justament.de, 11.8.2025: Eine Liebe im Kalten Krieg
Die “Fluchtnovelle” von Thomas Strässle
Thomas Claer
Ein skrupulöser Mann, der sonst nie im Leben etwas Verbotenes tun würde, findet die große Liebe seines Lebens. Doch die beiden Liebenden sind getrennt voneinander durch den “Eisernen Vorhang” der damals, Mitte der Sechzigerjahre, noch Europa in zwei miteinander verfeindete Hälften teilte. Die Protagonisten treffen sich so oft, wie die Umstände es zulassen. Doch das ist den beiden füreinander Entflammten natürlich viel zu wenig. Es ergreift ihnen, um es mit Schiller zu sagen, die Seelen mit Himmelsgewalt. Da standen sie nun und konnten nicht anders – und schmiedeten einen abenteuerlichen Fluchtplan. Das ist die überaus romantische Ausgangslage in der Fluchtnovelle” des Schweizer Autors Thomas Strässle, der darin die wahre Geschichte seiner Eltern erzählt. Oftmals sind ja die tatsächlichen Begebenheiten, jedenfalls wenn sie gut erzählt sind, noch weitaus interessanter als jede Fiktion, die leicht “zu konstruiert” wirken kann. Hier ist es so, dass sich wohl kaum jemand eine noch herzergreifendere Geschichte hätte ausdenken können. Und im Bewusstsein der Intensität seines erzählerischen Materials hat sich der Verfasser der “Fluchtnovelle” bei der literarischen Umsetzung die größtmögliche Zurückhaltung auferlegt, was seinem Werk sehr gutgetan hat. Das Geschehene spricht für sich selbst, und mit wenigen Strichen und gelegentlichen, aber vielsagenden Einschüben der damaligen Gesetzeslage gelingt es ihm sehr effektvoll, den Leser in seinen Bann zu ziehen.
Genauso sollte eine Novelle sein: eine “unerhörte Begebenheit”, kurz und knackig berichtet, auf den Punkt gebracht. Alles Übrige bleibt der Phantasie des Lesers überlassen. Hier kommt nun aber noch hinzu, dass eine große erzählerische Spannung erzeugt wird, obgleich der glückliche Ausgang der Geschichte doch schon von Anfang an feststeht. Ein Nebeneffekt sind ferner die tiefen rechtshistorischen Einblicke, die hier vermittelt werden. Minutiös wird festgehalten, auf welche Weise sich die beiden Liebenden mit ihren Handlungen (und auch schon mit ihren Vorbereitungshandlungen, ja bereits mit ihren gedanklichen Planungen) strafbar gemacht haben – sowohl nach damaligem DDR- als auch nach Schweizer Recht. Gerechtfertigt waren ihre fortwährenden Gesetzesbrüche (insbesondere Republikflucht und Urkundenfälschung) allein durch den moralischen Notstand ihrer Liebe. Und ohne Schuld handelten sie dabei natürlich auch – wegen Unzurechnungsfähigkeit aufgrund von Liebestrunkenheit.
Thomas Strässle
Fluchtnovelle
Suhrkamp Verlag, 2024
123 Seiten; 18,00 Euro
ISBN: 978-3-518-47448-8
justament.de, 30.6.2025: Anspruch und Wirklichkeit
Anspruch und Wirklichkeit
Die Dauerausstellung “Alltag in der DDR” im Museum in der Kulturbrauerei
Thomas Claer
Die DDR ist bekanntlich vor 35 Jahren untergegangen, und das ist natürlich auch gut so. Doch lebt sie unzweifelhaft weiter in der bereits 2013 eingerichteten und seitdem kontinuierlich erweiterten Dauerausstellung “Alltag in der DDR” im Museum in der Kulturbrauerei in Berlin-Prenzlauer Berg. Für null Euro Eintritt kann sich hier jeder, der möchte, einen sehr lebendigen Eindruck davon verschaffen, wie sich das tägliche Leben hinter Mauern und Stacheldraht seinerzeit so angefühlt haben mag. Man steht dann also neben einem echten Trabant, läuft durch eine mit viel Liebe zum Detail nachgebaute HO-Kaufhalle, blättert in Stasi-Akten, liest Briefe von unglücklichen NVA-Soldaten und vieles andere mehr. Die Ambivalenzen des DDR-Alltags sollen hier gezielt gezeigt werden, und das gelingt auf grandiose Weise. In diesem Staat war nämlich beinahe alles ambivalent: einerseits sich großspurig fortschrittlich gebend, andererseits kleinkariert und verbiestert. Und kaum irgendwo sonst auf der Welt ist wohl jemals die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit so übermächtig gewesen wie im real existierenden Sozialismus deutscher Prägung.
Es bleibt nicht aus, dass man als gelernter DDR-Bürger an diesem Ort sentimental wird, wenn plötzlich die Kulissen der eigene Kindheit und Jugend wieder vor einem auferstehen. Stundenlang könnte ich mich durch diese Räume treiben lassen und würde wohl immernoch irgendwo etwas neues Altbekanntes entdecken. Mein Lieblingsexponat in der Ausstellung ist selbstverständlich der Original-DDR-Zeitungskiosk mit lauter ostdeutschen Printprodukten aus jener Zeit – und dazu noch mit DDR-Fähnchen und einem Propaganda-Aushang zum 1.Mai, dem Kampftag der Arbeiterklasse. Klar, so lange, wie ich zurückdenken kann, gehörten Zeitungskioske trotz all ihrer damaligen Beschränktheit zu meinen Lieblingsorten. Und dieser hier rekonstruierte ist fürwahr wirklichkeitsgetreu gestaltet, zumindest auf den ersten Blick. Tatsächlich ist er dies dann freilich doch nicht, wenn man bedenkt, dass sicherlich an keinem Kiosk in der ganzen DDR die Bezirkszeitungen unterschiedlicher Regionen (wie hier “Schweriner Volkszeitung”, “Leipziger Volkszeitung” und noch weitere) nebeneinanderliegend offeriert worden sein dürften. Es gab jeweils nur entweder die eine oder die andere, je nachdem, wo man sich gerade befand. Und auch solche typische “Bückware” wie die qualitativ bemerkenswert hochwertige Zeitschrift “Wochenpost” habe ich seinerzeit nie an einem Zeitungskiosk ausliegen gesehen. Sie ging entweder an ihre glücklichen Abonnenten (darunter meine Großeltern) oder nur an die privilegierte Kundschaft der Kioskfrau. Überhaupt waren damals nach meiner Erinnerung eigentlich alle auch nur ansatzweise interessanten Printprodukte regelmäßig schon nach kurzer Zeit ausverkauft. Wirklich immer vorhanden waren in der Auslage im DDR-Zeitungskiosk nur langweilige Journale wie die legendäre “Sowjetfrau”, auf deren Cover immer Damen mit unfassbar altmodischen Kleidern und Frisuren prangten. Aber das sind Feinheiten, die hier kaum ins Gewicht fallen. Kurzum, das Museum in der Kulturbraurei sollte zum Pflichtprogramm eines jeden Berlin-Besuchers gehören.
justament.de, 12.5.2025: “An der Schwelle zu einem autoritären Zeitalter”
Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk im Gespräch am 80. Jahrestag des Zweiten Weltkkriegsendes, Teil 1
Es ist Feiertag in Berlin, und das nur in Berlin. Kein Mensch arbeitet heute hier. Nur der Historiker und streitbare Publizist Ilko-Sascha Kowalczuk ist uns zum Interview zugeschaltet. Er ist bestens gelaunt, trotz all der wenig erfreulichen Dinge, die er uns gleich erzählen wird.
ISK: Wir haben 45 Minuten Zeit.
Kriegen wir hin. Erste Frage: Warum wird die weitgehend rechtsextreme Partei AfD – inzwischen kann man ja sogar sagen: die gesichert rechtsextremistische Partei AfD – in Ostdeutschland fast doppelt so viel gewählt wie in Westdeutschland?
ISK: Also ich sage schon seit Jahren, dass das eine faschistische Partei ist. Und in jeder faschistischen Partei gibt es auch Leute, die keine Faschisten sind. Also insofern ist das für mich keine neue Erkenntnis, die der Verfassungsschutz jetzt offizialisiert hat. In Ostdeutschland sind mehrere Dinge zu berücksichtigen, die sich unterscheiden vom Westen. Der Faschismus und rassistische Ideologien siedeln dort nicht am Rand der Gesellschaft, sondern in der Mitte der Gesellschaft, und zwar seit vielen Jahren und Jahrzehnten. Das ist eine Mainstreamkultur. In Ostdeutschland ist der Rassismus viel stärker ausgeprägt. Er ist auch viel aggressiver und offensiver dort vorhanden. Das alles hängt mit einer nicht geleisteten gesellschaftlichen Aufarbeitung des Nationalsozialismus zusammen, mit einer nicht die Gesellschaft erreicht habenden Aufarbeitung des Kommunismus. Das hängt mit den Erfahrungen in der Transformationszeit zusammen, also dem Übergang vom Kommunismus zur Bundesrepublik. Mit den Erfahrungen, die die Menschen dort millionenfach machen mussten und die sie in der Konsequenz vom westlichen Liberalismus, vom westlichen System haben abrücken lassen. Und deswegen gibt es heute einen großen Hass auf den Westen, auf das westliche politische System. Und das äußert sich unter anderem in der Zuwendung zur faschistischen AfD und in der Zuwendung zum Bündnis Sahra Wagenknecht. Für mich sind Sahra Wagenknecht und AfD zwei Seiten einer Medaille, und beide sind kremltreue Parteien, die die Narrative aus Moskau übernehmen und sich insofern dort mit Russland gemein machen nach dem Motto: Der Feind meines Feindes ist mein Freund.
