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justament.de, 4.3.2019: Ich bin einzigartig!

Trendbücher (2): „Die Gesellschaft der Singularitäten“ von Andreas Reckwitz

Thomas Claer

Die Älteren unter uns werden sich vielleicht noch erinnern: Es gab tatsächlich mal eine Zeit, in der die meisten Menschen „normal“ sein und möglichst nicht auffallen wollten. Man war völlig zufrieden, wenn man einfach nur einer von vielen war. Doch das ist lange her. Inzwischen leben wir nämlich längst in einer – Achtung, jetzt kommt das Schlagwort! – „Gesellschaft der Singularitäten“. Der Soziologe Andreas Reckwitz (Jahrgang 1970), Inhaber eines Lehrstuhls für Kultursoziologie in Frankfurt/Oder, hat mit dieser Formulierung den heutigen Zeitgeist auf den Punkt und zugleich auf den Begriff gebracht. Nicht weniger als eine neue Gesellschaftstheorie auf 485 Seiten präsentiert er in seinem gleichnamigen, mittlerweile vielgerühmten Werk.

Singularisierung bedeutet darin „das komplizierte Streben nach Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit, die zu erreichen freilich nicht nur subjektiver Wunsch, sondern paradoxe gesellschaftliche Erwartung geworden ist.“ Für Reckwitz ist sie kein bloßes Rand- oder Oberflächenphänomen, sondern steht schon seit den 1970er/1980er Jahren „im Zentrum der spätmodernen Gesellschaften“ und markiert einen „struktureller Bruch zwischen der industriellen Moderne und der Spätmoderne“. „Jener bis in die 1970er Jahre herrschende westliche Subjekttypus, den David Riesmann als ‚sozial angepasste Persönlichkeit‘ beschrieb, der Durchschnittsangestellte mit Durchschnittsfamilie in der Vorstadt, ist in den westlichen Gesellschaften zur konformistisch erscheinenden Negativfolie geworden, von der sich das spätmoderne Subjekt abheben will.“ Als „Leitmilieu der Spätmoderne“ hat der Verfasser die „hochqualifizierte Mittelklasse“ ausgemacht: „An alles legt man nun den Maßstab der Besonderung an: wie man wohnt, was man isst, wohin und wie man reist, wie man den eigenen Körper oder den Freundeskreis gestaltet. Im Modus der Singularisierung wird das Leben nicht einfach nur gelebt, es wird kuratiert. … Die allgegenwärtigen sozialen Medien mit ihren Profilen sind eine der zentralen Arenen dieser Arbeit an der Besonderheit. Das Subjekt bewegt sich hier auf einem umfassenden sozialen Attraktivitätsmarkt, auf dem ein Kampf um Sichtbarkeit ausgetragen wird, die nur das ungewöhnlich Erscheinende verspricht.“ Kurz gesagt: „Singularitätsmärkte sind primär Aufmerksamkeits- und Attraktivitätsmärkte“.

Aber wie konnte es überhaupt so weit kommen, dass inzwischen beinahe jeder etwas ganz Besonderes sein will? Laut Reckwitz liegt dies vor allem an drei sich wechselseitig verstärkenden Faktoren: (1) dem Entstehen einer postindustriellen Ökonomie der Singularitäten (im Anschluss an die industrielle „organisierten Moderne“, die ihren Höhepunkt ca. 1920 bis 1970 erreicht hatte), (2) der technischen Revolution der Digitalisierung (die sich in den vergangenen Jahren noch einmal enorm beschleunigt hat) sowie (3) einer vom Lebensstil der neuen Mittelklasse getragenen Authentizitätsrevolution (für die nach 1968 die Werte der Individualität und Authentizität maßgeblich wurden). Ein ökonomischer, ein technologischer und ein soziokultureller Faktor wirken hier also zusammen.

Interessant ist ferner, was Reckwitz zur „Singularisierung der Arbeitswelt“ zu sagen hat: „Vor allem die Arbeitssubjekte selbst werden in der Spätmoderne singularisiert, gefragt sind nicht allein formale Qualifikationen, sondern ist die Pflege eines originellen, möglichst einzigartigen Profils, also ein in seiner Zusammensetzung jeweils singuläres Bündel aus Kompetenzen, Talenten, Potentialen und Persönlichkeitsmerkmalen, das die Nicht-Austauschbarkeit und Unterscheidbarkeit des Arbeitssubjekts sicherstellt. Die Kompetenz-, Talent- und Potenzialbündel der Subjekte kommen in der singularistischen Arbeitswelt nicht in Form von formal-sachlicher Leistung und allgemeiner Vergleichbarkeit zur Geltung, sondern als Performanz. Das spätmoderne Arbeitssubjekt ist ein Performanzarbeiter, der seine Einzigartigkeit, ähnlich einer Casting-Konstellation, vor einem Publikum aufführt.“ Die Rede ist auch von einer „Selbstsingularisierung des Profil-Subjekts“.

