justament.de, 12.5.2025: “An der Schwelle zu einem autoritären Zeitalter”
Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk im Gespräch am 80. Jahrestag des Zweiten Weltkkriegsendes, Teil 1
Es ist Feiertag in Berlin, und das nur in Berlin. Kein Mensch arbeitet heute hier. Nur der Historiker und streitbare Publizist Ilko-Sascha Kowalczuk ist uns zum Interview zugeschaltet. Er ist bestens gelaunt, trotz all der wenig erfreulichen Dinge, die er uns gleich erzählen wird.
ISK: Wir haben 45 Minuten Zeit.
Kriegen wir hin. Erste Frage: Warum wird die weitgehend rechtsextreme Partei AfD – inzwischen kann man ja sogar sagen: die gesichert rechtsextremistische Partei AfD – in Ostdeutschland fast doppelt so viel gewählt wie in Westdeutschland?
ISK: Also ich sage schon seit Jahren, dass das eine faschistische Partei ist. Und in jeder faschistischen Partei gibt es auch Leute, die keine Faschisten sind. Also insofern ist das für mich keine neue Erkenntnis, die der Verfassungsschutz jetzt offizialisiert hat. In Ostdeutschland sind mehrere Dinge zu berücksichtigen, die sich unterscheiden vom Westen. Der Faschismus und rassistische Ideologien siedeln dort nicht am Rand der Gesellschaft, sondern in der Mitte der Gesellschaft, und zwar seit vielen Jahren und Jahrzehnten. Das ist eine Mainstreamkultur. In Ostdeutschland ist der Rassismus viel stärker ausgeprägt. Er ist auch viel aggressiver und offensiver dort vorhanden. Das alles hängt mit einer nicht geleisteten gesellschaftlichen Aufarbeitung des Nationalsozialismus zusammen, mit einer nicht die Gesellschaft erreicht habenden Aufarbeitung des Kommunismus. Das hängt mit den Erfahrungen in der Transformationszeit zusammen, also dem Übergang vom Kommunismus zur Bundesrepublik. Mit den Erfahrungen, die die Menschen dort millionenfach machen mussten und die sie in der Konsequenz vom westlichen Liberalismus, vom westlichen System haben abrücken lassen. Und deswegen gibt es heute einen großen Hass auf den Westen, auf das westliche politische System. Und das äußert sich unter anderem in der Zuwendung zur faschistischen AfD und in der Zuwendung zum Bündnis Sahra Wagenknecht. Für mich sind Sahra Wagenknecht und AfD zwei Seiten einer Medaille, und beide sind kremltreue Parteien, die die Narrative aus Moskau übernehmen und sich insofern dort mit Russland gemein machen nach dem Motto: Der Feind meines Feindes ist mein Freund.
Ganz kurze Zwischenfrage: Wie ist Ihre aktuelle Einschätzung zum Bündnis Sahra Wagenknecht? Sind die jetzt nach dem Nichteinzug in den Bundestag und diversen internen Querelen in einzelnen Bundesländern “weg vom Fenster”? Oder werden sie noch mal zurückkommen?
ISK: Also das kann gegenwärtig keiner so richtig sagen. Wir beobachten ja mit großem Interesse, dass die Linkspartei gerade so ein erstaunliches Revival erfährt. Die haben gerade heute verkündet, dass sie einen neuen Mitgliederrekord in den letzten 20 Jahren aufgestellt haben. Also die haben einen ungebrochenen Zulauf. Zugleich haben sie in den letzten Wochen seit dem erstaunlichen Erfolg bei den Bundestagswahlen ihre Rhetorik enorm verschärft, viel stärker linksradikale Töne anschlagend nach dem Motto: Wir wollen das System überwinden. Das ist ja auch eine Losung von Bündnis Sahra Wagenknecht, allerdings aus einer ganz anderen Richtung. Und insofern ist jetzt gerade meines Erachtens ein bisschen offen, wer sich da gegenseitig das Wasser abgräbt. Es wird sicherlich auch daran hängen, wie sich die Linkspartei in den nächsten Wochen zur Ukraine, zu Russland, zu China positioniert. Und insofern würde ich da aktuell keine Prognose abgeben wollen oder können, weil das nicht seriös wäre. Aber ich halte es für verfrüht, einen Abgesang auf das BSW zu singen. Sahra Wagenknecht hat ja noch ein, zwei, drei Tage vor den Wahlen gesagt: Wenn sie scheitert, zieht sie sich aus der aktiven Politik zurück. Das hat sie nicht getan, sondern sie führt gerade Machtkämpfe in ihrer Partei, hat den ersten in Thüringen verloren. Auf die Umfragen – alle sechs Stunden gibt es eine neue Umfrage – kann man da nicht so großen Wert legen. Es wird in hohem Maße auch davon abhängen, ob Sahra Wagenknecht über kurz oder lang wieder so eine hohe mediale Präsenz erreicht, wie sie es im Bundestagswahlkampf und in den Monaten davor hatte. Wenn die Medien ihr wieder diese Podien bieten, dann, glaube ich, wird sie auch zurückkommen. Aber es hängt natürlich auch wieder davon ab: Was werden wir jetzt für eine Politik haben von der neuen Regierung? Und was werden wir für eine Opposition jenseits der Faschisten haben? Also insofern gibt es noch viel abzuwarten. Aber ich würde die Partei noch nicht für tot erklären.
Warum hat es nach Ihrer Meinung die deutsche Gesellschaft in den letzten 35 Jahren nicht geschafft, Ostdeutschland und die Ostdeutschen demokratisch zu integrieren?
