Tag Archives: Berlin

justament.de, 17.11.2025: Schluss mit lustig war erst später

Vor 15 Jahren erschien “Meine vielleicht besten Lieder… live” von Funny van Dannen. Ein wehmütiger Rückblick

Thomas Claer

Damals war die Welt noch in Ordnung. Wir hatten, jedenfalls aus heutiger Sicht, nichts als Luxusprobleme. Aber wie meine Frau immer sagt: Luxusprobleme sind auch Probleme. Es gab noch keinen Donald Trump an der Macht, noch keine Corona-Pandemie, noch keinen Krieg fast vor unserer Haustür und noch keine Rechtsradikalen in unseren Parlamenten. Also beklagte man sich damals, jedenfalls wenn man in Berlin-Kreuzberg wohnte, gerne über “den Kapitalismus”, über Ungerechtigkeiten aller Art oder über unachtsame Sprache (“Humankapital”). Der Liedermacher Funny van Dannen war seinerzeit so etwas wie die authentische Stimme der aufgeklärten Großstadtbewohner mit kritischem Bewusstsein. Seine immer sehr eingängigen Gitarrensongs kreisten, stets mit einem freundlich-ironischen Augenzwinkern, um Themen wie Inklusion (“Lesbische, schwarze Behinderte”), Gesellschaftskritik (“Arbeitsplatz vernichtet”), Nostalgie (“Als Willy Brandt Bundeskanzler war”) oder Zwischenmenschliches (“Posex und Poesie”). Oftmals ging es auch einfach nur um lustige Alltagsbegebenheiten (“Homebanking”).

Ein wirklich rundum überzeugendes Doppel-Album mit dem Titel “Meine vielleicht besten Lieder… live” hat Funny van Dannen in jener guten, alten Zeit vor genau 15 Jahren veröffentlicht. Die beiden CDs geben einen exzellenten Überblick über sein musikalisches Schaffen und enthalten eine solche Vielzahl von Songperlen, dass man hier wohl schon von einer Perlenkette sprechen kann. Von der Musik her (und grundsätzlich auch, was seine politische Haltung angeht) kommt er unverkennbar aus der Degenhardt/Biermann-Schule. Nur dass er viel, viel lustiger ist. Mein persönliches Lieblingslied auf diesem Album ist “Schilddrüsenunterfunktion”, das mich sehr an die Befindlichkeitssymptomatik meiner Frau erinnert: “Ich dachte an Rinderwahnsinn, an Ganzjahresdepression / Doch die Blutwerte zeigten: Schilddrüsenunterfunktion”.

Wer Funny van Dannen, der mittlerweile seine Liedermachergitarre an den berühmten Nagel gehängt hat, noch nicht kennen sollte, kann das am besten mit der Anschaffung dieses großartigen Albums nachholen.

Funny van Dannen
Meine vielleicht besten Lieder… live
JKP 112 / Warner Music Group, 2010

justament.de, 30.6.2025: Anspruch und Wirklichkeit

Anspruch und Wirklichkeit

Die Dauerausstellung “Alltag in der DDR” im Museum in der Kulturbrauerei

Thomas Claer

Die DDR ist bekanntlich vor 35 Jahren untergegangen, und das ist natürlich auch gut so. Doch lebt sie unzweifelhaft weiter in der bereits 2013 eingerichteten und seitdem kontinuierlich erweiterten Dauerausstellung “Alltag in der DDR” im Museum in der Kulturbrauerei in Berlin-Prenzlauer Berg. Für null Euro Eintritt kann sich hier jeder, der möchte, einen sehr lebendigen Eindruck davon verschaffen, wie sich das tägliche Leben hinter Mauern und Stacheldraht seinerzeit so angefühlt haben mag. Man steht dann also neben einem echten Trabant, läuft durch eine mit viel Liebe zum Detail nachgebaute HO-Kaufhalle, blättert in Stasi-Akten, liest Briefe von unglücklichen NVA-Soldaten und vieles andere mehr. Die Ambivalenzen des DDR-Alltags sollen hier gezielt gezeigt werden, und das gelingt auf grandiose Weise. In diesem Staat war nämlich beinahe alles ambivalent: einerseits sich großspurig fortschrittlich gebend, andererseits kleinkariert und verbiestert. Und kaum irgendwo sonst auf der Welt ist wohl jemals die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit so übermächtig gewesen wie im real existierenden Sozialismus deutscher Prägung.

Es bleibt nicht aus, dass man als gelernter DDR-Bürger an diesem Ort sentimental wird, wenn plötzlich die Kulissen der eigene Kindheit und Jugend wieder vor einem auferstehen. Stundenlang könnte ich mich durch diese Räume treiben lassen und würde wohl immernoch irgendwo etwas neues Altbekanntes entdecken. Mein Lieblingsexponat in der Ausstellung ist selbstverständlich der Original-DDR-Zeitungskiosk mit lauter ostdeutschen Printprodukten aus jener Zeit – und dazu noch mit DDR-Fähnchen und einem Propaganda-Aushang zum 1.Mai, dem Kampftag der Arbeiterklasse. Klar, so lange, wie ich zurückdenken kann, gehörten Zeitungskioske trotz all ihrer damaligen Beschränktheit zu meinen Lieblingsorten. Und dieser hier rekonstruierte ist fürwahr wirklichkeitsgetreu gestaltet, zumindest auf den ersten Blick. Tatsächlich ist er dies dann freilich doch nicht, wenn man bedenkt, dass sicherlich an keinem Kiosk in der ganzen DDR die Bezirkszeitungen unterschiedlicher Regionen (wie hier “Schweriner Volkszeitung”, “Leipziger Volkszeitung” und noch weitere) nebeneinanderliegend offeriert worden sein dürften. Es gab jeweils nur entweder die eine oder die andere, je nachdem, wo man sich gerade befand. Und auch solche typische “Bückware” wie die qualitativ bemerkenswert hochwertige Zeitschrift “Wochenpost” habe ich seinerzeit nie an einem Zeitungskiosk ausliegen gesehen. Sie ging entweder an ihre glücklichen Abonnenten (darunter meine Großeltern) oder nur an die privilegierte Kundschaft der Kioskfrau. Überhaupt waren damals nach meiner Erinnerung eigentlich alle auch nur ansatzweise interessanten Printprodukte regelmäßig schon nach kurzer Zeit ausverkauft. Wirklich immer vorhanden waren in der Auslage im DDR-Zeitungskiosk nur langweilige Journale wie die legendäre “Sowjetfrau”, auf deren Cover immer Damen mit unfassbar altmodischen Kleidern und Frisuren prangten. Aber das sind Feinheiten, die hier kaum ins Gewicht fallen. Kurzum, das Museum in der Kulturbraurei sollte zum Pflichtprogramm eines jeden Berlin-Besuchers gehören.