Ganz kurze Zwischenfrage: Wie ist Ihre aktuelle Einschätzung zum Bündnis Sahra Wagenknecht? Sind die jetzt nach dem Nichteinzug in den Bundestag und diversen internen Querelen in einzelnen Bundesländern “weg vom Fenster”? Oder werden sie noch mal zurückkommen?
ISK: Also das kann gegenwärtig keiner so richtig sagen. Wir beobachten ja mit großem Interesse, dass die Linkspartei gerade so ein erstaunliches Revival erfährt. Die haben gerade heute verkündet, dass sie einen neuen Mitgliederrekord in den letzten 20 Jahren aufgestellt haben. Also die haben einen ungebrochenen Zulauf. Zugleich haben sie in den letzten Wochen seit dem erstaunlichen Erfolg bei den Bundestagswahlen ihre Rhetorik enorm verschärft, viel stärker linksradikale Töne anschlagend nach dem Motto: Wir wollen das System überwinden. Das ist ja auch eine Losung von Bündnis Sahra Wagenknecht, allerdings aus einer ganz anderen Richtung. Und insofern ist jetzt gerade meines Erachtens ein bisschen offen, wer sich da gegenseitig das Wasser abgräbt. Es wird sicherlich auch daran hängen, wie sich die Linkspartei in den nächsten Wochen zur Ukraine, zu Russland, zu China positioniert. Und insofern würde ich da aktuell keine Prognose abgeben wollen oder können, weil das nicht seriös wäre. Aber ich halte es für verfrüht, einen Abgesang auf das BSW zu singen. Sahra Wagenknecht hat ja noch ein, zwei, drei Tage vor den Wahlen gesagt: Wenn sie scheitert, zieht sie sich aus der aktiven Politik zurück. Das hat sie nicht getan, sondern sie führt gerade Machtkämpfe in ihrer Partei, hat den ersten in Thüringen verloren. Auf die Umfragen – alle sechs Stunden gibt es eine neue Umfrage – kann man da nicht so großen Wert legen. Es wird in hohem Maße auch davon abhängen, ob Sahra Wagenknecht über kurz oder lang wieder so eine hohe mediale Präsenz erreicht, wie sie es im Bundestagswahlkampf und in den Monaten davor hatte. Wenn die Medien ihr wieder diese Podien bieten, dann, glaube ich, wird sie auch zurückkommen. Aber es hängt natürlich auch wieder davon ab: Was werden wir jetzt für eine Politik haben von der neuen Regierung? Und was werden wir für eine Opposition jenseits der Faschisten haben? Also insofern gibt es noch viel abzuwarten. Aber ich würde die Partei noch nicht für tot erklären.
Warum hat es nach Ihrer Meinung die deutsche Gesellschaft in den letzten 35 Jahren nicht geschafft, Ostdeutschland und die Ostdeutschen demokratisch zu integrieren?
ISK: Naja, also ich glaube die Frage ist schon ein bisschen problematisch. Demokratie und Freiheit sind keine Dienstleistungseinrichtungen, wo man darauf warten sollte, dass irgendwer etwas für einen macht, sondern Demokratie und Freiheit leben von dem Engagement der Menschen. In meinem Verständnis bedeutet Freiheit, sich in seine eigenen Angelegenheiten einzumischen. Sich für sich und die Gesellschaft zu engagieren, soziale Verantwortung zu übernehmen, politische Verantwortung zu übernehmen, sich einzumischen und Kompromisse auszuhandeln. Demokratie ist keine Konsensgesellschaft, sondern eine Kompromissgesellschaft. Und genau das sind alles Dinge, die viele Ostdeutsche nicht gelernt haben, die sie nicht lernen wollten und die sie bis heute auch nicht akzeptieren, weil sie letztendlich immernoch in einer obrigkeitsstaatlichen Mentalität verfangen sind. Deshalb sehnen sie sich auch nach autoritären Kräften wie der AfD oder Sahra Wagenknecht. Deshalb himmeln sie Putin an, weil das ihnen in ihrer Wahrnehmung genau das erfüllt, was sie wollen. Und genau deshalb bin ich auch viel gnädiger, was die Beurteilung westdeutschen Handelns anbelangt. Da sind viele Ungerechtigkeiten passiert. Da sind viele Dinge passiert, die man hätte verhindern können. Manches konnte man nicht verhindern. Am Ende des Tages muss man aber auch feststellen, dass die Ostdeutschen insgesamt viel zu inaktiv waren, um gewissermaßen auch ihre Beiträge zur deutschen und europäischen Demokratie zu leisten.
Was bedeutet für sie persönlich Freiheit?
ISK: Also für mich ist Freiheit der Dreh- und Angelpunkt meines Denkens und Lebens. Ich habe bis 1989 in einer Diktatur gelebt, in einem extrem gewaltvollen und unfriedlichen System. Einem System, das die Menschen eingemauert hat, und zwar nicht nur an den Grenzen, sondern auch überall im Land. Jede Schulstunde war von Mauern gekennzeichnet, von Denkverboten, von Sprechverboten. Davon war jeder Mensch in der DDR betroffen. Den meisten war es irgendwann gar nicht mehr bewusst, wie dramatisch und schlimm das war. Und insofern war für mich die Freiheitsrevolution von 1989 eine echte Befreiung. Ich begreife mich auch als Teil dieser Freiheitsrevolution. Ich bin der festen Überzeugung, dass Freiheit das Wichtigste ist, was menschliche Gesellschaften aufzubieten haben. Dass es nichts gibt, was wichtiger ist als Freiheit, weil es nichts anderes gibt ohne Freiheit. Es gibt auch keinen Frieden ohne Freiheit.
Auf welche Weise könnte man der gegenwärtigen Gefahr entgegenwirken, dass sich die Demokratie in Deutschland selbst abschafft?
ISK: Ich habe darauf keine Antwort. Deutschland ist zwar ein großes Land in Europa. Weltpolitisch gesehen ist Deutschland eine der größten Volkswirtschaften, ich glaube aktuell die drittgrößte Volkswirtschaft, hinter den USA und China, noch vor Japan, vor Frankreich, vor Italien, vor Südkorea. Was wir aber beobachten, ist in vielen, vielen Ländern des politischen Westens eine Erosion der Demokratie. Und da kann keiner irgendwie alleine im luftleeren Raum agieren. In Europa haben wir die Situation, dass in vielen Ländern die Faschisten auf dem Vormarsch sind. Sie sitzen in Finnland mit in der Regierung, wir haben rechtsextreme Kräfte in Portugal mit 20 Prozent. Der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union war ein Werk der Rechtsradikalen. Wir sehen, was in Frankreich droht. Egal, wo wir hinschauen: Wir haben mit Orban in Ungarn einen Verbündeten von Putin an der Macht. (Und Ungarn gehört zur Europäischen Union!) Das droht uns jetzt als nächstes in Rumänien. Und so weiter. Wir können hinschauen, wo wir wollen. Aber es gibt auch Hoffnungszeichen. Ein Hoffnungszeichen waren die Wahlen in Polen vor anderthalb Jahren. Da ist die PIS abgewählt worden. Aber zugleich ist das praktisch ein fast totes Rennen gewesen, da es ein 50-zu-50-Prozent-Ergebnis war. Und das eigentliche politische Erdbeben auf der Welt fand in den USA statt. Europa ist auf eine fahrlässige Weise von den USA abhängig, insbesondere verteidigungspolitisch. Das ist die einzige Forderung von Trump, die ich immer verstanden und geteilt habe: dass es ein unmöglicher Zustand ist, dass die reichste Region der Welt, Europa, verteidigungspolitisch abhängig ist von den USA. Das ist total absurd. Und insbesondere Deutschland! Deutschland ist wirklich nicht in der Lage, russländischen Truppen auch nur 24 Stunden Gegenwehr zu bieten. Gott sei Dank haben wir die Polen vor uns, Gott sei Dank haben wir die Skandinavier, die alle viel mehr dazu bereit sind. In Deutschland ist auch keine Mehrheit der Gesellschaft bereit, sich zu verteidigen. Es ist also eine ganz dramatische Situation. Aber das Hauptproblem ist, dass wir gerade weltweit Zeugen davon werden, wie ein faschistisches Regime in Echtzeit errichtet wird in den USA. Das wird mit einem großen Erstaunen und auch mit einem gewissen Schweigen in der westlichen Welt hingenommen, als wenn das alles noch im Rahmen von vertretbaren Grenzen ablaufen würde, was es aber nicht tut. Und wenn sich dort dieses autoritäre, womöglich faschistische Regime weiter etabliert, dann hat das natürlich enorme Auswirkungen auf Europa und insbesondere auch auf Deutschland. Und ich kann Ihnen leider keinen positiven Ausblick mitgeben. Ich glaube, wir stehen an der Schwelle zu einem autoritären Zeitalter. Das kann ganz schlimm werden. Aber noch sind wir in Deutschland, die wir Demokratie und Freiheit verteidigen wollen, in der Mehrheit. Und deshalb müssen wir halt darum kämpfen. Aber das Problem ist: Viele Menschen in Westeuropa kennen nichts anderes als Demokratie und Freiheit. Das ist eben der grundlegende Unterschied zu Ostdeutschland, zu Polen, zu den baltischen Staaten. Die Menschen glauben, dass Demokratie und Freiheit, weil sie nichts anderes kennen, wie gottgemacht sind. Das ist eben immer so gewesen, und das wird auch immer so bleiben. Und ich sage den Leuten dann immer: Liebe Leute, das ist menschengemacht. Das kann auch wieder kaputtgehen und kann verlorengehen. Und das mögen manche Intellektuellen geistig begreifen, aber das kommt nicht an ihre Herzen ran. Sie können sich das nicht vorstellen. Und das ist ein Riesenproblem, denn wenn man sich nicht vorstellen kann, dass das, was man hat, zu Ende gehen kann, dann verteidigt man es auch nicht engagiert. Und genau in dieser Situation leben wir gerade in Europa und können das tagtäglich beobachten. Und das ist eine meiner Antriebsfedern, weshalb ich mich Tag für Tag versuche zu engagieren für Demokratie und Freiheit.
