www.justament.de, 22.1.2013: Der Klassiker zum Ehebruch
Recht cineastisch, Teil 14: „Anna Karenina“ nach Lew Tolstoi
Thomas Claer
„Am Anfang der literarischen Moderne stand der Ehebruch als Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Bindung“, befand unlängst Willi Winkler in der Süddeutschen Zeitung. Und dafür stehen vor allem die drei großen Ehebruchsromane des 19. Jahrhunderts: „Madame Bovary“, “Effi Briest” und … ja, genau: „Anna Karenina“. Dass sich in ihnen wohlbehütete Ehefrauen, denen es doch eigentlich an nichts fehlt, auf so etwas einlassen, erklärte Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki einmal wie folgt: Zwar seien ihre Ehemänner tüchtige, brave und bis zu einem gewissen Grade sogar verständnisvolle Partner ihrer temperamentvollen Gattinnen. Nur hätten sie einen einzigen Fehler: Sie seien Langweiler. So einfach ist das also. Auf Fürst Alexei Alexandrowitsch Karenin, den Gatten der Anna Karenina, trifft das gewiss noch weniger zu als auf den trockenen Formalisten Instetten oder den mediokren Landarzt Charles Bovary, doch kann er, der ehrgeizige Politiker, der seine Frau nur als Dekoration empfindet, sich der erotisch ausgehungerten Anna schon aus Zeitgründen niemals so widmen wie der Playboy und versierte Verführer Graf Alexei Kirillowitsch Wronski. So nimmt das Unheil seinen Lauf, und der historisch interessierte Jurist erhält tiefe Einblicke in das Familienrecht im Russland des 19. Jahrhunderts.
Doch kann die aktuelle Verfilmung von Joe Wright überhaupt Tolstois großem Gesellschaftstroman aus dem Jahr 1878 gerecht werden? Natürlich nicht, da muss man keine großen Worte drüber verlieren. Das Zusammenschnurren der komplexen Handlung auf 130 Minuten lässt den Film eher als einen Trailer erscheinen, der seine Stärken genau da hat, wo er sich an die Romanvorlage hält. Doch das meiste wird verkürzt und verfälscht, man kann durchaus sagen banalisiert. Keira Nightley spielt ihre Rolle zwar wirklich gut, doch passt sie in ihrer knochigen Strenge schon vom Typ her überhaupt nicht zur Roman-Anna, die im Buch ausdrücklich als „üppig“ beschrieben wird. Schon aus physiognomischen Gründen will hier die ganze Figur nicht recht funktionieren. Das Beste, was sich über diesen Film sagen lässt, ist, dass man ihn sich zum Anlass nehmen kann, wieder oder endlich einmal das Buch zu lesen. Oder sich als Ehemann mehr und besser um seine bessere Hälfte zu bemühen, man kann ja nie wissen…
Anna Karenina
Großbritannien/ Frankreich 2012
Regie: Joe Wright
Drehbuch: Tom Stoppard nach der Romanvorlage von Lew Tolstoi
130 Minuten, FSK: 12
Darsteller: Keira Nightley, Aaron Taylor-Johnson, Jude Law, Kelly Macdonald, Matthew Macfadyen, Alicia Vikander u.v.a.
www.justament.de, 31.12.2012: Vorwärts und nicht vergessen…
Recht cineastisch Spezial: 80 Jahre „Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt?“
Thomas Claer

Bert Brecht und Hanns Eisler (Foto: Jüdisches Museum)
Dieser Film war von Anfang an ein Politikum. Vor 80 Jahren wurde „Kuhle Wampe“, der in Berlin spielende kommunistische Propaganda-Kunstfilm mit Drehbuch von Bertolt Brecht und Musik von Hanns Eisler, erst von den Prüfstellen der Weimarer Republik verboten, dann von diesen nach heftigen Protesten als zensierte Fassung erlaubt und schließlich einige Wochen nach der „Machtergreifung“ endgültig von den Nazis verboten. Nach dem Krieg galt er lange als verschollen, tauchte später wieder auf und ist seit 2008 als DVD mit ausführlichem Booklet in der Filmedition Suhrkamp erhältlich (bei Amazon für 15,99 EUR).
Benannt ist der Film nach einer Laubenkolonie und einem Zeltplatz am Müggelsee in Berlin-Friedrichshagen im äußersten Südosten von Berlin. (Diese Gegend machte jüngst durch vehemente Proteste ihrer Anwohner gegen die Flugrouten des neuen Berliner Flughafens von sich reden.) Hier lebten während der Weltwirtschaftskrise (1929 ff.) viele arbeitslose Arbeiterfamilien, die ihre Mietwohnungen in der Innenstadt nicht mehr bezahlen konnten. Und diese Verdrängung der Armen aus dem Stadtzentrum ist nicht das einzige Deja-vu-Erlebnis, das sich beim Ansehen dieses Filmklassikers einstellt. Ähnlich wie damals stellt sich auch heute nach einer tiefen globalen Wirtschaftskrise wieder einmal „die Systemfrage“ (so auch der Titel einer aktuellen Serie im Wirtschaftsteil der Süddeutschen Zeitung). Verelendung, Massenarbeitslosigkeit, eine perspektivlose Jugend – das erleben wir derzeit akut in etlichen Ländern Südeuropas. Und wenn nicht alles täuscht, dann hat uns hierzulande nur eine Mischung aus gesunder Wirtschaftskraft (Exportwunder!), vergleichsweise solider Haushaltspolitik und entschlossenen Agenda 2010-Reformen vor ähnlichen Zuständen bewahrt. Wie explosiv die soziale Lage – jedenfalls im europäischen Maßstab betrachtet – im Grunde auch heute wieder ist, wird deutlich, wenn man sich die Situation von 1932 vor Augen hält: Demokratie, Marktwirtschaft und Parlamentarismus hatten eindeutig abgewirtschaftet. Die demokratischen Regierungen in Deutschland hatten ihre Chance nicht genutzt. Die Zeit war reif für etwas Neues. Was dann aber kam, nämlich die Machtübernahme der Nazis, das hatte die proletarische Bewegung gewiss nicht gewollt, wohl aber – unfreiwillig – mit herbeigeführt. Der Film ist ein Musterbeispiel für die Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik, die ursprünglich von Max Weber stammt und die Helmut Schmidt so oft im Munde führte. Die damals (und nicht nur damals!) mehr als berechtigte ätzende Kapitalismus-Kritik schürte eine anti-demokratische Stimmung, die aber kaum der kommunistischen Weltrevolution diente, sondern letztlich nur den selbsterklärten Führern der „arischen Volksgemeinschaft“ in den Sattel geholfen hat.