justament, 5.5.2025: Heimspiel am Schlesischen Tor

Die Heiterkeit live im Lido in Kreuzberg

Thomas Claer

An einem Mittwoch im April präsentierte Die Heiterkeit, d.h. Stella Sommer mit vierköpfiger Begleitband, ihren Fans in Berlin ihr neues Album “Schwarze Magie”. Und wie bei solch einem Heimauftritt nicht anders zu erwarten, goutierte das hauptstädtische Publikum jede Regung der rotblonden Diva im engen schwarzen Kleid mit frenetischem Applaus. Überaus selbstbewusst und professionell, ihrer Mittel von Anbeginn sehr sicher, versetzte Stella Sommer dabei ihre Anhänger mit jedem der vorwiegend düsteren Song aufs Neue in Entzücken. Für Auflockerung sorgten die zwischenzeitlichen Ausflüge in ihre früheren Werke, konkret in die Heiterkeit-Vorgängeralben “Was passiert ist” (2019) und “Pop und Tod I + II” (2016) mit Song-Höhepunkten wie “Jeder Tag ist ein kleines Jahrhundert” und “Im Zwiespalt”, während die ersten beiden Alben der Band, das Frühwerk, leider vollkommen ausgespart blieben. Auch die Begleitmusiker – Violonistin, Kontrabassist, Drummer und Keyboarderin – machten eine gute Figur und zeigten etwa beim phänomenalen “Komm mich besuchen”, dass ihnen auch rockigere Klänge nicht fremd sind.

Besonders gespannt sein konnte man aber auf das Publikum. Was sind das überhaupt für Leute, hatte ich mich gefragt, die ein Heiterkeit-Konzert besuchen? Nun, es sind, grob gesagt, Personen beiderlei Geschlechts, zwischen 30 und 60, mit überwiegend fein geschnittenen und ausdrucksvollen Gesichtern sowie tendenziell intellektuellem Habitus, so wie es bei dieser Musik ja auch naheliegend ist. Zu denken geben kann einem allerdings der Umstand, dass nicht mehr von ihnen gekommen sind. Das offiziell 600 Zuschauer fassende Lido war leider nur gut zur Hälfte gefüllt. Gerade einmal jeder zehntausendste Berliner, ca. 0,01% der Hauptstadtbevölkerung, hat sich also beim Heiterkeit-Konzert eingefunden. Auch wenn dies angesichts der guten Stimmung schnell in Vergessenheit geriet, lässt es sich doch an fünf Fingern abzählen, dass es sich so für die Protagonistin und ihre Mitstreiter als schwierig erweisen dürfte, einen auskömmlichen Gewinn zu erwirtschaften: Zehn Konzerte auf dieser Tournee, Eintrittspreise von etwa 30 Euro und eine Vielzahl an Beteiligten, die allesamt bezahlt werden müssen – das könnte eng werden und beweist, um es mit den frühen Tocotronic zu sagen, mal wieder eindrucksvoll die Schlechtigkeit der Welt. Denn es ist schlichtweg aberwitzig, dass eine Ausnahmekünstlerin wie Stella Sommer nicht allein von den Erträgen aus ihrer Musik ein Luxusleben führen kann. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Wer Ohren hat, der höre also Die Heiterkeit und besuche auch unbedingt ihre Konzerte!

13.05.2025 Leipzig – Moritzbastei
14.05.2025 München – Strom
15.05.2025 Wien, AT – B72
22.06.2025 Osnabrück – Hasefriedhof (solo)
10.09.2025 Jena – Trafo
21.09.2025 Frankfurt – Brotfabrik

justament.de, 10.2.2025: Dritte Demo in sechs Jahren

Warum Justament-Autor Thomas Claer neuerdings so oft demonstrieren geht

Die in Art. 8 GG ausdrücklich geschützte Versammlungsfreiheit ist ein hohes Gut in einem Rechtsstaat. Menschen, die regelmäßig und oft auf die Straße gehen, um aller Welt zu zeigen, was sie umtreibt und bewegt, tun daher zunächst einmal etwas Gutes, Richtiges und Sinnvolles. Dennoch halte ich mich von Demonstrationen normalerweise eher fern, weil sich deren Effekt doch rasch abnutzt, wenn sie ständig und immer wieder aufs Neue stattfinden. Außerdem fehlt mir auch einfach die Geduld, um womöglich mehrere Stunden im Schneckentempo durch die Gegend zu trippeln oder mir die Beine in den Bauch zu stehen. Und noch dazu bin ich extrem kälteempfindlich; also im Winter demonstrieren, das geht für mich eigentlich gar nicht.

Dass ich trotzdem vor einer Woche – in bitterster Winterskälte! – auf meiner bereits dritten Demo in gerade einmal sechs Jahren gewesen bin, ist allein den gegenwärtigen politischen Umständen geschuldet. Zuvor hatte ich zweieinhalb Jahrzehnte lang überhaupt nicht mehr demonstriert, letztmalig als Student Mitte der Neunziger gegen rechtsextremistische Anschläge. Doch dann kam Fridays for Future, und ich marschierte mit. Ich fand es großartig, dass so viele – und darunter auch so viele junge – Leute endlich einmal aufwachten und sich dem Klimawandel entgegenstellten. Allerdings ist es bezeichnend für unsere mittlerweile extrem schnellebige Zeit, dass diese damals so hoffnungsvoll erscheinende Welle schon längst wieder abgeebbt ist. Kaum jemand interessiert sich heute noch für Klimaschutz, egal ob Gebirgsdörfer unter Wasser oder Städte in Flammen stehen. Denn schließlich haben wir inzwischen ja auch noch mehr als genug andere existenzielle Probleme, allen voran den durchgeknallten Kreml-Despoten mit seiner sogenannten Spezialoperation, gegen die ich vor drei Jahren ebenfalls auf die Straße gegangen bin.

