. Nur seinem alten Freund (und früheren Verteidiger) Otto Schily werde er das Leben schenken …

Ethno-Terrorismus
Tatsächlich ist zu beobachten, dass sich die heutigen Terrorismen zunehmend durch ihren Kampf für oder gegen bestimmte Ethnien definieren. Der Universalismus in Gestalt eines menschheitsbeglückenden Internationalismus, der noch das ideologische Fundament der RAF (bis zu ihrer offiziellen Selbstauflösung 1998) gewesen ist, vermag heute kaum noch Terrorkräfte zu mobilisieren. Auch dort, wo im Namen bestimmter Religionsinterpretationen gebombt, gesprengt und gemordet wird, soll vorrangig die eigene Kulturlandschaft gestärkt und die als Satan ausgemachte Supermacht samt ihrem kleineren Verbündeten gedemütigt und letztlich besiegt werden.
Insofern verbindet die damaligen mit den heutigen Terroristen, namentlich die RAF mit der Al-Qaida, inhaltlich nicht viel (vgl. dazu die nebenstehende Rezension).
Ein Grund für den Ethno-Trend im Terrorismus dürfte darin liegen, dass sich mit völkischen Ressentiments (zumal heute) leichter Anhänger rekrutieren und Menschenmassen begeistern lassen als mit Weltrevolutions-Träumen. Denn entgegen Netschajews Annahme ließen sich durch die Steigerung von Leid und Elend nur selten Aufstände provozieren (es wurde im Gegenteil meist nach dem starken Staat gerufen). Sobald aber gegen den ethnisch (und religiös und politisch) andersartigen Feind gezündelt wird, erheben sich die Massen schon viel bereitwilliger. Die (bedrohliche) Zukunft liegt im Ethno-Terrorismus!