ISK: Naja, also ich glaube die Frage ist schon ein bisschen problematisch. Demokratie und Freiheit sind keine Dienstleistungseinrichtungen, wo man darauf warten sollte, dass irgendwer etwas für einen macht, sondern Demokratie und Freiheit leben von dem Engagement der Menschen. In meinem Verständnis bedeutet Freiheit, sich in seine eigenen Angelegenheiten einzumischen. Sich für sich und die Gesellschaft zu engagieren, soziale Verantwortung zu übernehmen, politische Verantwortung zu übernehmen, sich einzumischen und Kompromisse auszuhandeln. Demokratie ist keine Konsensgesellschaft, sondern eine Kompromissgesellschaft. Und genau das sind alles Dinge, die viele Ostdeutsche nicht gelernt haben, die sie nicht lernen wollten und die sie bis heute auch nicht akzeptieren, weil sie letztendlich immernoch in einer obrigkeitsstaatlichen Mentalität verfangen sind. Deshalb sehnen sie sich auch nach autoritären Kräften wie der AfD oder Sahra Wagenknecht. Deshalb himmeln sie Putin an, weil das ihnen in ihrer Wahrnehmung genau das erfüllt, was sie wollen. Und genau deshalb bin ich auch viel gnädiger, was die Beurteilung westdeutschen Handelns anbelangt. Da sind viele Ungerechtigkeiten passiert. Da sind viele Dinge passiert, die man hätte verhindern können. Manches konnte man nicht verhindern. Am Ende des Tages muss man aber auch feststellen, dass die Ostdeutschen insgesamt viel zu inaktiv waren, um gewissermaßen auch ihre Beiträge zur deutschen und europäischen Demokratie zu leisten.
Was bedeutet für sie persönlich Freiheit?
ISK: Also für mich ist Freiheit der Dreh- und Angelpunkt meines Denkens und Lebens. Ich habe bis 1989 in einer Diktatur gelebt, in einem extrem gewaltvollen und unfriedlichen System. Einem System, das die Menschen eingemauert hat, und zwar nicht nur an den Grenzen, sondern auch überall im Land. Jede Schulstunde war von Mauern gekennzeichnet, von Denkverboten, von Sprechverboten. Davon war jeder Mensch in der DDR betroffen. Den meisten war es irgendwann gar nicht mehr bewusst, wie dramatisch und schlimm das war. Und insofern war für mich die Freiheitsrevolution von 1989 eine echte Befreiung. Ich begreife mich auch als Teil dieser Freiheitsrevolution. Ich bin der festen Überzeugung, dass Freiheit das Wichtigste ist, was menschliche Gesellschaften aufzubieten haben. Dass es nichts gibt, was wichtiger ist als Freiheit, weil es nichts anderes gibt ohne Freiheit. Es gibt auch keinen Frieden ohne Freiheit.
Auf welche Weise könnte man der gegenwärtigen Gefahr entgegenwirken, dass sich die Demokratie in Deutschland selbst abschafft?
ISK: Ich habe darauf keine Antwort. Deutschland ist zwar ein großes Land in Europa. Weltpolitisch gesehen ist Deutschland eine der größten Volkswirtschaften, ich glaube aktuell die drittgrößte Volkswirtschaft, hinter den USA und China, noch vor Japan, vor Frankreich, vor Italien, vor Südkorea. Was wir aber beobachten, ist in vielen, vielen Ländern des politischen Westens eine Erosion der Demokratie. Und da kann keiner irgendwie alleine im luftleeren Raum agieren. In Europa haben wir die Situation, dass in vielen Ländern die Faschisten auf dem Vormarsch sind. Sie sitzen in Finnland mit in der Regierung, wir haben rechtsextreme Kräfte in Portugal mit 20 Prozent. Der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union war ein Werk der Rechtsradikalen. Wir sehen, was in Frankreich droht. Egal, wo wir hinschauen: Wir haben mit Orban in Ungarn einen Verbündeten von Putin an der Macht. (Und Ungarn gehört zur Europäischen Union!) Das droht uns jetzt als nächstes in Rumänien. Und so weiter. Wir können hinschauen, wo wir wollen. Aber es gibt auch Hoffnungszeichen. Ein Hoffnungszeichen waren die Wahlen in Polen vor anderthalb Jahren. Da ist die PIS abgewählt worden. Aber zugleich ist das praktisch ein fast totes Rennen gewesen, da es ein 50-zu-50-Prozent-Ergebnis war. Und das eigentliche politische Erdbeben auf der Welt fand in den USA statt. Europa ist auf eine fahrlässige Weise von den USA abhängig, insbesondere verteidigungspolitisch. Das ist die einzige Forderung von Trump, die ich immer verstanden und geteilt habe: dass es ein unmöglicher Zustand ist, dass die reichste Region der Welt, Europa, verteidigungspolitisch abhängig ist von den USA. Das ist total absurd. Und insbesondere Deutschland! Deutschland ist wirklich nicht in der Lage, russländischen Truppen auch nur 24 Stunden Gegenwehr zu bieten. Gott sei Dank haben wir die Polen vor uns, Gott sei Dank haben wir die Skandinavier, die alle viel mehr dazu bereit sind. In Deutschland ist auch keine Mehrheit der Gesellschaft bereit, sich zu verteidigen. Es ist also eine ganz dramatische Situation. Aber das Hauptproblem ist, dass wir gerade weltweit Zeugen davon werden, wie ein faschistisches Regime in Echtzeit errichtet wird in den USA. Das wird mit einem großen Erstaunen und auch mit einem gewissen Schweigen in der westlichen Welt hingenommen, als wenn das alles noch im Rahmen von vertretbaren Grenzen ablaufen würde, was es aber nicht tut. Und wenn sich dort dieses autoritäre, womöglich faschistische Regime weiter etabliert, dann hat das natürlich enorme Auswirkungen auf Europa und insbesondere auch auf Deutschland. Und ich kann Ihnen leider keinen positiven Ausblick mitgeben. Ich glaube, wir stehen an der Schwelle zu einem autoritären Zeitalter. Das kann ganz schlimm werden. Aber noch sind wir in Deutschland, die wir Demokratie und Freiheit verteidigen wollen, in der Mehrheit. Und deshalb müssen wir halt darum kämpfen. Aber das Problem ist: Viele Menschen in Westeuropa kennen nichts anderes als Demokratie und Freiheit. Das ist eben der grundlegende Unterschied zu Ostdeutschland, zu Polen, zu den baltischen Staaten. Die Menschen glauben, dass Demokratie und Freiheit, weil sie nichts anderes kennen, wie gottgemacht sind. Das ist eben immer so gewesen, und das wird auch immer so bleiben. Und ich sage den Leuten dann immer: Liebe Leute, das ist menschengemacht. Das kann auch wieder kaputtgehen und kann verlorengehen. Und das mögen manche Intellektuellen geistig begreifen, aber das kommt nicht an ihre Herzen ran. Sie können sich das nicht vorstellen. Und das ist ein Riesenproblem, denn wenn man sich nicht vorstellen kann, dass das, was man hat, zu Ende gehen kann, dann verteidigt man es auch nicht engagiert. Und genau in dieser Situation leben wir gerade in Europa und können das tagtäglich beobachten. Und das ist eine meiner Antriebsfedern, weshalb ich mich Tag für Tag versuche zu engagieren für Demokratie und Freiheit.