Und nun hat auch noch in Übersee der selbsternannte “Diktator für einen Tag” zum zweiten Mal sein Amt angetreten und schon in den ersten drei Wochen mit seinen irren Ideen und Aktionen die Welt in Furcht und Schrecken versetzt. Darüber hinaus haben wir hierzulande in zwei Wochen vorgezogene Bundestagswahlen, und der designierte künftige Kanzler von der CDU hielt es für eine gute Idee, seine Fraktion im Bundestag sehenden Auges mit der weitgehend rechtsextremistischen AfD für einen Antrag und ein Gesetzesvorhaben abstimmen zu lassen (was er vor wenigen Wochen noch kategorisch ausgeschlossen hatte). Klar, dass ihm jetzt viele Wähler seine Beteuerungen nicht mehr abnehmen, nach der Wahl keinesfalls mit der AfD kooperieren zu wollen. Doch haben die Massendemonstrationen in vielen Orten unseres Landes (hier in Berlin mit mehr als 160.000 Teilnehmern, in München nun sogar mit über 250.000) gegen diese Vorgehensweise offenbar schon etwas bewirkt: So eindringlich, wiederholt und entschieden, wie sich der Kanzlerkandidat der Union auf dem jüngsten CDU-Parteitag und ebenso gestern im Fernseh-Duell gegen jede Form der Zusammenarbeit mit der Rechtsaußenpartei ausgesprochen hat (und auch ausdrücklich gegen eine von dieser tolerierte Minderheitsregierung), wird er davon nun wohl nicht mehr abrücken können, ohne seine Glaubwürdigkeit vollends zu beschädigen. Insofern haben sich Massendemonstrationen als probates Mittel im politischen Meinungskampf, wenn es ernst wird, ein weiteres Mal bewährt. Noch funktioniert unsere Denokratie also. Möge es auch weiter so bleiben!

justament.de, 6.1.2024: Geht bald das Licht aus?

Geht bald das Licht aus?

Die Ausstellung “Was ist Aufklärung?” im Deutschen Historischen Museum in Berlin

Thomas Claer

Diese Ausstellung kommt genau zur richtigen Zeit. Denn gegenwärtig scheint die – aus aufgeklärter Perspektive betrachtet – finsterste Reaktion beinahe unaufhaltsam auf dem Vormarsch zu sein. Wohin man blickt, nur immer neue Schreckensmeldungen. Dass der Despot im Kreml durchdreht, na gut. Man dürfe nie vergessen, hörte ich schon vor 35 Jahren von meinem Philosophie-Lehrer in der Schule, dass Russland ein Land sei, in dem es keine Aufklärung gegeben habe. Aber dass die Bürger der ruhmreichen Vereinigten Staaten von Amerika nun schon zum zweiten Mal einen impulsgetriebenen Lügenbold und Diktatorenfreund ins höchste Amt gewählt haben, der mit seinen toxischen Narrativen gleichsam die öffentliche Vernunft außer Kraft gesetzt hat, lässt für die Krisenherde der Welt das Schlimmste befürchten. Wird unser Kontinent dem standhalten, sich weiter als Heimstatt von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit behaupten können? Während im Inneren Europas schon die ideologischen Zersetzungsprozesse der Orbans und Le Pens, der Kickls und Salvinis, der Weidels und Wagenknechts wirken, nähert sich von Osten eine Putinsche Cyberangriffswoge nach der anderen und gibt es immer neue verdeckte Attacken auf unsere Energie- und Daten-Infrstruktur in der Ostsee. Stehen wir also am Rande eines hybriden Kriegszustands oder sind wir womöglich schon mitten drin?

Dabei ist es noch gar nicht so lange her, da hielten wir eine regelbasierte Weltordnung für alternativlos, Wandel durch Annäherung für eine Art Naturgesetz, wähnten uns an der Spitze des Fortschritts und “von Freunden umzingelt”. Nun dämmert uns langsam, dass Aufklärung vielleicht nur ein westlicher Sonderweg gewesen sein könnte statt das unausweichliche Entwicklungsziel der Menschheit.

Wie alles anfing mit der Aufklärung, dem Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, dem Vertrauen auf die Vernunft im 18. Jahrhundert, das zeigt eine sehenswerte und klug kuratierte Ausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin. Es versteht sich, dass bei einem solch ausschweifenden und übergreifenden Thema nur ein winziger Teil all dessen gezeigt werden kann, was an einschlägigen Exponaten hierfür infrage käme. Natürlich gehören dazu Bücher und Schriften, Porträts und Schrifttafeln der maßgeblichen Protagonisten, aber auch wissenschaftliche Instrumente wie Mikroskope, welche die Aufbrüche jener Epoche aufs Vollkommenste symbolisieren. Doch die Ausstellung verfährt – ihrem Gegenstand entsprechend – kritisch und beleuchtet auch nicht zu knapp die zahlreichen inneren Widersprüche und Aporien aufklärender Theorie und insbesondere auch Praxis. Wie jeder weiß, waren die Aufklärer ganz überwiegend weiß und männlich. Und der von Anfang an geringschätzende Blick auf auf all die rückständigen Unaufgeklärten dieser Welt kam und kommt noch dazu…

