justament.de, 22.7.2024: Schöngezoomt
Scheiben Spezial: Vor 40 Jahren erschien “1001 Nacht” von Klaus Lage
Thomas Claer
“Du wolltest dir bloß den Abend vertreiben…” Mit diesen Worten beginnt der berühmteste Song des heute 74-jährigen singenden Sozialarbeiters Klaus Lage, der als 20-Jähriger seiner niedersächsischen Heimatstadt Soltau den Rücken kehrte und sich wie so viele junge Westdeutsche seiner Generation im Aussteiger-Paradies West-Berlin ansiedelte. Dort jobbte er in sozialen Einrichtungen sowie als Erzieher in einem Kinderheim und machte nebenher als Sänger und Gitarrist in diversen Formationen von sich reden. Bis er dann in den Achtzigern eine erfolgreiche Solo-Karriere startete, zunächst mehr als Liedermacher, bald darauf als Kopf und Namensgeber einer klassischen Rockband. Es dauerte nicht lange, und der kleinwüchsig-untersetzte Vollbartträger mit der großartigen Soulstimme gehörte mit Single-Hits wie “1001 Nacht”, “Monopoli”, und “Faust auf Faust” zu den ganz großen Popstars im letzten Jahrzehnt vor der deutschen Wiedervereinigung.
Dabei machten ihn seine oftmals sehr direkten und anschaulichen Texte über Alltagsgeschichten bis hin zu fragwürdigen Details (Schweißperlen, Gerüche von Haaren) und überkorrekten Ausdeutungen von Frauentypsgeschmacksfragen (“Mit meinen Augen”) allerdings angreifbar – und sorgten nicht zuletzt für reichlich Hohn und Spott seiner Kritiker, denen er als gemütlicher Kumpeltyp von nebenan wohl auch einfach nicht glamourös genug für die Popkultur erschien… Als besonders umstritten galt von jeher auch der Text seines besagten Erfolgstitels “1001 Nacht”: Wie Geschwister hatten das lyrische Ich und die Nachbarstochter ihre Kindheit miteinander verbracht, vielerlei Freizeitaktivitäten gemeinsam unternommen, ohne jemals mehr als ein rein kameradschaftliches Interesse füreinander zu entwickeln (“Wir waren nur Freunde und wollten’s auch bleiben”). Doch dann, so heißt es im Songtext, habe es plötzlich “Zoom gemacht” – und sie seien ineinander verliebt gewesen. Eine doch reichlich unwahrscheinliche Konstellation, so denkt man sich. Schließlich hat doch die Humanethologie schon vor Jahrzehnten nachgewiesen, dass eine große Nähe in Kindheitstagen zuverlässig jedes spätere sexuelle Begehren der Betreffenden füreinander ausschließt, was offenbar einen natürlichen Schutzmechanismus gegen Inzestrisiken darstellt.
Ist also Klaus Lages Geschichte von “Tausendmal berührt, tausendmal ist nichts passiert” letztlich nur Bullshit? Nein, nicht ganz. Zwar ist es zutreffend, dass sich Verliebtheit, wie es z.B. im berüchtigten 44. Kapitel von “Die Welt als Wille und Vorstellung” des Philosophen Arthur Schopenhauer (1789-1860) mit dem Titel “Metaphysik der Geschlechtsliebe” heißt, zwischen zwei Menschen in aller Regel sofort bei ihrer ersten Begegnung, konkret bei ihrem ersten Blickkontakt, einstellt – oder gar nicht. Doch hat vor kurzem eine soziologische Studie ergeben, dass die Mehrheit aller hierzulande eingegangenen Partnerschaften unter Personen stattfinden, die sich bereits seit langen Jahren gekannt und anfänglich keineswegs ineinander verliebt gewesen sein sollen. Wie kann das sein? Hat also doch Klaus Lage Recht, und Schopenhauer und die Humanethologie haben Unrecht?! Zur Auflösung dieses bei näherer Betrachtung nur scheinbaren Widerspruchs sollte man sich vergägenwärtigen, dass vermutlich nur ein relativ kleiner Anteil aller Menschen in seiner enthusiastischen Verliebtheit auch auf Erwiderung beim jeweiligen Objekt seiner Begierde hoffen darf. Infolgedessen ist es naheliegend, dass sich die relativ Vielen, die in ihren primären Ambitionen leer ausgehen, dann schließlich – quasi sekundär – in pragmatischer Absicht untereinander zusammenfinden und sich ihr jeweiliges Gegenüber am Ende sprichwörtlich schöntrinken oder auch schönreden oder aber – wie im Song von Klaus Lage – schönzoomen. So gesehen beruht der große Erfolg von “1001 Nacht” womöglich auch darauf, dass hier ein reichlich beschönigendes Narrativ verbreitet wird. Denn wohl mancher wird sich gerne darin wiedererkennen, dass es bei ihm (oder ihr) nun einmal plötzlich und unerwartet “Zoom” gemacht habe – wie vor 40 Jahren im Song von Klaus Lage.
justament.de, 19.2.2024: Reichels Riffs mit 80
Achim Reichel auf “Schön war es doch! Das Abschiedskonzert”
Thomas Claer
Will ein gealterter Rockmusiker nicht irgendwann auf der Bühne tot umfallen, so wie der sprichwörtliche Cowboy, der am Lebensende beim Reiten aus dem Sattel kippt, so muss er den passenden Zeitpunkt für einen würdigen Abgang finden. Achim Reichel, deutscher Rockstar der ersten Stunde und seitdem über sechs Jahrzehnte im Musikgeschäft gut dabei, hat nun seinen 80. Geburtstag zum Anlass genommen, gewissermaßen die Gitarre an den Nagel zu hängen. Allerdings nicht ohne zuvor noch ein letztes Mal auf Tournee zu gehen und seinen Fans eine Doppel-CD mit seinem Abschiedskonzert zu bescheren.