Problematisch an dieser Entwicklung ist nun allerdings, dass sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt unterminiert. Denn seit den 1980er Jahren, so Reckwitz, lasse sich „eine verstärkte Polarisierung zwischen neuer Mittelklasse (zuzüglich der Oberklasse) und der neuen Unterklasse (und teilweise der alten Mittelklasse) ausmachen“. „Während die neue Mittelklasse eine offensiv zur Schau getragene Selbstkulturalisierung betreibt, dominiert in der Unterklasse die Alltagslogik des ‚muddling through‘ (d.h. des sich Durchwurschtelns oder Durchs-Leben-Quälens). Durch ‚Prozesse der Valorisierung und Entwertung zwischen den Klassen‘ werden die Lebensformen der Unterklasse (und zum Teil auch der alten Mittelklasse) zum Gegenstand der Entwertung. Charakteristisch für die Gesellschaft der Singularitäten ist also eine ‚Kulturalisierung der Ungleichheit‘“. Das bedeutet, dass der distinktive (vor allem auf einer kulturellen Ebene großkotzige) Lebensstil der großstädtischen Mittelklasse, ihre Praktiken des Essens, Wohnens und Reisens u.s.w. – von der Altbauwohnung im angesagten Szeneviertel bis zum Yoga-Camp in Fernost – eine ständige Provokation all derer darstellen, die davon ausgeschlossen bleiben und sich abgehängt fühlen. „Die Kultur dient als Ressource zur Bereicherung und Aufwertung des Selbst“ – auf Kosten derer, die sich nicht dazu gehörig fühlen (müssen). „Der Liberalismus der grenzenlosen Märkte hat die Polarisierung zwischen hoch- und geringqualifizierter Arbeit, zwischen sozialkulturellen Aufsteigern und Absteigern, zwischen Boomregionen und schrumpfenden Regionen weiter entfesselt.“ So wird die Singularisierung zur „Quelle von Defiziterfahrungen“ und zum „Enttäuschungsgenerator“. Laut Reckwitz ist unsere Gesellschaft politisch herausgefordert, auf diese sozialen und kulturellen Entwertungsprozesse eine Antwort zu geben.

Andreas Reckwitz
Die Gesellschaft der Singularitäten
Suhrkamp Verlag 2017 485 Seiten; 28 Euro
ISBN: 978-3-518-58706-5

justament.de, 4.2.2019: Die nächste Gesellschaft

Trendbücher (1): „4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt“ von Dirk Baecker

Thomas Claer

Stehen wir gerade erst an der Schwelle zur digitalen Gesellschaft oder sind wir womöglich schon mittendrin? Wie auch immer, für eine fundierte sozialwissenschaftliche Theorie dieser „nächsten Gesellschaft“ sei es noch zu früh, meint der ebenso renommierte wie umtriebige Soziologe Dirk Baecker in seinem neuen Büchlein „4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt“. Er belässt es daher, wie er es ausdrückt, bei „Probebohrungen“ – und hat dann doch eine erhebliche Menge genauer Beobachtungen und tiefgründiger Überlegungen zur Thematik zusammengetragen.16 Thesen über die Zukunftsfähigkeit der nächsten Gesellschaft hatte der 1955 in Karlsruhe geborene Luhmann-Schüler und Professor für Kulturtheorie und Management an der Universität Witten/Herdecke bereits 2011 aufgestellt. Mittlerweile sind daraus 26 geworden, und nun diskutiert und erläutert er sie ausführlich in einem (nur äußerlich) schlichten kleinen Bändchen aus dem rührigen Merve-Verlag.

