justament.de, 4.2.2019: Die nächste Gesellschaft
Trendbücher (1): „4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt“ von Dirk Baecker
Thomas Claer
Stehen wir gerade erst an der Schwelle zur digitalen Gesellschaft oder sind wir womöglich schon mittendrin? Wie auch immer, für eine fundierte sozialwissenschaftliche Theorie dieser „nächsten Gesellschaft“ sei es noch zu früh, meint der ebenso renommierte wie umtriebige Soziologe Dirk Baecker in seinem neuen Büchlein „4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt“. Er belässt es daher, wie er es ausdrückt, bei „Probebohrungen“ – und hat dann doch eine erhebliche Menge genauer Beobachtungen und tiefgründiger Überlegungen zur Thematik zusammengetragen.16 Thesen über die Zukunftsfähigkeit der nächsten Gesellschaft hatte der 1955 in Karlsruhe geborene Luhmann-Schüler und Professor für Kulturtheorie und Management an der Universität Witten/Herdecke bereits 2011 aufgestellt. Mittlerweile sind daraus 26 geworden, und nun diskutiert und erläutert er sie ausführlich in einem (nur äußerlich) schlichten kleinen Bändchen aus dem rührigen Merve-Verlag.
Wofür aber, so fragt man sich, steht wohl die ominöse „4.0“ im Buchtitel? Laut Baecker sind es ganz maßgeblich die jeweils genutzten Medien, die einer Gesellschaft ihren Stempel aufdrücken. Drei solcher Medien-Epochen lägen historisch bereits hinter uns, die vierte beginne gerade vor unseren Augen. Baecker unterscheidet zwischen der tribalen, antiken und modernen Gesellschaft – mit den ihnen entsprechenden Medien-Epochen der Mündlichkeit (1.0), der Schriftlichkeit (2.0) und des Buchdrucks (3.0) – und der gerade heraufziehenden „nächsten“ Gesellschaft mit dem Leit-Medium der digitalen Netzwerke.
Jede seiner 26 Thesen widmet sich einem Thema oder Lebensbereich und den in diesem jeweils bestehenden Unterschieden zwischen den genannten vier Gesellschaftsepochen. Besonders aufschlussreich ist eine am Ende des Buches platzierte „tabellarische Übersicht“, die diese Unterschiede auf markante Stichworte verkürzt. Der neugierige Leser wird diese Tabelle natürlich nicht erst am Ende, sondern gleich am Anfang seiner Lektüre studieren. So liest man z.B. zum Thema Strukturform die Stichworte: Stamm (Tribale G.) –> Schicht (Antike G.) –> Funktionssysteme (Moderne G.) –> Netzwerke (nächste G.). Bei Konsum heißt es: Reziprozität (Tribale G.) –> Tugend (Antike G.) –> Konformität (Moderne G.) –> Stil (nächste G.). Zum Thema Recht steht dort übrigens: Gebote und Verbote (Tribale G.) –> Kodex (Antike G.) –> positives Recht (Moderne G.) –> Immunsystem (nächste G.). Bezüglich der Liebe heißt es: Gelegenheit (Tribale G.) –> Begehren (Antike G.) –> Leidenschaft (Moderne G.) –> Rücksicht (nächste G.). Und zum Stichwort Vertrauen steht dort: Magie (Tribale G.) –> Götter (Antike G.) –> Technik (Moderne G.) –> Design (nächste G.)…
Das alles klingt schon reichlich spannend und vielversprechend, doch stellt sich beim anschließenden Lesen der ausformulierten Kapitel des Buches eine gewisse Ernüchterung ein. Als Nicht-Soziologe versteht man leider längst nicht alles, aber doch genug, um eine Ahnung von den großen Verwerfungen zu bekommen, welche die digitale Neuformatierung unserer Gesellschaft mit sich bringen wird. Und manches kennt man ja bereits allzu gut aus eigenem Erleben: „Die Menschen werden derweil immer ungeduldiger. Sie erwarten die blitzartige Schnelligkeit digitaler Verbindungen auch von jeder anderen Materie, mit der sie es zu tun haben. Das immerhin war in der Moderne noch anders, von der Antike zu schweigen. Hier war es nicht der momenthafte Zerfall, sondern die Verfügbarkeit von Leerzeiten, die jeglicher Synchronisation von Körper, Geist und Gesellschaft zugrunde lag. Man konnte warten, bis das eine zum anderen kam. Für dieses Warten geht jeder Sinn verloren.“ (S.85) Im Kapitel über die Liebe heißt es im Hinblick auf die elektronischen Medien: „Jetzt ist der andere nahezu jederzeit woanders. Einerseits. Andererseits kann er jederzeit auf den Displays dieser Welt in meiner Welt auftauchen“ (S.164). Und: „Die Netzwerke verknüpfen Elemente weder kausal noch zufällig, sondern gemäß einer von den Elementen selbst zu entscheidenden Attraktivität der Nachbarschaft.“ (S.62) „Das Netzwerkereignis schlechthin ist ein Kontakt von mir, Person A, zu Person B, die dank meines Netzwerks Person C kennenlernt, die für sie interessanter ist, als ich es bin. Dann bin ich draußen. Jede Vernetzung enthält präzise dieses Risiko, dem ich nur durch eine Arbeit an meiner Identität im Spiegel des Netzwerks, das ich bewusst oder unbewusst nicht verlieren möchte, etwas entgegensetzen kann. Privat ist derjenige, der dies nicht nötig zu haben glaubt.“ (S.205f.)