Die Mitglieder der Kommission, die über das Verbot des Filmes zu befinden hatte, das zeigt ein ebenfalls auf der DVD enthaltener nachgestellter Dokumentarfilm, hatten die Gefährdung der noch jungen Demokratie deutlich vor Augen. Als Kompromisslösung wurde dann Ende 1932 eine entschärfte Version freigegeben, die heute leider die einzige noch erhaltene ist. Die Zensur beschränkte sich im Wesentlichen auf als sittlich anstößig empfundene Stellen wie die solidarische Sammlung von 90 Mark unter den Arbeiterfamilien für eine Kindesabtreibung und eine Nacktbadeszene im Müggelsee. (Noch 20 Jahre später ereilte den Film „Die Sünderin“ mit Hildegard Knef in Westdeutschland wegen eines weitaus kürzeren und harmloseren Nacktauftritts dasselbe Schicksal.) Der politische Charakter des Films, der dann mit großem Erfolg in den Kinos der Berliner Arbeiterbezirke gezeigt wurde, veränderte sich durch die Kürzungen nur unerheblich.
Aber ist dieser propagandistische Film denn auch künstlerisch gelungen? Obwohl die politische Tendenz hier erkennbar Vorrang vor jedem ästhetischen Anspruch haben sollte und die Figuren durchweg holzschnittartig gezeichnet sind, entfaltet sich in ihm doch eine ganz eigene Magie. Eine besondere Rolle dabei spielt die dissonante und schrille, ja streckenweise unheimliche Musik Hanns Eislers, des kommunistischen Schönberg-Schülers, der 18 Jahre später die DDR-Nationalhymne komponieren sollte. Vor allem der Gesang der Arbeiterchöre, die auf einer Sportveranstaltung am Müggelsee immer wieder das „Solidaritätslied“ anstimmen, geht einem durch Mark und Bein. Man muss bedenken: Tonfilme gab es damals erst seit kurzer Zeit. Darüber hinaus erinnert manches in „Kuhle Wampe“ an ein Brechtsches episches Theaterstück mit den berühmten V-Effekten. Insbesondere die Heimfahrt mit der S-Bahn vom Müggelsee in die Innenstadt, auf der sich eine lebhafte Diskussion zwischen etlichen Fahrgästen mit unterschiedlichen politischen Auffassungen und sozialem Status über das politische Weltgeschehen entwickelt, ist von raffinierter gestalterischer Hintergründigkeit.
Und auch sonst gibt es so vieles, das einem beim Betrachten aus heutiger Sicht ins Auge springt. Welche Ironie ist es doch, dass ausgerechnet die dunklen, ärmlichen, kleinen Hinterhauswohnungen in den Berliner Arbeiterbezirken, die damals als Inbegriff eines elenden Lebens galten, heute zu horrenden Quadratmeterpreisen ihren Besitzer wechseln und von ultraschicken Hipstern bewohnt werden. Und welche humane Botschaft liegt in der 2. Strophe des Solidaritätsliedes:
„Schwarzer, Weißer, Brauner, Gelber!
Endet ihre Schlächterei!
Reden erst die Völker selber,
werden sie schnell einig sein.“
Doch wird dieser Optimismus, der sich im übrigen weitgehend mit dem des demokratischen Liberalismus deckt, leider täglich aufs Neue erschüttert. Sobald man „die Völker“ nämlich über sich selbst bestimmen lässt, wählen sie am liebsten Fundamentalisten an die Macht, die als erstes ihre Freiheitsrechte beschneiden und zu „heiligen Kriegen“ gegen „die Ungläubigen“ aufrufen. Doch wusste schließlich auch Brecht schon: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral!“
„Und wer wird die Welt ändern?“ fragt einer während der besagten Diskussion in der S-Bahn. Und ein Mädchen antwortet: „Die, denen sie nicht gefällt!“ Das hätten die heutigen Occupy-Aktivisten nicht viel anders ausgedrückt. Fazit: Nicht alles, was Propaganda ist, muss schlechte Kunst sein.
Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt?
Deutschland 1932
Regie: Slatan Dudow
Drehbuch: Bertolt Brecht / Ernst Ottwalt
Musik: Hanns Eisler
Balladen: Helene Weigel und Ernst Busch
Darsteller: Alfred Schäfer, Hertha Thiele, Max Sablotzki, Lili Schoenborn, Willi Schur, Ernst Busch, Martha Wolter, Adolf Fischer, Ernst Geschonneck u.v.a.