Mein persönliches Lieblingsexponat ist eine in Öl gemalte Abbildung mit dem Titel “Kurze Beschreibung der in Europa befintlichen Völckern und Ihren Eigenschaften” oder kurz “die steirische Völkertafel” (siehe Abbildung). Sie stammt vermutlich aus dem frühen 18. Jahrhundert und vergleicht angebliche Charaktereigenschaften von zehn europäischen Nationen anhand von 18 Rubriken wie etwa “Natur und Eigenschaft”, “Sitten” und “Lieben”. Dadurch festigt sie sowohl Fremd- als auch EIgenbilder. So seien die “Teutschen” etwa “Offenherzig” und liebten “Den Trunck”. Die “Angerländer” seien “Wohl Gestalt”, die Spanier “Hochmüttig” und litten unter “Verstopfung”. Der “Schwöth” hingegen sei “Stark und Groß”, aber auch “Graussam” und liebe “Köstlichkeiten”. Der “Poläck” sei “Bäurisch” und “Mittelmäßig”, der “Muskawith” sei “boßhaft” und liebe “den Prügl”. Der “Tirk oder Griech” (das wird hier in einen Topf geworfen) sei “Wie das Abril-Weter”, leide “An Schwachheit” und sei “Gar faul”; seine Kleidung sei “auf Weiber Art”…

Diese hübsche Tafel scheint mir das ganze Dilemma der Aufklärung auf den Punkt zu bringen. Mit dem löblichen Vorsatz, vorhandenes Wissen zu ordnen und zu systematisieren, werden hier in einem fort fragwürdigste Stereotype aneinandergereiht, die zu Ausgrenzung und Intoleranz führen können, in letzter Konsequenz sogar zu Hass und Völkermord. Es ist also, wie es schon Goya in seinem berühmten Bild antizipiert hat, “der Traum der Vernunft” selbst, der Ungeheuer hervorbringt. Was ja auch der Befund in Horkheimers und Adornos “Dialektik der Aufklärung” ist, laut meinem Philosophie-Lehrer einem der nur drei Werke, die man als aufgeklärter Mensch unbedingt gelesen haben sollte. (Die anderen beiden sind die “Kulturgeschichte der Neuzeit” von Egon Friedell und die “Philosophische Hintertreppe” von Wilhelm Weischedel.)

Kurzum, “Was ist Aufklärung”? führt uns “back to the roots” unseres modern-aufgeklärten Weltbildes und lässt uns innehalten angesichts der dramatischen tagespolitischen Verfinsterungsprozesse.

Was ist Auklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert
Noch bis 6.April 2025 im Deutschen Historischen Museum Berlin

justament.de, 8.1.2024: Compliance-Panne im Roten Rathaus?

Der Regierende Bürgermeister von Berlin und seine Bildungssenatorin sind nun offiziell ein Paar. Kann das gutgehen?

Thomas Claer

Frisch verliebte Politiker sind oft gar nicht mal die schlechtesten. Als seinerzeit Rudolf Scharping mit seiner Gräfin im Pool planschte und dabei medienwirksam von den Bildzeitungs-Paparazzi abgelichtet wurde, galt er als “der beste Verteidigungsminister, den Deutschland je hatte” (so jedenfalls Willi Winkler in der Süddeutschen Zeitung). Die letzten beiden französischen Präsidenten vor dem aktuell amtierenden hatten ebenfalls frische Liebesgeschichten am Laufen, was aber im sprichwörtlichen Land der Galanterie gar keine besonders große Sache war. Oder Joschka Fischer, der als Außenminister plötzlich eine blutjunge Journalistin ehelichte, die dann aber schon nach wenigen Monaten wieder Reißaus nahm. Doch schon bald darauf hatte er wieder eine Neue. Na gut, von Boris Johnson und seinen Eskapaden wollen wir hier lieber schweigen…

Blind und unzurechnungsfähig sind die frisch Verliebten zumeist nur im Hinblick auf das Objekt ihres Begehrens. Ansonsten machen sie in der Regel sogar einen besonders guten Job. Was sie auch anpacken, es gelingt ihnen mit spielender Leichtigkeit. Die Verliebtheit verleiht ihnen Flügel. Besonders gut ist das derzeit am Regierenden Bürgermeister von Berlin zu beobachten. Noch vor einem Jahr galt seine Nominierung zum CDU-Spitzenkandidaten in der Hauptstadt als äußerst umstritten. Sollte dieser steife, verkniffene Typ wirklich eine Wahl gewinnen könnten? Als das dann aber – durch für ihn glückliche Umstände, muss man wohl sagen – wider Erwarten geklappt hatte, konnte er das Amt der Bildungssenatorin mit seiner Wunschkandidatin besetzen. Und seitdem hat er, wie man so sagt, einen Lauf. Kaum im neuen Amt angekommen präsentierte der einstige rechtslastige Grantler sich plötzlich weltoffen-liberal, grenzte sich schärfer als beinahe alle anderen in seiner Partei gegen die rechte AfD ab und traute sich dabei sogar, sich mit Parteichef Friedrich Merz anzulegen. Sein Wahlversprechen, für mehr innere Sicherheit zu sorgen, hat er zumindest mit einem großen Polizeiaufgebot an Silvester in Neukölln eindrucksvoll eingelöst. (Nur von mehr Sauberkeit in Berlin, seinem anderen großen Wahlversprechen, kann angesichts der hier weiterhin überall vermüllten Straßen und Wege leider keine Rede sein…)

Vor drei Tagen gaben Kai Wegner und Katharina Günther-Wünsch nun ihre Verbindung offiziell bekannt, nachdem es schon monatelang darüber Gerüchte gegeben hatte. Aber ein frisch gebackenes Liebespaar innerhalb ein und derselben Regierung eines Bundeslandes? Kann so etwas gutgehen? Verboten ist es nicht, und es verstößt auch nicht einmal gegen bestehende senatsinterne Compliance-Grundsätze. Aber auch wenn Bürgermeister und Senatorin noch so sehr beteuern, Privates und Berufliches stets sauber voneinander trennen zu können, sind die Interessenkonflikte doch vorprogrammiert. Allein der Eindruck, hier könnte bereits bei der Postenvergabe nicht ganz unerheblich gemauschelt worden sein, und dass solches erst recht für die Zukunft zu befürchten ist, hat eine verheerende Wirkung auf das Außenbild des Berliner Senats. Zumindest hierzulande ist eine solche Konstellation in der Politik auch beispiellos. Daher kann es aus all dem nur eine Konsequenz geben: Entweder der Regierende Bürgermeister muss seinen Posten räumen oder die Bildungssenatorin den ihren!

