justament.de, 6.10.2025: Meine erste West-Zeitung
Justament-Autor Thomas Claer gratuliert “seiner” Süddeutschen Zeitung zum 80. Geburtstag
Es muss wohl im Herbst 1987 gewesen sein, als ich überglücklich während unserer Schulabschlussfahrt in einem Hotel in Minsk (damals Belorussische Sozialistische Sowjetrepublik) meine erste Süddeutsche Zeitung in den Händen hielt. Zugleich war es auch meine erste westliche Tageszeitung überhaupt, denn Printprodukte aus dem Westen waren für uns in der DDR seinerzeit schwer zu bekommen. Ich war damals 15 Jahre alt, und mir waren immerhin schon zwei Micky-Maus-Ausgaben, mehrere Kicker-Sonderhefte und einige Bravo-Zeitschriften von Besuchern unserer Familie aus dem Westen heimlich mitgebracht worden. Aber eine richtige Tageszeitung mit politischen Inhalten wäre natürlich noch weitaus gefährlicher gewesen, wenn man sie beim Grenzübertritt entdeckt hätte. Daher konnte ich als aufgeweckter und interessierter Ost-Jugendlicher von richtigen West-Zeitungen lange Zeit nur träumen.
Heute kann es sich niemand mehr vorstellen, aber es gab damals für uns in der DDR wirklich kaum etwas Interessantes zu lesen. Mit den überaus langweiligen DDR-Zeitungen war ich meist schon nach höchstens zehn Minuten fertig, denn außer dem Sportteil gab es darin wirklich nur ungenießbare gestelzte Staatspropaganda. Bücher aus dem Westen, die irgendwer über die Grenze geschmuggelt hatte, wanderten von Hand zu Hand, wurden immer weiter verliehen. Selbst vorgeblich linientreue Lehrer in meiner Schule borgten sich von mir Westbücher von Hoimar v. Ditfurth und Erich v. Dänicken aus, die ich wiederum selbst von einer Freundin meiner Mutter entliehen hatte. Aber politische Zeitschriften blieben zu jener Zeit zumindest für mich unerreichbar – bis in der Sowjetunion Glasnost und Perestroika ausbrachen und wir unsere Abschlussfahrt in der 10. Klasse just ins Land des “Großen Bruders” unternahmen.
Es kam für mich dann völlig überraschend. Nicht im Mindesten hatte ich damit gerechnet, dass im Hotel “Jubilejnaja” in Minsk, in dem wir abstiegen – es existiert laut KI-Recherche noch heute – an der Rezeption westliche Zeitungen und Zeitschriften aus diversen Ländern und in unterschiedlichen Sprachen auslagen. Ich traute meinen Augen kaum und fragte dann schüchtern, ob man die auch kaufen könne. Ja, natürlich, bekam ich zur Antwort. Also griff ich entschlossen zu und erwarb mit meinen eingetauschten Rubeln und Kopejken die einzigen beiden vorhandenen deutschsprachigen Printprodukte: eine Süddeutsche Zeitung und einen “Vorwärts”, die SPD-Parteizeitung. Dazu nahm ich sicherheitshalber auch gleich noch ein “Algemeen Dagblad” aus Amsterdam und einen “Dagens Nyheter” aus Stockholm. Wer wusste denn, ob sich jemals wieder eine solche Gelegenheit bieten würde?
Anschließend zog ich mich zurück – und las und las und las. Innenpolitik, Außenpolitik, politische Kommentare, Reportagen, Feuilleton und Wirtschaftsteil bis hin zum Sportteil – all das war für mich wie eine Offenbarung. Soweit ich mich erinnern kann, habe ich meine erste Süddeutsche an diesem und den folgenden Tagen von vorne bis hinten komplett durchgelesen, vieles davon auch mehrmals. Mit dem “Vorwärts” verfuhr ich ebenso. Die beiden fremdsprachigen Zeitungen vermochte ich allerdings nur häppchenweise zu bewältigen. Da ich zumindest von den zwei deutschsprachigen Presseerzeugnissen das einzige vorhandene Exemplar ergattert hatte, konnte auch niemand anders unter meinen Mitschülern oder Lehrern hier zum Zuge kommen. Doch deren Interesse daran hielt sich erstaunlicherweise auch in Grenzen. Nur ein einziger Mitschüler, der heute in Köln wohnt und bei der Bundeswehr tätig ist, bat mich darum, ihm meine Süddeutsche und meinen “Vorwärts” mal auszuleihen. Unsere Lehrer, die vermutlich interessiert gewesen wären, hatte ich zur Sicherheit nicht eingeweiht, denn womöglich hätten sie mir die in der DDR ja schließlich illegalen westlichen Printmedien sogleich wieder abgenommen – trotz deren ganz legalen Ankaufs in der “ruhmreichen Sowjetunion”. Zum Glück hat mich auch niemand von meinen Mitschülern bei ihnen verpetzt. Es hat sie, glaube ich, aber auch einfach nicht sonderlich interessiert…
Am nächsten Tag im Hotel lief ich neugierig zur Rezeption um nachzusehen, ob da vielleicht wieder eine tagesaktuelle Süddeutsche oder vielleicht noch etwas anderes Interessantes liegen würde. Da lag aber nichts, was dort nicht auch schon am Vortag gelegen hatte. Auch an den kommenden Tagen änderte sich daran leider nichts – aber ich war ja schon bestens versorgt und hatte weit mehr bekommen, als ich auch nur zu hoffen gewagt hätte. So nahm ich dann also meine gedruckten Schätze frohgemut mit zurück in die DDR und zeigte sie meiner erstaunten Mutter. (Mein Vater lebte damals bereits im Westen, und erst anderthalb Jahre später, als unserem Ausreiseantrag endlich entsprochen wurde, sollten wir ihn wiedersehen.) Noch eine weitere hochspannende Lektüre hatte ich damals aus der Sowjetunion mitgebracht: Im Zug lag eine kleine Broschüre in verschiedenen Sprachen aus, darunter auch auf Deutsch. Das war eine Ansprache des Vorsitzenden der KPdSU in der Region Moskau über “Weitreichende Anstrengungen zum Umbau der Sozialistischen Gesellschaft”. Sein Name war mir bis dahin noch nicht bekannt gewesen. Er lautete: Boris Jelzin.
Überhaupt waren die Anzeichen des Wandels während unseres Aufenthalts im Land der Oktoberrevolution überall mit Händen zu greifen. Als unsere Reiseleiterin im Bus nach der Stadtrundfahrt wissen wollte, ob noch jemand von uns eine Frage hätte, nahm ich all meinen Mut zusammen und erkundigte mich nach ihrer Meinung über “Glasnost und Perestroika”. Daraufhin lächelte sie und erklärte uns, dass sie in Minsk “Glasnost und Perestroika” alle sehr lieben würden. Dass aber schon zwei Jahre später das Ende der DDR eingeläutet werden würde, das konnte sich damals natürlich noch niemand vorstellen.
Es dauerte dann auch noch mehrere Jahre, bis ich meine zweite Süddeutsche Zeitung las. Nach unserer Ausreise aus der DDR zu meinem Vater nach Bremen im Mai 1989 begnügte ich mich zunächst mit dem “Weserkurier”, den meine Eltern nun abonniert hatten, und kaufte mir ab und zu einen SPIEGEL dazu. Erst nach dem Abitur und den ersten Semestern meines Studiums in Bielefeld schlossen meine heutige Frau und ich ein Probe-Abo für die Süddeutsche ab, die uns fortan täglich ins Studentenwohnheim geliefert wurde. Seitdem, es war wohl etwa 1996 oder 1997, sind wir nie mehr von ihr losgekommen und verbringen täglich jahraus, jahrein mehrere Studen mit Zeitunglesen. Wollte man mich umbringen, dann müsste man mir meine tägliche Süddeutsche Zeitung wegnehmen. Daher gratuliere ich voll Dankbarkeit “meiner” SZ ganz herzlich zum 80. Geburtstag.