Kurze Anschlussfrage: Trotz allem, was sie gesagt haben, hat Deutschland durch seine Nazi-Vergangenheit vielleicht doch eine bessere Ausgangsposition, um diese rechtsautoritäre Bedrohung abzuwehren und um zu verhindern, dass solche Kräfte an die Macht kommen. Insbesondere vielleicht Westdeutschland, weil Westdeutschland ja eine sozusagen “Entnazifizierung von unten” erlebt hat durch die Achtundsechziger-Bewegung – im Gegensatz zu Ostdeutschland. Kann sich das nicht als wichtiger Vorteil erweisen im Vergleich zu anderen Ländern ohne eine solche Nazi-Vergangenheit?
ISK: Also ich hätte Ihnen bis vor kurzem Recht gegeben tendenziell. Vor zwei, drei Tagen ist eine wissenschaftliche Studie veröffentlicht worden, in der erstmals festgestellt wurde, dass eine relative Mehrheit der Deutschen einen Schlussstrich unter die Aufarbeitung des Nationalsozialismus ziehen will: 38 Prozent. Und weitere 26 Prozent haben keine Meinung dazu. Und das korrespondiert mit dem Aufstieg der Faschisten in Deutschland. In Ostdeutschland können sich zwei Drittel vorstellen, unter einem autoritären Regime zu leben. In Westdeutschland sind das mittlerweile auch 20 Prozent. Jeder Fünfte! Und das sind wachsende Tendenzen. Also insofern: Es gibt diesen Unterschied zwischen Ost und West. Das kann man gut historisch begründen. Das haben Sie eben sehr gut gemacht, das könnte ich mit weiteren Sachen machen. Aber Ostdeutschland ist deswegen interessant als Betrachtungsobjekt, und es sollte auch für viele andere interessant sein als Betrachtungsobjekt, weil in Ostdeutschland sich Entwicklungen nur früher, schneller und radikaler zutragen als anderswo. Und andere Regionen, insbesondere andere Regionen in Europa ziehen dann nach. Und das können wir auch über die letzten 20 Jahre im Ost-West-Deutschland-Vergleich beobachten, dass zum Beispiel die Akzeptanz von Freiheit im Westen abnimmt, dass die Zustimmungswerte zunehmen für: “Gleichheit ist wichtiger als Freiheit” und viele solche Dinge. Auch die Verteidigungsbereitschaft nimmt im Westen ab, die im Osten nie richtig da war. Es gibt nach wie vor einen großen Unterschied in der Bewertung der NATO. Während im Westen nach wie vor die NATO das Verteidigungsbündnis ist, das auch mehrheitlich begrüßt wird, gibt es diese Zustimmung im Osten nicht und auch nicht die Einschätzung, dass die NATO ein Verteidigungsbündnis ist. Da gibt es natürlich große Unterschiede. Es gibt auch einen großen Unterschied in der Parteibindungsquote. Deutschland ist eine Parteiendemokratie laut Grundgesetz. Und da hat man natürlich ein Problem, wenn kaum Leute in einer Partei sind. Im Osten gibt es Regionen, die sind gewissermaßen parteifrei. Und die Parteibindungsquote ist zehnmal so gering wie im Westen. Auch da geht die Parteibindungsquote extrem zurück, aber sie ist immer noch relativ stabil. Das heißt, dass das politische System noch handlungsfähig ist. Das ist in Ostdeutschland aber nicht mehr der Fall. Bei Kommunalwahlen haben wir das Phänomen, dass die Parteien nicht mehr genug Leute haben, um die Ämter zu besetzen. Um ganz zu schweigen von der schwachen Zivilgesellschaft in Ostdeutschland. Die Zivilgesellschaft als Korrektiv der parlamentarischen repräsentativen Demokratie ist extrem wichtig für eine funktionierende Demokratie. Die funktioniert in Westdeutschland sehr gut, nach wie vor. Und die ist nach wie vor in Ostdeutschland extrem unterentwickelt. Sie ist schon stärker jetzt als vor zehn oder 20 Jahren, und das hat in hohem Maße auch mit Zuzug aus dem Westen zu tun. Es sind ja nicht nur sehr viele Menschen aus dem Osten in den Westen gegangen. Fast ein Drittel der Bevölkerung ist abgewandert! Das muss man sich mal vorstellen! Also Ostdeutschland hat heute einen extremen Männerüberschuss, ist extrem überaltert. Aber bestimmte demografische Faktoren konnten dort nur deshalb einigermaßen abgemildert werden, weil es auch eine Zuwanderung von 2 Millionen Menschen aus dem Westen gab. Die im übrigen auch dafür sorgt, dass die Wahlergebnisse im Osten nicht noch desaströser ausfallen, weil die zugewanderten Westler im Osten eher die traditionellen Parteien und keine Extremisten wählen.
Teil 2 des Gesprächs folgt in einer Woche an dieser Stelle.
Das Interview führten Juyeon Han und Thomas Claer.
Aktuelle Buchempfehlung:
Ilko-Sascha Kowalczuk – Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute, Verlag C.H. Beck, 2024, 22,00 EUR, ISBN: 978-3-406-82213-1
Am 21.8.2025 erscheint:
Ilko-Sascha Kowalczuk und Bodo Ramelow – Die neue Mauer. Ein Gespräch über den Osten, Verlag C.H. Beck, 2025, 23,00 EUR, ISBN-10: 3406838316
justament.de, 3.3.2025: Der grollende Osten (3)
Wider die Ostdeutschtümelei: “Freiheitsschock” von Ilko-Sascha Kowalczuk
Thomas Claer
Ein weiteres Buch aus kundiger Feder über den ostdeutschen Schlamassel ist “Freiheitsschock” vom Berliner Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk. Zwar gibt es darin thematisch und ebenso in der Analyse der Problematik eine Menge Überschneidungen mit den beiden jüngst an dieser Stelle besprochenen Werken des Soziologen Steffen Mau (“Ungleich vereint” und “Lütten Klein”). Dennoch hat Kowalczuk ein gänzlich anderes Buch geschrieben als die beiden besagten von Mau, was vor allem an den vollkommen unterschiedlichen Temperamenten beider Verfasser liegt. Steffen Mau, der kühle Norddeutsche aus Rostock, ist – trotz seiner immer wieder aufblitzenden Freude an Pointierungen – gleichsam die Verkörperung von wissenschaftlicher Nüchternheit und Sachlichkeit, ausgefeilt in den Formulierungen und stets abgewogen im Urteil. Demgegenüber ist Ilko-Sascha Kowalczuk, der aus einer Familie ukrainischer Einwanderer in Ost-Berlin stammt, eher auf Krawall gebürstet.