justament.de, 1.5.2023: Verlassen in Berlin

Element of Crime auf ihrem 15. Studio-Album “Morgens um vier”

Thomas Claer

Dass Element of Crime, die erklärten Lieblinge überwiegend großstädtischer Nachtmenschen, Melancholiker und Romantiker, sich zuletzt auf jeder neuen Platte noch etwas stärker als jeweils zuvor präsentierten, das konnte man so langsam fast schon beängstigend finden. Doch nun, im 39. Jahr ihrer Bandhistorie, ist dieser langjährige Trend gebrochen. Mit ihrem jüngst erschienenen neuen Album lassen sie, auf hohem Niveau zwar, aber doch unverkennbar, ein wenig nach. Aber auch wenn “Morgens um vier” nicht ganz mit dem Vorgänger “Schafe, Monster und Mäuse” von 2018 mithalten kann, so hält es für den geneigten Hörer doch genügend Höhenpunkte bereit, um ihm zumindest den diesjährigen bislang so nasskalten Frühling gebührend zu versüßen.

Überzeugen kann vor allem der Beginn. Das erkennbar in der Corona-Zeit entstandene “Unscharf mit Katze” ist ein mustergültiger EoC-Song erster Güte, der all das enthält, was diese Band so groß und bedeutsam gemacht hat: scheppernde Gitarrenriffs, wuchtige Trompeteneinschübe, Sven Regeners knarzig-angerauten Gesang und eine wie gewohnt ausgefeilte, hintersinnige Textdichtung. Doch gerade hier, bei den Texten, läuft es diesmal, wenn man das ganze Album betrachtet, weniger rund als zuletzt. Neben lyrischen Glanzleistungen (“Aus unsren Mündern kommen Schall und Rauch”) stehen mitunter wenig schlüssige Sprachbilder wie bereits im Eröffnungssong das von der unscharf aufgenommenen Katze und der Axt in den Händen, bei denen man sich in der Tat fragen muss, worauf sie hinauslaufen sollen. Dies gilt auch für manche Passage der anderen Songs, etwa den rätselhaften Refrain “Was mein ist, ist auch dein”. Nachvollziehbarer ist da schon das auf recht witzige Weise den Trivialautor Johannes Mario Simmel zitierende “Liebe ist nur ein Wort”. Sehr schön und stimmungsvoll geraten, sowohl textlich wie auch musikalisch, sind das Titel- und zugleich Schlussstück “Morgens um vier” sowie das gemeinsam mit dem Isolation-Berlin-Sänger Tobias Bamborschke eingesungene “Dann kommst du wieder”, das einen irgendwie an den mehr als dreißig Jahre alten “Weeping Song” von Nick Cave im Duett mit Blixa Bargeld erinnert.

Thematisch kreisen die Lieder auf bewährte Weise – und insofern dann doch ans Vorgängeralbum anknüpfend – auffällig oft um die Themenfelder liebeskrankes, verlassenes lyrisches Ich und Berlin, gerne auch beides miteinander verbindend wie in “Ohne Liebe geht es auch” und “Wieder Sonntag”, das endlich einmal der Flohmarktkultur unserer Hauptstadt ein verdientes Denkmal setzt. Was die Kompositionen auf dieser Platte angeht, so fallen zwar auch sie etwas hinter diejenigen auf den vorherigen Alben zurück, doch sind sie dabei nicht unbedingt schlechter als etwa auf “Immer da wo du bist bin ich nie” (2009) oder “Psycho” (1999). Kurzum, für die Liebhaber der Elements hat dieses Album, wenn es auch nicht gerade ihr bestes sein mag, durchaus eine Menge zu bieten. Das Urteil lautet: voll befriedigend (12 Punkte).

Element of Crime
Morgens um vier
Vertigo Berlin (Universal Music)
ASIN: B0BTNSM71K

justament.de, 6.6.2022: War der Szenebezirks-Hype nur eine Blase?

Das Zahlenwerk aus dem aktuellen Wohnmarktreport Berlin unter der Lupe

Thomas Claer

Straßenszene in Neukölln

Nach zwei Jahren gibt es nun endlich wieder einen „Wohnmarktreport Berlin“ mit ausführlichem Zahlenwerk über den Mietmarkt in allen 191 Postleitzahlgebieten unserer Hauptstadt. Im Vorjahr konnte nämlich nur eine beinahe zahlenlose Rumpfversion dieser traditionsreichen jährlichen Studie erscheinen, da es wegen des berüchtigten Berliner Mietendeckels, der mittlerweile vom Bundesverfassungsgericht gestoppt wurde, monatelang kaum noch Mietwohnungsinserate mehr gegeben hatte, die man hätte auswerten können… Vordergründig betrachtet scheint in diesen zwei Jahren aber gar nicht viel passiert zu sein, denn die Median-Miethöhe im gesamten Stadtgebiet ist zwischen 2019 und 2021 um gerade einmal 0,6% von 10,44 Euro auf 10,50 Euro gestiegen. Doch trügt dieser Schein gewaltig, denn schaut man genauer hin, was wir auch diesmal, siehe unten, getan haben, so erkennt man, dass es in den 23 Altbezirken von vor der Gebietsreform, die wir wegen ihrer größeren Genauigkeit abermals als Vergleichsmaßstab herangezogen haben, in den letzten 24 Monaten höchst heterogene Entwicklungen gegeben hat.

