justament.de, 26.12.2022: Ganz großer Kleinkünstler
Scheiben Spezial: Zum 80. Geburtstag von Reinhard Mey
Thomas Claer
Neulich habe ich nach langer Zeit mal wieder den “Antrag auf Erteilung eines Antragsformulars” gehört, den satirischen Song des Berliner Liedermachers Reinhard Mey aus dem Jahr 1977, der darin in sieben Strophen die deutsche Bürokratie treffsicher auf den Punkt bringt und zugleich durch den Kakao zieht. Auf seinem langen Weg zum begehrten Antragsformular kämpft sich das lyrische Ich tapfer durch den Behördendschungel, trifft dort auf durchweg freundliche und hilfsbereite Amtsträger (insofern ist das Lied wohl eher noch beschönigend), die auch im Rahmen ihrer Zuständigkeiten ihr Möglichstes tun. Doch ist in diesem Wust von Unübersichtlichkeit und Ineffizienz leider kein Vorankommen möglich, und am Ende sorgt nur ein grotesker Zufallsfund für das nicht mehr für möglich gehaltene Erfolgserlebnis. Erst in der vorletzten Strophe gerät der Ich-Erzähler, der bis dahin alles geduldig über sich ergehen lässt, aus der Fassung… Es ist so witzig. Man kann sich immer wieder aufs Neue darüber amüsieren, egal wie oft man es schon gehört hat. Gäbe es ein Ranking der lustigsten Lieder aller Zeiten, dann stünde dieses Lied, jedenfalls wenn es nach mir ginge, unangefochten an erster Stelle (gefolgt von Torfrocks Blasphemie-Klassiker “Rollos Taufe” und dem “Sonnenschein-Song” aus der Sesamstraße).
Natürlich ist der “Antrag auf Erteilung eines Antragsformulars” auch ein Zeitdokument. Ja, genauso war das damals in den Siebzigern:
“Tja”, sagte der Herr am Schreibtisch, “alles, was Sie wollen, nur
Ich bin hier Vertretung, der Sachbearbeiter ist zur Kur
Allenfalls könnte ich Ihnen, wenn Ihnen das etwas nützt
Die Broschüre überlassen, ,Wie man sich vor Karies schützt’”
Die Sozialdemokratie hatte gesiegt. Im Mittelpunkt stand nun der arbeitende Mensch, dem man allerhand Privilegien angedeihen ließ. So etwas wie Kundenfreundlichkeit hingegen war noch nicht erfunden:
“… In die Abwertungsabteilung für den Formularausschuss.
Bloß, beeil’n Se sich ein bisschen, denn um zwei Uhr ist da Schluss”
…
“Und die Nebendienststelle, die sonst Härtefälle betreut,
Ist seit elf Uhr zu, die feiern da ein Jubiläum heut’
Frau Schlibrowski ist auf Urlaub, tja, da bleibt Ihnen wohl nur
Es im Neubau zu probier’n, vielleicht hat da die Registratur…”
Überhaupt tritt man dem Musiker und großen Textdichter Reihard Mey wohl nicht zu nahe, wenn man feststellt, dass er seine beste Zeit in den besagten Siebzigern hatte. Wohl alle seine Lieder, an die man sich heute noch erinnert, stammen aus jenem Jahrzehnt: Vom heute wieder sehr aktuellen “Ich bin Klempner von Beruf” über die wirklich großartige “Ballade vom Pfeifer” bis zu “Über den Wolken”, seinem größten “Hit”, ohne den auch nach fast einem halben Jahrhundert kaum eine Schlagerparty auskommt. Als dieses Lied geschrieben wurde, war das Fliegen im Flugzeug noch keine schambehaftete Klima-Sauerei, sondern ein für die breite Masse unbezahlbarer und grenzenlose Freiheit verheißender romantischer Traum:
“In den Pfützen schwimmt Benzin
Schillernd wie ein Regenbogen
Wolken spiegeln sich darin
Ich wär gern mitgeflogen.”
