Karl Heinz Bohrer beklagt die Fernerinnerungslosigkeit der Deutschen
Thomas Claer
Für den deutschen Juristen ist das Grundgesetz eine Art Heiligtum. Dies hat durchaus seine Berechtigung, wenn man bedenkt, dass wohl kein anderer Verfassungstext jemals von der politischen und akademischen Creme seines Landes jahrzehntelang als einzig legitimer Gegenstand kollektiven Stolzes propagiert worden ist. Mit Konzepten wie dem besagten Verfassungspatriotismus oder der Utopie eines vereinigten Europa dominierten die Sozialwissenschaftler Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel (und mit ihnen die Historiker Ulrich Wehler und Hans Mommsen) maßgeblich die Diskurse der alten Bundesrepublik und blieben einflussreich bis in die Gegenwart. Zu den kritischen Wegbegleitern dieser heimlichen Hausgötter des deutschen Establishments zählt Karl Heinz Bohrer (Jahrgang 1932), ehemals Leiter des FAZ-Literaturteils, emeritierter Bielefelder Literaturwissenschaftler und Herausgeber des “Merkur. Zeitschrift für europäisches Denken”. Vor allem im letztgenannten Blatt, dem Sprachrohr intellektueller Unabhängigkeit in Deutschland schlechthin, kommentiert er seit den 80er Jahren wortgewaltig und pointiert die deutschen Zustände und Befindlichkeiten und geißelt diese am liebsten als hoffnungslos provinziell – jedenfalls von seiner Wahlheimat Paris aus betrachtet. Auch in seiner neuesten Veröffentlichung “Ekstasen der Zeit”, einer Zusammenstellung von sechs Vorträgen aus den letzten fünf Jahren, darunter die viel beachteten Gadamer-Vorlesungen von 2001, geht er mit Deutschland hart ins Gericht. Er beklagt eine spezifisch deutsche “Erinnerungslosigkeit”, nämlich die Nichtexistenz eines Verhältnisses zur deutschen Geschichte jenseits des Nationalsozialismus, als ein fatales Defizit der gesellschaftskritischen Intelligenz: “Statt eine lange, oft düstere, immer interessante, ja beeindruckende Geschichte der Deutschen zu erinnern, glaubt man, sie unter normative Kontrolle stellen zu müssen, das heißt als Geschichte zu beseitigen.” Aus dieser Geisteshaltung resultiere auch der Erfolg des Verfassungspatriotismus, “konform gehend mit der radikalen Negierung von Fernerinnerung.” Ein “generalisierbares Recht” ohne historische Tiefendimension könne aber keine affektive kollektive Besetzung produzieren, wie sie für den Begriff Patriotismus nun einmal in Anspruch zu nehmen sei. Insbesondere bedeute die Fokussierung aller geschichtlichen Erinnerung auf den Holocaust bei Verschwinden jeder emotionalen Beziehung zu den Zeiträumen davor einen Eskapismus, der Moralismus an die Stelle von Geschichte setze, die Aufhebung von Geschichte, um den Folgen zu entkommen. Und all das, so Bohrer, löse bei europäischen Beobachtern Irritationen aus, um nicht zu sagen: mache die Deutschen ihnen erneut verdächtig.
Karl Heinz Bohrer
Ekstasen der Zeit. Augenblick, Gegenwart, Erinnerung
Hanser Verlag München Wien 2003,
132 Seiten, Euro 14,90
ISBN: 3-446-20320-6