Kurze Anschlussfrage: Trotz allem, was sie gesagt haben, hat Deutschland durch seine Nazi-Vergangenheit vielleicht doch eine bessere Ausgangsposition, um diese rechtsautoritäre Bedrohung abzuwehren und um zu verhindern, dass solche Kräfte an die Macht kommen. Insbesondere vielleicht Westdeutschland, weil Westdeutschland ja eine sozusagen “Entnazifizierung von unten” erlebt hat durch die Achtundsechziger-Bewegung – im Gegensatz zu Ostdeutschland. Kann sich das nicht als wichtiger Vorteil erweisen im Vergleich zu anderen Ländern ohne eine solche Nazi-Vergangenheit?
ISK: Also ich hätte Ihnen bis vor kurzem Recht gegeben tendenziell. Vor zwei, drei Tagen ist eine wissenschaftliche Studie veröffentlicht worden, in der erstmals festgestellt wurde, dass eine relative Mehrheit der Deutschen einen Schlussstrich unter die Aufarbeitung des Nationalsozialismus ziehen will: 38 Prozent. Und weitere 26 Prozent haben keine Meinung dazu. Und das korrespondiert mit dem Aufstieg der Faschisten in Deutschland. In Ostdeutschland können sich zwei Drittel vorstellen, unter einem autoritären Regime zu leben. In Westdeutschland sind das mittlerweile auch 20 Prozent. Jeder Fünfte! Und das sind wachsende Tendenzen. Also insofern: Es gibt diesen Unterschied zwischen Ost und West. Das kann man gut historisch begründen. Das haben Sie eben sehr gut gemacht, das könnte ich mit weiteren Sachen machen. Aber Ostdeutschland ist deswegen interessant als Betrachtungsobjekt, und es sollte auch für viele andere interessant sein als Betrachtungsobjekt, weil in Ostdeutschland sich Entwicklungen nur früher, schneller und radikaler zutragen als anderswo. Und andere Regionen, insbesondere andere Regionen in Europa ziehen dann nach. Und das können wir auch über die letzten 20 Jahre im Ost-West-Deutschland-Vergleich beobachten, dass zum Beispiel die Akzeptanz von Freiheit im Westen abnimmt, dass die Zustimmungswerte zunehmen für: “Gleichheit ist wichtiger als Freiheit” und viele solche Dinge. Auch die Verteidigungsbereitschaft nimmt im Westen ab, die im Osten nie richtig da war. Es gibt nach wie vor einen großen Unterschied in der Bewertung der NATO. Während im Westen nach wie vor die NATO das Verteidigungsbündnis ist, das auch mehrheitlich begrüßt wird, gibt es diese Zustimmung im Osten nicht und auch nicht die Einschätzung, dass die NATO ein Verteidigungsbündnis ist. Da gibt es natürlich große Unterschiede. Es gibt auch einen großen Unterschied in der Parteibindungsquote. Deutschland ist eine Parteiendemokratie laut Grundgesetz. Und da hat man natürlich ein Problem, wenn kaum Leute in einer Partei sind. Im Osten gibt es Regionen, die sind gewissermaßen parteifrei. Und die Parteibindungsquote ist zehnmal so gering wie im Westen. Auch da geht die Parteibindungsquote extrem zurück, aber sie ist immer noch relativ stabil. Das heißt, dass das politische System noch handlungsfähig ist. Das ist in Ostdeutschland aber nicht mehr der Fall. Bei Kommunalwahlen haben wir das Phänomen, dass die Parteien nicht mehr genug Leute haben, um die Ämter zu besetzen. Um ganz zu schweigen von der schwachen Zivilgesellschaft in Ostdeutschland. Die Zivilgesellschaft als Korrektiv der parlamentarischen repräsentativen Demokratie ist extrem wichtig für eine funktionierende Demokratie. Die funktioniert in Westdeutschland sehr gut, nach wie vor. Und die ist nach wie vor in Ostdeutschland extrem unterentwickelt. Sie ist schon stärker jetzt als vor zehn oder 20 Jahren, und das hat in hohem Maße auch mit Zuzug aus dem Westen zu tun. Es sind ja nicht nur sehr viele Menschen aus dem Osten in den Westen gegangen. Fast ein Drittel der Bevölkerung ist abgewandert! Das muss man sich mal vorstellen! Also Ostdeutschland hat heute einen extremen Männerüberschuss, ist extrem überaltert. Aber bestimmte demografische Faktoren konnten dort nur deshalb einigermaßen abgemildert werden, weil es auch eine Zuwanderung von 2 Millionen Menschen aus dem Westen gab. Die im übrigen auch dafür sorgt, dass die Wahlergebnisse im Osten nicht noch desaströser ausfallen, weil die zugewanderten Westler im Osten eher die traditionellen Parteien und keine Extremisten wählen.
Teil 2 des Gesprächs folgt in einer Woche an dieser Stelle.
Das Interview führten Juyeon Han und Thomas Claer.