Wie vermutlich niemand sonst hierzulande (zumindest nicht innerhalb der akademischen und intellektuellen Debatten) attackiert Kowalczuk seine ostdeutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger, was sich Westdeutsche nur hinter vorgehaltener Hand und andere Ostdeutsche wohl niemals trauen würden, um nicht als Nestbeschmutzer dazustehen. So bescheinigt Kowalczuk den Bewohnern Ostdeutschlands, in ihrer überwältigenden Mehrheit nicht demokratiefähig zu sein, da die Älteren unter ihnen es gar nicht und die Jüngeren es nur falsch und verzerrt von ihren Eltern am Küchentisch erlernt hätten, wie eine Demokratie funktioniert. Die Notwendigkeit des mühsamen Aushandelns politischer Kompromisse verstünden sie nicht und beklagten sich stattdessen nur darüber, dass ihre persönliche Meinung von der Politik nicht gehört würde. Auch machten die Ostdeutschen, sobald etwas in ihrem Leben nicht nach ihren Vorstellungen ablaufe, dafür regelmäßig den Staat verantwortlich. Auf den Gedanken, dass auch jede und jeder selbst für sich Verantwortung tragen sollte, kämen sie sicht, was das Resultat der jahrzehntelangen Kollektiv-Propaganda in der DDR und deren Nachwirkungen sei. Das überwiegend demokratische Wahlverhalten der Ostdeutschen in den vergangenen Jahrzehnten sei nur ein von Missverständnisen hervorgerufenes Oberflächenphänomen gewesen, wohingegen es keinesfalls überraschend sei, dass sich mittlerweile zwei Drittel der Ostdeutschen vorstellen könnten, eine autoritäre Partei zu wählen (was mehr als die Hälfte von ihnen inzwischen auch tut). Ganz falsch sei schließlich auch das immer wieder von den Westdeutschen (zumeist pflichtschuldig) vorgebrachte Lob der Ostdeutschen für deren Mut bei der friedlichen Revolution im Herbst 1989, da seinerzeit tatsächlich nur eine winzig kleine Minderheit persönliche Risiken in Kauf genommen habe, während sich die breite Masse erst als absehbar war, wer die Oberhand behalten würde, opportunistisch auf die Seite der historischen Sieger geschlagen habe.
Doch kriegen natürlich auch die Westdeutschen in ihrer Selbstgerechtigkeit ihr Fett weg, und das nicht zu knapp, insbesondere die ab 1990 neu in den Osten gezogenen Führungspersonen. Das Grundmotiv in deren späteren Erinnerungsberichten lasse sich zumeist auf den folgenden Nenner bringen: “Im Osten ist vieles anders. Die Menschen sind arbeitsam. Es war harte Arbeit zu leisten, um den Sumpf trockenzulegen. Man ist aus rein idealistischen Gründen in den Osten gegangen. Nach vielen Jahren fühlte man sich nicht nur als Wossi, sondern eigentlich als Ossi. Die Landschaft ist toll. Es gibt so viel zu entdecken. Vieles erinnerte an die fünfziger und sechziger Jahre. Die Ostler sind undankbar. Wir haben so viel Geld in den Osten gepumpt und die meckern nur. Der Osten ist mir zur Heimat geworden. Die Probleme wachsen sich aus. Die Hoffnung ist die Jugend. Die Jugend geht weg. Ich bereue es nicht, in den Osten gegangen zu sein. Im Westen hätte ich leichter Karriere machen können. Es geht nur um Leisung. Die Herkunft ist doch vollkommen egal.” (S. 118).
Überhaupt schießt Kowalczuk eigentlich unaufhörlich in alle Richtungen, dabei manchmal über das Ziel hinaus und mitunter sich selbst ins eigene Knie. Doch immer wieder trifft er auch mitten ins Schwarze. Sehr verdienstvoll ist zweifellos seine Auseinandersetzung mit den Schriften von Sahra Wagenknecht und Alice Weidel, anhand derer er aufzeigt, warum diese Demagoginnen und ihre Parteien am besten niemals in Regierungsverantwortung gelangen sollten. Was sich aber signifikant von Steffen Maus Büchern unterscheidet, ist Kowalczuks bedrohlich pessimistischer Zukunftsausblick. Während Mau aufgrund seiner soziologischen Untersuchungen zur Prognose kommt, dass die AfD in den nächsten zehn Jahren sehr wahrscheinlich nicht über 30 Prozent bei Wahlen auf Bundesebene erzielen werde, da sie zumindest im Westen ihr Potenzial bereits heute beinahe vollständig ausgereizt habe, kommt Kowalczuk aufgrund seiner historischen Studien zur These, dass Ostdeutschland wegen seiner Besonderheiten eine Art Laboratorium der Globalisierung darstelle und deshalb vielfach Entwicklungen antizipiere, die mit etwas Verzögerung später auch im Westen erfolgten. Mit diesem höchst beunruhigenden und alarmierenden Ausblick entlässt er sodann seine Leser, nicht ohne aber abschließend noch ein feuriges und durchaus pathetisches Plädoyer für die Freiheit zu halten, die ihm selbst so unendlich viel, seinen Mitbürgern in Ost (sowieso) und West (neuerdings) aber leider gar nicht (mehr) so viel bedeute.
“Freiheitsschock” ist somit insbesondere ein engagiertes Buch, eine Mischung aus Analyse, Autobiographie, Weckruf und Pamphlet, mit großem Unterhaltungswert, aber auch hohem Grusel-Faktor.
Ilko-Sascha Kowalczuk
Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute
Verlag C.H. Beck, 2024
240 Seiten: 22,00 Euro
ISBN: 978-3-406-82213-1
justament.de, 17.2.2025: Der grollende Osten (2)
“Lütten Klein” von Steffen Mau ist eins der wichtigsten Bücher über die Transformation in der Ex-DDR
Thomas Claer
Wer das jüngst an dieser Stelle hinreichend gewürdigte “Ungleich vereint” gelesen hat, ist selbstverständlich auch neugierig auf Steffen Maus bereits 2019 erschienenes Vorgängerbuch “Lütten Klein”. Dieses ebenfalls vieldiskutierte Werk nimmt den großen Umbruch im Osten am Beispiel des titelgebenden Rostocker Plattenbauviertels unter die Lupe, in welchem der Verfasser zu DDR-Zeiten aufgewachsen ist. Und “Lütten Klein” ist noch weitaus detaillierter und tiefschürfender als sein Nachfolger, vor allem aber – obwohl schon vor sechs Jahren geschrieben – gerade wieder bestürzend aktuell. Seinerzeit war noch nicht abzusehen, dass die weitgehend rechtsextreme AfD in mehreren östlichen Bundesländern zur stärksten oder beinahe stärksten politischen Kraft werden würde und diese Länder – auch durch die Erfolge des rechtslinkspopulistischen BSW – an den Rand der Unregierbarkeit gebracht werden könnten. Wer aber die Analysen von Steffen Mau studiert hat, den können diese verhängnisvollen politischen Entwicklungen keineswegs überraschen…
Aus westlicher Sicht sind die Bewohner des Ostens vor allem undankbar. Unzählige Millionen aus sauer verdienten westlichen Steuergeldern wurden in den Osten gepumpt, um dort vernünftige Strukturen aufzubauen und die nicht wettbewerbsfähigen Neubürger zu alimentieren. So weich wie in den neuen Bundesländern in die nun gesamtdeutschen Sozialsysteme ist wohl niemand im früheren Ostblock gefallen. Doch statt dafür auch nur einmal danke zu sagen, maulen und nörgeln diese Ossis in einem fort, beschweren sich über die Arroganz der “Besserwessis” und wählen nun sogar extremistische Parteien.
Aus östlicher Sicht betrachtet ergibt sich jedoch ein vollkommen anderes Bild. Eine ganze Generation wurde aus ihren gewohnten Lebenszusammenhängen gerissen, von heute auf morgen in die Arbeitslosigkeit entlassen und zu Bürgern zweiter Klasse im wiedervereinigten Land degradiert. Alles, was diese Menschen in ihrem bisherigen Leben gelernt und geleistet hatten, war nun nicht mehr gefragt. Nur ein kleiner Teil der Ostdeutschen, der mobil und flexibel war, konnte sich mit den neuen Verhältnissen arrangieren. Viele aber wurden nun nicht mehr gebraucht und in zumeist unsinnigen Umschulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen geparkt und ruhiggestellt, schließlich in den Vorruhestand abgeschoben. Für die Betreffenden, in deren Lebensmittelpunkt bis dahin ihre Berufstätigkeit gestanden hatte, war damit eine Welt zusammengebrochen und ihr Leben zerstört.