In weiteren Rollen: 4 000 Mitglieder des Arbeitersportvereins Fichte, die Arbeiterspieltruppe „Das rote Sprachrohr“, Uthmann-Chor, Sängervereinigung Norden, Arbeitersänger Groß-Berlin, Chor der Berliner Staatsoper
www.justament.de, 12.11.2012: Charascho!
Recht cineastisch, Teil 13: „Russendisko“ nach Wladimir Kaminer – jetzt auf DVD!
Thomas Claer
Wer mit Anfang oder Mitte zwanzig in eine aufregende, noch unfertige, große und bunte Stadt kommt und dort zahlreiche verrückte Abenteuer erlebt, hat dort vielleicht die besten Jahre seines Lebens. So geht es im Film „Russendisko“ – frei nach dem gleichnamigen autobiographischen Erzählungsband von Wladimir Kaminer aus dem Jahr 2000 – drei jungen Russen, die im Juli 1990 nach Berlin kommen und dort trotz ihrer mehr als prekären Lebensumstände eine berauschende Zeit durchleben. Zunächst sind Wladimir, Andrej und Mischa im Ausländerwohnheim in Marzahn untergebracht. Die beiden ersteren haben von der „gewendeten“ (Noch-) DDR aufgrund ihres Judentums „humanitäres Asyl“ erhalten. Wladimirs Vater hatte seinem Sohn dringend zur Auswanderung nach Berlin geraten, denn dass die Freiheit in Russland Einzug hält, das könne nicht von Dauer sein. (Welch prophetische Worte!) Als das Besuchervisum von Mischa abgelaufen ist, flüchten die drei Freunde aus dem Ausländerheim und wohnen fortan noch beengter in einem Auto, das sie sich unter mysteriösen Umständen verschafft haben. In der Erwirtschaftung ihres Lebensunterhalts sind die drei erfinderisch, aber die Stadt macht es ihnen auch nicht allzu schwer. Andrej beginnt mit Bierdosen zu handeln, die er im Supermarkt einkauft und auf dem Alexanderplatz an Passanten verhökert. Später entdeckt er als lukratives Geschäftsfeld die Veräußerung von Original-Bruchstücken aus der Berliner Mauer an Touristen. Mischa spielt Gitarre auf der Straße und auf Plätzen. Nur Wladimir, der Lustigste von allen, der anfangs noch mit einem Hut das Geld für Mischas Gitarrenspiel einsammelt, weiß so gar nicht, was er mit seinem Leben anfangen soll. Die Erlösung kommt, als seine Eltern aus Moskau ihrem Sohn nach Berlin folgen und ihm seine geliebte Schallplattensammlung mitbringen. Fortan veranstaltet er im Cafe Burger in der Torstraße in Mitte die bald schon zu großer Berühmtheit gelangende „Russendisko“. Das zahlreiche russisch-jüdische und später immer gemischter werdende Publikum ist begeistert. Inzwischen hat er mit der von der Insel Sachalin stammenden Tänzerin Olga, deren Herz er gewinnt, indem er ihr fortwährend unwahrscheinliche Geschichten erzählt, auch seine große Liebe gefunden. Zwar gelingt es dem Film recht gut, die Stimmung jener Jahre einzufangen. Doch unbedingt vorzugswürdig sind und bleiben Wladimir Kaminers Hörbücher – mit starkem russischen Akzent.
Russendisko
Deutschland 2012
Regie: Oliver Ziegenbalg
Drehbuch: Oliver Ziegenbalg
100 Minuten, FSK: 6
Darsteller: Matthias Schweighöfer, Friedrich Mücke, Christian Friedel, Peri Baumeister u.v.a.
www.justament.de, 6.3.2012: Kuriert auf der Couch
Recht cineastisch, Teil 12: Eine dunkle Begierde
Thomas Claer
Zürich im Jahr 1904. Der damals junge und ambitionierte Psychiater Carl Gustav Jung (1875-1961, gespielt von Michael Fassbender) ist Oberarzt in einem Hospital, in das die damals noch jüngere und natürlich sehr attraktive russische Jüdin Sabina Spielrein (1885-1942, gespielt von Keira Knightley) eingewiesen wird, welche unter hysterischen Anfällen leidet. Zu jener Zeit war dieses heute fast völlig vergessene Krankheitsbild weit verbreitet, vor allem unter halbwüchsigen Töchtern „aus gutem Hause“. Es gelingt C.G. Jung, der bald darauf als Begründer der analytischen Psychologie groß herauskommen wird, seine Patientin mit der seinerzeit revolutionären Methode der Psychoanalyse vollständig zu heilen. Deren wissenschaftlicher Begründer, der mit Jung zunächst nur in Briefkontakt stehende Wiener Arzt Sigmund Freud (1856-1939, gespielt von Viggo Mortensen) berät den jungen Kollegen auch im Fall Sabina Spielrein. Seine Ferndiagnose lautet: Nymphomanie. Und in der Tat scheint es einen positiven Einfluss auf den Genesungsprozess der Patientin zu haben, dass sich Dr. Jung – völlig entgegen seinen sonstigen Prinzipien – zu einer amourösen Affäre mit ihr hinreißen lässt (von der seine Ehefrau nichts merken darf). Besonders genießt Sabina es dabei, von ihrem Liebhaber kräftig mit einem Stock auf ihr entblößtes Hinterteil geschlagen zu werden. Man sieht: Dieser Stoff, der – wie es heißt – wahren Begebenheiten nachgebildet wurde, ist wie geschaffen für eine filmische Umsetzung. Doch neben allen sinnlichen Extravaganzen kommt auch der wissenschaftliche Disput zwischen Freud und Jung, den beiden großen und bis heute umstrittenen Pionieren der menschlichen „Seelenzergliederung“, in diesem Film nicht zu kurz. Geschlagene 13 Stunden ohne Unterbrechung debattieren sie miteinander bei ihrem ersten Aufeinandertreffen in Wien, berichteten einander ausführlich ihre Träume und deuten diese aus. Schon hier zeigt sich aber der Keim zu jener Meinungsverschiedenheit, die später zum völligen Zerwürfnis zwischen beiden führen wird: Freud ist nach Jungs Geschmack zu einseitig auf die Sexualität fixiert, Jung hingegen findet Freuds Missbilligung wegen seiner starken Hinwendung zu Parapsychologie und Okkultismus. Derweil studiert Sabina Spielrein in Zürich erfolgreich Medizin und wird am Ende selbst Psychoanalytikerin. 1911 promoviert sie als erste Frau mit einem dezidiert psychoanalytischen Thema in Zürich zum Dr.med. Ein rundum sehenswerter Filmgenuss.