Aber schon wieder eine Live-Platte von ihm? Es gab doch zuvor schon drei, nämlich zum 50., 60. und 70. Geburtstag. Was soll denn da jetzt noch drauf sein, was man nicht schon zur Genüge kennt?! Ein wenig skeptisch hört man also rein in “Schön war es doch! Das Abschiedskonzert”, um dann doch erleichtert festzustellen: So haben wir seine Songs noch nicht gehört – nämlich eingespielt unter Hinzuziehung eines Bläserensembles, das seine Band nicht nur bei bestimmten einzelnen, sondern bei mehr oder weniger allen Liedern unterstützt. Heraus kommt dabei ein weitgehend anderes Gewand seiner bekannten Gassenhauer. Es ist schon ziemlich mutig, Seemannslieder wie “Kuddel Daddel Du” oder “Halla Ballu Balle” mit ausgiebigen Trompeten-Soli auszuschmücken. Selbst “Aloha Heja He, das jüngst zum Überraschungs-Hit in China avancierte, kriegt nun Bläserklänge verpasst. Und man muss schon sagen: Achim Reichel beweist auch noch auf seinen mutmaßlich letzten musikalischen Metern, dass er immer für eine unerwartete Wendung gut ist.
Wenn man angesichts von immerhin 22 Songs auf den beiden Scheiben dennoch sein großes Bedauern darüber ausdrücken muss, dass so viele tolle Lieder von ihm leider wieder ausgespart wurden, dann spricht das zweifellos auch für die hohe Qualität seines Schaffens. Andererseits fragt man sich aber schon, warum es ausgerechnet seine recht mäßige Version des Volkslieds “Der Mond ist aufgegangen” aufs Album geschafft hat. Aber na gut, dafür gibt es diesmal sogar einen ganz neuen Song dazu, dessen Titelzeile zugleich für den Namen des Albums steht – und sicherlich auch ein passendes Fazit für Reichels Rückblick auf seine Musiker-Laufbahn abgibt: “Aber schön war es doch”, im Original ein alter Schlager von Hildegard Knef, wird – unterlegt mit Reichels unverwechselbaren Gitarrenriffs – zum gelungenen Schlusspunkt dieses stimmigen zweifachen Silberlings. Und vermutlich ja auch zum Schlusspunkt seiner Musikerkarriere – aber wer weiß das schon in diesem Business? Womöglich folgt ja 2034 auch noch das fünfte Live-Album zum 90. Geburtstag…
Achim Reichel
Schön war es doch! Das Abschiedskonzert (2CD)
Tangram / BMG 2024
ASIN: B0CPHGPP9C
www.justament.de, 16.5.2016: Uns Udo wird 70
Scheiben vor Gericht Spezial
Thomas Claer
Rockmusik in deutscher Sprache, das musste man sich erst mal trauen. Udo Lindenberg gehörte in den frühen Siebzigern zu den ersten, die sich daran versuchten. Zum einen bereicherte er mit den Texten seiner mitreißenden Songs die deutsche Sprache als origineller Sprücheklopfer („Alles klar auf der Andrea Doria“, „Die Rock’n‘ Roll-Gespenster sind weg vom Fenster“). Im Kosmos der Lindenberg-Texte war immer irgendwie „alles easy“, auch noch, als irgendwann niemand mehr so sprach wie er und schon gar nicht die Jugend.
Aber zum anderen war da auch noch der empfindsame junge Mann mit den langen Haaren und zunächst noch ohne den später obligatorischen Hut, der seine Irritation über diese Welt auf anrührende Weise besang: „Du spieltest Cello/ in jedem Saal in unserer Gegend / ich saß immer in der ersten Reihe/ und ich fand dich so erregend“. Unglaublich schöne, poetische, zärtliche, romantische Songs sind in diesen frühen Jahren entstanden: „Ich träume oft davon, ein Segelboot zu klau‘n“ etwa oder „Bitte keine Love-Story“. Und natürlich auch das berühmte „Mädchen aus Ost-Berlin“ (1973), das die zwischenmenschliche Seite der deutschen Teilung aus westlicher Sicht beschreibt.