Natürlich musste damals angesichts der völlig überraschenden deutschen Wiedervereinigung alles ganz schnell gehen. Wichtige Positionen in Wirtschaft und Gesellschaft wurden daher nach der Wende im Osten fast ausschließlich mit Westimporten neu besetzt. Dies war zweifellos viel effektiver, als erst noch umständlich Einheimische für die jeweiligen Jobs auszubilden. Im Eifer des Gefechts hatte allerdings niemand daran gedacht, was es mit den Menschen einer Region macht, wenn dort plötzlich nur noch Zugewanderte den Ton angeben, wenn beinahe sämliche Führungspositionen von Zugezogenen bekleidet und die Alteingesessenen auf die Straße gesetzt werden.
Erschwerend kommt hinzu, dass der Osten vor der Wende eine reine Angestellten-Gesellschaft gewesen ist. Freies Unternehmertum gab es nur vereinzelt im Kleinstsegment. Fast niemand verfügte über größere Ersparnisse oder gar über Immobilien-Eigentum. (Und falls doch, dann waren es zumeist Häuser in ländlichen und zunehmend entvölkerten Regionen, die sich nach der Wende als unverkäuflich erwiesen.) Sehr drastisch schildert Steffen Mau, welcher Orkan der Zerstörung bestehender Strukturen in den Transformationsjahren über Ostdeutschland hinweggefegt ist. Die neu eingezogene Freiheit und Marktwirtschaft traf auf eine Population, die nicht im Geringsten darauf vorbereitet war und damit größtenteils überhaupt nicht umgehen konnte.
In Lütten Klein, dem einstigen Vorzeige-Wohngebiet der Ostsee-Metropole, dessen Bewohner zu DDR-Zeiten noch stolz darauf waren, eine der damals heiß begehrten Neubauwohnungen ergattert zu haben, war der Absturz sogar noch drastischer, denn nun hieß es plötzlich: “Man wohnt nicht mehr in der Platte”. Wer etwas auf sich hielt, suchte schnell das Weite, und übrig blieben dort bald nur noch die Abgehängten und Genügsamen.
Das Ergebnis aus all diesen jahrelangen Frustrationen lässt sich mittlerweile an den ostdeutschen Wahlergebnissen ablesen. Die Menschen im Osten sind bockig, missmutig, ressentimentgetrieben gegen alles Westliche. Sie behandeln migranische Neuankömmlinge so schlecht, wie sie selbst sich mehr als drei Jahrzehnte lang von den Westdeutschen behandelt fühlten. Sie flüchten sich aus der Wirklichkeit des Fachkräftemangels in Fantasiewelten nationaler Autarkie. Doch geht die Schere überall im Osten weiter auseinander zwischen den vielen Kleinstädten und ländlichen Gebieten auf der einen Seite, die abgehängt und in fremdenfeindlicher Selbstabschottung immer tiefer in den Abwärtsstrudel geraten, und den wenigen längst wieder aufstrebenden Großstädten auf der anderen Seite, die dank Ansiedlung von Migranten wieder wachsen und mit neu entstandenen Jobs und noch vergleichsweise günstigem Wohnraum mittlerweile so mancher West-Stadt den Rang ablaufen.
Sehr lebendig und untermalt mit vielen O-Tönen aus zu Recherchezwecken selbst geführten Interviews mit den Bewohnern schildert Steffen Mau den Werdegang “seines” Viertels in Vor- und Nachwendezeit. Trotz einiger soziologischer Fachtermini ist das Buch flüssig geschrieben und liest sich durchweg unterhaltsam. Hinzu kommt eine Vielzahl an einschlägigen Zahlen und Diagrammen, die das Werk zu einer wahren Fundgrube machen. Nur eins liefert der Autor in diesem Buch leider nicht (und in seinem besagten späteren Buch “Ungleich vereint” dann auch nur ansatzweise): Rezepte für Auswege aus der beschriebenen Malaise. Und den Leser beschleicht die düstere Ahnung, dass der ostdeutschen “Generation Wiedervereinigung” wohl nicht mehr zu helfen ist. Stattdessen muss es jetzt darauf ankommen, die von den Erzählungen ihrer Eltern kontaminierten ostdeutschen Nachwendegenerationen “abzuholen” und “mitzunehmen”, was nach Erkenntnissen der soziologischen Forschung am besten durch Studienaufenthalte der jungen Ostler in Westdeutschland gelingt, aber auch durch den Kontakt mit aus dem Westen zugezogenen Studierenden an ostdeutschen Universitäten. Je mehr Austausch zwischen den jungen Generationen in Ost und West, desto besser. Und je mehr weitere trübsinnige Abschottung der östlichen Frustrations-Kollektive, desto schlimmer.
Steffen Mau
Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft
Suhrkamp Verlag 2019
285 Seiten; 22,00 Euro
ISBN: 978-3-518-47092-3
justament.de, 27.1.2025: Der grollende Osten (1)
Steffen Mau liefert mit “Ungleich vereint” die präziseste Analyse des “Problemfelds Ost”
Thomas Claer
Da gibt es eine Gegend, die zu den wohlhabendsten Regionen Europas zählt, doch ihre Bewohner sind voller Groll, denn ihren weiter westlich lebenden Landsleuten geht es noch ein Stück weit besser als ihnen, und das nicht immer einfache Zusammenwachsen mit jenen hat bei ihnen schwere Traumata zurückgelassen, die sie offenbar auch schon an die nächste Generation witergegeben haben. Mehrere vieldiskutierte Bücher über die schwierige deutsche Einheit und den zumindest in seiner Selbstwahrnehmung noch immer problembeladenen Osten sind in den letzten Jahren erschienen. Selbstverständlich wurden sie alle – ohne Ausnahme! – von aus Ostdeutschland stammenden Autorinnen und Autoren verfasst. Denn warum sollten Westdeutsche sich mit Problemfeldern auseinandersetzen, die in ihren Augen überhaupt nicht existieren, die sie zumindest nicht als solche zu erkennen vermögen?
Die besagten Bücher wenden sich entweder gegen die Arroganz des Westens gegenüber dem Osten (Dirk Oschmann) oder gegen die Ignoranz des Ostens gegenüber der Demokratie (Ilko-Sascha Kowalczuk), oder sie erzählen die Geschichte der untergegangenen DDR noch einmal ganz anders und stark beschönigend (Katja Hoyer). Und dann ist da auch noch der aus Rostock stammende Berliner Soziologie-Professor Steffen Mau (geb. 1968), der in seinem schmalen Bändchen namens “Ungleich vereint” unaufgeregt und ausgewogen, pointiert, aber nie polemisch all das analysiert und auf den Punkt bringt, was sich in gut drei Jahrzehnten (plus DDR-Vorgeschichte) in den noch immer so genannten Neuen Bundesländern so zusammengebraut hat.
Um es gleich vorweg zu sagen: Dieses kleine Büchlein sollte unbedingt jeder gelesen haben, der ein Interesse an der Ost-Thematik mitbringt, der im Osten wohnt oder mit dem Osten und seinen Bewohnern zu tun hat. Steffen Maus zentrale These lautet: Der Osten ist in vieler Hinsicht anders als der Westen – und er wird es auch weiterhin bleiben. Damit ist zugleich gesagt, dass diese kleine Studie vermutlich noch für Jahrzehnte relevant sein wird! Die Anschaffung und Lektüre dieses Buches dürfte sich also mit großer Sicherheit voll armortisieren…
Das Buch richtet sich sowohl an Ostdeutsche, die sich über ihre Besonderheiten und ihren einheitsbedingten psychischen Knax klarwerden wollen, als auch an Westdeutsche, die wissen wollen, warum ihre ostdeutschen Brüder und Schwestern aus ihrer Sicht so seltsam sind. (“Ich möchte das Thema Ostdeutschland aus der dünkelhaften und selbstgewissen Ecke herausholen, in Ost wie in West.”, S.9) Es geht los mit dem unerwarteten Befund der Verfestigung bestehender Ost-West-Unterschiede, die man lange Zeit als nur vorübergehend angesehen hatte. Konkret wird sodann die “ausgebremste Demokratisierung” des Ostens unter die Lupe genommen. Wie konnte es passieren, dass die demokratischen Institutionen und Parteien auch nach über 30 Jahren im Osten noch alles andere als fest verwurzelt sind? Sehr aufschlussreich ist vor allem das Kapitel “Kein 1968”. Darin wird einerseits deutlich, wie tiefgreifend Westdeutschland von der anti-autoritären Generationenrevolte “von unten” seit den späten Sechzigern geprägt wurde und wie stark seine heutige hohe demokratische Kultur damit zusammenhängt. Genau dies fehlt aber andererseits dem Osten, denn es mangelt ihm an jeglichen Voraussetzungen für vergleichbare Generationen-Protestbewegungen. (“Die Älteren saßen nicht saturiert in ihren Wohn- und Amtsstuben, sondern standen oft genug in der Schlange des Arbeitsamts.”, S.64)
Die zweite Hälfte des Buches widmet sich dann ganz überwiegend der sich stattdessen vor unseren Augen im Osten abspielenden autoritären Revolte von rechtsaußen. Sehr treffend bemüht Steffen Mau hier den aus dem Versicherungswesen stammenden Begriff des “Allmählichkeitsschadens”. Mit der Zeit, angefangen von den “Baseballschlägerjahren” in den Neunzigern und ihren rechtsradikalen Vorläufern in der späten DDR über den Einzug von Neonazi-Kadern aus dem Westen in den Osten bis hin zum heutigen verstärkten Aufgreifen von Ost-Befindlichkeiten durch die AfD, hat sich über die Jahre eine trübe Melange aus Ost-Trotz, Ressentiment und Hetze so ausgebreitet, dass sie nun die Grundpfeiler von Demokratie und Rechtsstaatslichkeit anzugreifen droht. Immerhin, die gute Nachricht ist, dass die AfD im Westen (und damit auch auf Bundesebene) ihr Stimmenpotential mit 20 Prozent plus x sehr wahrscheinlich schon weitgehend ausgereizt hat. Im Osten allerdings könnte sie angesichts der dort vor allem im kleinstädtischen und ländlichen Raum stark verbreiteten antidemokratischen Misstrauenskultur sogar noch weiter wachsen. (Und gerade jene Orte, die infolge starken Einwohnerrückgangs besonders auf Zuwanderung angewiesen wären, drohen durch ihre fremdenfeindliche Abschottung in eine fatale Abwärtsspirale zu geraten.) Um so wichtiger ist es insofern, dass die vielzitierte Brandmauer nach rechtsaußen unbedingt weiter halten muss. Aber das ist leichter gesagt als umgesetzt, wenn wir es vielerorts im Osten bereits mit einer massiv “angebräunten Zivilgesellschaft” zu tun haben.
