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justament.de, 25.5.2020: Lärmend ist lange her
Die Einstürzenden Neubauten auf „Alles in allem“, ihrem ersten Studioalbum seit zwölf Jahren
Thomas Claer
Zu den bedeutendsten und einflussreichsten deutschen Musik-Gruppen aller Zeiten zählen ohne jede Frage die Einstürzenden Neubauten, die aufgrund ihres programmatischen Bandnamens wohl selbst jenen vage bekannt sein dürften, die noch niemals eine Note von ihnen gehört haben (und dies wohl auch zeitlebens keinesfalls zu tun gedenken). Überhaupt erscheint es heute, rund vierzig Jahre nach ihren Anfängen in der Underground-Szene Berlin-Kreuzbergs, geradezu als ein Wunder, dass diese Brachial-Avantgardisten mit ihrem wundersam sperrigen Ansatz jemals Eingang in die Populärkultur finden konnten. Aber damals hat so etwas funktioniert – und sogar heute noch bilden ihre Fans (von denen es mehr gibt, als man denken könnte) eine verschworene Gemeinschaft, die mit ihren Helden mittels Crowdfunding durch dick und dünn geht.
Doch nicht nur das musikalische Konzept der Neubauten – der Einsatz diverser Altmetall-Teile von Schrottplätzen sowie Maschinenlärms als Musikinstrumente – war seinerzeit revolutionär. Auch hat sich Bandleader Blixa Bargeld (heute 61), dessen expressiver Gesangsstil damals auf viele Zeitgenossen schockierend gewirkt hat, über die Jahre als ein durchaus tiefsinniger Texter erwiesen – und dabei vor allem als ein Meister der lakonischen Verknappung: „Draußen ist feindlich“ hieß es bei ihm in den Achtzigern und „Architektur ist Geiselnahme“ in den Neunzigern. Spürbar gelitten hat die musikalische Substanz der Band allerdings durch das bedauerliche Ausscheiden von Perkussionist F.M. Einheit, der eine tragende Säule des frühen Neubauten-Sounds war, dessen notorische Differenzen mit Blixa Bargeld sich aber irgendwann als nicht mehr moderierbar erwiesen. Auch zwanzig Jahre später muss man leider feststellen: Er fehlt an allen Ecken und Enden.
„Alles in allem“, das neue Album, setzt nun den Weg fort, den die Neubauten bereits seit den späten Neunzigern beschritten haben: immer mehr weg vom infernalischen Lärm, dafür hin zu den eher leisen Tönen und melancholischen Melodien. So haben schon ihre letzten Studioalben in den Nullerjahren geklungen und auch ihre späteren Arbeiten für Theaterprojekte. Inhaltlich neu sind auf der aktuellen Platte aber die expliziten Berlin-Bezüge in Songs wie „Grazer Damm“ und „Wedding“. Ansonsten bleibt hier mehr oder weniger alles beim Alten, zumindest so, wie wir es aus den beiden zurückliegenden Jahrzehnten von ihnen kennen.
Die Einstürzenden Neubauten haben – das lässt sich somit sagen, ohne ihnen Unrecht zu tun – ihrem Gesamtwerk mit „Alles in allem“ nichts Wesentliches mehr hinzugefügt. Und dennoch hört man dieses Album gern.
Einstürzende Neubauten
Alles in allem
Potomak/Indigo 2020
ASIN: B086Y6JLHL
www.justament.de, 10.2.2014: Zuckendes Fleisch war früher
Vor 35 Jahren entstanden die ersten Musikaufnahmen der Einstürzenden Neubauten
Thomas Claer
Nach offizieller Geschichtsschreibung gründeten sich die Einstürzenden Neubauten, die bedeutendste und berühmteste aller Kreuzberger Szenebands, am 1.April 1980, als Sänger Blixa Bargeld gefragt wurde, ob er nicht im Berliner Moon-Club spielen wolle und einfach ein paar Freunde anrief. Doch gab es durchaus schon frühere Tonaufnahmen von Blixa Bargeld und „seinen Freunden“ aus dem Jahr 1979, die später als Stücke der Einstürzenden Neubauten auf einem Sampler und einer raren Bootleg-Pressung namens „Zuckendes Fleisch“ erschienen, weshalb man den Beginn der Band-Historie mit Fug und Recht auch schon einige Monate eher ansetzen darf. Und genau das wollen wir hiermit tun und daher bereits jetzt an 35 Jahre Einstürzende Neubauten erinnern.
Aus heutiger Sicht erscheint es als nahezu unglaublich, dass eine so radikale, so atonale, so sperrige Musik, wie sie von den frühen Neubauten damals gespielt wurde, jemals ein größeres Publikum finden konnte. Und der eigentliche Mythos wurde ja erst 1981 geboren, als die Musiker aus verzweifelter wirtschaftlicher Not einen Großteil ihrer Instrumente verkaufen mussten und auf der Suche nach Ersatz auf dem Schrottplatz fündig wurden. Fortan traten sie mit Schlagbohrmaschine auf und trommelten auf Teilen von ausgedienten Autowracks herum. Das war so einmalig, dass bald die Musikkritik auf die seltsame Untergrund-Combo aufmerksam wurde, und die neuen Szene-Stars waren geboren. Einige Jahre und Platten lang blieben die Kreuzberger Industrial-Rebellen dann ihrem durch und durch expressionistischen Stil treu und sonderten zur mit existentiellem Ernst herausgebrüllten Lyrik Blixa Bargelds fortwährend die infernalischsten Klänge ab, wie z.B. hier. Dabei begründeten sie eine völlig neue Ästhetik des Anti-Establishmets und wurden bald schon für Theater-Inszenierungen gebucht. Dass sich der zur Erschaffung und Präsentation einer solchen Musik erforderliche, alle menschlichen Ressourcen aufs Äußerste strapazierende Lebensstil der Bandmitglieder nicht unbegrenzt fortsetzen lassen würde, war klar. Irgendwann jenseits der 30 wurden die Neubauten ruhiger und manchmal sogar eingängiger, ohne jedoch ins Kommerzielle oder Beliebige abzudriften. Seit gut zehn Jahren vermarkten sie ihre Musik nur noch direkt über das Internet. Unerreicht bleibt das ihren gewaltigen Ruhm begründende Frühwerk. Das Urteil für Letzteres lautet: sehr gut (16 Punkte).
Einstürzende Neubauten
Kollaps
Some Bizarre 1981
ZZ 65
Einstürzende Neubauten
Zeichnungen des Patienten O.T.
Some Bizarre 1983
RTD 18
Einstürzende Neubauten
½ Mensch
Some Bizarre 1985
EFA 026014
Einstürzende Neubauten
Kalte Sterne / Early Recordings
Mute Recordings Ltd. 2004
CDStumm 137