Wofür aber, so fragt man sich, steht wohl die ominöse „4.0“ im Buchtitel? Laut Baecker sind es ganz maßgeblich die jeweils genutzten Medien, die einer Gesellschaft ihren Stempel aufdrücken. Drei solcher Medien-Epochen lägen historisch bereits hinter uns, die vierte beginne gerade vor unseren Augen. Baecker unterscheidet zwischen der tribalen, antiken und modernen Gesellschaft – mit den ihnen entsprechenden Medien-Epochen der Mündlichkeit (1.0), der Schriftlichkeit (2.0) und des Buchdrucks (3.0) – und der gerade heraufziehenden „nächsten“ Gesellschaft mit dem Leit-Medium der digitalen Netzwerke.

Jede seiner 26 Thesen widmet sich einem Thema oder Lebensbereich und den in diesem jeweils bestehenden Unterschieden zwischen den genannten vier Gesellschaftsepochen. Besonders aufschlussreich ist eine am Ende des Buches platzierte „tabellarische Übersicht“, die diese Unterschiede auf markante Stichworte verkürzt. Der neugierige Leser wird diese Tabelle natürlich nicht erst am Ende, sondern gleich am Anfang seiner Lektüre studieren. So liest man z.B. zum Thema Strukturform die Stichworte: Stamm (Tribale G.) –> Schicht (Antike G.) –> Funktionssysteme (Moderne G.) –> Netzwerke (nächste G.). Bei Konsum heißt es: Reziprozität (Tribale G.) –> Tugend (Antike G.) –> Konformität (Moderne G.) –> Stil (nächste G.). Zum Thema Recht steht dort übrigens: Gebote und Verbote (Tribale G.) –> Kodex (Antike G.) –> positives Recht (Moderne G.) –> Immunsystem (nächste G.). Bezüglich der Liebe heißt es: Gelegenheit (Tribale G.) –> Begehren (Antike G.) –> Leidenschaft (Moderne G.) –> Rücksicht (nächste G.). Und zum Stichwort Vertrauen steht dort: Magie (Tribale G.) –> Götter (Antike G.) –> Technik (Moderne G.) –> Design (nächste G.)…

Das alles klingt schon reichlich spannend und vielversprechend, doch stellt sich beim anschließenden Lesen der ausformulierten Kapitel des Buches eine gewisse Ernüchterung ein. Als Nicht-Soziologe versteht man leider längst nicht alles, aber doch genug, um eine Ahnung von den großen Verwerfungen zu bekommen, welche die digitale Neuformatierung unserer Gesellschaft mit sich bringen wird. Und manches kennt man ja bereits allzu gut aus eigenem Erleben: „Die Menschen werden derweil immer ungeduldiger. Sie erwarten die blitzartige Schnelligkeit digitaler Verbindungen auch von jeder anderen Materie, mit der sie es zu tun haben. Das immerhin war in der Moderne noch anders, von der Antike zu schweigen. Hier war es nicht der momenthafte Zerfall, sondern die Verfügbarkeit von Leerzeiten, die jeglicher Synchronisation von Körper, Geist und Gesellschaft zugrunde lag. Man konnte warten, bis das eine zum anderen kam. Für dieses Warten geht jeder Sinn verloren.“ (S.85) Im Kapitel über die Liebe heißt es im Hinblick auf die elektronischen Medien: „Jetzt ist der andere nahezu jederzeit woanders. Einerseits. Andererseits kann er jederzeit auf den Displays dieser Welt in meiner Welt auftauchen“ (S.164). Und: „Die Netzwerke verknüpfen Elemente weder kausal noch zufällig, sondern gemäß einer von den Elementen selbst zu entscheidenden Attraktivität der Nachbarschaft.“ (S.62) „Das Netzwerkereignis schlechthin ist ein Kontakt von mir, Person A, zu Person B, die dank meines Netzwerks Person C kennenlernt, die für sie interessanter ist, als ich es bin. Dann bin ich draußen. Jede Vernetzung enthält präzise dieses Risiko, dem ich nur durch eine Arbeit an meiner Identität im Spiegel des Netzwerks, das ich bewusst oder unbewusst nicht verlieren möchte, etwas entgegensetzen kann. Privat ist derjenige, der dies nicht nötig zu haben glaubt.“ (S.205f.)

