Tag Archives: Ehrenmord

justament.de, 5.8.2019: Ich mach dich Friedhof!

Recht cineastisch, Teil 36: „Nur eine Frau“ von Sherry Hormann

Thomas Claer

„In meinem Land herrscht Gewissens- und Fickfreiheit!“ (nach anderer Quelle: “In meinem Staat herrscht Gedanken- und Fickfreiheit!“), soll Friedrich der Große (1712-1786) einmal geäußert haben. Aber auch dies (in mäßigem Deutsch): „Alle Religionen Seindt gleich und guht wan nuhr die leüte so sie profsiren Erliche leüte seindt, und wen Türken und Heiden kähmen und wollten das Land Pöpliren, so wollen wier sie Mosqueen und Kirchen bauen.“ Zweieinhalb Jahrhunderte später zeigt sich nun, dass es mitunter gar nicht so einfach ist, diese im Grunde sehr löbliche Toleranz- und Willkommenskultur unter einen Hut zu bringen. Denn die Probleme beginnen spätestens dann, wenn man sich ausgesprochene Intoleranzkulturen ins Land holt, die gerade auch in ihren Gotteshäusern Stimmung gegen die liberale Mehrheitsgesellschaft machen und diese verachten. Ob es einem gefällt oder nicht: Zu Deutschland gehören mittlerweile auch Familienstrukturen mit archaisch geprägten Ehrvorstellungen, die ihren Angehörigen (und nicht nur ihnen) das Leben zur Hölle machen – und das auch noch mitten in unseren weltoffenen Großstädten, in denen doch jeder nach seiner Facon glücklich werden sollte. Schuld daran ist gewiss nicht „der Islam“ und sind schon gar nicht „die Muslime“, denn diese und jener sind ihrerseits sehr vielfältig und verdienen es nicht, über einen Kamm geschoren zu werden. Dennoch kann man es nur als völlig falsch verstandene Toleranz ansehen, wenn unsere Rechtsordnung es hinnimmt, dass Frauen in bestimmten Milieus als Menschen zweiter Klasse behandelt und ihnen elementare Freiheiten vorenthalten werden. (Und dass ein Teil der muslimischen Frauen sich auch noch freiwillig solchen rückständigen Moral- und Bekleidungsvorschriften unterwirft, macht alles nur noch schlimmer.)

Der Ehrenmord an der türkisch-kurdischstämmigen Berlinerin Hatun Sürüci, der 2005 deutschlandweit für Entsetzen gesorgt hatte, ist nun mitsamt seiner Vorgeschichte und seinen Folgen auf eindrucksvolle Weise von Sherry Hormann verfilmt worden. Dieser Film ist zugleich ein Aufschrei der Empörung über die – wie zu befürchten ist – hierzulande noch immer zahlreichen in ähnlicher Weise bestehenden familiären Unterdrückungs- und Überwachungsstrukturen. Und vor allem setzt er jenen tapferen Frauen (und manchmal auch Männern) ein Denkmal, die sich dagegen zur Wehr setzen.

Nur eine Frau
Deutschland 2019
97 Minuten, FSK: 12
Regie: Sherry Hormann
Drehbuch: Florian Oeller
Produktion: Sandra Maischberger
Darsteller: Almila Bagriacik (Hatun Aynur Sürüci), Aram Arami (Tarik Sürüci), Jacob Matschenz (Tim) u.v.a.

www.justament.de, 19.7.2010: Ehrenmord in aberratio ictus

Recht cineastisch, Teil 7: „Die Fremde“ mit Sibel Kekilli

Thomas Claer

drum-herum-tc-kino_diefremde_kekilli_lukas1Es kommt nicht alle Tage vor, dass die Leute um einen herum im Kino laut schluchzen, knisternd ihre Taschentücher herauskramen und ihren Tränen der Rührung freien Lauf lassen. Man fühlt sich dann an die legendenumwobene Premiere von Schillers „Die Räuber“ am 13.1.1782 im Nationaltheater Mannheim erinnert, wo sich wildfremde Menschen weinend in den Armen gelegen haben sollen. Und wie weiland der junge Friedrich Schiller gegen überkommene gesellschaftliche Konventionen rebellierte, erhebt die österreichische Regisseurin und Schauspielerin Feo Aladag mit ihrem hier in Rede stehenden Debütfilm auf herzergreifende Weise Anklage gegen familiäre Gewalt und aggressiven Traditionalismus im Berliner türkischen Migrantenmilieu. Doch zeigt der Film gleichzeitig so viel Mitgefühl, Verständnis, ja heiße Anteilnahme für die in ihren Traditionen gefangene türkische Familie, dass der Zuschauer am Ende auch den Tätern seine Empathie kaum verweigern kann.
Die 25-jährige nach Istanbul zwangsverheiratete Berliner Deutschtürkin Umay (glänzend gespielt von Sibel „ich war jung und brauchte das Geld“ Kekilli) verlässt ihren gewalttätigen Ehemann und kehrt mit ihrem ca. fünfjährigen Sohn Cem nach Berlin zurück. Dort macht ihr die gesamte Großfamilie nun fortdauernd die Hölle heiß und will ihren kleinen Sohn zurück zu dessen Vater in die Türkei bringen, was Umay gerade noch rechtzeitig durch Flucht in ein Frauenhaus verhindern kann. Aber Umay, die sich einen Job und ein selbstbestimmtes Leben organisiert, die ihr Abitur nachholen und studieren will, zieht es fatalerweise immer wieder zurück zu ihrer einerseits gefürchteten, andererseits schmerzlich vermissten Familie – bis die von heiligem Zorn gepackten Brüder zur Tat schreiten. Diese mündet allerdings in eine besonders tragische aberratio ictus: Letztlich erwischt es den kleinen Jungen.
Mag sein, dass es in „Die Fremde“ hin und wieder etwas zu pathetisch zugeht, eine Spur zu dick aufgetragen wird. Doch hat dieser Film – nur ohne happy end – das Zeug dazu, für unsere Deutschtürken das zu werden, was für die Ostdeutschen seit einigen Jahren „Das Leben der Anderen“ ist: ein Appell an die Mehrheitsgesellschaft: „Seht diesen Film und ihr werdet uns verstehen!“

Die Fremde
Deutschland 2010
Regie: Feo Aladag
Drehbuch: Feo Aladag
119 Minuten, FSK: —
Darsteller: Sibel Kekilli, Nizam Schiller, Derya Alabora, Settar Tanriögen, Serhad Can, Almila Bagriacik, Tamer Yigit u.v.a.