Aktuelle Buchempfehlung:
Ilko-Sascha Kowalczuk – Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute, Verlag C.H. Beck, 2024, 22,00 EUR, ISBN: 978-3-406-82213-1
Am 21.8.2025 erscheint:
Ilko-Sascha Kowalczuk und Bodo Ramelow – Die neue Mauer. Ein Gespräch über den Osten, Verlag C.H. Beck, 2025, 23,00 EUR, ISBN-10: 3406838316
justament.de, 23.9.2024: Pest und Cholera
Nach den Landtagswahlen im Osten
Thomas Claer
Nun ist geschehen, was ja zu befürchten war: Zwar konnte sich die Brandenburgische SPD in einem gewaltigen Kraftakt noch an die Spitzenposition schieben und so immerhin verhindern, dass die weitgehend rechtsextremistische AfD zur stärksten politischen Kraft im märkischen Bundesland wurde. Doch dadurch haben die Grünen den Wiedereinzug in den Landtag verpasst, und die CDU wurde auf 12 Prozent geschreddert – mit der Folge, dass die bislang dort regierende Kenia-Koalition abgewählt ist und ohne das rechts-links-populistische Bündnis Sahra Wagenknecht – wie zuvor schon in Sachsen und Thüringen – keine Regierungsbildung möglich ist. Das ist – dies an die Adresse der siegestrunkenen Sozialdemokraten – wahrlich kein Grund zum Feiern, denn die frühere Galionsfigur der Kommunistischen Plattform in der Linkspartei wird nun ihre Ankündigung wahrmachen und alles daran setzen, über die Landespolitik erpressserischen Einfluss auf die deutsche Außenpolitik zu nehmen. “Wer mit dem BSW koalieren will, muss natürlich auch mit mir reden”, hatte Wagenknecht angekündigt und zur Bedingung für Koalitionen in den drei Ost-Bundesländern gemacht, dass sich die neuen Landesregierungen für ein Ende der Waffenlieferungen an die Ukraine und gegen die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland einsetzen. Wladimir Putin kann sich die Hände reiben. Seine Trolle haben ganze Arbeit geleistet und dafür gesorgt, dass fast die Hälfte der Mandate in Sachsen und exakt die Hälfte in Thüringen und Brandenburg an russlandfreundliche Parteien gegangen sind. Wäre es also besser, dann lieber Minderheitsregierungen aus demokratischen Parteien zu bilden? Diese müssten sich dann aber wechselnde Mehrheiten besorgen, womit die AfD wieder im Spiel wäre und die Brandmauer zu ihr in Gefahr geriete. Egal, wie man es dreht und wendet: Von stabilen Verhältnissen kann keine Rede sein.
Es macht wirklich fassungslos, wie es den beiden populistischen Parteien gelingen konnte, kontrafaktisch ein solches Klima der Angst zu erzeugen und dabei von den tatsächlich bestehenden Problemen abzulenken. Ja, Ostdeutschland hat ein enormes Zuwanderungsproblem. Es gibt dort nämlich zu wenige Zuwanderer – und nicht etwa zu viele, wie es AfD und BSW suggerieren. Und Investoren werden sich in Zukunft dreimal überlegen, ob sie sich dort ansiedeln, wenn es gar nicht genug Arbeitskräfte gibt und internationale Fachkräfte Gefahr laufen, ausgegrenzt und angepöbelt zu werden. Was hilft also? Der tapferen Hälfte der Ostdeutschen mit und ohne Migrationshintergrund, die sich diesen betrüblichen Tendenzen täglich entgegenstellt, entschieden den Rücken zu stärken. Die Brandmauer zur AfD muss ohne Wenn und Aber halten. Und das BSW darf unter keinen Umständen Einfluss auf die deutsche Außenpolitik bekommen. Untersuchungen zeigen, dass die beiden Extrem-Parteien ihr Wählerpotential bereits weitgehend ausgeschöpft haben. Es ist nicht damit zu rechnen, dass sie wie 1933 in ganz Deutschland die Oberhand gewinnen. Alarmierend ist ihre Stärke aber allemal.
justament.de, 20.2.2023: Von Russland lernen…
Nationale Neueste Nachrichten
Thomas Claer
Prinz Heinrich XIII. meldet sich zu Wort, in den Abendnachrichten, zur besten Sendezeit, mit einer Ansprache an das deutsche Volk. Das Scholz-Regime hat abgedankt. Die nationale Querfront hat nunmehr das Kommando übernommen, unterstützt von den volkstreuen Kräften der früheren Bundeswehr, die nun endlich wieder den stolzen Namen Wehrmacht tragen darf. Die Angehörigen dieser notorischen Quasselbude namens Bundestag wurden bereits sämtlich inhaftiert, mit Ausnahme des völkischen Lagers aus AfD und Teilen der Linkspartei, die ab sofort das neue deutsche Parlament, den Reichstag, stellen, der künftig die Beschlüsse der neuen Reichsregierung unter Führung von Prinz Heinrich in treuer Ergebenheit absegnen wird. Als Angehörige der zunächst kommissarischen Reichsregierung werden vorgestellt: Reichsaußenminister Bernd Höcke, Reichsinnenminister Alexander Gauland, Reichsjustizminister Hans-Georg Maaßen, Reichspropagandaministerin Alice Weidel, Reichsfamilienministerin Beatrix von Storch und Reichsarbeitsministerin Sahra Wagenknecht. Niemand soll sagen, dass wir die Frauenquote nicht einhalten. Für das Amt des Reichspräsidenten ist bereits Thilo Sarrazin angefragt.
Sodann trägt der frischgebackene Reichsaußenminister Höcke seine außenpolitische Agenda vor: Lange Jahre haben wir den Provokationen und Bedrohungen unserer Nachbarn tatenlos zugesehen. Sie wollen uns vernichten, daran besteht kein Zweifel, aber jetzt ist das Maß voll. Seit fünf Uhr 45 wird zurückgeschossen. Unsere Truppen haben Elsass-Lothringen und das Sudetenland bereits komplett eingenommen. Das gleiche gilt für Österreich. Dieses Gebiet ist urdeutsches Kernland. Dass man es jemals für einen eigenen Staat gehalten hat, ist ein Irrtum der Geschichte; siehe dazu den jüngst von Prinz Heinrich publizierten Aufsatz “Über die historische Einheit von Deutschen und Österreichern”. Es ist unser gutes Recht, uns das zurückzuholen, was uns zusteht. Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt!