Eine dunkle Begierde
Großbritannien/ Deutschland/ Kanada/ Schweiz 2011
Regie: David Cronenberg
Drehbuch: Christopher Hampton
99 Minuten, FSK: 16
Darsteller: Keira Knightley, Michael Fassbender, Viggo Mortensen u.v.a.
www.justament.de, 28.11.2011: Davon geht die Welt doch unter
Recht cineastisch, Teil 11: Lars von Triers „Melancholia“
Thomas Claer
Was soll man von einem Filmregisseur halten, der auf einer Pressekonferenz der Welt erklärt, dass er Verständnis für Adolf Hitler aufbringe und sogar ein Stück weit mit ihm sympathisiere, um angesichts der entsetzten Blicke der Anwesenden noch eins draufzusetzen mit den Worten: „O.K., ich bin ein Nazi.“? Obwohl noch am selben Tag das Dementi folgte mit dem Nachschub, alles sei nur ein Scherz gewesen, hat das ganze jetzt auch ein juristisches Nachspiel. Hat also Lars von Trier, der mit seinen grobkörnig verwackelten Dogma-Filmen in den Neunzigern nicht weniger als eine neue Filmästhetik begründete, inzwischen den Verstand verloren? Wer sein neuestes Werk „Melancholia“ gesehen hat, wird alle Zweifel an ihm begraben. Auch wenn er heute natürlich längst mit deutlich größerem Budget arbeitet als seinerzeit und in seinen Filmen Darsteller von Rang aufbieten kann, so ist er seinem radikal ästhetischen Konzept doch mehr als treu geblieben. Unter pathetischen Wagner-Klängen, die angesichts des sich anbahnenden schaurig-schönen Weltuntergangs in der kosmischen Katastrophe hier ausnahmsweise ihre Berechtigung haben, treffen wir zunächst auf eine scheinbar rundum glückliche Hochzeits-Gesellschaft. Doch wie immer ist bei Lars von Trier nichts so, wie es scheint. Der betörend schönen, aber schwer depressiven Braut Justine (umwerfend gespielt von Kirsten Dunst, die sonst in hochkommerziellen Hollywood-Machwerken wie „Spiderman“ zu sehen ist) platzt der Kragen, als ihr ebenfalls auf der Hochzeit weilender Chef aus der Marketing-Firma mit üblen Personal-Spielchen aufwartet. Schließlich kann sie auch ihre exzentrische Mutter und ihren mediokren Bräutigam nicht mehr länger ertragen und lässt alles platzen. Zurückgezogen, von Job und Mann befreit, erholt sich Justine sodann mit Schwester, Schwager und kleinem Neffen von ihrem Zusammenbruch, während sich der von der Mehrzahl der Protagonisten zunächst hartnäckig geleugnete, dann aber nicht mehr länger verdrängbare vagabundierende Planet Melancholia unaufhaltsam der Erde nähert und letztlich mit ihr kollidiert. Der Film bietet dabei ein Spektakel wundervoll-schrecklicher Bilder, so auch wenn sich Justine frivolerweise im hellen Schein des Schreckens-Planeten in voller Pracht nackt auf einem Felsen räkelt. Mag sein, dass da auch ein wenig Leni Riefenstahl mitschwingt. Seine politische Haltung hat Lars von Trier jedoch in den vergangenen Jahren unmissverständlich und zur Genüge nicht nur in seinen Filmen, sondern auch durch sein Engagement gegen die rechtspopulistische Dänische Volkspartei dokumentiert. Und das drohende Gerichtsverfahren? Wir plädieren in seinem Fall für äußerste Milde. Weil er es ist.