Zunächst fällt auf, dass die Innenstadt-Regionen, abgesehen von den massiv positiven Ausreißern Mitte (Alt), Wilmersdorf und südliches Charlottenburg, allesamt signifikante Rückgänge in der Angebots-Miethöhe zu verzeichnen hatten. Besonders gilt dies für die Gentrifizierungs-Lagen Neukölln-Nord und Wedding, die nach jahrelanger steiler Aufwärtsbewegung zuletzt einen erstaunlichen Absturz zu erleiden hatten. So liegen die beiden bisherigen Trend-Lagen inzwischen gerade einmal noch an der Oberkante des unteren Drittels aller Altbezirke. Einen fulminanten Sprung nach oben haben dafür mehrere vornehmlich östliche Peripherie-Bezirke hingelegt: Um fast schon sensationelle zweistellige Prozentsätze nach oben ging es in Treptow, Köpenick, Pankow, Hellersdorf und – ganz besonders – Weißensee, das mit einem Anstieg um 13,8% diesmal den Vogel abgeschossen hat.

Was ist da los?, so fragt man sich irritiert, und kommt nach einiger Überlegung auf mindestens drei mögliche Auslöser dieser bemerkenswerten Bewegungen. Zunächst einmal dürfte die im Beobachtungszeitraum grassierende Corona-Pandemie mit dafür gesorgt haben, dass Wohngebiete außerhalb der engen und überlaufenen Zentrallagen tendenziell an Beliebtheit gewonnen haben, während das Zentrum einen entsprechenden Bedeutungsverlust hinnehmen musste. Ausgenommen hiervon waren aber offenbar besonders repräsentative Lagen (Mitte sowie rund um den Ku’damm), die sogar teilweise noch deutlich anziehen konnten. Im relativen Abstieg der Szenebezirke spiegelt sich hingegen das pandemiebedingt stark ausgedünnte Freizeitangebot mit all den geschlossenen Bars und Clubs wider. Insofern sind aber starke Zweifel daran angebracht, ob dieser Trend nachhaltig ist, denn früher oder später dürfte der Party-Orkan in den Szenebezirken wieder anschwellen. Noch dazu könnten die mittlerweile kriegsbedingt und vermutlich auch auf lange Sicht höheren Transport- und Energiekosten dafür sorgen, dass sich die vorübergehende Tendenz zu großen Immobilien am Stadtrand (oder sogar außerhalb der Städte) rasch wieder umkehren wird.

Ein weiterer wichtiger Einflussfaktor liegt vermutlich im zunehmenden Wohnungs-Neubau in vielen östlichen Peripherie-Bezirken. Auch wenn nur ein geringerer Teil dieser Neubau-Projekte überhaupt Mietwohnungen beinhaltet und von diesen auch noch ein erheblicher Anteil zu öffentlich vorgeschriebenen Niedrigmieten vermietet werden muss, hat selbst dieses regulatorisch ausgebremste zusätzliche Wohnungsangebot wegen des Basiseffekts der überwiegend sehr niedrigen Bestandsmieten enorme Auswirkungen auf die gemessene Höhe der Angebotsmieten.
Schließlich lässt sich als dritter bedeutsamer Einflussfaktor die zunehmende politische Regulierung des Berliner Mietmarktes mit entsprechenden Ausweichreaktionen von der Vermieterseite ausmachen. Spätestens die lange Hängepartie mit dem schließlich vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig eingestuften Mietendeckel, um von zahllosen weiteren aktuell diskutierten Regulierungsvorschlägen gar nicht zu reden, dürfte einen nicht geringen Teil zumindest der Berliner Kleinvermieter zur strikten Vermeidung von unbefristeten Mietverträgen getrieben haben. Und nur solche Standard-Mietvertrags-Angebote werden für den Wohnmarktreport mitgezählt, nicht aber die gerade in den zentralen Lagen immer beliebter werdenden kurz- oder mittelfristigen möblierten Vermietungen, deren Preisniveau in der Regel weitaus höher liegt.

Kurzum, trotz aller beschriebener Unschärfen liefert der aktuelle Wohnmarktreport wieder ein aufschlussreiches Bild – besonders für diejenigen, die zwischen den Zahlen zu lesen verstehen…

Wohnkosten in Berliner Bezirken (Angebotskaltmiete pro qm) gem. Wohnmarktreport 2021 (2019) nach Alt-Bezirken:

1. (1.) Mitte (Alt) 17,14 (15,47) +10,8% alternativ/repräsentativ
2. (4.) Wilmersdorf 14,21 (13,11) +8,4% großbürgerlich/bürgerlich
3. (3.) Friedrichshain 13,88 (13,28) +4,5% alternativ/lebendig
4. (2.) Tiergarten 13,85 (13,47) +2,8% gemischt/lebendig
5. (5.) Prenzlauer Berg 12,99 (13,04) -0,4% alternativ/neubürgerlich
6. (6.) Kreuzberg 12,62 (12,96) -2,6% alternativ/lebendig
7. (7.) Charlottenburg 12,58 (12,37) +1,7% großbürgerlich/lebendig
8. (9.) Zehlendorf 12,26 (11,54) +6,2% großbürgerlich/bürgerlich
9. (13.) Treptow 11,63 (10,31) +12,8% proletarisch/lebendig
10. (8.) Schöneberg 11,62 (12,07) -3,7% bürgerlich/lebendig
11. (14.) Pankow 11,34 (10,30) +10,1% bürgerlich/lebendig
12. (15.) Köpenick 10,87 (9,86) +10,2% bürgerlich/proletarisch
13. (18.) Weißensee 10,82 (9,51) +13,8% bürgerlich
14. (12.) Steglitz 10,52 (10,42) +1,0% bürgerlich/kleinbürgerlich
15. (10.) Wedding 10,17 (11,37) -10,6% proletarisch/lebendig
16. (11.) Neukölln 9,94 (10,52) -5,5% alternativ/proletarisch
17.(16.) Tempelhof 9,72 (9,62) +1,0% kleinbürgerlich/bürgerlich
18. (21.) Hellersdorf 9,42 (8,65) +8,9% proletarisch/gemischt
19. (17.) Lichtenberg 9,36 (9,60) -2,5% proletarisch/kleinbürgerl.
20. (19.) Reinickendorf 9,24 (9,25) -0,1% kleinbürgerlich/bürgerlich
21. (20.) Spandau 8,73 (8,81) +0,9% kleinbürgerlich/lebendig
22. (23.) Marzahn 7,78 (7,74) +0,5% proletarisch/gemischt
23. (22.) Hohenschönhausen 7,43 (8,23) -9,7% proletarisch/gemischt

Quelle: Wohnmarktreport Berlin 2022 (Berlin Hyp und CBRE) und eigene Berechnungen.