Kein einziger Leopard-Panzer wird mehr an die Ukraine geliefert. Das zieht doch eh nur den Krieg dort, ach was: die militärische Spezialoperation sinnlos in die Länge. Das russische Volk soll sich nehmen, was ihm gehört. Ein Land namens Ukraine hat es nie gegeben. Was reden manche Leute vom Baltikum und von Moldawien? Solche Länder kennen wir nicht. Wir nennen diese Gebiete Nowaja Rossia. Das südöstliche Polen soll unser Freund Putin bitte auch gleich mitübernehmen. Dann können wir nämlich aus der anderen Richtung endlich wieder in Ostpreußen, Pommern und Schlesien einmarschieren. Allerdings müssen wir mit Putin noch mal über Königsberg reden, denn dort wurde schließlich Preußen gegründet. Darauf kann ein deutscher Staat unmöglich verzichten. Das wäre ja gerade so wie Serbien ohne Amselfeld oder Russland ohne die Krim. Wir stellen ein Ultimatum zur Anerkennung der Grenzen von 1939 innerhalb von zwei Wochen. Jeder, der sich uns in den Weg stellt, wird Dinge erleben, die er noch nie erlebt hat. Pardon wird nicht gegeben! Jeder Schuss ein Russ! Jeder Tritt ein Brit! Jeder Stoß ein Franzos!
Glückwünsche zur Machtübernahme kommen bereits aus Budapest von Viktor Orban, ebenso aus Pjöngjang, Nicaragua, Iran und Venezuela. Natürlich auch von der heldenhaften Junta in Myanmar und von den Taliban aus Kabul. China beobachtet den Machtwechsel in Berlin mit wohlwollender Neutralität, ebenso Saudi-Arabien. Der türkische Präsident Erdogan stellt eine enge Zusammenarbeit mit der neuen Reichsregierung in Aussicht, sofern sie bereit sei, endlich alle Terroristen auszuliefern, die in Deutschland noch immer frei herumrumlaufen. Vor allem gelte das für alle diese feindlichen Elemente, die sich Kurden nennen, aber in Wirklichkeit nur gemeine Bergtürken sind.
Eine Woge der Begeisterung zieht durch das wieder erwachte Deutschland. Germany first! Am deutschen Wesen soll die Welt genesen! Deutschland, Deutschland über alles! Denen, die jetzt ihre Koffer packen und schnell ins Exil gehen, weinen wir keine Träne nach. Wir werden sie ausspeien wie ein lästiges Insekt. Aber wenn es zu viele werden sollten, die abhauen, dann passt mal gut auf: Wir können auch ganz anders, können in kürzester Zeit wieder eine Mauer, d.h. einen antifaschistischen Schutzwall, um unser Land errichten. Die Gegner unserer völkischen Ordnung sind nämlich allesamt Nazis! Jawohl, denn wer Nazi ist, bestimmen immer noch wir. Die schlimmsten Nazis waren übrigens die Juden. Hatte nicht Hitler auch jüdische Vorfahren? So war es doch, oder irren wir uns da?
Unsere Soldaten sollen sich nicht fürchten, wenn sie in die… äh… militärische Spezialoperation ziehen. Es gibt ja wohl Schlimmeres als den Tod. Süß und ehrenvoll ist es doch, fürs Vaterland zu sterben. Andere sterben, weil sie sich totsaufen. Also dann doch wohl lieber auf dem Schlachtfeld. Wer im Kampfe fällt, hat doch sein Lebensziel erreicht. Und wenn wir nicht mehr genug Soldaten haben, dann gibt es eben eine allgemeine Mobilmachung. Das wäre doch gelacht!
Sollte jemand etwas dagegen sagen, dann gelten unsere neuen “Bestimmungen gegen die Verbreitung von Falschinformationen”. Da kennen wir keine Gnade. Beim ersten Mal gibt es nur eine drakonische Geldstrafe, wir sind ja keine Unmenschen. Aber schon beim zweiten Mal geht es direkt in den Knast. Und für den Fall, dass sich höhere Verwaltungsleute oder gar Prominente künftig auf unpassende Weise äußern: Es passieren ja ständig irgendwelche Unfälle. Die Leute fallen aus dem Fenster oder sie vergiften sich versehentlich beim Essen und Trinken. So etwas kann schon mal vorkommen. Von Russland lernen, heißt siegen lernen. Heil dir, Prinz Heinrich! Hipp, hipp, hurra!
justament.de, 11.11.2019: Meine Sesamstraßen-Theorie
Recht histotisch Spezial: Justament-Autor Thomas Claer zum 30. Jahrestag des Mauerfalls
Warum die rechtspopulistische bis rechtsextremistische AfD ausgerechnet in Ostdeutschland so oft gewählt wird, darüber wird nun schon seit Jahren ausgiebig diskutiert. Es mag viele verschiedene Gründe dafür geben, aber in meinen Augen spielt dabei auch die frühkindliche mediale Prägung eine wichtige Rolle. Es ist doch auffällig, dass diese menschenverachtende Partei ihre Spitzen-Werte, also Wahlergebnisse von 40 Prozent und mehr, vor allem in jenen Gebieten erzielte und erzielt, in denen sich früher, zu Teilungszeiten, kein Westfernsehen empfangen ließ: in Vorpommern und im Raum Dresden. Nun war das DDR-Kinderfernsehen, vom Sandmännchen bis zu Pittiplatsch und Schnatterinchen, zwar alles andere als schlecht, aber eben doch längst nicht so für Fragen der Diversität und Pluralität sensibilisiert wie die westlichen Kindersendungen, allen voran die Sesamstraße. Mit großer Selbstverständlichkeit traten dort hell- und dunkelhäutige Kinder nebeneinander auf. In der Sendung „Rappelkiste“ spielte sogar ein kleines türkisches Mädchen namens Filiz mit, das mit einem blonden deutschen Mädchen befreundet war. Erinnert sei auch an die mehrsprachigen Anfangsansagen in der “Sendung mit der Maus”. Ganz besonders aber bin ich als westfernsehverwöhntes DDR-Kind in den Siebziger- und Achtzigerjahren durch die grandiosen Kurzfilme und Songs der deutschen Version der Sesamstraße geprägt worden, die immer so human und hintersinnig philosophisch waren, eigentlich ebensogut für Erwachsene geeignet wie für Kinder. Der Mann hinter all diesen Filmchen und auch Liedern war Christoph Busse, damals frisch gebackener Absolvent der Filmschule. In der Sesamstraße, so sagt er im einzigen jemals von ihm gegebenen Interview, habe er seinerzeit Narrenfreiheit genossen. Er gehörte, ohne dass ich damals seinen Namen kannte, zu den Helden meiner Kindheit. Und dank YouTube lässt sich ja heute noch einmal ganz tief in die eigene frühkindliche Vergangenheit eintauschen… Exemplarisch hier nur zwei dieser umwerfenden Sesamstraßen-Lieder: der „Egal Song“ und der musikalisch ähnlich gestrickte „Song vom Fortbewegen“. Jeder ist anders, und „Es ist egal, du bist, wie du bist.“ Und „Jeder kommt auf seine Weise vorwärts / Vorwärts irgendwie…“ Wer dies einmal verinnerlicht hat, ist wohl für immer und ewig gegen jede ausgrenzende Hass-Ideologie imprägniert.