Na gut, der Rechtspopulismus und -extremismus ist derzeit leider weltweit enorm auf dem Vormarsch, weshalb womöglich gar nicht das dafür stark anfällige Ostdeutschland, sondern vielmehr das dafür kaum anfällige Westdeutschland die Besonderheit darstellt. Doch habe, so Mau, der Rechtsruck im Osten andere, nämlich eigene Ursachen. Dazu zählt z.B. auch der wahrhaft schockierende Umstand, dass unsere (allesamt im Westen erscheinenden) gehobenen Qualitätszeitungen von FAZ und Süddeutscher Zeitung bis zu SPIEGEL und ZEIT im Osten schlichtweg kaum gelesen werden. Nur zwei bis fünf Prozent ihrer Abonnenten leben in den Neuen Bundesländern! Stattdessen liest man im Osten offenbar lieber das Desinformations-Organ Berliner Zeitung oder informiert sich in den verhetzten Sozialen Netzwerken. Da muss man sich natürlich nicht wundern…
Als möglichen Ausweg aus der Misere empfiehlt Mau abschließend zur Ergänzung zum als elitär und abgehobenen wahrgenommenen Parlamentsbetrieb den forcierten Einsatz von Bürgerräten. Vielleicht würde es ja helfen.
Steffen Mau
Ungleich vereint
Suhrkamp Verlag, 2024
168 Seiten; 18,00 Euro
ISBN: 978-3-518-02989-3
justament.de, 18.11.2024: Entmutigung
Cover-Versionen von Wolf-Biermann-Songs auf “Re:Imagined – Lieder für jetzt!”
Thomas Claer
Zum 88. Geburtstag des scharfzüngigen Liedermachers und einstigen DDR-Dissidenten Wolf Biermann haben sich allerhand junge (aber auch einige nur vergleichsweise junge) Künstler zusammengetan, um seine alten Stücke neu zu interpretieren. Super, denkt man! Spitzenidee! Auch wenn man als ebenfalls schon ziemlich alter Rezensenten-Sack natürlich nur die wenigsten vom hier versammelten Interpreten-Nachwuchs kennt. Aber womöglich lässt sich ja sogar noch die eine oder andere Entdeckung machen… Tja, und dann hört man also rein in diese Platte, hört weiter und weiter – und wendet sich schließlich ab mit Grausen. Was Künstler wie Maxim, Alligatoah, Bonaparte, Torch und wie sie alle heißen da abliefern, das passt einfach hinten und vorne nicht zusammen. Die grandiosen alten Biermann-Lieder, die in ihren Originalversionen nur mit Gitarrenbegleitung und in all ihrer textlichen und stimmlichen Wucht vor allem dadurch funktionieren, dass sie regelmäßig haarscharf am Überpathetischen vorbeischrammen, kippen nun als seltsame Hybrid-Nummern mit Beats und Elektronik reihenweise um ins Abgeschmackte und Kitschige. Es geht einfach nicht zusammen. Ausnahmen bilden bezeichnenderweise die vereinzelt mitwirkenden Vertreter der Ü50- (Ina Müller), Ü60- (Katharina Franck) und Ü70-Fraktion (Wolfgang Niedecken), die schlichtweg ein ganz anderes Gefühl für die alten Songs mitbringen als all diese unbedarften Jungspunde.
In aktuellen Interviews hat Wolf Biermann dann auch immer wieder nur gesagt, wie sehr er sich darüber freue, dass die jungen Leute seine Lieder neu interpretierten. Über die Qualität der Ergebnisse hat er – offenbar aus gutem Grunde – geschwiegen. Dennoch ist es natürlich sehr zu begrüßen, dass die alten Biermann-Songs auf diesem Wege neue Aufmerksamkeit bekommen. Bleibt nur zu hoffen, dass dabei auch die um Längen besseren Originale wieder in den Blick geraten.
Wolf Biermann
Re:Imagined – Lieder für jetzt!
Clouds Hill (Warner) 2024
ASIN: B0DD937RZ3
justament.de, 19.8.2024: Zwei Lehrerinnen, Teil 2
Recht historisch: So war Schule in der DDR
Thomas Claer
Unsere neue Klassenlehrerin ab der 5. Klasse, Frau D., begegnete uns von Anfang an mit großer Freundlichkeit. Dabei schloss sie, soweit ich mich erinnere, auch ausnahmslos alle gleichermaßen in ihre Zuwendung ein. Obwohl sie ebenso wie ihre Vorgängerin Frau K. Parteimitglied war, interpretierte sie ihre Rolle doch grundlegend anders. Kaum jemals führte sie mit uns politische Diskussionen, wobei sich das in den von ihr bei uns unterrichteten Fächern, Russisch und Musik, wohl auch weniger aufdrängte als zuvor in Deutsch bei Frau K. Schon ganz am Anfang verkündete Frau D. uns ihr Motto, das sie aus einer russischen Fabel entlehnt hatte: “Wie man in den Wald hineinruft, so kommt es auch wieder heraus.” So ähnlich habe ich es viele Jahre später auch immer meinen Studenten gesagt, und so halten es wohl auch noch heute viele Lehrer und Dozenten mit ihren Schülern und Studenten: “Wenn ihr mir keinen Ärger macht, dann mache ich euch auch keinen.” Mir imponierte dieser Pragmatismus von Frau D. schon damals sehr. Sie drohte uns auch nicht, setzte uns nicht ständig unter Druck und machte sogar noch einen ziemlich interessanten und lebendigen Unterricht. Mit Frau D. als Klassenlehrerin ging daher ein kollektives Aufatmen durch unsere Klasse.
Natürlich fragte auch Frau D. mich irgendwann in der 5. Klasse, ob ich nicht im Thälmann-Pionierrat mitarbeiten wolle. (Seit der vierten Klasse trugen wir ja schon die roten Halstücher der Thälmann-Pioniere und nicht mehr die blauen der Jungpioniere.) Und ich sagte dann das, was ich immer sagte, wenn ich danach gefragt wurde, so etwas wie “Och, nee.” Aber Frau D. blieb hartnäckig: “Warum eigentlich nicht?” Und ich begann dann zu lavieren: “Ach naja, ich weiß nicht. Ich möchte nicht so gerne…” Und nun kam Frau D., die genau wusste, wie sehr ich mich für Fußball interessierte, mit einem für mich völlig überraschenden Vorschlag. “Du könntest doch die Sportberichterstattung im Pionierrat übernehmen! Da sollte auch jemand alle anderen über sportliche Ereignisse informieren.” Auf diese Weise wollte sie mich also locken, und tatsächlich kriegte sie mich damit. Als ich dann schließlich im Thälmann-Pionierrat saß, merkte ich allerdings bald, dass mich dort niemand nach sportlichen Ereignissen fragte. Aber jetzt saß ich nun einmal da drin, und blieb es auch auf Dauer.