P.S.: Diesen Text habe ich vor zwei Monaten auch bei der Süddeutschen Zeitung eingereicht, aber leider wurde er nicht genommen. Immerhin erhielt ich vorgestern von einer Redakteurin eine sehr freundliche Absage. Oftmals ist ja die einseitige Liebe am unerschütterlichsten…
justament.de, 28.7.2025: Im Labyrinth der Träume
Die Ausstellung “Rendezvous der Träume. Surrealismus und deutsche Romantik” in der Kunsthalle Hamburg
Thomas Claer
Wenn es im Ostsee-Urlaub schon ständig regnet, dann setzt man sich eben einfach in den Zug nach Lübeck und besucht die Ausstellung “Thomas Mann und die Demokratie”. Dumm ist nur, wenn man dann nie in Lübeck ankommt, weil man wegen erheblicher Zugverspätung seinen Anschluss verpasst hat. So ist das nun mal mit dem Deutschland-Ticket… Aber man kann ja stattdessen immer noch nach Hamburg weiterfahren. Schließlich läuft dort auch gerade eine sehr besondere Ausstellung. Und länger als knapp zwei Stunden wird man doch bestimmt nicht brauchen für “Rendezvous der Träume. Surrealismus und deutsche Romantik”, denkt man sich.
Immerhin ist die Kunsthalle nur ein paar Schritte vom Bahnhof entfernt. Doch ist man erst einmal dort drinnen, merkt man schnell, dass hier ein langer Atem gefragt ist. Viel Text erwartet den Besucher in den Eingangsräumen, aber ohne dessen aufmerksame Lektüre vorab ist die Fülle von mehr als 300 Ausstellungsstücken, hauptsächlich Gemälden, aus einer Zeitspanne von über 150 Jahren kaum zu bewältigen. Der Gesamteindruck ist übermächtig und verstörend. In Kurzform lässt sich sagen: Es ist eine ebenso naheliegende wie überzeugende kuratorische Idee, den Surrealismus mit der Romantik kurzzuschließen, denn schließlich hat sich jener immer wieder ausdrücklich auf diese bezogen und hat diese jenen bereits in vieler Hinsicht antizipiert. Vor allem aber ist diese Ausstellung ein schöner Anlass, sich beiden Epochen einmal tiefergehend zu widmen, denn nur die wenigsten der hier gezeigten Werke dürften allgemein bekannt sein.
Gewiss, Caspar David Friedrich mit seinem “Wanderer über dem Nebelmeer” ist wohl jedem, der auch nur einen Hauch von Kunstinteresse mitbringt, schon mal irgendwo begegnet. Aber wer weiß schon, dass sein ebenfalls aus Vorpommern stammender frühromantischer Kollege Philipp Otto Runge eine Vielzahl von zweifellos surreal anmutenden Werken fabriziert hat? Auch mag das Titelbild dieser Kunstschau, der “Hausengel” von Max Ernst, vielen ein Begriff sein, schon weil dieses aufgeplusterte, rücksichtlos wütende und dabei alles um sich herum zertrampelnde Wesen so frappierend an Donald Trump erinnert. Doch wer kennt schon so fabelhafte surrealistische Künstlerinnen wie Dorothea Tanning, Valentine Hugo oder Leonora Carrington? Und dann sind da auch noch Künstler, die man eigentlich nicht unbedingt dem Surrealismus zugeordnet hätte, die aber in dieser Ausstellung recht plausibel gewissermaßen ihre surrealistische Seite zeigen, wie Paul Klee oder Joan Miro.
Als die knapp zwei Stunden fast schon rum sind und wir zum Zug müssen, haben wir gerade erst ein gutes Drittel der Ausstellung gesehen. Wir gehen also wenigstens noch mal im Schnelldurchgang durch die restlichen Räume in den oberen Etagen, doch dann habe ich plötzlich meine Frau verloren, als ich irgendwo hängengeblieben bin und sie offenbar zügig weitergegangen ist. Wir finden uns nicht mehr, und mein Handy liegt im Rucksack, unten im Schließfach. Das Sicherste ist nun also, schnell die Treppen runter zum Schließfach zu eilen. Doch das ist leichter gesagt als getan in diesem Irrgarten von einer Kunsthalle. Ich folge auf verschlungenen Wegen den “Ausgang”-Schildern, komme aber nicht dort raus, wo wir hineingegangen sind und sich die Schließfächer befinden, sondern im Museumsshop. Die Zeit drängt, und ich laufe panisch zurück, doch dann habe ich mich völlig verirrt. Schließlich lande ich wieder im Museumsshop, verlasse dann die Kunsthalle und finde endlich um die Ecke wieder den Eingangsbereich mit den Schließfächern. Ich rufe nun meine Frau, die mich noch irgendwo sucht, auf dem Handy an. Kurz darauf ist auch sie am Schließfach. Unseren Zug haben wir aber schon verpasst – und meine Frau ihren Online-Sitzungstermin am Abend. Und ich bin schuld daran!
Doch dann suche ich auf dem Handy nach der nächsten Zugverbindung. Dabei sehe ich, dass der Zug, den wir verpasst zu haben glaubten, in Wirklichkeit gar nicht gefahren ist. “Verbindung fällt aus”, steht dort. Also ist es gar nicht meine Schuld, dass wir verspätet zurückkommen, sondern die der Deutschen Bahn AG! Der nächste und letzte Zug zurück geht erst in zwei Stunden. Wir können also – man kann schon sagen: Glück im Unglück – nochmal zurück in die Kunsthalle und uns wenigstens noch für gut eine Stunde den Rest der Ausstellung ansehen. Dann ist unsere Aufnahmefähigkeit aber endgültig erschöpft, und wir müssen ja auch noch im Bahnhof etwas essen. Wenigstens mit dem letzten Zug klappt dann alles reibungslos. Ein Hoch auf das Deutschlandticket und den damaligen FDP-Minister, der es eingeführt hat!
Rendezvous der Träume. Surrealismus und deutsche Romantik
Kunsthalle Hamburg
Noch bis 12.10.2025
justament.de, 23.6.2025: Goethe als Chinese und Homunculus als KI
Manfred Osten und Helwig Schmidt-Glintzer diskutieren bei Matthes & Seitz in Berlin
Thomas Claer
Schon frühzeitig hat Manfred Osten, promovierter Jurist, Ex-Diplomat und versierter Goethe- und Asienkenner, auf die bestürzende Aktualität Goethes im Lichte der gesellschaftlichen und insbesondere auch technischen Entwicklungen unserer Gegenwart hingewiesen. Als mittlerweile 87-Jähriger hat Osten nun ein Alter erreicht, in dem er die Realisierung dessen, was Johann Wolfgang von Goethe auf künftige Generationen zukommen sah (dargelegt vor allem im vorsorglich “versiegelten” Faust II), zu großen Teilen noch gewissermaßen in Echtzeit miterleben kann.
Vor knapp zwei Dutzend Interessenten in den Berliner Verlagsräumen von Matthes & Seitz ging es in der von Andreas Rötzer moderierten Diskussion zwischen Osten und dem Sinologen Helwig Schmidt-Glintzer aber zuvörderst darum, wie Europa sich im Sinne Goethes am Vorbild Chinas im Wege einer stärkeren Bildungsorientierung und “Vertikalspannung” für jeden Einzelnen ausrichten sollte. 1827 hatte Goethe, selbst Konfuzius-Leser seit frühester Jugend, in seinem China-Bekenntnis eine grundlegende Erneuerung durch eine Art Ex-Oriente-Therapie gefordert – und zwar durch “strenge Mäßigung” im Sinne eines konsequent leistungs- und bildungsfokussierten Lebens. Die große 45-bändige chinesische Gesamtausgabe der Werke Goethes, die nun geplant ist, ehrt Goethe heute indirekt als den Vordenker der von Deng Xiao Ping eingeleiteten Bildungsrevolution im Geiste dieser Vertikalspannung. Mit dem Ergebnis, dass China in den zurückliegenden 40 Jahren erfolgreich den Weg beschritten hat, auf den Europa nun in Form einer “neuen Aufklärung” antworten sollte, so die Diskutanten, um seiner eigenen “Verzwergung” zu entkommen.
Besonders betonte Osten die Rolle des frühkindlichen Erlernens der chinesischen Schriftzeichen für die Entwicklung des menschlichen Gehirns. Die umfassende Vernetzung der Synapsen bei Formung des bildhaften Denken – das sei so nur durch intensives Lernen schon im frühesten Kindesalter möglich. Dementsprechend würde heute in China kaum ein Kind, das nicht bereits mehrere tausend Schriftzeichen beherrsche, auch nur die Aufnahmeprüfung für den Kindergarten bestehen. In europäischen Ländern hingegen blieben solche Möglichkeiten zur Nutzung humaner Ressourcen für die gegenwärtige und künftige Wissensgesellschaft leider weitgehend ungenutzt, da sich die Zeitfenster der besonders prägungsaktiven Phasen in der frühen Kindheit eben auch wieder schlössen. Die europäischen Aufklärer, so Osten, hätten im übrigen die besondere Bedeutung von Fleiß und Lerneifer schon deutlich vor Augen gehabt. So habe Immanuel Kant in seinem Aufsatz “Was ist Aufklärung?” als maßgeblichen Hinderungsgrund für eine aufgeklärte Weltsicht neben Feigheit vor allem auch Faulheit ausgemacht. Und bereits hundert Jahre zuvor habe Gottfried Wilhelm Leibniz, der im engen Austausch mit Jesuiten in China stand, die Einrichtung einer Meritokratie nach chinesischem Vorbild anstelle des seinerzeit in Europa bestehenden Erbadels gefordert.