Melancholia
Dänemark / Schweden / Frankreich / Deutschland 2011
Regie: Lars von Trier
Drehbuch: Lars von Trier
130 Minuten
Darsteller: Kirsten Dunst, Alexander Skarsgård, Kiefer Sutherland, Charlotte Gainsbourg, Charlotte Rampling u.v.a.
www.justament.de, 26.9.2011: Rehabilitierung der Mimosen
Recht cineastisch, Teil 10: Die anonymen Romantiker
Thomas Claer
Schwer zu sagen, ob „Die anonymen Romantiker“ wirklich ein guter Film ist, aber auf alle Fälle ist er ein sehr wichtiger Film, rührt er doch an einem Tabu in unserer modernen Gesellschaft. Es geht, anders als es der etwas irreführende deutsche Titel suggeriert, nicht unbedingt um Romantik (die erst zum Ende hin und eher unfreiwillig entsteht), sondern um zwei von schätzungsweise 10 bis 15 Prozent aller Menschen, die im Film als „hochsensibel“ bezeichnet werden. Die überaus begabte, aber kontaktscheue Schokoladen-Herstellerin Angélique tritt ihre neue Stelle in einer kleinen Schokoladenmanufaktur an und trifft dort bereits im Bewerbungsgespräch auf den ebenfalls hochsensiblen, sich aber hinter einer Maske aus Übellaunigkeit und Strenge verbergenden Chef Jean-René. Angélique, Ende 30, hat u.a. das Problem, dass sie, sobald sich die Aufmerksamkeit mehrerer Menschen auf sie richtet, errötet oder in Ohnmacht fällt. Jean-René, Mitte 40, hingegen bekommt u.a. Panik und Schweißausbrüche, sobald er sich in Gegenwart einer Frau befindet oder andere Menschen berühren muss. Doch beide arbeiten an ihren Leiden, Angélique in einer Selbsthilfegruppe und Jean-René auf der Couch eines Therapeuten, der ihm zur Bewältigung seiner Phobien immer neue Aufgaben stellt. Beim ersten Rendez-vous der beiden im Restaurant (eine Aufgabe für Jean-René von seinem Therapeuten), liest Angélique Konversationsfragen von Kärtchen ab, während Jean-René alle paar Minuten seine nassgeschwitzten Hemden wechselt. In den vielen kleinen Missverständnissen der Hauptfiguren sowohl untereinander als auch im Kontakt zu ihrer Umgebung entfaltet sich die mitunter beträchtliche Komik des Films, die in ihren stärksten Momenten an die besten Loriot-Sketche erinnert. Leider wird aber auch gelegentlich, im Verlaufe der Handlung noch zunehmend, die Schwelle zur Albernheit überschritten. Am Ende schlagen die Protagonisten ihren Ängsten jedoch ein Schnippchen, kommen mit der Schokoladenmanufaktur ganz groß raus und finden schließlich auch privat zueinander.
Was sagt uns nun dieser Film? Hochsensible, extrem schüchterne und an Sozialphobien leidende Menschen (die Übergänge sind fließend) passen auch bei bester fachlicher Kompetenz nur sehr bedingt ins heutige Erwerbsleben, das vielerlei Torturen für sie bereithält. Nur selten würden sie ein Bewerbungsgespräch, nie ein Assessmentcenter überstehen. Ihr immenses, oft und vor allem auch kreatives Potential kann die Gesellschaft nur in den seltensten Fällen nutzen. Es bleibt die Frage, wie sich moderne Volkswirtschaften nur ein solches Marktversagen, eine so gewaltige Verschwendung an Ressourcen leisten können.
Die anonymen Romantiker (Les émotifs anonymes)
Frankreich/ Belgien 2010
Regie: Jean-Pierre Améris
Drehbuch: Benedek Fliegauf
78 Minuten, FSK: 0
Darsteller: Isabelle Carré, Benoît Poelvoorde, Lorella Cravotta u.v.a.
www.justament.de, 14.6.2011: Verloren im Kulturschock
Recht cineastisch, Teil 9: Die deutsch-chinesische Co-Produktion „I Phone You“
Thomas Claer
Hurra, mal wieder ein Berlin-Film mit Drehbuch von Altmeister Wolfgang Kohlhaase! Und nach „Sommer vorm Balkon“ (2005) erst der zweite nach der Wende. Allerdings ist der inzwischen 80-jährige Wolfgang Kohlhaase da diesmal eher so reingerutscht: Die junge Chinesin Dan Tang, Regie-Absolventin der Filmhochschule Potsdam, hat ihn, so wird es erzählt, mit einem Eis dazu überredet, ihr Drehbuch zunächst nur zu lesen, und später sogar, es weiter zu bearbeiten. Und dann kamen die Produzenten, die einen neuen Kohlhaase-Film fürs Kino wollten… Aber egal. Herausgekommen ist ein Film, der sich trotz einiger handwerklicher Schwächen gut einfügt in den Kohlhaasschen Erzählkosmos, in dem zumeist Porträts einfacher Menschen in ihrem Alltag gezeichnet und dabei Geschichten erzählt werden, die einem ans Herz gehen.
Zu DDR-Zeiten lieferten die Drehbücher des in Berlin-Adlershof aufgewachsenen Kohlhaase eine Art Chronik des ungeliebten Staates von unten. Unvergesslich ist vor allem „Solo Sunny“ (1980), die einfühlsame Darstellung einer Sängerin im alternativ-proletarischen Milieu eines Hinterhauses in Prenzlauer Berg. Es gilt bis heute als ein Wunder, dass ein so radikaler Film mit so negativem Inhalt überhaupt in der DDR erscheinen durfte. Aber da der ebenso renommierte wie zuverlässig staatsnahe Konrad Wolf Regie geführt hatte, ließen die Zensoren das durchgehen. (Ein früherer Film mit Kohlhaase-Drehbuch, „Berlin um die Ecke“, war 1965 sogar verboten worden und konnte erst nach der Wende, 1990, durch Bearbeitung des Rohmaterials fertig gestellt werden.)