Später, ab der 8. Klasse, als ich nach unserem Umzug längst eine andere Schule besuchte, sollte ich sogar Verantwortlicher für die Gestaltung der Wandzeitung in der FDJ-Leitung werden. Und da begann ich dann, eine von mir erdachte Strategie anzuwenden, die man Subversion durch groteske Übererfüllung der Vorgaben nennen könnte. Ich schrieb politische Artikel für die Wandzeitung, die aus einer Aneinanderreihung ideologischer Floskeln in vollkommen übertriebener Form bestanden. Vor beinahe jedes Substantiv platzierte ich Adjektive wie “ruhmreich”, “glorreich” oder “heldenhaft”, auch wenn sie dort eigentlich überhaupt nicht hinpassten. Doch niemand, wirklich niemand nahm Notiz von meinen Verballhornungen. Die Lehrer fanden, was ich da geschrieben hatte, “sehr schön”. Und ansonsten hat es vermutlich nie jemand gelesen.
Aber zurück in die 5. Klasse und zu Frau D. Eine große Überraschung war es für mich, als mein Vater mir nach dem ersten Elternabend mit Frau D. erklärte, von nun an im Elternaktiv der Klasse mitzuarbeiten. Mein Vater im Elternaktiv?! Das konnte doch nicht wahr sein! Er hatte doch bis dahin immer großen Wert darauf gelegt, sich aus solchen Dingen komplett herauszuhalten. Doch nun hatte ihn offensichtlich Frau D. irgendwie dazu überredet. Keine Ahnung, wie sie das geschafft hatte, aber sie hatte ja auch eine durchaus charmante Art… Sie war wohl einige Jahre jünger als Frau K., wenn auch nicht viel jünger. Ich vermute, dass Frau K. damals so um die 50 gewesen sein muss und Frau D. vielleicht Anfang 40…
Doch die vielen Freiheiten, die Frau D. uns ließ, stiegen uns dann irgendwann zu Kopfe. So oft hatte sie uns gesagt, dass sie immer ein offenes Ohr für unsere Sorgen und Probleme hätte und dass wir ihr auch ruhig ehrlich unsere Meinung sagen könnten. Und dann – es könnte in der 6. Klasse gewesen sein – taten es einige wirklich. “Wozu wählen wir denn den Thälmann-Pionierrat eigentlich in einer extra dazu einberufenen Versammlung, wenn das Ergebnis doch immer schon vorher feststeht und nie anders als einstimmig zustande kommt?”, wurde Frau D. gefragt. Und außerdem seien doch gar nicht die beliebtesten Schüler der Klasse im Pionierrat, sondern nur die mit den besten Noten. Manche davon, besonders unsere notorischen Klassenstreberinnen, seien aber doch eigentlich eher unbeliebt. Die würden bestimmt nicht in den Pionierrat gewählt werden, wenn wir frei darüber abstimmen könnten. Naja, sagte da Frau D. zu uns, das mache man nun einmal so bei uns. “Aber wenn ihr wollt, dann schreibt doch mal jeder fünf Namen auf einen Zettel, wen ihr am liebsten im Pionierrat haben wollt.” Das taten wir dann, und heraus kam, dass die Vorsitzende unseres Pionierrates und ihre Stellvertreterin weit abgeschlagen am Ende landeten. Das schien auch Frau D. zu überraschen. Sollten also die betreffenden beiden Musterschülerinnen wirklich bei der nächsten Wahlversammlung aus dem Pionierrat geworfen werden? Was hätten dann wohl deren Eltern dazu gesagt? Wie sollte Frau D. aus dieser Nummer wieder rauskommen?!
Doch da musste Frau D. gar nicht lange überlegen. Sie legte einfach fest, dass der Pionierrat mit der nächsten Wahlversammlung von 5 auf 7 Schüler aufgestockt wurde, und so konnten die bisher noch nicht darin vertretenen Beliebtheitsköniginnen ebenso dort mitmachen wie unsere beiden weniger populären Musterschülerinnen. Eine wirklich großartige, ja salomonische Entscheidung! Politisch gesehen waren das damals, wohl ca. Ende 1984, wohl schon die ersten Vorboten von Gorbatschow, Glasnost und Perestroika… Bald darauf habe ich nach dem besagten Umzug meiner Familie diese Schule verlassen und dann nicht mehr viel von Frau D. gehört, geschweige denn von Frau K. Was ich aber aus diesen kindlichen Erfahrungen mit meinen beiden so unterschiedlichen Klassenlehrerinnen dauerhaft mitgenommen habe, ist die Erkenntnis, dass es zumeist und fast überall mehr auf die einzelnen handelnden Person ankommt als auf die jeweils bestehenden Strukturen. Wie mein späterer Deutschlehrer in Bremen immer gesagt hat: “Es gibt immer so’ne und so’ne.” Und auch in den schlimmsten Systemen und Parteien gibt es mutmaßlich immer irgendwo anständige Menschen. Zumindest das kann einem doch etwas Hoffnung machen in den aktuell so schwierigen Zeiten.
justament.de, 12.8.2024: Zwei Lehrerinnen, Teil 1
Zwei Lehrerinnen, Teil 1
Recht historisch: So war Schule in der DDR
Thomas Claer
Wenn ich auf meine Schulzeit in den späten Siebziger- und Achtzigerjahren in der DDR zurückblicke, dann denke ich oft an meine beiden Klassenlehrerinnen in Wismar, die mein kindliches Ich beide tief beeindruckt haben – wenn auch auf jeweils unterschiedliche, ja sogar ziemlich entgegengesetzte Weise.
Die erste Klassenlehrerin, Frau K., war vier Jahre lang, von der ersten bis zur vierten Klasse, also von Herbst 1978 bis Sommer 1982, für uns verantwortlich, was natürlich im Leben von so jungen Menschen, wie wir es damals waren, eine beinahe endlos lange Zeit gewesen ist. Frau K. war überaus streng in jeder Hinsicht. Ich kann mich nicht erinnern, jemals einem so strengen und autoritären Menschen begegnet zu sein. Selbst meine Mutter, die auch überall als Respektsperson galt, war nicht annähernd so streng wie sie. Frau K. stand aber auch voll und ganz (im Gegensatz zu meinen Eltern) für politische Linientreue. Dabei lag ihr, anders als manchen ihrer Kolleginnen und Kollegen, deutlich weniger die jubelnde Begeisterung über die angeblich großen Errungenschaften des Sozialismus als vielmehr die unbedingte Wachsamkeit gegenüber dem imaginierten Klassenfeind. Mit welchem Abscheu sie die Worte USA und BRD oder gar NATO aussprach, wenn sie im Deutschunterricht die aktuellen politischen Ereignisse mit uns diskutierte! Stets forderte sie uns auf, Stellung zu beziehen zu irgendwelchen Begebenheiten. Wenn unsere Klassenstreberinnen ihr dann in ihrem Hass auf die “Lügen des Imperialismus” beipflichteten, zeigte sie deutlich ihre Genugtuung. Wenn aber, was häufiger vorkam, sich niemand meldete, weil wir kleinen Knirpse und Knirpsinnen oft auch einfach nicht wussten, was wir sagen sollten, sah sie uns finster und durchdringend an und sagte dann halblaut, wobei sie ein Auge halb zukniff: “Keine Meinung ist auch eine Meinung.” Bei Frau K. musste man immer ein schlechtes Gewissen haben. Oft dachte ich mir irritiert: “Bin ich jetzt ein Klassenfeind? Ein Gegner des Sozialismus? Nur weil ich nichts gesagt habe?”
Man muss Frau K. zugute halten, dass sie ganz offensichtlich felsenfest an all das glaubte, was sie uns erzählte. Die leicht augenzwinkernde Dienst-nach-Vorschrift-Haltung manch anderer Lehrer, bei denen man sich nie so ganz sicher war, was sie wirklich dachten, ging ihr vollkommen ab. Sie war das, was man damals eine “Überzeugte”, eine “Hundertprozentige” nannte. Die gab es zwar, aber es war eine überschaubare Minderheit. Die Mehrzahl auch und gerade unter den Parteigenossen war eher pragmatisch eingestellt. Später als Jugendlicher, als ich mit wachsendem politischen Bewusstsein immer genauer hinzuhören begann, wer wann und wo was sagte, bemerkte ich, dass die DDR-kritischsten Äußerungen sogar oftmals von Parteimitgliedern kamen, allerdings nur im privaten Umfeld.