Helwig Schmidt-Glintzer, der gerade wieder aus China zurückgekehrt war, wo er eine Tagung zum Thema “AI and Humanities” besucht hatte, wies ferner auf die im Westen vollkommen unterschätzte Konkurrenz zwischen den einzelnen chinesischen Universitäten sowie die enorme und gezielte Förderung nicht nur der MINT-Fächer in China hin. Darüber hinaus stellte er den Einfluss des Buddhismus heraus, dessen “mittlerer Weg” sich laut Osten erheblich mit den Lehren des Konfuzius überschneide, was bereits Goethe sehr bewusst gewesen sei.
Besonders interessant wurde es noch einmal am Ende, als aus dem Publikum Fragen u.a. zu Goethes Antizipationen heutiger technologischer Entwicklungen in seinen Werken gestellt wurden, einem Spezialgebiet von Manfred Osten. Nicht nur das Internet, so Osten, habe Goethe im Faust II präzise beschrieben:
„Verworren läuft der Welt Lauf wie ein Traum;
Ein neues Netz wird täglich angeknüpft,
Ein Maschenwerk wird flüchtig überworfen,
Der Knoten hält, der Faden läuft davon.“
Auch von KI und Robotik habe Goethe schon eine hinreichende Vorstellung gehabt, wie die Figur des Homunculus beweise:
„Ich seh’ in zierlicher Gestalt
Ein artig Männlein sich gebärden.
Was wollen wir, was will die Welt nun mehr?
Denn das Geheimnis liegt am Tage.
Gebt diesem Laute nur Gehör,
Er Wird zur Stimme, Wird zur Sprache.“
Laut Osten habe Goethe insbesondere im Faust II gezeigt, dass die Menschheit im Begriff sei, etwas zu erschaffen, was sie letztendlich nicht mehr unter Kontrolle halten könne.
So bleibt nur zu hoffen, dass Manfred Osten nach seinen diversen Publikationen tatsächlich noch ein weiteres Buch über “Goethe als Chinesen” herausbringen wird. Und dann in einigen Jahren, inschallah, womöglich sogar noch eins über “Goethe und die KI” auf dem dann aktuellen Stand der weiteren technologischen Entwicklung. “Was fruchtbar ist, allein ist wahr.”
justament.de, 17.3.2025: Auf nach Eisenhüttenstadt!
Die Ausstellung “PURe Visionen” im Museum Utopie und Alltag
Thomas Claer
Nach Eisenhüttenstadt, das bis 1961 den Namen Stalinstadt trug, wollte ich nie, denn dort musste es, so glaubte ich, ganz furchtbar sein: eine seelenlose Retortenstadt, errichtet in den Fünfzigerjahren irgendwo in der märkischen Pampa für die Arbeiter des EKO, des Eisenhüttenkombinats Ost, und von der DDR-Propaganda zur sozialistischen Musterstadt überhöht. Ohne mich für weitere Einzelheiten zu interessieren, stellte ich mir Eisenhüttenstadt bisher mein Leben lang als eine Art graue Betonwüste vor mit Hochhäusern im Brutaismus-Stil. Aber es empfiehlt sich immer, die eigenen Vorurteile auch einmal vor Ort zu überprüfen. Tatsächlich ist Eisenhüttenstadt nämlich, was ich nie für möglich gehalten hätte, ein architektonisches Juwel. Hochhäuser gibt es dort in Wirklichkeit keine, stattdessen überall top sanierte und wunderbar farbenfroh herausgeputzte Fünfgeschosser im Zuckerbäcker-Stil, die keineswegs an die triste Marzahner Allee der Kosmonauten erinnern, sondern vielmehr an die prächtige Karl-Marx-Allee in Berlin-Mitte und Friedrichhain.
Nur die Anbindung nach und von Berlin aus lässt zu wünschen übrig. Unser Zug nach Frankfurt an der Oder hatte so getrödelt, dass wir dort den Anschlusszug nach Eisenhüttenstadt verpassten und eine geschlagene Stunde bis zum nächsten ausharren mussten. Auf Entschuldigungen oder auch nur erklärende Lautsprecherdurchsagen auf dem Frankfurter Bahnhof warteten wir leider vergeblich. Doch wer sich schließlich bis Eisenhüttenstadt durchgekämpft hat, wird reichlich entschädigt. Natürlich ist es dort wie überall sonst in der ostdeutschen Provinz: Es hat seit 1990 eine starke Abwanderung gegeben. Die Zurückgebliebenen maulen und schimpfen auf den Westen, wählen AfD und BSW. Doch trotz allem hat diese Stadt ihre beinahe magische Aura behalten (oder zumindest diese infolge der umfassenden Wiederaufbauarbeiten der letzten Jahre wieder vollständig zurückerlangt). Noch sieben Dekaden nach seiner Errichtung innerhalb weniger Jahre atmet Eisenhüttenstdt den sehr besonderen Charme des ewig Experimentellen.
Das “Museum Utopie und Alltag”, das allerhand stilprägende Gegenstände aus der DDR beherbergt, befindet sich in einem früheren Kindergarten, der nach den aufgestellten Erkärungsschildern ein ganz außergewöhnlicher gewesen sein muss. Bei aller Kritik am totäliär-ideologischen Hintergrund sollte doch niemand den emphatischen Aufbruchsgeist der frühen Nachkriegszeit auch im sozialistischen deutschen Teilstaat unterschätzen. Hier waren großartige Architekten am Werk, vermutlich von echter idealistischer Begeisterung getragen, die alles, was ihnen zur Verfügung stand, in die Waagschale warfen. Das seit den Siebzigerjahren immer mehr um sich greifende realsozialistische Frustrations- und Erschöpfungssyndrom war zu jener frühen DDR-Zeit offenbar noch weit weg.
Dass die Deutsche Demokratische Republik aber auch noch in ihren letzten beiden Lebensjahrzehnten mitunter Beachtliches hervorgebracht hat, zeigt die besonders sehenswerte Sonderausstellung “PURe Visionen”, die sich ostdeutschen Design-Klassikern vom “Känguruh-Stuhl” bis zum “Garten-Ei” widmet und deren jeweilige Entstehungsgeschichte beleuchtet. Überraschenderweise haben viele dieser formgestalterischen Besonderheiten einen Ost-West-Hintergrund, wie es in jenen Jahren der Entspannungspolitik und vielfältigen systemübergreifenden deutsch-deutschen Kooperationen durchaus häufiger vorgekommen ist. So macht man sich letztendlich voller bewegender Eindrücke auf den Heimweg nach Berlin und ist froh darüber, das eigene bislang so grotesk ungerechte Bild von Eisenhüttenstadt nun endlich einmal substantiell korrigiert zu haben.
PURe Visionen
Sonderausstellung im Museum Utopie und Alltag
Erich-Weinert-Allee 3, 15890 Eisenhüttenstadt
Noch bis 30. März 2025
Eintritt: 4,00 Euro (ermäßigt 2,00 Euro)
justament.de, 19.8.2024: Zwei Lehrerinnen, Teil 2
Recht historisch: So war Schule in der DDR
Thomas Claer
Unsere neue Klassenlehrerin ab der 5. Klasse, Frau D., begegnete uns von Anfang an mit großer Freundlichkeit. Dabei schloss sie, soweit ich mich erinnere, auch ausnahmslos alle gleichermaßen in ihre Zuwendung ein. Obwohl sie ebenso wie ihre Vorgängerin Frau K. Parteimitglied war, interpretierte sie ihre Rolle doch grundlegend anders. Kaum jemals führte sie mit uns politische Diskussionen, wobei sich das in den von ihr bei uns unterrichteten Fächern, Russisch und Musik, wohl auch weniger aufdrängte als zuvor in Deutsch bei Frau K. Schon ganz am Anfang verkündete Frau D. uns ihr Motto, das sie aus einer russischen Fabel entlehnt hatte: “Wie man in den Wald hineinruft, so kommt es auch wieder heraus.” So ähnlich habe ich es viele Jahre später auch immer meinen Studenten gesagt, und so halten es wohl auch noch heute viele Lehrer und Dozenten mit ihren Schülern und Studenten: “Wenn ihr mir keinen Ärger macht, dann mache ich euch auch keinen.” Mir imponierte dieser Pragmatismus von Frau D. schon damals sehr. Sie drohte uns auch nicht, setzte uns nicht ständig unter Druck und machte sogar noch einen ziemlich interessanten und lebendigen Unterricht. Mit Frau D. als Klassenlehrerin ging daher ein kollektives Aufatmen durch unsere Klasse.