Und nun also „I phone you“, ein Film, wie es schon sein wortspielerischer Name verrät, ganz auf der Höhe der Zeit, der aber längst nicht so harmlos ist, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Wenn wichtige Leute aus Wirtschaft oder Politik beruflich andere Städte bereisen, dann haben sie dort mitunter Liebschaften. So auch der schwerreiche chinesische Wirtschaftsboss Yu, der eigentlich in Berlin ansässig ist (Geschäftsfeld: Unterseeboote) und anlässlich seines Aufenthalts in der quicklebendigen 30-Millionen-Stadt Chongqing mit der jungen, schönen und sehr selbstbewussten Animateurin Ling anbandelt. Nach einer Liebesnacht im Hotel schenkt er ihr ein iPhone, damit er sie auch von Berlin aus immer erreichen kann. Er bezirzt sie mit immer neuen Liebesschwüren per Telefonat, SMS, Mail und Videobotschaft. Doch kann man mit einem iPhone noch viel mehr anstellen, zum Beispiel virtuell in weit entfernte Städte reisen. Das tut Ling, findet Gefallen an Berlin, lässt sich von ihrem zähneknirschenden, in der Gastronomie tätigen Vater bezuschussen und fliegt kurz entschlossen nach Berlin, um ihrem Liebsten einen Besuch abzustatten. Doch dieser reagiert entsetzt, darf doch seine mit ihm in Berlin lebende Ehefrau nichts von Ling erfahren. So lässt sich Yu nach Lings Ankunft hartnäckig verleugnen und schickt seinen Bodyguard Marco (Florian Lukas) vor, der Ling schnellstmöglich ins Flugzeug zurück komplimentieren soll. Doch Ling, die sich überdies der Annäherungsversuche Marcos erwehren muss, lässt sich so schnell nicht abwimmeln und sucht Yu auf eigene Faust. Das ist in der fremden Umgebung aber ein abenteuerliches Unterfangen, und Ling macht unter anderem Bekanntschaften mit einem türkischen Taxifahrer, einem abgebrannten Studenten (der ihr seine letzten zehn Euro für das Taxi spendiert), der vietnamesischen Zigarettenmaffia, dem Ordnungsamt und der Ausländerbehörde. Das hat viel Witz, ist aber gelegentlich auch dicht am Klischee.
Sehr drastisch führt der Film allerdings vor Augen, welchen schweren Stand asiatische Frauen in Europa haben, selbst in der deutschen Multi-Kulti-Hauptstadt. Gut, denkt man, dass Ling mangels Sprachkenntnissen nur einen Bruchteil von all der Abschätzigkeit mitbekommt, die man ihr hier in breiten Bevölkerungsschichten entgegenbringt. Ob bei gierig-lüsternen Männern oder boshaft-eifersüchtigen Frauen – immer gilt die Gleichsetzung: asiatische Frau = Sexobjekt = Prostituierte. Die Berliner Proll-Kultur zeigt sich hier von ihrer überaus hässlichen Seite. Da kann es auch kaum trösten, dass europäische Touristinnen von ihren Besuchen in Fernost manchmal Ähnliches berichten. (Da gilt dann die Gleichung: blonde Frau = Sexobjekt = Schlampe.) Die Kombination aus Sexismus und Rassismus ist offenbar weltweit ein Renner.
Zu den Stärken des Films zählt die unaufdringliche Beiläufigkeit, mit der von all dem erzählt wird. Als Ling ihren Schwarm mit Hilfe des auf ihre Seite gewechselten Marco nach zwei Tagen endlich aufspürt, ist ihre Enttäuschung so groß, dass sie Yu ein Messer zwischen die Rippen stößt und später das iPhone aus dem Fenster wirft. Dabei hätte sie, so wie die Dinge standen, gar keine schlechten Karten gehabt, Yu ganz für sich zu erobern und so in die Welt des großen Geldes und der testosterongetriebenen Macht vorzudringen. Aber ein solches Taktieren, ja Pragmatismus überhaupt, sind Lings Sache nun einmal nicht. Auch Marco („Ick komm’ aus Neuruppin, aber ick bin da nich’ festgelegt.“) , der ihr auf linkische Weise immer neue Avancen macht, der sich sogar für sie prügelt, als eine alkoholisierte Männerhorde sie belästigt, blitzt schließlich bei ihr ab.
Der rote Faden in Kohlhaases Berlin-Filmen war über die Jahre die Dominanz starker Frauen-Figuren. Gleichwohl wehrt sich der Altmeister entschieden gegen den Verdacht, ein „Frauenversteher“ zu sein. Nein, im Gegenteil, sagte er unlängst im Interview mit Spiegel-Online, er könne Frauen in der Regel überhaupt nicht verstehen, weshalb er auch immer wieder tagelang über sie nachdenken könne. Nachdenklich macht aber auch die transkulturelle Dimension in „I phone you“. Mag der westliche Zuschauer anfangs noch sehr befremdet auf die platte und oberflächliche Welt der jungen Ling in Chongqiing mit ihrem idiotischen Job, ihren einfältigen Freundinnen und dem seichten Partyleben blicken, so entwickelt er schon bald so etwas wie Scham angesichts der um ein Vielfaches roheren Berliner Kneipengespräche. Der Kontrast öffnet einem gewissermaßen die Augen. Und dann Lings ungläubig-erschrockener Blick auf die Brotstullen, die man ihr im Polizeigewahrsam serviert: Soll man so etwas etwa essen? Gute Dienste zur Überbrückung der Kommunikationsbarriere zwischen Ling und Marco leistet schließlich noch das deutsch-chinesische Übersetzungs-App des iPhones, indem Ling ihre Schimpfwörter auf Chinesisch eintippt und sie Marco auf dem iPhone-Display am langen Arm auf Deutsch entgegenstreckt. Da erscheint dann zum Beispiel: „Hund vom Chef“.