Egal Song
Song vom Fortbewegen
Türkisches Mädchen Filiz in “Rappelkiste” (nicht Sesamstraße!)
www.justament.de, 5.9.2016: Leider erfolglos
Jennifer Rostocks ironischer Protestsong „Dann wähl die AfD!“
Thomas Claer
Die Berliner Spaßpunk-Band „Jennifer Rostock“ gehört hierzulande schon seit Jahren zu den richtig angesagten Acts. Der kuriose Bandname verweist auf ihre charismatische Frontfrau Jennifer Weist (30) und auf deren ursprüngliche Herkunft (sowie die aller übrigen – ausschließlich männlichen – Bandmitglieder) von der Ostseeküste. Neben dem enormen kommerziellen Erfolg ist vor allem auch die immer wieder ausgestellte Haltung der Band zu allerhand gesellschaftlichen Fragen erwähnenswert. Kurzum, „Jennifer Rostock“ sind Popstars mit Leitbildfunktion für ihr überwiegend junges Publikum. Der künstlerische Wert ihrer Darbietungen liegt beständig zwischen „nicht schlecht“ und „aber auch nicht richtig gut“. Durchaus sympathisch ist dabei die unverkennbare stilistische Orientierung an der Neuen Deutschen Welle und insbesondere an der Band „Ideal“ aus den seligen Achtzigern. Auch die “Ärzte” und die “Toten Hosen” lassen grüßen, an letztere erinnern allerdings besonders die mitunter sehr abschreckenden bombastischen Refrains. Hingegen muss man an die junge Nina Hagen denken, wenn sich Sängerin Jennifer Weist – vielfach gepierct und ganzkörpertätowiert – auf der Bühne zwischen den Songs unter dem Johlen der Zuschauer genüsslich ihr Geschlecht reibt. Und schließlich gehört zu „Jennifer Rostocks“ Bühnenshow auch noch die regelmäßige Präsentation von Jennifers nackten Brüsten, verbunden mit der Aufforderung an die Mädchen im Publikum, ebenfalls ihre Möpse freizulegen. Umstritten ist, ob dies tatsächlich – wie von der Band behauptet – als feministische Demonstration für die Gleichstellung der Frau durchgehen kann, oder ob hier nicht ein bloßer geschäftstüchtiger Exhibitionismus a la Kim Kardashian am Werk ist. Doch warum soll Jennifer ihren männlichen Testosteronrock-Kollegen nicht etwas Pussy-Power entgegensetzen? Gut singen kann sie übrigens auch noch…
Nun haben „Jennifer Rostock“ also anlässlich der Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin einen Anti-AfD-Song aufgenommen, der schon nach wenigen Tagen im Netz abermillionenfach geklickt worden ist. Man kann sie dazu nur beglückwünschen, doch wissen wir seit gestern Abend, dass alle agitatorische Mühe leider nicht viel gebracht hat. Das Wahlergebnis im Nordosten hat dieser Song offensichtlich kaum beeinflussen können, dennoch können wir froh sein, dass es ihn gibt. Denn nichts spricht dagegen, die altehrwürdige Gattung des politischen Protestsongs gelegentlich – und wann war es nötiger als jetzt? – wiederzubeleben, und noch dazu, wenn dies auf so gelungene Weise geschieht. Und schließlich: Es kommt ja auch noch die Wahl in Berlin am 17. September. Also wählt dort, liebe Leser, sofern ihr dort wahlberechtigt seid, unbedingt! „Nur bitte diesen Scheiß nicht!“ Das Urteil über Jennifer Rostocks AfD-Song lautet: voll befriedigend (10 Punkte).
www.justament.de, 1.8.2016: Spricht so ein Rechtspopulist?
Gesammelte Reden von Peter Sloterdijk: „Was geschah im 20. Jahrhundert?“
Thomas Claer
Reichlich Prügel bezogen hat der Philosoph Peter Sloterdjk in den vergangenen Monaten ob seiner Äußerungen in der Flüchtlingsdebatte. Insbesondere hat sich SPIEGEL-Online-Kolumnist Georg Diez auf ihn eingeschossen und ihn wiederholt in die Nähe der rechtspopulistischen AfD gerückt. (Sogar SPD-Chef Sigmar Gabriel machte sich diese Vorwürfe unlängst zu eigen.) Vor allem delikat ist hieran, dass ein Musterschüler von Prof. Sloterdijk, der Karlsruher Philosophie-Dozent Marc Jongen, ausgerechnet für die AfD im Baden-Württembergischen Parlament sitzt und als intellektueller Vordenker dieser Partei gilt. Für Jongen ist Deutschland eine geknechtete Nation, der es an „thymotischen Energien“ fehle (ein auf den griechischen Philosophen Platon rekurrierender Neologismus Sloterdijks aus seinem 2006 erschienenen Werk „Zorn und Zeit“). Inzwischen hat Sloterdijk zum Gegenschlag ausgeholt, sich in einem Handelsblatt-Beitrag scharf von der AfD und seinem missratenen Zögling Jongen distanziert. Ein schaler Nachgeschmack bleibt dennoch.
Ist Peter Sloterdijk, der einstige Hippie-Philosoph und Indien-Erleuchtungssucher, die wortgewaltige Metaphernschleuder mit der Altachtundsechziger-Frisur, inzwischen wirklich vom „typischen Vertreter linker Kulturkritik“ zum „Überläufer ins Lager der Gegenaufklärung“ mutiert, wie es sogar bei Wikipedia unter dem Stichwort „Neue Rechte“ heißt? Da kommt der neue Band mit dem Titel „Was geschah im 20. Jahrhundert?“, der Sloterdijks wichtigste Reden aus den vergangenen zehn Jahren enthält, gerade recht, um diesen ungeheuerlichen Verdacht zu überprüfen.