Natürlich fragte auch Frau D. mich irgendwann in der 5. Klasse, ob ich nicht im Thälmann-Pionierrat mitarbeiten wolle. (Seit der vierten Klasse trugen wir ja schon die roten Halstücher der Thälmann-Pioniere und nicht mehr die blauen der Jungpioniere.) Und ich sagte dann das, was ich immer sagte, wenn ich danach gefragt wurde, so etwas wie “Och, nee.” Aber Frau D. blieb hartnäckig: “Warum eigentlich nicht?” Und ich begann dann zu lavieren: “Ach naja, ich weiß nicht. Ich möchte nicht so gerne…” Und nun kam Frau D., die genau wusste, wie sehr ich mich für Fußball interessierte, mit einem für mich völlig überraschenden Vorschlag. “Du könntest doch die Sportberichterstattung im Pionierrat übernehmen! Da sollte auch jemand alle anderen über sportliche Ereignisse informieren.” Auf diese Weise wollte sie mich also locken, und tatsächlich kriegte sie mich damit. Als ich dann schließlich im Thälmann-Pionierrat saß, merkte ich allerdings bald, dass mich dort niemand nach sportlichen Ereignissen fragte. Aber jetzt saß ich nun einmal da drin, und blieb es auch auf Dauer.
Später, ab der 8. Klasse, als ich nach unserem Umzug längst eine andere Schule besuchte, sollte ich sogar Verantwortlicher für die Gestaltung der Wandzeitung in der FDJ-Leitung werden. Und da begann ich dann, eine von mir erdachte Strategie anzuwenden, die man Subversion durch groteske Übererfüllung der Vorgaben nennen könnte. Ich schrieb politische Artikel für die Wandzeitung, die aus einer Aneinanderreihung ideologischer Floskeln in vollkommen übertriebener Form bestanden. Vor beinahe jedes Substantiv platzierte ich Adjektive wie “ruhmreich”, “glorreich” oder “heldenhaft”, auch wenn sie dort eigentlich überhaupt nicht hinpassten. Doch niemand, wirklich niemand nahm Notiz von meinen Verballhornungen. Die Lehrer fanden, was ich da geschrieben hatte, “sehr schön”. Und ansonsten hat es vermutlich nie jemand gelesen.
Aber zurück in die 5. Klasse und zu Frau D. Eine große Überraschung war es für mich, als mein Vater mir nach dem ersten Elternabend mit Frau D. erklärte, von nun an im Elternaktiv der Klasse mitzuarbeiten. Mein Vater im Elternaktiv?! Das konnte doch nicht wahr sein! Er hatte doch bis dahin immer großen Wert darauf gelegt, sich aus solchen Dingen komplett herauszuhalten. Doch nun hatte ihn offensichtlich Frau D. irgendwie dazu überredet. Keine Ahnung, wie sie das geschafft hatte, aber sie hatte ja auch eine durchaus charmante Art… Sie war wohl einige Jahre jünger als Frau K., wenn auch nicht viel jünger. Ich vermute, dass Frau K. damals so um die 50 gewesen sein muss und Frau D. vielleicht Anfang 40…
Doch die vielen Freiheiten, die Frau D. uns ließ, stiegen uns dann irgendwann zu Kopfe. So oft hatte sie uns gesagt, dass sie immer ein offenes Ohr für unsere Sorgen und Probleme hätte und dass wir ihr auch ruhig ehrlich unsere Meinung sagen könnten. Und dann – es könnte in der 6. Klasse gewesen sein – taten es einige wirklich. “Wozu wählen wir denn den Thälmann-Pionierrat eigentlich in einer extra dazu einberufenen Versammlung, wenn das Ergebnis doch immer schon vorher feststeht und nie anders als einstimmig zustande kommt?”, wurde Frau D. gefragt. Und außerdem seien doch gar nicht die beliebtesten Schüler der Klasse im Pionierrat, sondern nur die mit den besten Noten. Manche davon, besonders unsere notorischen Klassenstreberinnen, seien aber doch eigentlich eher unbeliebt. Die würden bestimmt nicht in den Pionierrat gewählt werden, wenn wir frei darüber abstimmen könnten. Naja, sagte da Frau D. zu uns, das mache man nun einmal so bei uns. “Aber wenn ihr wollt, dann schreibt doch mal jeder fünf Namen auf einen Zettel, wen ihr am liebsten im Pionierrat haben wollt.” Das taten wir dann, und heraus kam, dass die Vorsitzende unseres Pionierrates und ihre Stellvertreterin weit abgeschlagen am Ende landeten. Das schien auch Frau D. zu überraschen. Sollten also die betreffenden beiden Musterschülerinnen wirklich bei der nächsten Wahlversammlung aus dem Pionierrat geworfen werden? Was hätten dann wohl deren Eltern dazu gesagt? Wie sollte Frau D. aus dieser Nummer wieder rauskommen?!
Doch da musste Frau D. gar nicht lange überlegen. Sie legte einfach fest, dass der Pionierrat mit der nächsten Wahlversammlung von 5 auf 7 Schüler aufgestockt wurde, und so konnten die bisher noch nicht darin vertretenen Beliebtheitsköniginnen ebenso dort mitmachen wie unsere beiden weniger populären Musterschülerinnen. Eine wirklich großartige, ja salomonische Entscheidung! Politisch gesehen waren das damals, wohl ca. Ende 1984, wohl schon die ersten Vorboten von Gorbatschow, Glasnost und Perestroika… Bald darauf habe ich nach dem besagten Umzug meiner Familie diese Schule verlassen und dann nicht mehr viel von Frau D. gehört, geschweige denn von Frau K. Was ich aber aus diesen kindlichen Erfahrungen mit meinen beiden so unterschiedlichen Klassenlehrerinnen dauerhaft mitgenommen habe, ist die Erkenntnis, dass es zumeist und fast überall mehr auf die einzelnen handelnden Person ankommt als auf die jeweils bestehenden Strukturen. Wie mein späterer Deutschlehrer in Bremen immer gesagt hat: “Es gibt immer so’ne und so’ne.” Und auch in den schlimmsten Systemen und Parteien gibt es mutmaßlich immer irgendwo anständige Menschen. Zumindest das kann einem doch etwas Hoffnung machen in den aktuell so schwierigen Zeiten.
justament.de, 12.8.2024: Zwei Lehrerinnen, Teil 1
Zwei Lehrerinnen, Teil 1
Recht historisch: So war Schule in der DDR
Thomas Claer
Wenn ich auf meine Schulzeit in den späten Siebziger- und Achtzigerjahren in der DDR zurückblicke, dann denke ich oft an meine beiden Klassenlehrerinnen in Wismar, die mein kindliches Ich beide tief beeindruckt haben – wenn auch auf jeweils unterschiedliche, ja sogar ziemlich entgegengesetzte Weise.