Und noch ein Gutes hat die DDR-Zensur-erprobte Behutsamkeit, mit welcher der seit 1952 als freischaffender Drehbuchautor und Schriftsteller tätige Wolfgang Kohlhaase seinen immer wachen und kritischen Blick in die Film-Dialoge einfließen lässt: Der Film darf voraussichtlich bald auch in China gezeigt werden.
I Phone You
Deutschland/China 2011
Regie: Dan Tang
Drehbuch: Wolfgang Kohlhaase
95 Minuten, FSK: 6
Darsteller: Jiang Yiyan, Florian Lukas, Wu Da Wei, Wang Hai Zhen, Nicole Ernst, Deng Jia Jia, Bing He, Annette Frier, Marie Gruber, Tino Mewes, Fritz Roth, Alexander Yassin
www.justament.de, 26.4.2011: Wiedergeborener Geliebter
Recht cineastisch, Teil 8: Das Klon-Drama “Womb“ mit Eva Green
Thomas Claer
Eva Green ist eine Schauspielerin zum Niederknien. Wie sie 2003 in „Die Träumer“ von Bernardo Bertolucci als Pariser Professorentochter im Mai 1968 in einer Art vorweggenommenem Mini-Flashmob Hand in Hand mit Bruder und Liebhaber durch den Louvre stürmte und sich mit ihnen im pantomimischen Filmzitate-Raten übte, das verschlug einem den Atem. Später hat Eva Green dann aber auch weniger schmeichelhafte Dinge getan, wurde 2006 zum James Bond-Girl und posierte gar in Werbespots, so dass man schon geneigt war, sie abzuschreiben. Und jetzt das: eine triumphale Rückkehr zum Autorenkino in den Film eines weitgehend unbekannten ungarischen Regisseurs. Dieser Streifen ist so independent, dass er eine Woche nach seinem Start in gerade einmal drei Berliner Kinos gezeigt wurde und sich abends im „Hackesche Höfe Kino“, während sich draußen die Massen in den Cafés drängelten, ganze vier Besucher verloren. Dabei hätte „Womb“ durchaus mehr Beachtung verdient, denn es werden große, abgründige Fragen verhandelt und die fatalen Konsequenzen aufgezeigt, die ein allzu optimistischer Einsatz neuer biotechnischer Errungenschaften mit sich bringen kann.
Zwischen den zwölfjährigen Kindern Rebecca und Tom reift während Rebeccas Ferienaufenthalt in einer abgelegenen Küstengegend an der Nordsee bei ihrem Großvater einen Sommer lang eine tiefe Freundschaft. Als Rebecca zu ihrer Mutter nach Tokio zieht, schwören sie sich ewige Treue. Nach zwölf Jahren kommt Rebecca in das Haus ihres verstorbenen Großvaters zurück und trifft in der Nachbarschaft auf den noch immer dort lebenden, inzwischen Biologie studierenden Tom. Die nur wenige Tage dauernde leidenschaftliche Romanze zwischen ihnen findet ihr jähes Ende, als Tom bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommt. Wir befinden uns, was erst an dieser Stelle deutlich wird, bereits in der nahen Zukunft. Das reproduduzierende Klonen von Menschen ist möglich und bezahlbar. So lässt sich Rebecca, die auf Tom nicht verzichten kann, das Erbgut ihres verunglückten Geliebten in den Unterleib einpflanzen und bringt ihn so gewissermaßen ein zweites Mal auf die Welt. Man kann sich vorstellen, wie es weitergeht: Die begehrlichen Blicke Rebeccas auf ihren biologisch nicht mit ihr verwandten, heranwachsenden Sohn, der doch notwendigerweise ein ganz Anderer ist als ihr früherer Geliebter, lassen den Zuschauer ratlos zurück. Ein Drama, das unter die Haut geht.
Womb
Deutschland/ Frankreich/ Ungarn 2010
Regie: Benedek Fliegauf
Drehbuch: Benedek Fliegauf
107 Minuten, FSK: 16
Darsteller: Eva Green, Matt Smith, Lesley Manville, Peter Wight, Istvan Lenart, Hannah Murray u.v.a.
www.justament.de, 19.7.2010: Ehrenmord in aberratio ictus
Recht cineastisch, Teil 7: „Die Fremde“ mit Sibel Kekilli
Thomas Claer
Es kommt nicht alle Tage vor, dass die Leute um einen herum im Kino laut schluchzen, knisternd ihre Taschentücher herauskramen und ihren Tränen der Rührung freien Lauf lassen. Man fühlt sich dann an die legendenumwobene Premiere von Schillers „Die Räuber“ am 13.1.1782 im Nationaltheater Mannheim erinnert, wo sich wildfremde Menschen weinend in den Armen gelegen haben sollen. Und wie weiland der junge Friedrich Schiller gegen überkommene gesellschaftliche Konventionen rebellierte, erhebt die österreichische Regisseurin und Schauspielerin Feo Aladag mit ihrem hier in Rede stehenden Debütfilm auf herzergreifende Weise Anklage gegen familiäre Gewalt und aggressiven Traditionalismus im Berliner türkischen Migrantenmilieu. Doch zeigt der Film gleichzeitig so viel Mitgefühl, Verständnis, ja heiße Anteilnahme für die in ihren Traditionen gefangene türkische Familie, dass der Zuschauer am Ende auch den Tätern seine Empathie kaum verweigern kann.