Vielleicht war das Bemerkenswerteste an Udo Lindenbergs späteren Schaffensperioden, die in künstlerischer Hinsicht längst nicht mehr mit seinem überwältigenden Frühwerk mithalten konnten, sein unablässiges Engagement für seine vielen Fans in der DDR. Zu einer Zeit als sich die westdeutsche Jugend schon lange nicht mehr für ihre ostdeutschen Altersgenossen interessierte und Kritik an den Zuständen im Realsozialismus mitunter als entspannungsfeindliche Hetze verpönt war, forderte er unverdrossen eine „Rock’n‘ Roll-Arena in Jena“, wollte mit dem „Sonderzug nach Pankow“ zu Erich Honecker fahren, der ihn jahrelang nicht in der DDR auftreten ließ, und veralberte den notorisch humorlosen Staats- und Parteichef später erneut in „Der Generalsekretär“.
Nach der Wiedervereinigung fiel Udo Lindenberg dann in eine tiefe Schaffenskrise, aus der er sich erst 2008 mit dem fulminanten Comeback-Album „Stark wie zwei“ befreite. Seitdem ist er wieder obenauf, tourt unablässig und füllt ganze Stadien, woran früher nicht zu denken war. Es sei ihm von Herzen gegönnt. Besonders hoch anzurechnen ist ihm ferner sein beharrlicher Einsatz gegen Rechtsextremismus, insbesondere in Ostdeutschland. Am 17. Mai feiert der große Udo Lindenberg seinen 70. Geburtstag. Prostata!
www.justament.de, 14.9.2015: Erst das Model, dann die Kosaken
Die „Ukrainians“ präsentieren die Geschichte der Rockmusik – natürlich auf Ukrainisch!
Thomas Claer
Die Geburtsstunde der Ukrainians war in den späten Achtzigern. Peter Solowka, ukrainischstämmiger Gitarrist der damals sehr angesagten englischen Indie-Band „The Wedding Present“ spielte auf einer der legendären John-Peel-Sessions bei der BBC während einer Pause zwischen den Aufnahmen ein ukrainisches Volkslied vor sich hin, woraufhin DJ-Ikone John Peel die Band mit der Idee überraschte, sie solle doch mal eine Platte mit ukrainischen Volksliedern einspielen – durchsetzt mit Rock- und Punkelementen, versteht sich. Gesagt getan, es wurden noch zwei geeignete Gastmusiker engagiert, der fabelhafte Sänger und Geiger Len Liggins und der Mandolinenspieler Roman Remeynes – und heraus kam im April 1989 die völlig verrückte Mini-LP „Ukrainski Vistupi V Iwana Piela“, eine Platte, die Maßstäbe setzte für so ziemlich alles, was in diesem Genre fortan noch kommen sollte: von den Leningrad Cowboys bis zu Wladimir Kaminers Russendisko. Als Wedding-Present-Gitarrist Peter Solowka dann 1991 nach Differenzen mit Bandleader David Gedge aus der Band geworfen wurde, gründete er kurzentschlossen mit den besagten früheren Gastmusikern Len Liggins und Roman Remeynes seine eigene Combo – und das waren und sind noch heute die „Ukrainians“. Über die Jahre veröffentlichten sie fünf durchweg überzeugende Alben mit überwiegend eigenen Kompositionen zwischen Punkrock und ukrainischer Folklore.
Eine besondere Spezialität der Band waren aber seit 1993, als sie eine grandiose EP mit Liedern der Kollegen von The Smiths im ukrainischen Klangbild veröffentlichte („Pisni is The Smiths“), Coverversionen westlicher Rocksongs im krawallfolkloristisch-ukrainischen Gewand. Weitere Song-Adaptionen dieser Art von Kraftwerk- (1996), Prince- (1996) und Sexpistols-Liedern (2002) folgten. Und welch eine Freude – nun präsentieren sie uns ein ganzes Album von dieser Sorte! Die inzwischen bis auf die Gründungsmitglieder Peter Solowka und Len Liggins runderneuerte Band unternimmt dabei einen Streifzug durch die Geschichte der Rockmusik und überführt dabei 16 unsterbliche Klassiker – u.a. von den Beatles, Nirvana, den Beach Boys und The Velvet Underground – in den Ukrainians-Klangkosmos. Jede dieser sonderbaren Song-Versionen ist auf eigene Weise interessant. Vor allem bei den mollgetönten Stücken wie etwa „The One I Love“ von R.E.M. muss man schon sehr genau hinhören, um zu bemerken, dass es sich hier NICHT um alte ukrainische Volkslieder handelt, so täuschend echt gelingen die Adaptionen. Manchmal, wie zur Verdeutlichung dieser melodischen Verwandtschaft, bauen sie in einen Popsong am Ende auch einfach noch eine alte Volksweise mit ein. So endet die ukrainische Version des Kraftwerk-Evergreens „Das Model“ mit einem Kosakenmarsch. Lobend hervorzuheben ist schließlich ist auch noch die aktuell-politisch anspielungsreiche Anordnung des Eröffnungssongs: Es handelt sich um “Back in the U.S.S.R.“ von den Beatles! Alles in allem also ein Riesenspaß. Das Urteil lautet: 14 Punkte (gut).
The Ukrainians
Istoria Rok-Musiki Ukrainskoju Mowoju
A History Of Rock Music In Ukrainian
Zirka Records 2015
ZRKCD10

