justament.de, 11.8.2025: Analog war besser
Scheiben Spezial: 30 Jahre Tocotronic-Platten im Rückspiegel
Thomas Claer
Lässt man die nunmehr drei Jahrzehnte seit Erscheinen der Debüt-Platte der anfangs als alternative Boygroup gehandelten, enorm stilprägenfden und einflussreichen Band Tocotronic Revue passieren, dann könnte man deren Wirken grob gesagt in zwei Phasen unterteilen: in ihr wirklich grandioses Frühwerk in den Neunzigern, jener mythenumrankten, noch vordigitalen Ära, und in die eher durchwachsene Zeit danach mit gelegentlichen Tief-, aber auch Höhepunkten. Aus fünf CDs besteht wiederum das besagte Frühwerk, die zum Teil durchaus verschieden, aber alle noch sicher auf der richtigen Seite stehend waren.
Es begann im März 1995 mit ihrem Debut “Digital ist besser”, auf dem sich die drei Trainingsjackenträger mit den exzentrischen Volahiku-Frisuren noch dem ungezügelten und lärmigen Gitarrenrock verschrieben hatten. Sehr gelungen war dann auch das nur wenige Monate später nachgeschobene Mini-Album “Nach der verlorenen Zeit”, das insgesamt etwas weniger brachial und dafür noch ausgefeilter im Songwriting wirkte. Das dritte Album “Wir kommen um uns zu beschweren” (1996) setzte den Weg der beiden Vorgängerplatten fort, ließ aber dabei bereits leichte Ermüdungserscheinungen erkennen. Und so erfolgte auf dem vierten Album “Es ist egal, aber” (1997) erstmals ein stilistischer Wandel, indem nun zusätzliche Instrumente wie Mundharmonika und Streicher in den Gitarre-Bass-Schlagzeug-Klangkosmos aufgenommen, die temperamentvollen Lärmeinschübe aber beibehalten wurden. Es mag Ansichtssache sein, aber für mich haben sie nie eine überzeugendere Platte aufgenommen als “Es ist egal, aber”. Von nun an ging es mit ihnen bergab, wenn auch zunächst nur ganz langsam. Ihr fünftes Album “K.O.O-K. (1999) war noch ein Stück experimenteller als sein Vorgänger, enthielt aber gleichwohl so viel vom Spirit der frühen Jahre, dass man es ganz eindeutig noch zum Frühwerk der Band rechnen kann.
Das gilt aber für die Folgewerke im neuen Jahrtausend bereits nicht mehr. Das Weiße Album (2002) war überladen mit technischen Mätzchen. Wieder etwas besser wurde es auf “Pure Vernunft darf niemals siegen (2005), doch der Charme der frühen Jahre kehrte darauf nicht mehr zurück. Als ihr bestes Album der Nullerjahre lässt sich ihre nächste Platte “Kapitulation” (2007) ansehen, das wir seinerzeit als erstes Toco-Album in dieser Rubrik unter der Überschrift “Fast wie früher” recht enthusiastisch besprochen haben. Doch markierte das anschließende, vollkommen überproduzierte “Schall und Wahn” (2010) dann leider einen markanten Tiefpunkt. Danach ging es auf und ab. “Wie wir leben wollen” (2013) ließ Aufwärtstendenzen erkennen, doch das seichte Rote Album (2015) lässt sich wohl nur als erneuter Tiefpunkt bezeichnen. Dafür waren die drei jüngsten Alben dann wieder stärker, nämlich “Die Unendlichkeit” (2018), “Nie wieder Krieg” (2022) und “Golden Years” (2025). Wir wünschen Tocotronic noch viel Schaffenskraft für die nächsten 30 Jahre!
justament.de, 12.10.2020: Soundtrack einer Juristenausbildung
Vor 25 Jahren erschien “Digital ist besser” von Tocotronic
Thomas Claer
Muss man über das grandiose Frühwerk der Band Tocotronic, das vor einem Vierteljahrhundert seinen Anfang nahm, überhaupt noch große Worte verlieren? Ist denn nicht längst schon alles darüber gesagt? Das schon, ließe sich mit Karl Valentin einwenden, aber noch nicht von jedem. Meine persönliche Tocotronic-Geschichte begann bereits in den frühen Achtzigern, schon lange vor Gründung dieser Band, als ich zu meiner großen Freude eine Armbanduhr aus dem Westen geschenkt bekam, was für ein Ostkind jener Zeit so ziemlich das Größte war, was man sich vorstellen konnte. Entscheidend allerdings war, dass es sich dabei um eine Digitaluhr handelte. So altmodische Uhren mit Zeigern und Zifferblatt waren damals ja sowas von verpönt…
Lange Jahre trug ich fortan meine geliebte Digitaluhr und fühlte mich immer sehr cool damit. Bis ich im Mai 1989, nur wenige Monate vor dem Mauerfall, in den Westen kam und mich auf einem Bremer Gymnasium, umgeben von äußerst stilbewussten jungen Menschen, wiederfand. Schnell bemerkte ich, dass ich dort der einzige war, der eine solche Uhr trug, die noch dazu unter meinen Mitschülern mächtiges Naserümpfen hervorrief. Oh mein Gott, wie uncool war das denn? Wer trägt denn heute noch eine Digitaluhr?! Wahrscheinlich fehlte mir damals, im zarten Alter von 17 Jahren, auch einfach das Selbstbewusstsein, um mich über solche Verächtlichmachungen einfach hinwegzusetzen. Irgendwann gefiel mir meine alte Uhr dann selbst nicht mehr. Nach reiflicher Überlegung kaufte ich mir, ausdrücklich auch aus ökologischen Gründen, eine leuchtend blaue Solaruhr, die ebenfalls sehr schön war, natürlich mit Zeigern und Zifferblatt. Meine Digitaluhr ließ ich in einer Schublade verschwinden und hatte sie bald vergessen.