Düster fällt Baeckers Ausblick auf die Politik einer künftigen Gesellschaft aus: „Politik ist die Verfügung nicht mehr über den Ausnahmezustand (Carl Schmitt), sondern über digitale Plattformen…(S.99) Und zum (neuen) Wutbürgertum führt er aus: „Nur die Moderne unterschätzt eine auch politische Geometrie der Gefühle, wie sie von Aristoteles in seiner „Rhetorik“ so präzise beschrieben wurde wie von Baruch Spinoza in seiner „Ethik“ … Die Politik der nächsten Gesellschaft kann es sich nicht mehr leisten, die Dynamik der Affekte zu vernachlässigen.“ (S. 103) Im Kapitel über die Wirtschaft einer künftigen Gesellschaft befindet er: „Das Kalkül einer zwar unbekannten, aber möglichen Zukunft bietet im Spiegel der Datenmengen, die über heterogene Sachverhalte heute abrufbar sind, Kapitalisierungschancen, die keinen Stein auf dem anderen lassen.“ (S.113) Und über das Recht heißt es, es rücke gegenwärtig „in eine Netzwerkfunktion ein, die der Struktur der tribalen Gesellschaft mehr ähnelt als der der modernen Gesellschaft.“ (S.190) Und überhaupt: „In der nächsten Gesellschaft sucht das Recht den Konflikt nicht mehr nur in der Moral, im Gesetz oder im Argument, sondern im Datum und seiner Verknüpfung.“ (S.186) „Das Recht wird zu einem System der Datenhygiene. Man verhält sich so, dass belastende Daten gar nicht erst entstehen…“ (S.191)
Wenig ermutigend, wenn auch sehr erhellend, liest sich insofern das brillante Niklas Luhmann-Zitat: „Freiheit ist das Ergebnis der Fiktion, dass es sie gibt.“
Dirk Baecker
Die Lücke die der Rechner lässt
Merve Verlag Leipzig 2018
272 Euro, 22 Euro
ISBN-10: 3962730125
www.justament.de, 5.10.15: Wann kommt die Subsumtionsmaschine?
25 Jahre deutsche Rechtseinheit. Rückblick und Ausblick
Thomas Claer
Ende der Achtzigerjahre drohte in der alten Bundesrepublik eine Juristenschwemme. Hatte es bis dahin immer geheißen, als Jurist werde man jobtechnisch doch wohl immer irgendwo unterkommen, war das angesichts exorbitant steigender Absolventenzahlen plötzlich nicht mehr so sicher. Aber dann kam gottlob – wie aus heiterem Himmel – die deutsche Einheit. Der Osten hatte seinerzeit nur eine Hand voll staatstreuer Advokaten, doch tausende neu geschaffene Stellen in Gerichten, Ämtern und Behörden mussten auf einen Schlag mit Volljuristen besetzt waren. Die frühen und mittleren Neunziger wurden so zur goldenen Zeit für alle jungen Juristen, die in jenen Jahren auf den Arbeitsmarkt drängten, vorausgesetzt sie scheuten nicht den für manche schweren Gang in den „wilden Osten“.
Nur wenige Jahre später war es mit der Herrlichkeit aber auch schon wieder vorbei. Wer seine Examina um die Jahrhundertwende abgelegt hatte, konkurrierte mit einem immer größer werdenden Heer an Jungjuristen um die angesichts staatlicher Spardiktate immer seltener werdenden freien Stellen. So kam es, dass sich zu jener Zeit so mancher Jurist notgedrungen in anderen Branchen umsehen musste. Immerhin ergaben sich seitdem selektiv neue Chancen in digitalisierungsbedingt aufstrebenden Rechtsgebieten wie dem IT-Recht.
Und wie ist es heute? Dank einem nun schon mehr als eine Dekade währenden Wirtschaftsaufschwung, kurz und heftig unterbrochen nur von der Finanzkrise 2008/09, bietet derzeit auch der juristische Arbeitsmarkt relativ gute Chancen, vor alle für jene, die sich spezialisiert haben, was ja in unserer Einheitsjuristenausbildung nicht unbedingt die Regel ist. Es fragt sich nur, wie lange das noch so bleiben wird, denn irgendwann, diese vage Vorahnung beschleicht mittlerweile viele, könnte der nächste Automatisierungsschub auch den Juristen übel mitspielen. Spätestens wenn die selbstfahrenden Autos über die Straßen brausen, wenn man seinem Arzt nur noch dann gegenüber sitzt, wenn die medizinische Anamnesesoftware nicht mehr weiter weiß, wenn die Drohne die Post bringt und der Roboter-Kellner das Essen serviert (das er gerade zubereitet hat), dann wird man wohl auch in den Büros längst nicht mehr so viele Leute beschäftigen können wie heute. Was gegenwärtig noch eine ganze Abteilung täglich an Akten bearbeitet, das wird in gar nicht mehr ferner Zeit vermutlich voll automatisiert ablaufen, so dass man dann statt Sachbearbeitern nur noch Kontrolleure als eine Art manuelle Eingreiftruppe benötigen wird. Und das werden in erster Linie IT-Leute sein… Natürlich kann es sich heute noch niemand vorstellen, dass sogar irgendwann eine intelligente Software die Beteiligten durch die Gerichtsverhandlung führen wird. Aber spätestens wenn sich herausstellt, dass dadurch die Anzahl der Fehlurteile und Justizirrtümer deutlich niedriger ausfällt und sich das Tempo der Abläufe dramatisch erhöht, wird man denjenigen, die auf einen Richter aus Fleisch und Blut bestehen, dafür Strafgebühren aufbrummen wie heute jenen, die ihre Bahnfahrkarte noch am Schalter statt am Automaten kaufen. Kurz, es wird vermutlich in absehbarer Zeit eine Arbeitswelt entstehen, die wir kaum noch wiedererkennen werden. Aber darüber werden wir Journalisten ganz gewiss nicht mehr selbst berichten, das erledigt dann schon längst das perfekt formulierende Texterstellungsprogramm.