Die 25-jährige nach Istanbul zwangsverheiratete Berliner Deutschtürkin Umay (glänzend gespielt von Sibel „ich war jung und brauchte das Geld“ Kekilli) verlässt ihren gewalttätigen Ehemann und kehrt mit ihrem ca. fünfjährigen Sohn Cem nach Berlin zurück. Dort macht ihr die gesamte Großfamilie nun fortdauernd die Hölle heiß und will ihren kleinen Sohn zurück zu dessen Vater in die Türkei bringen, was Umay gerade noch rechtzeitig durch Flucht in ein Frauenhaus verhindern kann. Aber Umay, die sich einen Job und ein selbstbestimmtes Leben organisiert, die ihr Abitur nachholen und studieren will, zieht es fatalerweise immer wieder zurück zu ihrer einerseits gefürchteten, andererseits schmerzlich vermissten Familie – bis die von heiligem Zorn gepackten Brüder zur Tat schreiten. Diese mündet allerdings in eine besonders tragische aberratio ictus: Letztlich erwischt es den kleinen Jungen.
Mag sein, dass es in „Die Fremde“ hin und wieder etwas zu pathetisch zugeht, eine Spur zu dick aufgetragen wird. Doch hat dieser Film – nur ohne happy end – das Zeug dazu, für unsere Deutschtürken das zu werden, was für die Ostdeutschen seit einigen Jahren „Das Leben der Anderen“ ist: ein Appell an die Mehrheitsgesellschaft: „Seht diesen Film und ihr werdet uns verstehen!“
Die Fremde
Deutschland 2010
Regie: Feo Aladag
Drehbuch: Feo Aladag
119 Minuten, FSK: —
Darsteller: Sibel Kekilli, Nizam Schiller, Derya Alabora, Settar Tanriögen, Serhad Can, Almila Bagriacik, Tamer Yigit u.v.a.
www.justament.de, 21.6.2010: Tragische Asymmetrie
Recht cineastisch, Teil 6: „Same Same But Different“ – Detlev Bucks erster Liebesfilm
Thomas Claer
Wenn Detlev Buck (Jahrgang 1962), immerhin schon ein alter Hase im Filmbusiness, nach langen Jahren als Regisseur (und nebenbei auch als sehr passabler Schauspieler) nun erstmals einen Liebesfilm gedreht hat, dann unterstreicht das nur seine vorsichtige Distanz zu diesem immer heiklen, fast unvermeidlich kitschnahen Genre. Das Experiment, so kann man sagen, ist gelungen. Der für seinen trockenen Humor und die immer ein wenig „independent“ anmutenden Filme bekannte Buck bringt auch die Geschichte von Ben (David Kross) und Sreykeo (Apinya Sakuljaroensuk) handwerklich sehr routiniert, gekonnt und stilsicher auf die Leinwand. Bemerkenswert ist vor allem, dass er diesmal nahezu gänzlich ohne Witz oder Ironie auskommt.
Es ist eher die Geschichte selbst, die nachdenklich macht. Der Hamburger Abiturient Ben begibt sich mit einem Kumpel auf eine Abenteuer-Rucksackreise nach Kambodscha. Dort verliebt er sich in einer Disko in die junge Prostituierte Sreykeo, die, wie sich später herausstellen wird, HIV-positiv ist. Nach langen Wirren, mehreren Transkontinentalflügen, unzähligen Videotelefonaten und erheblichen finanziellen Aufwendungen auf Seiten von Ben (nicht zuletzt für Sreykeos Medikamente), entscheidet er sich für diese Liebe und ist bereit, Sreykeo zu heiraten. Nicht, dass hier etwas konstruiert wirken würde, die Handlung beruht auf einem autobiographischen Roman, und man glaubt gerne, dass sich alles so zugetragen hat. (Ausgenommen der Umstand, dass Sreykeo, die von einem früheren Kunden Deutsch gelernt haben soll, sich so vergleichsweise reibungslos mit Ben in dessen Sprache zu verständigen vermag. Das kann einfach nicht sein!) Bedenklich ist eher die Konstellation an sich, die zwischen den Protagonisten bestehende fundamentale Asymmetrie, die ein trübes Licht auf diese Liebe wirft. Für Sreykeo ist Ben nun einmal die einzige Chance, nicht nur ihrem Elend zu entkommen – die Armut in Kambodscha wird in drastischen Bildern gezeigt – sondern sich überhaupt mittelfristig am Leben zu erhalten. Und wer will es ihr da verdenken, dass sie mit allen Mitteln um Ben wirbt? Die Frage ist müßig, ob sie sich unter anderen Umstände auch nur ansatzweise für ihn interessiert hätte. Ben hingegen wird durch seine aufopfernde Zuwendung zu einer Art Lichtgestalt – im scharfen Kontrast zu den anderen westlichen Kambodscha-Besuchern im fließenden Übergang zwischen Hippitum und Sextourismus. Sehr treffend fängt der Film das Heuchlerische und Abstoßende dieses Milieus ein. Auch wenn mit den Liebenden schließlich alles – gegen jede Wahrscheinlichkeit – zu einem guten Ende kommt. Romantisch mag man diese Liebe dennoch nicht nennen.
Same Same But Different
Deutschland 2009
106 Minuten, FSK 6
Regie: Detlev Buck
Drehbuch: Ruth Thoma, Michael Ostrowski, Detlev Buck
Darsteller: David Kross, Apinya Sakuljaroensuk, Stefan Konarske, Jens Harzer, Anne Müller, Michael Ostrowski u.v.a.