Am Mittwoch letzter Woche hat Reinhard Mey seinen 80. Geburtstag begangen.
justament.de, 5.5.2019: Widersprüchlicher Weltverbesserer
Recht cineastisch Spezial: „Goldene Lola“ für „Gundermann“ von Andreas Dresen
Thomas Claer
Nein, diesen Film wollte ich eigentlich gar nicht sehen. Musikfilme sind eigentlich nicht so meine Richtung, zumal die Songs des stasiverstrickten DDR-Liedermachers und Baggerfahrers Gerhard Gundermann (1955-1998) bislang auch nicht gerade zu meinen großen Vorlieben zählten. Doch nun bin ich sehr froh, doch noch den Weg ins Kino „Casablanca“ in Adlershof gefunden zu haben, wo „Gundermann“ (D 2018) anlässlich der Preisverleihung am Wochenende noch einmal gezeigt wurde. Beinahe hätte man uns nicht mehr reingelassen. Eine lange Schlange von Interessenten stand vor dem Kino bis auf die Straße. Als wir mit leichter Verspätung eintrafen, hörten wir eine laute Stimme rufen: „Ich frage jetzt zum letzten Mal: Hat noch jemand Online-Tickets nicht abgeholt??“ Ja, das waren wir. Zum Glück hatten wir schon vorher gebucht. Seufzend und stöhnend lief die enttäuschte Menschenmenge auseinander, denn unsere beiden Karten waren die letzten verfügbaren.
Ob einem dieser Gundermann gefällt oder nicht, er ist eine hochinteressante Figur. Und mit ihm hat Regisseur Andreas Dresen auf seine leise unaufdringliche Weise auch gleich noch die ganze alte versunkene schäbige DDR-Welt wieder zum Leben erweckt. Wer eine möglichst genaue Vorstellung vom damaligen Leben jenseits des eisernen Vorhangs bekommen möchte, sollte unbedingt diesen Film sehen. Die Schauspieler wirken, wie so oft in Andreas-Dresen-Filmen, allesamt beinahe so echt wie in einem Dokumentarfilm.
Wer es schon immer unverständlich fand, wie ein sensibler Künstler, ein Weltverbesserer mit höchstem moralischen Anspruch, jahrelang seine Mitmenschen ausspionieren und an die Stasi verpfeifen konnte und sich hinterher dafür gar nicht richtig entschuldigen mochte, wird durch diesen Film zwar auch nicht unbedingt schlauer, denn die nachvollziehbaren Gründe dafür gibt es einfach nicht. Aber man blickt nach diesen über zwei Stunden doch mit anderen Augen auf all diese Dinge. Manches hat eine gewisse Logik und dann auch wieder nicht. Vieles ist Psychologie. Dieser hochreflektierte, belesene, immer wieder Karl Marx zitierende Dichter und Musiker Gundermann lebt in einer ganz eigenen Welt, in der Welt seiner Sehnsüchte, Wünsche und Hoffnungen vor allem. Obwohl er so vieles in seiner Gesellschaft kritisch hinterfragt, glaubt er doch felsenfest daran, etwas Gutes zu tun, wenn er Fluchtwillige verrät.
Grandios dargestellt ist, wie stark sich Politisches, Privates und Künstlerisches im Leben dieses merkwürdigen Musikpoeten immer wieder gegenseitig beeinflusst. Seine künstlerisch besten Jahre hat er ausgerechnet während seiner aktiven Zeit als Stasi-Spitzel – und während seiner jahrelangen unglücklichen Liebe zur anderweitig verheirateten schönen Conny. Unzählige Lieder schreibt er für sie, bis sie dann doch noch zur Frau an seiner Seite wird. Felsenfest steht sie zu ihm, als er nach der Wende als Stasi-Informant enttarnt wird. Doch Gundermann selbst zerbricht daran und stirbt mit gerade erst 43 Jahren.
Gundermann
Deutschland 2018
Länge: 127 Minuten
Regie: Andreas Dresen
Drehbuch: Laila Stieler
Darsteller: Alexander Scheer (Gerhard Gundermann), Anna Unterberger (Conny), Benjamin Krause (Wenni) u.v.a.
www.justament.de, 14.11.2016: Für ihn war die Freiheit kein Arschwischpapier
Zum 80. Geburtstag von Wolf Biermann. Ein persönlicher Rückblick
Thomas Claer
Zum ersten Mal sah und hörte ich Wolf Biermann in den späten Achtzigerjahren im Westfernsehen. Es muss wohl in der ZDF-Sendung „Kennzeichen D. Deutsches aus Ost und West“ gewesen sein. Jedenfalls war dieser nur wenige Minuten währende Auftritt des ein Jahrzehnt zuvor aus der DDR ausgebürgerten Liedermachers für mich eine regelrechte Offenbarung. Klar, für einen fünfzehn- oder sechzehnjähriger Jugendlichen im Osten, der dem eigenen Staat sehr misstrauisch gegenüberstand, war es überaus elektrisierend, wenn da einer im Leitmedium des Klassenfeindes sang: „Für mich ist die Freiheit kein Arschwischpapier“.