Düster fällt Baeckers Ausblick auf die Politik einer künftigen Gesellschaft aus: „Politik ist die Verfügung nicht mehr über den Ausnahmezustand (Carl Schmitt), sondern über digitale Plattformen…(S.99) Und zum (neuen) Wutbürgertum führt er aus: „Nur die Moderne unterschätzt eine auch politische Geometrie der Gefühle, wie sie von Aristoteles in seiner „Rhetorik“ so präzise beschrieben wurde wie von Baruch Spinoza in seiner „Ethik“ … Die Politik der nächsten Gesellschaft kann es sich nicht mehr leisten, die Dynamik der Affekte zu vernachlässigen.“ (S. 103) Im Kapitel über die Wirtschaft einer künftigen Gesellschaft befindet er: „Das Kalkül einer zwar unbekannten, aber möglichen Zukunft bietet im Spiegel der Datenmengen, die über heterogene Sachverhalte heute abrufbar sind, Kapitalisierungschancen, die keinen Stein auf dem anderen lassen.“ (S.113) Und über das Recht heißt es, es rücke gegenwärtig „in eine Netzwerkfunktion ein, die der Struktur der tribalen Gesellschaft mehr ähnelt als der der modernen Gesellschaft.“ (S.190) Und überhaupt: „In der nächsten Gesellschaft sucht das Recht den Konflikt nicht mehr nur in der Moral, im Gesetz oder im Argument, sondern im Datum und seiner Verknüpfung.“ (S.186) „Das Recht wird zu einem System der Datenhygiene. Man verhält sich so, dass belastende Daten gar nicht erst entstehen…“ (S.191)

Wenig ermutigend, wenn auch sehr erhellend, liest sich insofern das brillante Niklas Luhmann-Zitat: „Freiheit ist das Ergebnis der Fiktion, dass es sie gibt.“

Dirk Baecker
Die Lücke die der Rechner lässt
Merve Verlag Leipzig 2018
272 Euro, 22 Euro
ISBN-10: 3962730125

Justament Juni 2007: Goethe als Kapitalismuskritiker

Der Soziologe Oskar Negt deutet den Faust II gesellschaftswissenschaftlich

Thomas Claer

Negt CoverMit Goethes Faust können eigentlich fast alle etwas anfangen. Auch wem sich nicht jede hintergründige Frotzelei Mephistos und jede zeitbezogene Anspielung Faustens auf Anhieb erschließt, wird an dem dramatischen Plot und der lebendigen Sprache seine Freude haben. Und noch viel mehr gilt das für die vermutlich glücklichen Experten, die über das nötige Rüstzeug verfügen, um sich dem Werk systematisch zu nähern. Doch leider kann hier nur von der Tragödie erstem Teil die Rede sein. Dass es noch einen zweiten, von Goethe erst kurz vor seinem Tode freigegebenen, Band des Faust gibt, dem nahezu alle Volkstümlichkeit des ersten abgeht, wird gerne ausgeblendet. Denn dieser ist nicht nur für den gemeinen Leser eine Zumutung. “Ach”, heißt es dann bei all jenen, die das Buch nach seitenlangen Chorgesängen irgendwelcher altgriechischer und neuheidnischer Fabelwesen entnervt aus der Hand legen, “hätte er doch nur einen zweiten ersten Teil geschrieben!” Goethe selbst hat den Faust II  geheimnisvoll als “versiegelten Text” bezeichnet und betont, er erfordere eine deutlich größere Anstrengung des Verstandes und sei eher für die Nachwelt bestimmt. In die lange Reihe der Interpreten reiht sich nun auch der emeritierte Hannoveraner Soziologe und Philosoph Oskar Negt (Jahrgang 1934) ein, seines Zeichens Horkheimer- und Adorno-Epigone, früher Vordenker der 68er Bewegung und Gewerkschaftsspezialist, einem größeren Publikum bekannt auch durch die vielen gemeinsamen Bücher mit dem Juristen, Schriftsteller und Filmemacher Alexander Kluge. Der explizit linke, an Kant und Marx geschulte Sozialwissenschaftler Negt also betrachtet Faust II im anzuzeigenden Buch durch die soziologische Brille und erkennt in ihm nicht weniger als einen geschichtsphilosophischen Schlüsseltext. Die Figur Faust erscheint ihm als paradigmatische Gestalt für die Moderne. Kapitalistischer Erwerbsgeist, moderne Wissenschaft und Ruhelosigkeit des Daseins ergreifen allmählich vom Menschen Besitz. Doch erst im zweiten Teil des Dramas lässt Faust sein verzweifeltes Intellektuellendasein endgültig hinter sich und mutiert zum fanatischen Unternehmer, der aus Brachen nutzbares Land gewinnt und dabei buchstäblich über Leichen geht. Während Faust von den desaströsen Folgen seines Handelns nichts wissen will, präsentiert ihm Mephisto als dunkler Aufklärer, der die Dinge beim Namen nennt, die Bilanz: “Krieg, Handel und Piraterie, / Dreieinig sind sie, nicht zu trennen”. Der ganz im Sinne der Puritaner immer strebend sich bemühende Faust nimmt so auch Max Webers Theorie zur Entstehung des modernen Kapitalismus aus dem Geiste der protestantischen Arbeitsethik vorweg und verkörpert die innerweltliche Askese eines totalen Erwerbsstrebens. Dadurch wird Faust für Oskar Negt zum Vorboten des Totalitarismus und in gewisser Weise sogar des Nationalsozialismus. Darüber kann den Verfasser auch die idealistische Tendenz der letzten Rede Fausts (“Ein Sumpf zieht am Gebirge hin …”) – überdies vor Arbeitssklaven und einer zwielichtigen Führungsmannschaft gehalten – nicht hinwegtäuschen, die mit dessen wirklichen Leben, wie es sich den Texten entnehmen lässt, “absolut nichts zu tun hat”. Tatsächlich betrachtete Goethe, dem in seinen späten Jahren die Beschleunigungstendenzen seiner Zeit nicht geheuer waren (“Alles ist ultra, … alles veluziferisch.”), die frühkapitalistische Entwicklung mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu. Und vieles davon findet sich eben auch in seiner Figur Faust. Dank Oskar Negt ist uns das noch klarer geworden.