Die erste Klassenlehrerin, Frau K., war vier Jahre lang, von der ersten bis zur vierten Klasse, also von Herbst 1978 bis Sommer 1982, für uns verantwortlich, was natürlich im Leben von so jungen Menschen, wie wir es damals waren, eine beinahe endlos lange Zeit gewesen ist. Frau K. war überaus streng in jeder Hinsicht. Ich kann mich nicht erinnern, jemals einem so strengen und autoritären Menschen begegnet zu sein. Selbst meine Mutter, die auch überall als Respektsperson galt, war nicht annähernd so streng wie sie. Frau K. stand aber auch voll und ganz (im Gegensatz zu meinen Eltern) für politische Linientreue. Dabei lag ihr, anders als manchen ihrer Kolleginnen und Kollegen, deutlich weniger die jubelnde Begeisterung über die angeblich großen Errungenschaften des Sozialismus als vielmehr die unbedingte Wachsamkeit gegenüber dem imaginierten Klassenfeind. Mit welchem Abscheu sie die Worte USA und BRD oder gar NATO aussprach, wenn sie im Deutschunterricht die aktuellen politischen Ereignisse mit uns diskutierte! Stets forderte sie uns auf, Stellung zu beziehen zu irgendwelchen Begebenheiten. Wenn unsere Klassenstreberinnen ihr dann in ihrem Hass auf die “Lügen des Imperialismus” beipflichteten, zeigte sie deutlich ihre Genugtuung. Wenn aber, was häufiger vorkam, sich niemand meldete, weil wir kleinen Knirpse und Knirpsinnen oft auch einfach nicht wussten, was wir sagen sollten, sah sie uns finster und durchdringend an und sagte dann halblaut, wobei sie ein Auge halb zukniff: “Keine Meinung ist auch eine Meinung.” Bei Frau K. musste man immer ein schlechtes Gewissen haben. Oft dachte ich mir irritiert: “Bin ich jetzt ein Klassenfeind? Ein Gegner des Sozialismus? Nur weil ich nichts gesagt habe?”
Man muss Frau K. zugute halten, dass sie ganz offensichtlich felsenfest an all das glaubte, was sie uns erzählte. Die leicht augenzwinkernde Dienst-nach-Vorschrift-Haltung manch anderer Lehrer, bei denen man sich nie so ganz sicher war, was sie wirklich dachten, ging ihr vollkommen ab. Sie war das, was man damals eine “Überzeugte”, eine “Hundertprozentige” nannte. Die gab es zwar, aber es war eine überschaubare Minderheit. Die Mehrzahl auch und gerade unter den Parteigenossen war eher pragmatisch eingestellt. Später als Jugendlicher, als ich mit wachsendem politischen Bewusstsein immer genauer hinzuhören begann, wer wann und wo was sagte, bemerkte ich, dass die DDR-kritischsten Äußerungen sogar oftmals von Parteimitgliedern kamen, allerdings nur im privaten Umfeld.
Unvergesslich ist mir geblieben, wie einer meiner Mitschüler offenbar denunziert worden war, weil er gesagt haben sollte, unsere Horterzieherin, Frau R., sei ja wohl “ein Albtraum”. Unsere Klassenlehrerin Frau K. fragte in der Deutschstunde unvermittelt, ob jemand von uns wisse, was ein Albtraum sei. Als sich niemand meldete, nahm sie den Denunzierten aufs Korn, trat dicht an ihn heran, nannte ihn beim Namen und forderte ihn auf zu erklären, was ein Albtraum sei. Als er vorgab, es nicht zu wissen, erklärte Frau K. der Klasse, dass ein Albtraum “etwas ganz Schlimmes” sei. Und noch schlimmer sei es, einen Menschen als Albtraum zu bezeichnen, was aber, ha!, unser Mitschüler getan habe – und das auch noch in Bezug auf unsere Horterzieherin. Wie wir anderen das denn finden würden?! Sofort gingen die Finger hoch: “Frau R. ist immer lieb und nett zu uns” (was nun wirklich nicht stimmte, denn sie war mit Grund äußerst unbeliebt), und niemand dürfe sie deshalb so bezeichnen. Das reichte Frau K. aber noch nicht. Sie wollte immer noch mehr Verurteilungen unseres Mitschülers von uns hören. Ein Schlauberger äußerte sich daraufhin gewitzt und diplomatisch: “Angenommen, nur mal angenommen, dass Frau R. wirklich ein Albtraum wäre, so dürfte man das doch nicht sagen, denn das sei unverschämt.” Ich sagte nichts dazu, wie eigentlich fast immer in solchen Situationen, obwohl ich sonst durchaus gesprächig gewesen bin. Und am Ende kam dann wieder von Frau K. ihr drohendes “Keine Meinung ist auch eine Meinung.”
Mich hatte sie sowieso immer auf dem Kieker. Dass ich als recht guter Schüler mich hartnäckig weigerte, in den Gruppenrat und später Jungpionierrat einzutreten, musste ihr natürlich sehr verdächtig vorkommen. Womöglich war ich ja vom Elternhaus irgendwie staatsfeindlich beeinflusst. Das war aber gar nicht der Fall, denn dazu waren meine Eltern viel zu vorsichtig. Ich hatte nur einfach keine Lust dazu, weil mir das ganze politische Zeug irgendwie sehr unsympathisch war. Und immerhin drängten mich meine Eltern auch nicht, in den Jungpionierrat zu gehen, was ich ihnen aus heutiger Sicht hoch anrechne. Denn damals hatten sie bestimmt noch keine Ausreisepläne in den Westen. Und wer in diesem Staat Karriere machen wollte, der tat gut daran, von klein auf, solche Ämter zu bekleiden. Aber ich wollte einfach nicht. Da musste dann später schon eine andere Lehrerin kommen mit gänzlich anderen Methoden…
(Wird fortgesetzt.)
justament.de, 13.11.2023: Mops, Nudel, Badewanne – und früher war mehr Lametta
Zum 100. Geburtstag des großen Humoristen Vicco v. Bülow
Thomas Claer
Die Deutschen und der Humor, das ist zweifellos eine schon von jeher prekäre Beziehung. Doch muss man wohl sagen: So viel Lustiges auf höchstem Niveau wie heute gab es hierzulande noch nie in den Medien – und das in globalpolitisch gruseligen Zeiten wie diesen! Ein maßgeblicher Wegbereiter für alle unsere heutigen Meister des Komischen war einer, der als Offizier in der Deutschen Wehrmacht gewissermaßen selbst durch die Hölle gegangen ist und sich anschließend daranmachte, eine zutiefst erschütterte und traumatisierte Nachkriegsgesellschaft zu bespaßen. Vor allem hat er dabei immer wieder die naturgemäß ernsthafte Attitüde der damals zeittypischen “autoritären Persönlichkeit” aufs Korn genommen und der Lächerlichkeit preisgegeben. Dass ein nicht ganz kleiner Teil der Loriot-Sketche heute nicht mehr so ohne weiteres funktioniert, sollte uns aufatmen lassen, denn die heutige Gesellschaft ist – verglichen mit jener vor einigen Jahrzehnten, der Loriot den Spiegel vorgehalten hat, – erkennbar eine andere geworden: weitaus freier, lockerer und entspannter. Das Standesrenommee der Hotelbadewannen-Männer (“Sie wissen wohl nicht, wen sie vor sich haben?”), der fanatische Ordnungssinn des sich am schiefen Bild störenden Anzugträgers, die umständlich-verdruckste Vorgehensweise des Kavaliers mit der Nudel an der Nase – das alles gibt es in dieser Form wohl mittlerweile nicht mehr. Gleiches gilt vermutlich auch für die beiden Filmkritiker im Fernsehstudio, die sich so verbissen wie wortgewaltig über einen Klamauk-Kurzfilm in die Wolle kriegen.
Doch ist manches in Loriots Werken dann doch auch überzeitlich-universell. Das Auseinanderklaffen von Anspruch und Umsetzbarkeit, von Wunsch und Wirklichkeit, erzeugt nun einmal in jeder Gesellschaft Komik. Besonders Loriots grandiose Doppelbegabung als Zeichen- und Sprachkünstler – auf den Spuren von Wilhelm Busch sozusagen – lässt ihn unter Deutschlands Humoristen als Solitär erscheinen. Und dabei verkörperte er die neue Zeit nicht zuletzt auch in persona: als Angehöriger einer preußischen Adelsfamilie, der statt einer militärischen oder wenigstens gehoben administrativen Laufbahn letztendlich eine solche als Spaßmacher eingeschlagen hat. Gestern wäre Deutschlands witzigster Blaublütiger 100 Jahre alt geworden.
justament.de, 2.10.2023: Als die Welt rund war
Recht historisch: Vor 30 Jahren wurde die DDR-Fußballzeitschrift Fuwo eingestellt – nach fast viereinhalb Jahrzehnten
Thomas Claer
Damals, in meiner Kindheit und Jugend in den Achtzigern, hatte ich einen Lieblingswochentag, und das war der Dienstag. Warum gerade Dienstag? Weil Dienstag Fuwo-Tag war. Es erschien, von mir immer aufs Neue heiß ersehnt, die wöchentliche Ausgabe der “Neuen Fußballwoche”, kurz Fuwo. Sie enthielt beinahe alles, was mein kindliches und jugendliches Herz zu jener Zeit begehrte: nämlich die ausführliche Berichterstattung über die maßgeblichen Fußballspiele des zurückliegenden Wochenendes, zumindest über jene in der Deutschen Demokratischen Republik, dazu allerhand Zahlen und Statistik sowie – immerhin – die Ergebnisse und Tabellen aus den anderen Ländern Europas, darunter auch die von drüben aus der Bundesliga. Noch interessanter wären allenfalls Spielberichte über den West-Fußball gewesen, aber an so etwas Ausgefallenes war zu jener Zeit der deutschen Teilung natürlich nicht zu denken.