Und ja, auch in diesem Buch finden sich einige anrüchige Formulierungen des Meisters, wie sie Georg Diez ja bereits zusammengetragen hat. Doch sollte man den Zusammenhang, in dem sie auftauchen, nicht verkennen. Ungefähr 80 Prozent der politisch relevanten Inhalte dieses Buches dürften ohne weiteres kompatibel mit dem Parteiprogramm der GRÜNEN sein: Im „Anthropozän“, also dem ganz wesentlich vom Homo sapiens bestimmten Erdzeitalter, in welchem wir uns seit zwei Jahrhunderten befänden, komme es ganz entscheidend auf einen Bewusstseinswandel der Menschheit in Richtung eines sparsameren Ressourcenverbrauchs an. Der „absolute Imperativ“ eines jeden Menschen müsse es daher heute sein, sein Leben so zu ändern, dass der Fortbestand der Menschheit und unseres Planeten auch weiterhin gewährleistet sei. Übrigens habe das Hauptereignis des 20. Jahrhunderts, um die Titelfrage des Buches zu beantworten, „im Ausbruch der westlichen Zivilisation aus dem Dogmatismus der Schwere bestanden“, d.h. das Leben der Menschen sei durch allerlei technische Erleichterungen zusehends komfortabler geworden. Doch hätten sich die durch diese Entwicklung bedingten Kollateralschäden längst zur existentiellen Bedrohung ausgewachsen.
Weiterhin heißt es in einem anderen Vortrag Sloterdijks aus dem Jahr 2010, die Menschheit bedürfe einer Zivilisierung, einer Selbstzähmung, die u.a. in einer „Domestikation zweiter Ordnung“ liegen könne. Alle erfolgreichen Kulturen seien, stark vereinfacht gesagt, häuslich nach innen, aber kriegerisch nach außen, d.h. gegenüber Kulturfremden, gewesen. Schon früher habe oft genug nur die zwischenstaatliche Diplomatie das Schlimmste verhindert. Auf einer höheren Stufe der Domestikation komme es aber gegenwärtig auf einen Wandel zu „höherstufigen politischen Domestikationseinheiten“ an, das Musterbeispiel dafür sei die Europäische Union. Fernziel müsse es sein, dass schließlich auch die großen, bislang nur „intern domestizierten Überlebenseinheiten“, die Civilisations im Sinne von Huntington, wiederum untereinander „über das Stadium der Nichthäuslichkeit hinausgelangen“.
Bis hierhin hätte wohl selbst Jürgen Habermas, der als Sloterdijks Intimfeind in der deutschen Philosophen-Zunft gilt, keine Einwände gehabt. Aber dann kommt es am Ende des Vortrags knüppeldick: Ganz beiläufig fordert Sloterdijk hier die „Entschärfung der Bevölkerungswaffe“. Neben den „noch unzureichend gezähmten polemischen Außenverhältnissen der Kulturen“ sei auch „das biologische Reproduktionsgeschehen in hohem Maße regulierungsbedürftig“. Das bedeute „die Absenkung der Geburtsraten in allen Kulturen auf Proportionen, die mit sozioökonomisch beherrschbaren Lebensbedingungen verträglich sind“. Und das schließe – Achtung! –„jede Art von Elendsfruchtbarkeit ebenso aus wie verwilderte Kampffortpflanzungen – wie man sie seit längerem in arabischen Ländern beobachtet“. Denn: „Riesige Gewaltentladungen werden hiervon die beinahe unvermeidliche Folge sein.“ Und Sloterdijk verweist auf die von der demographischen Forschung evident gemachte positive Korrelation zwischen überhöhten Geburtsraten und kriegerischen bzw. genozidalen Ereignissen. „Durch manifest oder latent polemisch motivierte Überproduktion von Menschen“ würden „vor allem die jungen Männer zwischen 15 und 30 Jahren zu einer Risikogruppe, die das Domestikationspotential ihrer eigenen Kulturen überfordern“. In den kommenden 20 Jahren stünden mehrere hundert Millionen junge Männer in der arabischen und afrikanischen Welt „für alle Arten von polemischen Aktivitäten bereit“. Es sei zu befürchten, dass nicht wenige von ihnen sich für religiös codierte Selbstvernichtungsprogramme rekrutieren ließen.
Was ist nun von diesen Ausführungen zu halten? Sind sie punktuelle islamophobe Panikmache, wie Gustav Seibt in seiner Rezension dieses Buches in der Süddeutschen Zeitung meinte, während er dem Autor im übrigen den gewohnten Respekt zollte? Oder müssen wir in diesen Tagen, nach den Anschlägen von Nizza, Würzburg, Ansbach und Rouen, nach jahrelangem Bürgerkrieg in Syrien und Irak, womöglich erkennen, dass Sloterdijk als Kassandra sogar richtiggelegen hat? Doch selbst wenn, was würde daraus folgen? Eine „Islamisierung des Abendlandes“ im Sinne von PEGIDA ist laut Sloterdijk jedenfalls nicht zu befürchten, diese Montagsspaziergänger hätten, so Sloterdijk in einem Fernsehinterview, nur „das tiefe innere Bedürfnis, einen Feind zu haben“.