Vielleicht fehlten mir ja damals in der DDR einfach nur die richtigen Kontakte, jedenfalls ist es mir seinerzeit nicht gelungen, das zu bekommen, worauf ich so scharf war: Musik von Wolf Biermann. Was hätte ich gegeben für ein paar Biermann-Songs, überspielt – wie es damals üblich war – von Kassettenrekorder zu Kassettenrekorder in erbärmlicher Tonqualität, aber keiner, den ich kannte, hatte welche. Und schon gar nicht meine Eltern, deren Freunde manchmal wissend von der Zeit der Biermann-Ausbürgerung erzählten, an die ich als Spätgeborener natürlich keine Erinnerungen hatte. Alle fanden es viiiel zu gefährlich, so etwas wie Biermann-Musik auch nur zu besitzen. Und wie oft hörte ich von ihnen: „Pass bloooß auf, was du in der Schule erzählst!“
Als ich dann ein oder zwei Jahre später – wenige Monate vor dem Mauerfall – im Westen angekommen war, hatte ich allerdings den Eindruck, dass sich dort niemand außer mir für Wolf Biermann interessierte. In einem Second-Hand-Schallplattenladen in der Nähe unserer Wohnung fand ich unter B wie Biermann gut und gerne zehn verschiedene Biermann-Platten, die alle schon etwas angestaubt waren. Ich kaufte sie gleich komplett für acht Mark pro Stück und opferte dafür fast mein ganzes Taschengeld. Später auf einem Flohmarkt erstand ich für ein paar Mark sogar einen ganzen Stapel weiterer Biermann-Platten, die mir noch fehlten.
Als dann kurz darauf die Wende kam und im SPIEGEL ständig Essays von Wolf Biermann zu lesen waren, der nun als Sachverständiger die sich anbahnende deutsche Einheit kommentierte, hörte ich meine Biermann-Platten rauf und runter. Besonders gefiel mir seine kritische Auseinandersetzung auch mit den Zuständen im Westen, in dem er seit 1976 unfreiwillig lebte: „Dort stinkt die Macht – na und, hier stinkt das Geld/ egal, wo es mehr stinkt auf der Welt/ Ich bleib immer der aus’m Osten.“ In einer ähnlichen Rolle muss ich mich damals als frisch im Westen Angekommener wohl auch gefühlt haben, zumal meine westdeutschen Mitschüler und Altersgenossen ganz überwiegend mir und insbesondere meiner Herkunft ein – für mich völlig unbegreifliches – Desinteresse entgegengebrachten. Wie neugierig war ich, wohl meine gesamte Kindheit und Jugend lang, auf echte Westkinder und –jugendliche gewesen. Und wie herzlich egal war ich denen nun, als ich ihnen begegnete. Einen gab es aber doch, der großes Interesse an der DDR hatte und mich sehr genau über alles ausfragte: meinen Mathe-Lehrer auf dem Gymnasium. Er war ein eher untypischer Mathe-Lehrer, mit langen Haaren und Nickelbrille, immer in Jeans und Pullover. Und zwischen den Mathe-Aufgaben erzählte er ständig alte Geschichten von1968. Oh, wie viel Wolf Biermann er damals immer gehört habe. Und wie freute er sich, als ich ihm verriet, dass ich alle Biermann-Platten kannte und besaß, bis auf die Live-LP von 1976 vom Konzert vor seiner Ausbürgerung. Ha, und genau dieses Konzert habe er, mein Mathe-Lehrer, damals, 1976, aus dem Radio mitgeschnitten – und zwar auf Tonbänder, denn damals habe er noch keinen Kassettenrekorder besessen. Und er werde ganz bestimmt irgendwann seine alten Tonbänder alle auf moderne Audio-Kassetten überspielen und dabei auch eine Kassette vom legendären Biermann-Konzert von 1976 für mich aufnehmen. Ich nahm ihn beim Wort und fragte ihn später noch einige Male, ob er es denn schon geschafft habe. Manchmal fing er auch selbst davon an, wenn wir irgendwie auf das Thema kamen, was häufig der Fall war. Doch, er werde das mit den Tonbändern ganz bestimmt irgendwann mal in Angriff nehmen, aber es sei nun einmal ziemlich umständlich… Als ich drei Jahre später mein Abitur ablegte, hatte er es noch immer nicht geschafft. Ein paar Jahre später kaufte ich die Platte mit dem Biermann-Konzert von 1976 für eine Mark auf einem Flohmarkt. Und heute findet man ja eh alles, sogar noch mit bewegten Bildern, im Internet auf YouTube.