Für mich war seinerzeit die Fuwo – neben der Comic-Zeitschrift Mosaik – der prägende Lesestoff schlechthin. Seit meiner ersten Ausgabe, Heft 1/1981, habe ich bis zum bitteren Ende kein Heft verpasst. Wobei allerdings die Fuwo, man muss es leider so hart sagen, schon ab Mitte 1990 eigentlich gar nicht mehr sie selbst war. Mit Mauerfall und Wiedervereinigung wurde nämlich die einzige Fußballzeitschrift der DDR einer inhaltlichen, optischen und sprachlichen Modernisierung unterzogen, durch die leider alles von ihrem vormaligen Charme verlorenging. Dass dieses nun vorgeblich marktgängige kunterbunte Machwerk aus fetten Überschriften und reißerischer Aufmachung schließlich eingestellt wurde, war dann auch nicht mehr so schade. Der Verlust der alten DDR-Fuwo dagegen umso mehr.
Was sich heute sicherlich niemand mehr vorstellen kann: Das sprachliche Niveau der Fuwo war zu DDR-Zeiten, zumal aus heutiger Sicht, überragend. Mein schon in den unteren Schulklassen allgemein als bemerkenswert eingeschätztes Ausdrucksvermögen verdankte ich nicht zuletzt meiner ausdauernden und sorgfältigen Fuwo-Lektüre. Die Fußballberichte waren durch die Bank bildungssprachlich verfasst. “Dynamo wahrte den Nimbus”, “ergo: der Sieg war verdient”, “die Zuschauer waren konsterniert”, der Trainer musste konstatieren”, “das hieße Eulen nach Athen tragen”… Beinahe alle meine Fremdwörter und sonstigen Redewendungen hatte ich aus der Fuwo. Möglich war so etwas, weil dort eine Riege von studierten Journalisten und Germanisten in aller Seelenruhe vor sich hin werkeln durfte. Aktualität und Schnelligkeit? War nicht so wichtig. Es genügte völlig, dass die Berichte übers vergangene Fußballwochenende am Dienstag erschienen. Die Leser? Wurden nicht gefragt. Sie hatten ja auch keine Alternative, denn es war in der DDR nur eine Fußballzeitschrift vorgesehen – zum Preis von 50 Pfennigen, unverändert seit 1949 bis 1990, denn im Sozialismus durfte es ja keine Inflation geben. Das Kontingent der gedruckten Hefte dürfte sich über die Jahre auch kaum verändert haben. Stets war es in der DDR das Problem der Leser, noch ein Exemplar der begehrten Zeitschriften, zu denen auch die Fuwo gehörte, abzubekommen. Dafür türmten sich dann in den Zeitungskiosken so unverkäufliche, weil unfassbar langweilige Printerzeugnisse wie “Sowjetfrau” oder “Sputnik”. Jedenfalls bis Gorbatschow in der Sowjetunion das Ruder übernahm und dank Glasnost und Perestroika die übersetzten Sowjet-Magazine plötzlich super interessant und in der DDR somit doch noch zur Bückware wurden…
Natürlich hat es auch etwas sehr Ironisches, dass ausgerechnet in einem durch und durch unfreien Land jahrzehntelang einige besonders niveauvolle Zeitschriften erscheinen konnten (neben Fuwo und Mosaik auch die Wochenpost oder das Magazin), die unter marktwirtschaftlichen Bedingungen kaum überlebensfähig gewesen wären – und es nach der Wende dann ja überwiegend auch nicht waren. Aber so ist es nun einmal gewesen. Manchmal braucht es eben auch Biotope jenseits der Marktlogik, damit Außergewöhnliches entstehen kann. Der Preis, den etwa die Fuwo-Journalisten für ihre vielen Freiheiten zu zahlen hatten, war es, wöchentlich ein bis zwei Seiten des Blattes mit sozialistischem Propaganda-Quatsch zu füllen – um dafür auf den restlichen 22 Seiten von der Obrigkeit in Ruhe gelassen zu werden…
Besonders erfreute ich mich über die Jahre an den in der Fuwo so zahlreichen Statistiken – und an den Auslandsspielergebnissen und –tabellen, die – jedenfalls in der DDR – nur in der Fuwo und nirgends sonst abgedruckt waren. Bald hatte ich in jeder Liga und in jedem Land eine Lieblingsmannschaft, die ich nur aufgrund ihres wohlklingenden Namens ausgesucht hatte. Meine Vorliebe galt dabei besonders zungenbrecherischen Namen wie Videoton Székesfehérvár aus Ungarn oder Dnepr Dnepropetrowsk aus der Sowjetunion. Insofern war die Fuwo für mich immer auch eine Art Tor zur Welt.
Eine ganz andere, überraschende Seite der Fuwo lernte ich allerdings in ihren Silvesterausgaben, d.h. im jeweils letzten Heft eines Jahres, kennen. Während es in der Fuwo nämlich ansonsten eher ernsthaft und betulich zuging, gab es am Jahresende immer vier Seiten mit ausgelassenem Frohsinn und erstaunlich freizügigen Fotos, unter denen dann auch noch anzügliche Sprüche standen. So fragte etwa in der Ausgabe 52/1981 eine splitternackte junge Dame am Strand mit einem Holzpfosten in der Hand: “Hast du noch ‘ne Querlatte, Benno?” Im Heft 52/1986 erklärte eine barbusige Schönheit sogar: “Gleich wird er mit meinen Bällen spielen.” Tja, im Westen gab es Vergleichbares täglich in der BILD-Zeitung, in der DDR hingegen nur einmal im Jahr in der Fuwo.
justament.de, 9.1.2023: Ein Kind der Sesamstraße
Justament-Autor Thomas Claer gratuliert zum 50. Geburtstag ihrer deutschen Version
Wodurch ist ein DDR-Kind in den Siebzigerjahren am nachhaltigsten beeinflusst worden? Das mag bei jedem anders gewesen sein. Für mich jedenfalls kann ich voll Dankbarkeit sagen: nicht nur durch die nach heutigen Maßstäben ziemlich autoritäre Erziehung in Elternhaus und staatlichen Einrichtungen, wo es immer nur hieß “Du sollst…”, “Du musst… oder “Du darfst nicht…”, sondern mindestens ebenso durch die tägliche “Sesamstraße” aus dem Westfernsehen, deren Motto etwa im grandiosen “Egal-Song” lautete: “Es ist egal, du bist, wie du bist.” Man könnte das auch übersetzen mit “Die Würde des Kindes ist unantastbar.”
Tatsächlich jeden Tag eine halbe Stunde lang lief in meiner Kindheit die Sesamstraße, außer donnerstags, da kam die ähnlich gute “Sendung mit der “Maus”. Und dieser fröhlich-bunte Spaß mit Puppen und Monstern und lustigen Liedern war ein ziemlicher Kontrast zum Kinderfernsehen Ost, das schon rein quantitativ nicht mit seinem westlichen Pendant mithalten konnte. Nun hatte das DDR-Programm für den Nachwuchs zweifellos auch seine Vorzüge, doch spielte es sich bezeichnenderweise zumeist in einer Parallelwelt zum Alltagsleben ab – im “Märchenwald”, und der lag wiederum im “Märchenland”. Anders die ganz überwiegend im damaligen “Hier und Jetzt” angesiedelte Sesamstraße. Ironischerweise waren nämlich in der Zeit nach 1968 die westlichen Kindersendungen oftmals politischer als die östlichen. Bürgte unter den ideologisch strengen DDR-Verhältnissen vor allem der unpolitische Charakter des Kinderprogramms für dessen Qualität, war es im freien Westen genau andersherum. In der “Sesamstraße” wehte ein neuer frischer Wind, der nicht zuletzt auch die überkommenen deutschen Erziehungskonzepte infrage stellte. Man muss betonen, dass es zu jener Zeit noch gang und gäbe war, im Osten wie im Westen, zu sagen: “Eine ordentliche Tracht Prügel hat noch keinem Kind geschadet.” Und dass Kinder grundsätzlich den Mund zu halten hatten, das ist wohl noch bis zum Ende der DDR so geblieben.