Informationen: https://www.cbre.de/de-de/research/CBRE-Berlin-Hyp-Berlin-Wohnmarktreport-2022

justament.de, 14.3.2022: Impressionen von der Anti-Kriegs-Demo

Justament-Reporter Thomas Claer berichtet aus Berlin

Es ändert vielleicht nicht viel, ist aber immerhin ein starkes Signal, wenn in diesen Tagen Menschen weltweit zu Tausenden auf die Straße gehen, um ihre Solidarität mit der überfallenen Ukraine auszudrücken und der Lügenpropaganda der russischen Führung etwas entgegenzusetzen. So auch an diesem sonnigen Vorfrühlingstag in Berlin, wo wir uns mit selbstgebasteltem Transparent in die Reihen der Demonstranten am Alexanderplatz begeben. Erfreulich ist ferner, welch ein breites Bündnis diese Kundgebung unterstützt. Selbst die Partei “Die Linke” ist mit wehenden roten Fahnen dabei. Womöglich plagt ja die zahlreichen Putin-Versteher in ihren Reihen nun doch ein schlechtes Gewissen… Auch sieht man viele der obligatorischen weißen Friedenstauben auf blauem Grund. Nur haben offenbar manche Vertreter der Friedensbewegung ganz buchstäblich den Schuss noch nicht gehört, oder wie soll man ein Banner mit der Aufschrift “Abrüstung jetzt! Europa ohne Atomwaffen!” sonst verstehen?! Fehlte nur noch, dass sie auch weiterhin, wie sie es jahrzehntelang getan haben, die Auflösung der NATO empfehlen. Noch deutlicher könnte man die Einladung an den Despoten im Kreml, sich noch weitere Länder aus dem früheren Sowjetimperium zurückzuholen, gar nicht formulieren.

Überhaupt bekommt man den Eindruck, dass die bitteren neuen Realitäten die gewohnten politischen Positionen mächtig durcheinandergewirbelt haben. Das jüngst von Alt-Bundespräsident Joachim Gauck geforderte “Frieren für die Freiheit” wird heute von mehreren Plakatträgern unterstützt: “Kein russisches Öl und Gas!”, “Rather a cold ass than Putin’s gas!” So sieht es nach jüngstem Politbarometer auch eine Mehrheit von 55 Prozent der Wahlberechtigten hierzulande. Hingegen will Klima-Minister Robert Habeck im Einklang mit Bundeskanzler Scholz zunächst weiter an den russischen Importen festhalten, was vielleicht schon deshalb der vernünftigere Ansatz ist, weil man im (leider zu befürchtenden) Falle weiterer russischer Eskalationen dann noch genügend Pfeile im Köcher hat, um weiter schrittweise darauf reagieren zu können. Das “Frieren für die Freiheit” könnte uns eh noch früh genug blühen, wenn Russland uns aus eigenem Antrieb nicht mehr beliefern sollte…

Aus den Lautsprechern erschallt Rockmusik – und dann ein ukrainisches Freiheitslied. Jung und alt haben sich versammelt, man hört verschiedenste Sprachen, aber besonders häufig Russisch. Oder ist es Ukrainisch? Nur Eingeweihte können dies unterscheiden, was die Berichte über angebliche Diskriminierungen von Russischsprechenden wenig glaubhaft macht. Auch wenn man natürlich nichts ausschließen sollte, liegt es doch nahe, dass russische Trolle das ausgeheckt haben. Zumindest würde es bestens ins Bild passen… Der Demonstrationszug bewegt sich immer weiter in Richtung Westen. Wir schenken uns die Abschlusskundgebung an der Siegessäule, denn mittlerweile knurrt uns gewaltig der Magen…

justament.de, 20.12.2021: Berlin vor 40 Jahren

Sven Regeners sechster Roman „Glitterschnitter“

Thomas Claer

Wie es im Leben so kommt: Manchmal ist jahrelang alles nur Routine, und dann passiert plötzlich ganz viel in kurzer Zeit. Eine solche ereignisreiche Zeitspanne erlebt der junge Frank Lehmann, seit zwei Jahrzehnten die Hauptfigur in den Romanen des Berliner Autors und Musikers Sven Regener, um das Jahr 1980 herum, als er zunächst die elterliche Wohnung in der Bremer Neuen Vahr Süd verlässt, um während seines Bundeswehrdienstes in einer chaotischen WG im Szeneviertel am Steintor unterzukommen. Bald aber kehrt er der Armee und seiner WG den Rücken und flüchtet Hals über Kopf ins Aussteiger-Paradies West-Berlin, wo er eigentlich nur seinen Bruder besuchen will, dort jedoch ganz schnell hängenbleibt. Wie sich innerhalb weniger ereignisreicher Wochen alles ineinanderfügt, bis er auf die eingefahrenen Gleise gesetzt ist, auf denen er sich bis zum Mauerfall 1989 munter fortbewegt, wovon Sven Regeners gefeierter Debütroman „Herr Lehmann“ (2001) erzählt, davon handeln die vier aufeinander folgenden Romane „Neue Vahr Süd“ (2004), „Der kleine Bruder“ (2008), „Wiener Straße“ (2017) – und ganz aktuell: deren vor kurzem erschienene Fortsetzung „Glitterschnitter“. (Einen Ausreißer im Romanzyklus bildet nur der vierte Band „Magic Mysterie oder Die Rückkehr des Karl Schmidt“ (2013), der einen Zeitsprung ins Jahr 1995 wagt). Dass drei dieser vier zeitlich und inhaltlich direkt aneinander anknüpfenden Romane in Berlin spielen, zeigt, wie voraussetzungsreich Frank Lehmanns Achtzigerjahre-Existenz als Bierzapfer in Erwin Kächeles Kreuzberger Kneipe „Einfall“ zumindest in ihren Anfängen gewesen ist. Aber es liegt auch daran, dass hier über eine wirklich wilde Zeit berichtet wird – mit all ihren Ausbrüchen, Aufbrüchen und Experimenten.