Wenn ich mir heute die alten Biermann-Lieder wieder anhöre, und ich habe das, bevor ich nun wieder darauf gekommen bin, schon viele Jahre nicht mehr getan, dann bin ich mir längst nicht mehr sicher, ob mir das alles noch so gut gefällt wie damals. Ist schon ziemlich pathetisch, das Ganze. Und diese ausgestellte ostentative Großmäuligkeit… Früher ist mir das entweder gar nicht aufgefallen oder es störte mich nicht so sehr. Nur wer sich ändert, bleibt sich treu! Alles Gute, Wolf Biermann, zum Achtzigsten!
www.justament.de, 30.11.2015: Die Welt ist schlecht, aber s i e ist es nicht
Maike Rosa Vogel auf ihrem vierten Album „Trotzdem gut“
Thomas Claer
Die Sängerin und Liedermacherin Maike Rosa Vogel, das lässt sich ohne Übertreibung sagen, ist so etwas wie eine Heilige. Während sich andere erklärte „Gutmenschen“, die sich überall korrekt positionieren und immer auf der richtigen Seite stehen, nicht selten dem Verdacht der Heuchelei aussetzen, ist an der 37-jährigen Wahlberlinerin garantiert alles echt. Man nimmt es ihr ab, dass sie sich für Flüchtlinge einsetzt, die Naturzerstörung und die menschliche Gier anprangert. Wenn sie dem Publikum auf den Konzerten ihre Seele öffnet, ist sie erkennbar ganz bei sich selbst. Vor allem aber sind ihr die überschwänglichen Kritiken all der bis über beide Ohren in sie verknallten Musikrezensenten offenbar nicht im Mindesten zu Kopf gestiegen. Uneingebildet und natürlich wie eh und je präsentiert sie uns – drei Jahre nach der letzten Platte „Für fünf Minuten“ – nun ihr neues Album „Trotzdem gut“, das erstmals im Eigenvertrieb erscheint. Dieser Schritt ist mutig und konsequent zugleich, und man kann sie hierzu nur beglückwünschen. Ihre Fans werden schon weiterhin zu ihr finden, auch ohne Plattenfirma.
Allerdings packt einen „Trotzdem gut“, anders als seine Vorgänger, nicht gleich vom ersten Moment an. Man braucht etwas länger, um mit dieser Platte warm zu werden. Musikalisch hat sich das Spektrum ein wenig in Richtung Folk verschoben. Wir hören Banjo und Violinen. Sven Regener, die treue Seele, spielt Bass und Trompete. Und gerade weil ihre Songs diesmal gelegentlich etwas abrutschen auf dem schmalen Grat zwischen großer Emotion und Betroffenheitskitsch, wird einem bewusst, was für großartige Lieder uns Maike Rosa Vogel auf ihren früheren Alben geschenkt hat. Doch gibt es solche Lieder, man bemerkt es spätestens beim dritten oder vierten Hören, auch auf „Trotzdem gut“. Zum Beispiel „Du hältst meine Hand“ – eine Hymne an das kleine große Glück der Zweisamkeit. Und ganz bestimmt spricht „Verschwendete Zeit“ unzähligen zugewanderten Berlinern aus der Seele, die sich von ihren besorgten Provinz-Eltern die ewig gleichen bitteren Vorwürfe anhören müssen: „Sie glauben an das Unglück, das da draußen auf uns lauert/ Und uns anspringt und uns einholt, wenn wir tun, was uns gefällt“. Doch das lyrische Ich weiß es gottlob besser: „Die schlimmsten Zeiten meines Lebens waren die/ Als ich anderen mehr glaubte als mir selbst“. Je länger man diesem Album lauscht, desto mehr Perlen entdeckt man auf ihm. Auch „San Francisco“ und „Für mich auch“ sind sehr schön.