Was aber ist sonst noch anstößig in diesem Buch? Dass Auschwitz vom Autor nur als ein Horror-Ereignis neben vielen anderen im 20. Jahrhundert und nicht als Singularität bezeichnet wird? Geschenkt, ein übergeordneter Blick aus der geschichtlichen Distanz wird dies irgendwann ohnehin so beurteilen, wenngleich es gegenwärtig hierzulande noch immer gute Gründe gibt, insbesondere die unbedingte Wahrung der Würde der noch lebenden Opfer, an der politisch-historischen und rechtlichen Sonderstellung des Holocaust festzuhalten. Dass Sloterdijk ferner zustimmend einen Soziologen zitiert, der vom neuen Phänomen einer „parasitären Unterschicht“ spricht? Das kann man als – im übrigen gar nicht so selten anzutreffenden – „Sozialneid von oben“ ansehen. Dabei befand schon Marcel Proust in seiner „Suche nach der verlorenen Zeit“, tatsächlich sei es weitaus anstrengender und führe oft zu einer weit größeren Erschöpfung, einen ganzen Tag lang rein gar nichts zu tun als unentwegt hart und schwer zu arbeiten…
Solche und in ähnliche Richtungen abzielende Passagen sorgen gleichsam für ein paar schrille neoliberale Farbtupfer – ergänzend zu den angeführten latent islamophoben und ansatzweise populistischen – auf dem grünlich grundierten Argumentationsteppich. In diesem Zusammenhang kann es allerdings schon erstaunen, dass Peter Sloterdijk sich vor einigen Jahren im SPIEGEL-Interview als notorischer SPD-Wähler geoutet hat, „wenn auch nicht aus philosophischen, sondern aus persönlichen und biographischen Gründen“. Und zuletzt bezeichnete er sich in der ZEIT als „linken Konservativen“. Nun ist aber auch wirklich fast alles dabei gewesen. Vielleicht ist er ja einfach nur ein bunter Hund…
Ansonsten ist „Was geschah im 20. Jahrhundert“ eine Art „Parerga und Paralipomina“ geworden, eine gelungene Zusammenstellung kleinerer Abhandlungen, die in den Hauptwerken keinen Platz mehr gefunden haben. Am besten ist Sloterdijk, wie immer, wenn er die Religion durch den Kakao zieht. In „Starke Beobachtung“ entwickelt er den Gedanken, dass die moderne Raumfahrt einen „Teil der göttlichen Funktion übernommen und auf technische Systeme (Beobachtungssatelliten) und natürliche Intelligenzen (Menschen an Bord von Raumstationen) übertragen hat. Einst, in Mesopotamien, habe „die Erfindung bzw. Offenbarung der Götter“ einem „überaus wichtigen psychopolitischen Zweck“ gedient: Es galt „die Menschen an den Gedanken zu gewöhnen, dass ihr Leben durchgehend unter der Beobachtung einer ebenso allwissenden wie allaufmerksamen Intelligenz stehe“, die „zugleich die Vollmacht besitzt, jedem einzelnen Menschen post mortem die moralische Bilanz seines Handelns zu präsentieren.“ Klar, so konnte man die Menschen äußerst effektiv disziplinieren. Alle höheren Kulturen, so Sloterdijk, beruhten auf der Idee, „es existiere eine externe Beobachterintelligenz, die imstande sei, sämtliche Lebensvorgänge synchron zu erfassen, auch jene, die sich in der Dunkelheit des Unwissens oder des bösen Willens verstecken.“ … „Was die Tradition Gott nennt, ist ein starker Beobachter, für den alle Tatsachen auf derselben Oberfläche liegen. Er sieht alles synchron und von allen Seiten, sei es von oben, sei es von innen.“ Ein Recht auf Privatheit war zu jener Zeit noch nicht bekannt. Und nun, so Sloterdijk weiter, schauten die Menschen des globalen Zeitalters erneut an den nächtlichen Himmel. „Sie glauben aber nicht nur, dass sie beobachtet werden, sie wissen es auch…“
Nicht jeder der Vorträge ist so witzig, leicht und pointiert geschrieben. „Derridas Traumdeutung“ etwa kann man schon für einen ziemlichen Schnickschnack halten. Doch ist „Odysseus der Sophist. Über die Geburt der Philosophie aus dem Geist des Reise-Stress“ einfach köstlich, ebenso die kleine Ideengeschichte des Indirekten „Der andere Logos oder: Die Vernunft der List“. Und auch „Die permanente Renaissance“ über Boccacios Decamerone und die Folgen sollte man sich nicht entgehen lassen. Fast überall ergreift Sloterdijk Partei für die Frechheit (beispielsweise die der Sophisten) und gegen die altehrwürdigen Autoritäten (wie etwa Platon).
So fragt man sich am Ende dieses ausgezeichneten Buches doch etwas besorgt, wie es passieren konnte, dass der sonst so gewitzte Sloterdijk sich mit so völlig derangierten Äußerungen zu Merkels Flüchtlingspolitik (das berüchtigte Cicero-Interview im vergangenen Frühjahr: „territorialer Imperativ“, „Lob der Grenzen“, „Souveränitätsverzicht“, Überrollung“, Lügenäther“, „keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörung“) gegen viele der bislang von ihm selbst vertretenen Positionen und sich selbst damit in die rechte Ecke gestellt hat. Bis heute ist er offensichtlich damit beschäftigt, den Scherbenhaufen, den er selbst angerichtet hat, mit großem Aufwand wieder zusammenzukehren. Hätte er einfach nur gesagt, wie er es später beschwichtigend nachgeschoben hat, es gebe keine Pflicht, gegen die eigenen Interessen zu handeln, dann wäre das – insbesondere im Licht der jüngsten Ereignisse betrachtet – zweifellos bedenkenswert gewesen. Durch seine maßlosen verbalen Zuspitzungen jedoch (und wohl auch durch seine anschließenden ungeordneten Rückzugsmanöver) hat er am Ende vor allem sich selbst geschadet.
Wie heißt es in Sloterdijks grandiosem Religions-Rundumschlag „Gottes Eifer“ (2007): „Die Zivilisierung der Monotheismen ist abgeschlossen, sobald die Menschen sich für gewisse Äußerungen ihres Gottes, die unglücklicherweise schriftlich festgehalten wurden, schämen wie für die Auftritte eines im allgemeinen sehr netten, doch jähzornigen Großvaters, den man seit längerem nicht mehr ohne Begleitung in die Öffentlichkeit lässt.“ (S.168) Sollte es etwa auch mit unserem Lieblings-Philosophen, der im nächsten Jahr 70 wird, schon so weit gekommen sein? Im September erscheint erst einmal sein erster erotischer (!) Roman „Das Schelling-Projekt“. Wir sind gespannt.
Peter Sloterdijk
Was geschah im 20. Jahrhundert?
Suhrkamp Verlag Berlin 2016
348 Seiten, 26,95 €
ISBN: 978-3-518-42507-7