Eine bunte Community hat sich da 1980 in Kreuzberg zusammengefunden. Lauter ganz überwiegend junge Leute, die fast alle irgendwelche Kunstprojekte am Laufen haben und nebenher ihren Brotjobs nachgehen: klassischerweise in der Kneipe oder im Taxi. Zwar ist die Szene noch längst nicht so international aufgestellt wie heute, doch immerhin schon aus dem gesamten deutschen Sprachraum zusammengewürfelt. Man hört die verschiedensten Dialekte, die dann mit den einheimischen Urberlinern um sprachliche Dominanz wetteifern. Man kommt mit sehr wenig Geld aus, viele sind schließlich auch Hausbesetzer und leben im ideologischen Biotop der Staatsverachtung und des „Bullen“-Hasses. Während „Der kleine Bruder“ wie seine Vorgänger noch durchgehend die Perspektive des Romanhelden einnahm, probierte Regener in „Wiener Straße“ erstmalig das von ihm so bezeichnete „multiperspektivische Erzählen“. Ohne allwissenden Erzähler wurde der Leser hier durch die jeweiligen Perspektiven und Gedankenströme einer Vielzahl von Romanfiguren geführt. Dieses Konzept setzt sich in „Glitterschnitter“ nun fort – und wird noch weiter radikalisiert. Auch vom Plot her ist der neue Roman deutlich ambitionierter als der vorherige. Es laufen durchweg mehrere Handlungsstränge parallel, die schließlich zu einem grandiosen Finale zusammenfinden. Wie in einem Wimmelbild – so hat es der Verfasser selbst bezeichnet – entfaltet sich so ein überaus lebendiges Panorama des kulturellen Lebens im westlichen Szenebezirk der damals geteilten Stadt. Man könnte sogar von einem alternativen Gesellschaftsroman sprechen, wäre das schöne Wort „alternativ“ nicht inzwischen auf so hässliche Weise vom Rechtspopulismus gekapert worden…

Das einzige, was man dem Roman vorwerfen kann, ist seine Geschwätzigkeit. Sicherlich haben die ausschweifenden Dialoge und nicht minder ausschweifenden inneren Monologe der Romanfiguren in diesem Konzept alle ihre Berechtigung. Aber 470 Seiten sind einfach zu viel des Guten. Hier hätte die Lektorin ihrem Autor vielleicht doch lieber etwas strenger in die Parade fahren sollen, denn ungefähr die Hälfte der endlosen Gesprächskaskaden zwischen den beiden liebenswerten Exil-Österreichern Kacki und P. Immel aus der „Arsch Art Gallery“ hätte es auch getan. Ferner hat das Lektorat auf S. 336 oben links übersehen, dass es richtigerweise: „…ein Heinzelmännchen, das die Arbeit macht…“ heißen muss – und nicht „…ein Heinzelmännchen, dass die Arbeit macht…”.

Ansonsten ist die Romanlektüre ganz überwiegend eine Freude. Im Zentrum der Handlung stehen das avantgardistische Bandprojekt Glitterschnitter mit Lehmann-Kumpel Karl Schmidt an der Bohrmaschine sowie das ausdauernde Ringen des Aktionskünstlers H.R. Ledigt mit seinem Manager Wiemer um den konzeptionell aussichtsreichsten Weg zur Kunstausstellung. Um Freundschaft und Verrat drehen sich die Gespräche nicht nur zwischen Kacki und P. Immel, sondern angesichts kollegialer Unstimmigkeiten hinsichtlich der Interpretation der Öffnungszeiten des Cafe Einfall auch zwischen Frank Lehmann und Karl Schmidt.

Besonders gut gelungen ist diesmal auch die Darstellung sowohl des männlichen als auch weiblichen sexuellen Begehrens, das zumal unter diesen jungen Menschen natürlich zurecht eine so bedeutsame Rolle spielt, und das am Ende des Tages genau dahin führt, wohin so etwas meistens führt, nämlich nirgendwohin. Der 21-jährige Frank Lehmann monologisiert in seinem Inneren ausführlich, wenn auch lustigerweise auf recht verdruckste und verschämte Weise, über seine nächtlichen erotischen Träume, in denen genau drei Frauen eine prominente Rolle spielen: neben der angehenden Glitterschnitter-Saxophonistin Lisa sind dies seine WG-Mitbewohnerin Chrissie (Erwin Kächeles Nichte) sowie deren 37-jährige Mutter Kerstin (Erwin Kächeles Schwester). Besonders schämt sich Frank für einen Traum, in dem er mit Mutter und Tochter gemeinsam zugange ist…

Bleibt noch die Frage, wie es im Romanzyklus weitergehen wird, denn dass Sven Regener von weiteren Fortsetzungen in Zukunft absehen wird, kann man sich zum Glück nicht vorstellen. Da nun aber Frank Lehmann endlich seinen Kneipenjob bekommen hat, könnte nun auch endlich einmal ein Zeitsprung fällig sein: vielleicht ins Jahr 1989 nach dem Mauerfall, hier hatte der Debut-Roman „Herr Lehmann“ geendet. Oder ins Jahr 1995 nach der Rückkehr Karl Schmidts von der Magical-Mystery-Tour. Denkbar wäre aber auch ein noch späterer Zeitpunkt, denn welcher Leser wollte nicht erfahren, wie es mit den Romanhelden auch auf lange Sicht weitergegangen ist. In ein paar Jahren werden wir hoffentlich schlauer sein.

Sven Regener
Glitterschnitter. Roman
Galiani Berlin
480 Seiten; 24,00 Euro
ISBN-10: ‎3869712341