Für mich jedenfalls war das westliche Reformpädagogik-Fernsehen ganz großartig. Zumal die Macher der deutschen “Sesamstraße” gewissermaßen auch der ersten Generation dieser besagten Erziehung im neuen Geiste angehörten. Alles wirkte so frisch und unbekümmert, so experimentell und improvisiert. Und wie liebte ich die Puppen und Darsteller, besonders eine ganze Reihe von Nebenfiguren. Vor Graf Zahl, das muss ich zugeben, hatte ich in jüngeren Jahren noch richtig Angst, aber natürlich war es ein wohliges Gruseln. Umwerfend komisch war z.B. Don Schnulze, der genialische Sänger und Pianist, der immer wieder verzweifelt mit dem Kopf auf die Tasten schlug, wenn ihm zu seinen Kompositionen die passende Textzeile nicht einfallen wollte. Nicht minder witzig war Schlemihl, der zwielichtige Geschäftsmann, der die Verlautbarungen seines Gegenübers vorzugsweise mit einem “Psssst, genau!” kommentierte. Oder Herbert Leichtfuß, der freundliche Erfinder, der immer geduldig seine neuesten technischen Werke erklärte und sich nicht einmal durch unkontrollierte Aktionen des Krümelmonsters aus dem Konzept bringen ließ. Auch Sherlock Humbug, der sich am Ende seiner Ermittlungen meistens selbst als Übeltäter überführte, sich für diese Erkenntnis aber anschließend noch von seinen jeweiligen Auftraggebern bezahlen ließ, war eine großartige Figur. Und dann natürlich Ernie und Bert, die beiden grundverschiedenen alterslosen Freunde eindeutig männlichen Geschlechts, die ohne Eltern oder sonstige Erzieher in einer gemeinsamen Wohnung zusammenlebten und sogar das Bett miteinander teilten. Kein Wunder, dass sie Jahrzehnte später zu Ikonen der Schwulenbewegung avancierten…
Was für ein Vergnügen es mir heute bereitet, mich durch die alten Sesamstraßen-Filmchen auf YouTube zu klicken! Sieht man sich dagegen mal eine heutige Sesamstraßen-Folge an, dann ist das eine fast schon schmerzhafte Erfahrung. Die neuen Puppen sind längst nicht mehr so gut wie die alten! Und die Puppen, die es früher schon gab, haben jetzt alle andere Stimmen, die überhaupt nicht zu ihnen passen. Auch inhaltlich ist das alles gar nicht mehr mit früher zu vergleichen. Nein, die Sesamstraße war früher wirklich um Längen besser! Die armen heutigen Kinder! Aber es ist ja schließlich auch kein Wunder, dass sich sowohl die Sesamstraße als auch man selbst in fünf Jahrzehnten ein wenig verändert hat. Alles Gute zum Jubiläum!
justament.de, 26.8.2019: Erst Extremsparen – und dann Rente mit 40?
Porträt eines Lebenskünstlers jenseits der „Fire-Bewegung“
Thomas Claer
Davon träumt wohl so mancher, der sein Leben im ewigen Hamsterrad von Job und Karriere verflucht: Einfach damit aufhören und trotzdem weiter gut leben können. Also nicht mit Hartz IV am Existenzminimum knapsen und auch nicht als Eremit und Selbstversorger ohne Geld in einer Berghütte leben. Nein, einfach so weiter machen wie bisher, sich auch mal etwas gönnen können, nur ohne Arbeit bzw. ohne Erwerbsarbeit. Denn etwas tun möchte man ja schon noch, nur nicht mehr für seinen Chef oder seine Firma und auch nicht als Selbständiger, wo einem alles über den Kopf wächst. Kurz gesagt, ein freies und selbstbestimmtes und unabhängiges und dabei auch noch entspanntes Leben führen. So etwas gibt es nicht? Oder wenn, dann nur im Schlaraffenland?
Die einen, die von so etwas träumen, streiten für ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle und jeden. Utopisch zwar, aber auf lange Sicht vielleicht doch nicht ganz ausgeschlossen, wenn unserer Gesellschaft durch den digitalen Wandel irgendwann einmal die Arbeit ausgehen sollte. Die anderen wollen darauf nicht warten und nehmen es selbst in die Hand. Die sogenannte „Fire-Bewegung“ propagiert seit 2011 den individuellen Weg zur finanziellen Unabhängigkeit durch – vorübergehendes – extremes Sparen, einen minimalistischen Lebensstil und kluges Investieren. Ihr Gründer ist der kanadischer Programmierer Mr. Money Mustache, dem es auf diese Weise sogar gelungen ist, bereits mit Anfang 30 in Rente zu gehen, und der über die näheren Umstände eifrig in seinem Blog berichtet.
Vier-Prozent-Regel
Grundannahme dieser sonderbaren Befreiungsbewegung ist die Vier-Prozent-Regel: Sie geht davon aus, dass sich bei kluger Geldanlage auf lange Sicht eine jährliche Rendite von 4 Prozent des angelegten Kapitals erzielen lässt. Das heißt, ein solcher Anteil kann den eigenen Rücklagen Jahr für Jahr entnommen werden, ohne dass die Substanz angegriffen würde. Wenn man nun weiß, wie viel Geld man pro Jahr bei sparsamer Lebensführung benötigt, um über die Runden zu kommen, dann kennt man bereits 4 Prozent der Summe seines zum Leben als Müßiggänger erforderlichen Vermögens. Und multipliziert mit 25 ergibt sich demnach genau der Betrag, den man zum sorgenfreien Leben braucht. Wer also 24.000 Euro pro Jahr zum Leben benötigt (dies entspricht 2.000 Euro pro Monat), der braucht gerade einmal 625.000 Euro Vermögen, um nicht mehr arbeiten zu müssen. Wer dagegen großzügiger mit monatlich 3.000 Euro kalkuliert, schließlich fallen ja auch noch Steuern und Sozialabgaben an, kommt auf einen Jahres-Bedarf von 36.000 Euro und benötigt folglich ein Vermögen i.H.v. 900.000 Euro. Kurzum, mit einer Summe von einer Million Euro sollte man in jedem Falle auf der sicheren Seite sein.
Wer wird Millionär?
Doch wie kommt man an solche Beträge, wenn es doch nur den wenigsten gelingt, den Lotto-Jackpot zu knacken oder bei „Wer wird Millionär?“ zu gewinnen? Die Antwort lautet: sparen und investieren. Wer einen gut bezahlten Job hat, verfügt über beste Voraussetzungen. Für alle anderen ist es zwar deutlich schwerer, aber auch nicht unmöglich. Jahrelang wird eisern jeden Monat etwas zur Seite gelegt und lukrativ an der Börse investiert. So lange, bis man die gewünschte Summe zusammen hat und seinen ungeliebten Job an den Nagel hängen kann.
Ach herrjeh, so etwas klappt doch nie im Leben, meinen Skeptiker. Und doch haben Journalisten-Kollegen (von SPIEGEL bis Süddeutsche Zeitung) im Rahmen ihrer Berichterstattung über die „Fire-Bewegung“ in den letzten Monaten schon eine Hand voll Vertreter dieser Weltanschauung ausfindig gemacht und porträtiert, bei denen diese Methode offenbar gut funktioniert hat. Nicht jeder allerdings, der auf diese Weise zu einem solchen (relativen) Reichtum gekommen ist, möchte dies auch öffentlich offenbaren. Kapital ist, wie jeder weiß, scheu wie ein Reh…
Ein Lebenskünstler erzählt
Wir treffen in Berlin jemanden, der ebenfalls nicht namentlich bekannt zu werden wünscht und der sich auch nicht unbedingt als Vertreter der „Fire-Bewegung“ sieht, da er sich, wie er sagt, alles ganz allein und ohne solche Einflüsse überlegt habe. Aber im Grunde genommen, das räumt er ein, habe er es schon ganz ähnlich gemacht. Johannes K. (Name von der Redaktion geändert) ist jetzt 47 Jahre alt. Seit drei Jahren ist er Millionär und somit finanziell unabhängig. Er ist weiterhin berufstätig, allerdings nur in geringfügigem Umfang. Sein heutiges Vermögen schätzt er auf ca. 1,5 Millionen Euro. „Vielleicht sind es auch zwanzig Prozent weniger oder mehr.“ So genau könne er es nicht sagen, da inzwischen über 90 Prozent davon in Immobilien steckten. Und dann erzählt er seine Geschichte.