Mit meiner Solaruhr absolvierte ich das Abitur und bestritt ich auch meine gesamte Juristenausbildung. Aber es irritierte mich dann schon, als Mitte der Neunziger eine Band aus Hamburg in aller Munde war, deren erster Album- und auch Songtitel “Digital ist besser” lautete. Und diese drei Altersgenossen von mir trugen doch wirklich, was man vor kurzem noch für völlig unmöglich gehalten hätte, Trainingsjacken und, ja, tatsächlich auch Digitaluhren! Anfangs ging ich dem nicht weiter nach, auch wenn ich manchmal beim Durchzappen der Fernsehkanäle auf MTV oder Viva etwas davon mitbekam. Aber dann gab es einen in meiner Lern-AG, der Tocotronic-CDs besaß und von ihnen schwärmte. Von ihm lieh ich sie mir aus und überspielte sie mir auf Musikkassetten, die ich dann im Studentenwohnheim auf meinem alten Mono-Kassettenrecorder rauf und runter hörte.
Natürlich war es kein Zufall, dass die Band zu zwei Dritteln aus abgebrochenen Jura-Studenten bestand. Ihre Songs waren wild und eruptiv, oft auch laut und schnell. Die verstimmten Gitarren, das treibende Schlagzeug, die herausgebrüllte Wut in Dirk von Lowtzows Gesang, immer haarscharf neben dem Ton… Und dann diese parolenhaften und zugleich hintersinnigen Texte! So viele von ihnen sprachen mir sowas von aus dem Herzen: “Alles was ich will ist nichts mit euch zu tun haben!” oder “Ich bin viel zu lange mit euch mitgegangen!” Genau das hatte ich mir auch immer gedacht in all den Jahren, hatte aber irgendwie immer den Absprung verpasst, und irgendwann war es dafür dann zu spät. Ich wurde Volljurist und habe dennoch meinen Groll gegen die Juristenausbildung, gegen meine Juristenkollegen, ja gegen alles Juristische überhaupt nicht nur niemals abgelegt, sondern sogar heute noch tief verinnerlicht.
Dennoch wäre ich nie auf die Idee gekommen, meine Solaruhr, die mir immer gute Dienste geleistet hatte, wieder gegen eine Digitaluhr, die nun durch Tocotronic zum Symbol des Slackertums und einer misanthropisch-individualistischen Gegenkultur geworden war, auszutauschen. Erst lange Zeit später, es muss wohl vor sieben oder acht Jahren gewesen sein, gab meine Solaruhr mit einem Mal ihren Geist auf. Das war so plötzlich geschehen, dass ich auf die Schnelle keine Zeit hatte, um mir Gedanken über eine neue Uhr zu machen. Ich musste dringend zu meinen Privatschüler-Terminen und musste dabei vor allem immer wissen, wie spät es war. Hektisch kramte ich in Schränken und durchwühlte Schubladen, und dann hielt ich tatsächlich meine alte Digitaluhr in den Händen. Immerhin, sie lief noch… Mit ihr fuhr ich also zu meinen Nachhilfestunden. Doch was dann geschah, hatte ich nicht erwartet. “Wow, coole Uhr!”, rief mir mein arabischer Schüler in Schöneberg zu. “Sie haben aber eine hübsche Uhr”, fand meine Siebtklässlerin in Mitte. Da wusste ich, dass ich mir das Geld für die Anschaffung einer neuen Uhr sparen konnte. Am selben Abend hörte ich nach langer Zeit wieder den Song “Digital ist besser” – und trage seitdem nur noch Digitaluhren. Als meine alte aus den Achtzigern nach einigen Monaten dann doch nicht mehr funktionieren wollte, kaufte ich mir eine identische neue.
Aber zurück zu Tocotronic: Fünf fantastische Alben in fünf Jahren haben Tocotronic von 1995 bis 1999 herausgebracht. Von beinahe allem, was später von ihnen kam, muss man, ehrlich gesagt, dringend abraten, das war dann fast nur noch weichgespülter Mist. Aber das Frühwerk von “Digital ist besser” bis zu “K.o.o.k.” ist und bleibt gigantisch. Und zu ihren Texten muss man sagen, dass sie keineswegs schlechter sind als die von, sagen wir, Bob Dylan. Und auch gewiss nicht schlechter als die Lyrik dieser Frau Glück, die bis vor wenigen Tagen noch niemand kannte.
Das Urteil für Tocotronics Frühwerk kann daher nur lauten: Gebt ihnen den Nobelpreis!
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Tocotronic
Digital ist besser
L’age d’ or 1995