Textlich besonders interessant wird es dann auf „Der kultivierteste Sommer meines Lebens“. Hier zeigt uns Maikes lyrisches alter ego, dass es auch mal ganz anders kann: Den ganzen Sommer lang sind die Erzählerin und ihr Geliebter „in Museen gegangen“, haben „gute Filme geschaut“, sich nicht vom Fußballfahnenschwenken anstecken lassen und ausgedehnt Zeitung gelesen. Doch irgendwann reicht es dann dem lyrischen Ich: „Ich wollte einfach schnellen Sex… ich bin ganz gerne auch mal nicht so klug/ Und ich bin ganz gerne auch mal nicht so gut/ Und viel mehr als das/ Hatten wir uns beide nicht zu sagen“. Man rechnet schon mit dem Schlimmsten. Wird sie ihn, den kulturbeflissenen Intellektuellen, der zu wenig auf die wilden Begierden seiner Partnerin eingeht, eiskalt abservieren? Doch zum Glück kommt es anders. Freudig bleibt sie bei ihm, „Weil du nur mich liebst/ Und sonst nichts auf der Welt“. Na dann toi, toi, toi…
Gewidmet ist diese CD übrigens den Berliner Hebammen, „die so viel mehr tun als ihre Arbeit und denen wir alles zu verdanken haben“. Danke, Maike, für diese Hommage an die wahren Helden des Alltags, die in ihren unterbezahlten Jobs Erfüllung finden und dafür von den Karriere-Fuzzis und -Tussis auch noch herablassend behandelt werden. Unser Urteil für diese Platte lautet: voll befriedigend (11 Punkte).
Maike Rosa Vogel
Trotzdem gut
Eigenvertrieb Maike Rosa Vogel 2015
www.maikerosavogel.com
Justament Mai 2012: Rücksichtslos emotional
Maike Rosa Vogel verblüfft auf ihrem zweiten Album „Unvollkommen“
Thomas Claer
Es gibt sie noch, die Liedermacher. Nur ganz vereinzelt zwar, doch manchmal sind sie sogar jung und weiblich und haben einen Namen, der so vollkommen klingt, als ob er ausgedacht wäre, es aber gar nicht ist. Maike Rosa Vogel hieß schon so, als sie 1978 in einem sozialistischen Elternhaus in Frankfurt am Main das Licht der Welt erblickte, wobei für ihren zweiten Vornamen niemand anders als Rosa Luxemburg Pate stand. Und aufgewachsen ist sie, was tiefe Spuren hinterlassen hat, mit der Musik von Wolf Biermann und Franz-Josef Degenhardt. Sie hat die Schule vorzeitig abgebrochen, später als Postbotin, Kellnerin und Fahrradkurier gearbeitet und dabei immer Musik gemacht. Was für eine Biographie! Irgendwann besuchte sie die Popakademie in Mannheim und ist danach in Berlin gelandet. Dort ist im vorigen Jahr nach „Golden“ (2008) nun ihr zweites Album „Unvollkommen“ erschienen, produziert von keinem Geringeren als Sven Regener, der ihr bekennender Fan wurde und sie auch gleich als Vorprogramm für die letzte Element Of Crime-Tour engagiert hat. Niemand weiß, was ohne diesen prominenten Mentor aus ihr geworden wäre. Doch ist es wohl ein Glücksfall, wie es gekommen ist, denn Maike Rosa Vogel fällt in jeder Hinsicht aus dem Rahmen. So wie ihre Kindheits-Idole vermag sie allein mit ihrer akustischen Gitarre, die im Stil der Protestsänger nicht gezupft, sondern geschlagen wird, mehr Krach zu machen als so manche vielköpfige Band. Ihre mit leicht nasaler Stimme immer etwas rotzig vorgetragen Songs handeln, da nimmt die Sängerin kein Blatt vor den Mund, immer nur von ihr selbst, was aber gleichwohl, zumindest in ihren Augen, höchste politische Relevanz besitzt. Die Personen in ihnen erkennen sich daran, dass sie sich „falsch in dieser Welt“ fühlen. Und „Menschen werden nicht geliebt, weil sie so schön sind, sondern weil sie eine eigene Welt in sich tragen.“ Ja, so wünscht man es sich zumindest. Die rücksichtslos emotionalen, manchmal sehr direkten, oft aber auch ziemlich verschwurbelten und in all ihrer Ausführlichkeit nicht immer vollständig erschließbaren Texte mögen für manchen „mieser Pädagogikstudentinnen-Pseudo-Emokram“ sein (so heißt es in einem Kommentar auf YouTube). Und doch hat Maike Rosa Vogel auf „Unvollkommen“ eine Musik geschaffen, die Menschen „tief drin berühren“ will. Und es auch tut. Das Urteil lautet: voll befriedigend (12 Punkte).
Maike Rosa Vogel
Unvollkommen
Our Choice (Rough Trade) 2011
Ca. € 17,-
ASIN: B004FGWF7G