Oskar Negt
Die Faust-Karriere. Vom verzweifelten Intellektuellen zum gescheiterten Unternehmer
Steidl Verlag Göttingen 2006
301 Seiten, 16,80 €
ISBN 3-86521-188-7

Justament April 2006: Beschränkte Haftung für alle?

Was die zu erwartende Änderung des GmbH-Gesetzes bringen kann

Thomas Claer

Schon seit Generationen gehört die Gesellschaft mit beschränkter Haftung, kurz GmbH genannt, zu den unbestrittenen Klassikern sowohl des deutschen Gesellschaftsrechts wie auch des deutschen Wirtschaftslebens überhaupt. Bis in unsere Tage ist allein der Klang ihres Namens für Außenstehende Respekt einflößend geblieben und suggeriert jene Ehrfurcht gebietende Distinktion des Geldes, die selbst alles Geprotze mit Manieren-, Bildungs- oder Standesdünkel in den Schatten zu stellen vermag. Das Licht der Welt erblickte die GmbH – ohne dass es ein historisches Vorbild gegeben hätte – mit dem eigens für sie erlassenen GmbH-Gesetz im Jahre 1892. Ihr maßgeblicher Geburtshelfer, der Großindustrielle, Reichstagsabgeordnete und Hobby-Shakespeare-Forscher Wilhelm Oechelhäuser (1820-1092) gab ihr die prophetischen Worte mit auf den Weg: “Das Land, welches die sichersten, einfachsten und mannigfaltigsten Rechtsformen für die Vereinigung von Kapital und Personen bietet, muss wirtschaftlichen Vorsprung gewinnen.”

Einfache Prinzipien
Tatsächlich ist das Prinzip der GmbH nicht allzu kompliziert: Sie kann durch mehrere natürliche oder juristische Personen (seit 1980 auch durch lediglich eine) für jeden gesetzlich zulässigen Zweck errichtet werden. Die Gesellschafter legen in einem notariell beurkundeten Gesellschaftsvertrag die Satzung der künftigen GmbH fest. Die gesetzlich vorgeschriebene Mindesthöhe des Eigenkapitals der GmbH, des Stammkapitals, ist der Hauptgrund für das besagte exklusive Image dieser Gesellschaftsform. Sie beträgt derzeit mindestens 25.000 €. Ursprünglich hatte sie sie bei 20.000 Goldmark gelegen (was nach Wert und Kaufkraft damals, also 1892, deutlich mehr war als die heutigen 25.000 Euronen). Ab 1980 lag sie dann bei 50.000 DM. Die Stammeinlage jedes Gesellschafters muss mindestens 100 € betragen. Ferner ist die GmbH zwingend ins Handelsregister einzutragen. Und das Wichtigste: Die Gesellschafter haften für die Verbindlichkeiten der GmbH nicht persönlich, sondern es haftet die Gesellschaft als juristische Person allein. Das heißt zwar, dass die Einlagen der Gesellschafter gegebenenfalls futsch sein können, mehr aber auch nicht. Anders als der glücklose Gesellschafter einer Personen-Gesellschaft, welcher schlimmstenfalls lebenslänglich auf seinen Schulden sitzen bleibt, ist der GmbH-Gesellschafter also vergleichsweise einfach “aus dem Schneider”. Hinzu kommen steuerliche Vorteile, die allerdings erst bei hohen Gewinnen so richtig zu Buche schlagen, da die Besteuerung von GmbH-Gewinnen im Gegensatz zur Einkommenssteuer keiner Progression unterliegt, d.h. mit steigenden Gewinnen nicht überproportional steigt.