Unvergesslich ist mir geblieben, wie einer meiner Mitschüler offenbar denunziert worden war, weil er gesagt haben sollte, unsere Horterzieherin, Frau R., sei ja wohl “ein Albtraum”. Unsere Klassenlehrerin Frau K. fragte in der Deutschstunde unvermittelt, ob jemand von uns wisse, was ein Albtraum sei. Als sich niemand meldete, nahm sie den Denunzierten aufs Korn, trat dicht an ihn heran, nannte ihn beim Namen und forderte ihn auf zu erklären, was ein Albtraum sei. Als er vorgab, es nicht zu wissen, erklärte Frau K. der Klasse, dass ein Albtraum “etwas ganz Schlimmes” sei. Und noch schlimmer sei es, einen Menschen als Albtraum zu bezeichnen, was aber, ha!, unser Mitschüler getan habe – und das auch noch in Bezug auf unsere Horterzieherin. Wie wir anderen das denn finden würden?! Sofort gingen die Finger hoch: “Frau R. ist immer lieb und nett zu uns” (was nun wirklich nicht stimmte, denn sie war mit Grund äußerst unbeliebt), und niemand dürfe sie deshalb so bezeichnen. Das reichte Frau K. aber noch nicht. Sie wollte immer noch mehr Verurteilungen unseres Mitschülers von uns hören. Ein Schlauberger äußerte sich daraufhin gewitzt und diplomatisch: “Angenommen, nur mal angenommen, dass Frau R. wirklich ein Albtraum wäre, so dürfte man das doch nicht sagen, denn das sei unverschämt.” Ich sagte nichts dazu, wie eigentlich fast immer in solchen Situationen, obwohl ich sonst durchaus gesprächig gewesen bin. Und am Ende kam dann wieder von Frau K. ihr drohendes “Keine Meinung ist auch eine Meinung.”
Mich hatte sie sowieso immer auf dem Kieker. Dass ich als recht guter Schüler mich hartnäckig weigerte, in den Gruppenrat und später Jungpionierrat einzutreten, musste ihr natürlich sehr verdächtig vorkommen. Womöglich war ich ja vom Elternhaus irgendwie staatsfeindlich beeinflusst. Das war aber gar nicht der Fall, denn dazu waren meine Eltern viel zu vorsichtig. Ich hatte nur einfach keine Lust dazu, weil mir das ganze politische Zeug irgendwie sehr unsympathisch war. Und immerhin drängten mich meine Eltern auch nicht, in den Jungpionierrat zu gehen, was ich ihnen aus heutiger Sicht hoch anrechne. Denn damals hatten sie bestimmt noch keine Ausreisepläne in den Westen. Und wer in diesem Staat Karriere machen wollte, der tat gut daran, von klein auf, solche Ämter zu bekleiden. Aber ich wollte einfach nicht. Da musste dann später schon eine andere Lehrerin kommen mit gänzlich anderen Methoden…
(Wird fortgesetzt.)
justament.de, 2.10.2023: Als die Welt rund war
Recht historisch: Vor 30 Jahren wurde die DDR-Fußballzeitschrift Fuwo eingestellt – nach fast viereinhalb Jahrzehnten
Thomas Claer
Damals, in meiner Kindheit und Jugend in den Achtzigern, hatte ich einen Lieblingswochentag, und das war der Dienstag. Warum gerade Dienstag? Weil Dienstag Fuwo-Tag war. Es erschien, von mir immer aufs Neue heiß ersehnt, die wöchentliche Ausgabe der “Neuen Fußballwoche”, kurz Fuwo. Sie enthielt beinahe alles, was mein kindliches und jugendliches Herz zu jener Zeit begehrte: nämlich die ausführliche Berichterstattung über die maßgeblichen Fußballspiele des zurückliegenden Wochenendes, zumindest über jene in der Deutschen Demokratischen Republik, dazu allerhand Zahlen und Statistik sowie – immerhin – die Ergebnisse und Tabellen aus den anderen Ländern Europas, darunter auch die von drüben aus der Bundesliga. Noch interessanter wären allenfalls Spielberichte über den West-Fußball gewesen, aber an so etwas Ausgefallenes war zu jener Zeit der deutschen Teilung natürlich nicht zu denken.
Für mich war seinerzeit die Fuwo – neben der Comic-Zeitschrift Mosaik – der prägende Lesestoff schlechthin. Seit meiner ersten Ausgabe, Heft 1/1981, habe ich bis zum bitteren Ende kein Heft verpasst. Wobei allerdings die Fuwo, man muss es leider so hart sagen, schon ab Mitte 1990 eigentlich gar nicht mehr sie selbst war. Mit Mauerfall und Wiedervereinigung wurde nämlich die einzige Fußballzeitschrift der DDR einer inhaltlichen, optischen und sprachlichen Modernisierung unterzogen, durch die leider alles von ihrem vormaligen Charme verlorenging. Dass dieses nun vorgeblich marktgängige kunterbunte Machwerk aus fetten Überschriften und reißerischer Aufmachung schließlich eingestellt wurde, war dann auch nicht mehr so schade. Der Verlust der alten DDR-Fuwo dagegen umso mehr.
Was sich heute sicherlich niemand mehr vorstellen kann: Das sprachliche Niveau der Fuwo war zu DDR-Zeiten, zumal aus heutiger Sicht, überragend. Mein schon in den unteren Schulklassen allgemein als bemerkenswert eingeschätztes Ausdrucksvermögen verdankte ich nicht zuletzt meiner ausdauernden und sorgfältigen Fuwo-Lektüre. Die Fußballberichte waren durch die Bank bildungssprachlich verfasst. “Dynamo wahrte den Nimbus”, “ergo: der Sieg war verdient”, “die Zuschauer waren konsterniert”, der Trainer musste konstatieren”, “das hieße Eulen nach Athen tragen”… Beinahe alle meine Fremdwörter und sonstigen Redewendungen hatte ich aus der Fuwo. Möglich war so etwas, weil dort eine Riege von studierten Journalisten und Germanisten in aller Seelenruhe vor sich hin werkeln durfte. Aktualität und Schnelligkeit? War nicht so wichtig. Es genügte völlig, dass die Berichte übers vergangene Fußballwochenende am Dienstag erschienen. Die Leser? Wurden nicht gefragt. Sie hatten ja auch keine Alternative, denn es war in der DDR nur eine Fußballzeitschrift vorgesehen – zum Preis von 50 Pfennigen, unverändert seit 1949 bis 1990, denn im Sozialismus durfte es ja keine Inflation geben. Das Kontingent der gedruckten Hefte dürfte sich über die Jahre auch kaum verändert haben. Stets war es in der DDR das Problem der Leser, noch ein Exemplar der begehrten Zeitschriften, zu denen auch die Fuwo gehörte, abzubekommen. Dafür türmten sich dann in den Zeitungskiosken so unverkäufliche, weil unfassbar langweilige Printerzeugnisse wie “Sowjetfrau” oder “Sputnik”. Jedenfalls bis Gorbatschow in der Sowjetunion das Ruder übernahm und dank Glasnost und Perestroika die übersetzten Sowjet-Magazine plötzlich super interessant und in der DDR somit doch noch zur Bückware wurden…
Natürlich hat es auch etwas sehr Ironisches, dass ausgerechnet in einem durch und durch unfreien Land jahrzehntelang einige besonders niveauvolle Zeitschriften erscheinen konnten (neben Fuwo und Mosaik auch die Wochenpost oder das Magazin), die unter marktwirtschaftlichen Bedingungen kaum überlebensfähig gewesen wären – und es nach der Wende dann ja überwiegend auch nicht waren. Aber so ist es nun einmal gewesen. Manchmal braucht es eben auch Biotope jenseits der Marktlogik, damit Außergewöhnliches entstehen kann. Der Preis, den etwa die Fuwo-Journalisten für ihre vielen Freiheiten zu zahlen hatten, war es, wöchentlich ein bis zwei Seiten des Blattes mit sozialistischem Propaganda-Quatsch zu füllen – um dafür auf den restlichen 22 Seiten von der Obrigkeit in Ruhe gelassen zu werden…
Besonders erfreute ich mich über die Jahre an den in der Fuwo so zahlreichen Statistiken – und an den Auslandsspielergebnissen und –tabellen, die – jedenfalls in der DDR – nur in der Fuwo und nirgends sonst abgedruckt waren. Bald hatte ich in jeder Liga und in jedem Land eine Lieblingsmannschaft, die ich nur aufgrund ihres wohlklingenden Namens ausgesucht hatte. Meine Vorliebe galt dabei besonders zungenbrecherischen Namen wie Videoton Székesfehérvár aus Ungarn oder Dnepr Dnepropetrowsk aus der Sowjetunion. Insofern war die Fuwo für mich immer auch eine Art Tor zur Welt.
Eine ganz andere, überraschende Seite der Fuwo lernte ich allerdings in ihren Silvesterausgaben, d.h. im jeweils letzten Heft eines Jahres, kennen. Während es in der Fuwo nämlich ansonsten eher ernsthaft und betulich zuging, gab es am Jahresende immer vier Seiten mit ausgelassenem Frohsinn und erstaunlich freizügigen Fotos, unter denen dann auch noch anzügliche Sprüche standen. So fragte etwa in der Ausgabe 52/1981 eine splitternackte junge Dame am Strand mit einem Holzpfosten in der Hand: “Hast du noch ‘ne Querlatte, Benno?” Im Heft 52/1986 erklärte eine barbusige Schönheit sogar: “Gleich wird er mit meinen Bällen spielen.” Tja, im Westen gab es Vergleichbares täglich in der BILD-Zeitung, in der DDR hingegen nur einmal im Jahr in der Fuwo.