„Als meine Frau und ich vor 17 Jahren nach Berlin kamen, hatten wir Ersparnisse von etwa 30.000 Euro“, berichtet er. Schon im Zivildienst und später im Studium habe er jeden Monat etwas zur Seite gelegt, meistens ein paar hundert Euro. Erst im Jahr 2000, zum ungünstigsten Zeitpunkt, hat er angefangen, einen Teil seiner Rücklagen in Aktien zu investieren und ist damit zunächst voll auf die Nase gefallen. Dann begann er aber, sich mit Value Investing zu beschäftigen, und hatte immerhin nach ein paar Jahren die Verluste aufgeholt. „Seitdem ging es im Wesentlichen nur noch aufwärts.“ Dennoch habe er wegen seines relativ niedrigen Einsatzes in all den Jahren insgesamt „nur“ gut 100.000 Euro an der Börse verdient, was einer Rendite von gut 550 Prozent aufs eigesetzte Kapital entspreche.
Freiberufler im Niedriglohn-Sektor
Aber wie hat er dann den Rest seines Vermögens verdient? Hatte er einen gut bezahlten Job? „Nein, überhaupt nicht“, winkt Johannes K. gleich ab. „Ich war anfangs Verlagspraktikant, später prekärer Freiberufler im Niedriglohn-Sektor.“ Zwischendurch habe er aber von 2003 bis 2006 einen Ich-AG-Gründer-Zuschuss in Höhe von insgesamt 14.000 Euro bezogen, den er komplett an der Börse investiert habe. Dennoch konnte er durch seinen ausgesprochen asketischen Lebensstil (sehr zum Leidwesen seiner Frau!) auch weiter jeden Monat ein paar hundert Euro zur Seite legen. Heute hat er – aber auch erst seit etwa einem Jahr – einen relativ gut bezahlten Job, den er allerdings nur stundenweise ausübt. „Eigentlich wäre ich ja jetzt nicht mehr darauf angewiesen“, schmunzelt Johannes K.
Aber wie ist er denn nun zu einem solchen Vermögen gekommen? Hat er geerbt? „Ja, auch das war nicht ganz unwesentlich“, räumt er ein, „wenn auch keineswegs alleinentscheidend.“ Im Jahr 2016 sind kurz nacheinander seine Eltern verstorben, bald darauf auch ein Onkel. „Ich schätze alle Zuschüsse, die mir meine Eltern zu ihren Lebzeiten nach und nach für Wohnungskäufe gegeben haben, auf insgesamt um die 100.000 Euro. 2016 kamen dann durch die Erbfälle, auch durch den Verkauf des Reihenhäuschens meiner Eltern, noch weitere 400.000 Euro hinzu.“ Erst dadurch konnte er Millionär werden. Bis dahin lag sein Vermögen bei „nur“ ca. 600.000 Euro. Doch seit den Erbschaften 2016 ist es durch die rasanten Preissteigerungen seiner Wohnungen bis heute um beinahe 50 Prozent angewachsen.
Rettung durch Immobilien
Letztlich ist er also durch Immobilieninvestments reich geworden. Aber wie konnte er die dafür notwendigen Kredite bekommen, so ohne gut bezahlten Job? „Gar nicht, wir haben beinahe alles ohne Kredite finanziert“, erinnert sich Johannes K. Nur ein einziges Mal, vor zwei Jahren, als für einen weiteren günstigen Wohnungskauf die Liquidität nicht ganz ausreichte, habe er sich von seinem Studienfreund 10.000 Euro für ein Jahr geliehen und das Darlehen dann noch vorfristig wieder zurückgezahlt. „Ansonsten hatten wir immer eine Eigenkapitalquote von 100 Prozent.“
Aber wie konnte das denn gelingen mit den Immobilien-Investments? So etwas kostet doch viel Geld? „Nicht damals, in den Nullerjahren, in Berlin.“ Und auch noch bis vor wenigen Jahren habe man am Berliner Stadtrand wahre Schnäppchen machen können. „Wir haben unsere selbstgenutzte Wohnung in Charlottenburg (3 Zi, 77 qm, sanierter Altbau) im Jahr 2007 für 97.000 Euro gekauft, finanziert je zur Hälfte aus Aktienverkäufen und durch den Zuschuss meiner Eltern. Heute ist sie das Vierfache wert.“ Seine weiteren Wohnungen, ausschließlich kleinere Einheiten in relativen Randlagen, kaufte er ab 2012 und lebt heute weitgehend von den Mieteinnahmen. „Alle unsere Wohnungen in Berlin – außer unserer zuletzt gekauften – sind heute schon mindestens das Doppelte von dem wert, was wir für sie bezahlt haben. Und sie steigen – zumindest noch – immer weiter und weiter im Wert.“ Um die 15 Prozent jährlich haben die Immobilienpreise in Berlin in den letzten Jahren zugelegt. Wohl denen, die voll investiert sind.
Kann das so weitergehen?
Doch fürchtet Johannes K. nicht, dass irgendwann die Blase platzen und er dann womöglich weitaus ärmer als derzeit dastehen könnte? Natürlich könne das irgendwann passieren, sagt er. „Aber wie es jetzt aussieht, wohl frühestens in ferner Zukunft. Vermutlich werden uns die Niedrigzinsen noch sehr lange Zeit erhalten bleiben, sodass auch weiterhin viel Geld in den deutschen Immobilienmarkt und insbesondere nach Berlin strömen wird. Und das trotz der schon ambitionierten Bewertungen.“
Das schöne Leben
Aber wie lebt es sich denn nun, so ohne finanzielle Nöte? „Eigentlich nicht viel anders als vorher. Es ist nur sehr beruhigend zu wissen, dass man nicht mehr jeden Cent umdrehen muss“, resümiert Johannes K. „Und ich genieße es sehr, immer ausreichend Freizeit zu haben, jeden Tag ausschlafen und viel Sport treiben zu können“, fügt er hinzu. Dennoch sei eine grundlegende Sparsamkeit so tief in ihm verwurzelt, dass er sich jetzt nicht mehr rundherum ändern könne. „Zum Verschwender werde ich also ganz sicher nicht mehr werden“, sagt er lachend. Mal irgendwann in einem Einfamilienhaus wohnen? Sich ein Auto kaufen? Oder teure Klamotten? „Nein, nie im Leben. Dann würde ich eher mein Geld an Bedürftige spenden.“Auch komme für ihn extrem umweltschädigendes Verhalten wie häufiges Reisen mit dem Flugzeug schon aus ethischen Gründen nicht infrage. Man müsse sich allerdings fortwährend um seine Geldanlagen kümmern. „Fast immer ist irgendwo irgendetwas zu organisieren oder zu bedenken. Aber genau das macht mir – jedenfalls bis jetzt noch – großen Spaß.“ Und schließlich legt Johannes K. auch Wert darauf, ein sozialer Vermieter zu sein, der sich, wann immer es erforderlich ist, für seine Mieter engagiert.
Lebensziele
Doch welche Ziele kann man sich noch setzen, wenn man eigentlich, zumindest finanziell gesehen, schon alles im Leben erreicht hat? „Das ist in der Tat ein Problem, ein Luxusproblem natürlich“, lacht Johannes K. Er habe sich erst langsam daran gewöhnen müssen, dass die Geldvermehrung nun nicht mehr an erster Stelle stehen müsse. „Was sollte das denn bringen, immer noch mehr Vermögen anzuhäufen, wenn man zu seinen Lebzeiten doch niemals alles ausgeben kann?“ Er versuche daher lieber, etwas Kreatives zu tun, für seine anderen Hobbies und Interessen zu leben, die es ja neben der Geldvermehrung auch noch gebe.
Könnte das jeder schaffen?
Aber glaubt er, dass auch anderen so etwas gelingen könnte wie ihm, die Erlangung finanzieller Unabhängigkeit durch Sparsamkeit und kluges Investieren? Johannes K. ist skeptisch. Er weiß, dass er zwar so manches richtig gemacht, vor allem aber auch sehr viel Glück gehabt hat. Das ganz entscheidende Glück, zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen zu sein. Denn all das, da gibt sich Johannes K. keinen Illusionen hin, sei so nur in Berlin möglich gewesen. Und das auch nur in den letzten anderthalb Jahrzehnten, in dieser völlig verrückten Zeit.