Konkurrenz durch die Limited Company
Seit ihrer Gründung hat die GmbH eine immense praktische Bedeutung erlangt. Sie wird mittlerweile nicht mehr nur zu erwerbswirtschaftlichen, sondern auch zu nichtgewerblichen und nicht unmittelbar gewinnorientierten, ja sogar zu ideellen Zwecken gegründet. Nicht weniger als 996.000 GmbHs soll es derzeit in Deutschland geben (Kornblum, GmbH 2006, 28). Doch ist hier zu berücksichtigen, dass nicht selten zahlreiche kleine GmbHs als Gesellschafter einer größeren oder auch einer GmbH & Co. KG fungieren. Die “GmbH-Profis” stecken ihre Gesellschaften mitunter wie Matroschkas ineinander. Zwischen Januar und August 2005 erfolgten 23.496 GmbH-Neueintragungen (BT-Drucks. 16/283). Reformiert wurde das GmbH-Gesetz nach einem gescheiterten Anlauf zwischen 1969 und 1971 erst einmal: 1980 – und auch dort nur in eher bescheidenem Umfang. Doch in den letzten Jahren ist hier einiges in Bewegung geraten. Mit der fortschreitenden europäischen Integration ist es nämlich inzwischen zulässig, sich für die Geschäftstätigkeit im eigenen Land auch der Gesellschaftsformen anderer Mitgliedsländer der Europäischen Union zu bedienen. In diesem Zusammenhang hat die britische Private Limited Company (Ltd.), die private Form der Aktiengesellschaft im U.K., vor allem wegen der Flexibilität in der Kapitalausstattung schnell zu großer Beliebtheit gefunden. Der Kapitalausstattung einer Limited ist ein großer Gestaltungsraum gesetzt. In der Regel beträgt das Kapital einer Limited £1.000, es genügt aber auch schon £1. Die Ltd. füllt in Großbritannien, wo GmbHs unbekannt sind, in etwa die wirtschaftliche Funktion der deutschen GmbH aus. Auch wenn die Limited nicht in Großbritannien ansässig ist, wird sie nach den in Großbritannien für sie geltenden Vorschriften gegründet und in die dortigen Register eingetragen. Dagegen unterliegt die eigentliche Geschäftstätigkeit der Gesellschaft dem Recht des Sitzstaates. Ist die Gesellschaft z. B. in Deutschland ansässig, so wird sie steuerlich wie eine deutsche Kapitalgesellschaft behandelt und hat ihre Bilanzen nach deutschem Steuerrecht zu erstellen. Noch gibt es in Deutschland zwar erst gut 3000 Limited-Zweigniederlassungen, doch die Tendenz geht deutlich nach oben.

