Der Soziologe Oskar Negt deutet den Faust II gesellschaftswissenschaftlich
Thomas Claer
Mit Goethes Faust können eigentlich fast alle etwas anfangen. Auch wem sich nicht jede hintergründige Frotzelei Mephistos und jede zeitbezogene Anspielung Faustens auf Anhieb erschließt, wird an dem dramatischen Plot und der lebendigen Sprache seine Freude haben. Und noch viel mehr gilt das für die vermutlich glücklichen Experten, die über das nötige Rüstzeug verfügen, um sich dem Werk systematisch zu nähern. Doch leider kann hier nur von der Tragödie erstem Teil die Rede sein. Dass es noch einen zweiten, von Goethe erst kurz vor seinem Tode freigegebenen, Band des Faust gibt, dem nahezu alle Volkstümlichkeit des ersten abgeht, wird gerne ausgeblendet. Denn dieser ist nicht nur für den gemeinen Leser eine Zumutung. “Ach”, heißt es dann bei all jenen, die das Buch nach seitenlangen Chorgesängen irgendwelcher altgriechischer und neuheidnischer Fabelwesen entnervt aus der Hand legen, “hätte er doch nur einen zweiten ersten Teil geschrieben!” Goethe selbst hat den Faust II geheimnisvoll als “versiegelten Text” bezeichnet und betont, er erfordere eine deutlich größere Anstrengung des Verstandes und sei eher für die Nachwelt bestimmt. In die lange Reihe der Interpreten reiht sich nun auch der emeritierte Hannoveraner Soziologe und Philosoph Oskar Negt (Jahrgang 1934) ein, seines Zeichens Horkheimer- und Adorno-Epigone, früher Vordenker der 68er Bewegung und Gewerkschaftsspezialist, einem größeren Publikum bekannt auch durch die vielen gemeinsamen Bücher mit dem Juristen, Schriftsteller und Filmemacher Alexander Kluge. Der explizit linke, an Kant und Marx geschulte Sozialwissenschaftler Negt also betrachtet Faust II im anzuzeigenden Buch durch die soziologische Brille und erkennt in ihm nicht weniger als einen geschichtsphilosophischen Schlüsseltext. Die Figur Faust erscheint ihm als paradigmatische Gestalt für die Moderne. Kapitalistischer Erwerbsgeist, moderne Wissenschaft und Ruhelosigkeit des Daseins ergreifen allmählich vom Menschen Besitz. Doch erst im zweiten Teil des Dramas lässt Faust sein verzweifeltes Intellektuellendasein endgültig hinter sich und mutiert zum fanatischen Unternehmer, der aus Brachen nutzbares Land gewinnt und dabei buchstäblich über Leichen geht. Während Faust von den desaströsen Folgen seines Handelns nichts wissen will, präsentiert ihm Mephisto als dunkler Aufklärer, der die Dinge beim Namen nennt, die Bilanz: “Krieg, Handel und Piraterie, / Dreieinig sind sie, nicht zu trennen”. Der ganz im Sinne der Puritaner immer strebend sich bemühende Faust nimmt so auch Max Webers Theorie zur Entstehung des modernen Kapitalismus aus dem Geiste der protestantischen Arbeitsethik vorweg und verkörpert die innerweltliche Askese eines totalen Erwerbsstrebens. Dadurch wird Faust für Oskar Negt zum Vorboten des Totalitarismus und in gewisser Weise sogar des Nationalsozialismus. Darüber kann den Verfasser auch die idealistische Tendenz der letzten Rede Fausts (“Ein Sumpf zieht am Gebirge hin …”) – überdies vor Arbeitssklaven und einer zwielichtigen Führungsmannschaft gehalten – nicht hinwegtäuschen, die mit dessen wirklichen Leben, wie es sich den Texten entnehmen lässt, “absolut nichts zu tun hat”. Tatsächlich betrachtete Goethe, dem in seinen späten Jahren die Beschleunigungstendenzen seiner Zeit nicht geheuer waren (“Alles ist ultra, … alles veluziferisch.”), die frühkapitalistische Entwicklung mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu. Und vieles davon findet sich eben auch in seiner Figur Faust. Dank Oskar Negt ist uns das noch klarer geworden.
Oskar Negt
Die Faust-Karriere. Vom verzweifelten Intellektuellen zum gescheiterten Unternehmer
Steidl Verlag Göttingen 2006
301 Seiten, 16,80 €
ISBN 3-86521-188-7