Neuwahlen bremsen Reform aus
Eigentlich hätte die große Reform, welche die GmbH fit für das Zeitalter der Globalisierung machen sollte, schon längst in trockenen Tüchern sein sollen. Doch die vor einem dreiviertel Jahr vom heute bekanntesten Gazprom- und Medienberater überraschend ausgerufenen Neuwahlen führten noch einmal zur Verschiebung des ehrgeizigen Projekts. Das rot-grüne Bundeskabinett hatte am 1.6.2005 den Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Mindestkapitals der GmbH (MindestkapG) beschlossen. Der Entwurf sah vor, das Mindeststammkapital der Gesellschaften mit beschränkter Haftung  auf 10.000 € (von derzeit 25.000 €) abzusenken. Das Gesetz sollte zum 1.1.2006 in Kraft treten; es konnte jedoch aufgrund der vorzeitigen Auflösung des Bundestags nicht mehr in der 15. Legislaturperiode verabschiedet werden. Am 23.9.2005 hat der Bundesrat das sogenannte MindestkapG, BR-Dr 619/05, abgelehnt. In der Praxis war der Gesetzentwurf ohnehin als nur unzureichende Reaktion auf die schwindende Konkurrenzfähigkeit der Rechtsform der GmbH gewertet worden. Für April 2006 ist nun die Vorlage eines Diskussionsentwurfes des Bundesjustizministeriums für eine umfassende Reform des GmbH-Gesetzes geplant. Getreu dem schwarz-roten Koalitionsvertrag sollen durch die Novellierung des GmbH-Gesetzes “Unternehmensgründungen nachhaltig erleichtert und beschleunigt, die Attraktivität der GmbH als Unternehmensform auch im Wettbewerb mit anderen Rechtsformen gesteigert sowie Missbräuche bei Insolvenzen bekämpft werden.” Dem Vernehmen nach wird der Reformentwurf heiße Eisen wie das Mindestkapital, ein Eigenkapitalersatzrecht, Cash Pooling (Liquiditätsschulterung), die Geschäftsführerhaftung, illegale “Firmenbestattungen” (Übertragungen von GmbH-Geschäftsanteilen im Zusammenhang mit insolvenzbedrohten Gesellschaften zur Vereitelung von Gläubigerinteressen) und wohl auch den gutgläubigen Erwerb von GmbH-Anteilen sowie den Wegzug von GmbHs ins europäische Ausland anpacken und neu regeln.

Neuregelung in der Diskussion
Doch über das wünschenswerte Ausmaß der Neuerungen lässt sich trefflich streiten. So ist zur Angleichung an die britische Konkurrenz sogar im Gespräch, das Stamm- und damit Haftungskapital nicht auf 10.000, sondern auf nur noch einen symbolischen Euro herabzusetzen. Schließlich sei für viele kleinere Unternehmen das letztlich doch hohe Stammkapital ein Hindernis bei der Gründung. Dem wird aber von den Gegnern einer Senkung des Haftungskapitals entgegengehalten, dass die GmbH sich gerade wegen der hohen Haftungsvorschriften mittlerweile zu einer überaus seriösen Gesellschaftsform entwickelt habe, die sich am Markt wohltuend von den “Billig-Limiteds” abhebe. Das Kapital sei ein Zeichen der Bonität. Auch noch in der Diskussion ist die Schaffung einer neuen Gesellschaftsform, die der GmbH zwar angenähert, aber durch ein niedrigeres Haftungskapital von z. B. 5.000 € auch für Kleinunternehmer leichter zu gründen sein soll.
Und insbesondere die oppositionelle FDP trommelt energisch für einen Abbau der derzeit noch bestehenden bürokratischen Hürden. In der Tat sieht die aus dem Jahr 1892 stammende Regelung des § 8 Abs. 1 Nr. 6 GmbHG noch heute vor, dass eine GmbH erst dann in das Handelsregister eingetragen werden kann, wenn dem Registergericht alle staatlichen Genehmigungsurkunden vorgelegt worden sind, welche die GmbH für die Verwirklichung des in ihrer Satzung festgelegten Unternehmensgegenstands nach einer in Deutschland geltenden Norm des öffentlichen Rechts benötigt. Dies gilt sogar, wenn nur für einen Teil des Unternehmensgegenstands eine Genehmigung notwendig ist. Nach Zahlen, die die Stiftung Marktwirtschaft im Juli 2005 (Argumente zu Marktwirtschaft und Politik, Nr. 91, S. 5) veröffentlichte, muss ein Gründungswilliger im Durchschnitt mindestens neun behördliche Interaktionen in steuer- und arbeitsrechtlich bedingten Angelegenheiten bewältigen. Für diese Angelegenheiten benötigt er durchschnittlich 45 Arbeitstage und damit fünf Arbeitstage mehr als im Durchschnitt der EU und etwa 40 Tage mehr als in Großbritannien oder Dänemark.
Bei aller Unsicherheit darüber, wie die viel diskutierte Reform des GmbH-Gesetzes am Ende aussehen wird, lässt sich jedoch immerhin dies voraussagen: Die ganz große Entbürokratisierung wird gewiss (noch) nicht kommen. Denn eine solche gliche in einem Land wie Deutschland nun wirklich dem Versuch einer Quadratur des Kreises.