www.justament.de, 7.10.2012: Der Mann mit der Apfelschorle

Sven Regener mit seinem vierten Roman „Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt“

Thomas Claer

regener-coverLange war ja gerätselt worden, wovon der neue Roman von Sven Regener wohl handeln könnte, denn die Figur Frank Lehmann, die der Leser über drei Romane auf zusammen weit über 1000 Seiten ins Herz geschlossen hatte, war ja nach allseits kundgetaner Meinung des Autors schon irgendwie auserzählt. Nun ist es also raus: Herr Lehmanns bester Freund, der Bierzapfer-Kollege und unverstandene Schrott-Künstler Karl Schmidt, der ausgerechnet in der Nacht der Mauer-Öffnung einen durch ausgedehnte Schlaflosigkeit und massiven Drogenabusus beförderten depressiven Nervenzusammenbruch erlitten hat und von Geburtstagskind Frank Lehmann ins Kreuzberger Urban-Krankenhaus gebracht worden ist, nimmt den Erzählfaden im Frühjahr 1995 nunmehr aus der Ich-Perspektive wieder auf.

Karl, inzwischen 36 Jahre alt, lebt nun im „Clean Cut 1“, einer Drogenentzugs-WG in Hamburg-Altona und wird von Werner, seinem sozialpädagogischen Betreuer, streng auf totale Abstinenz getrimmt: keine Drogen, kein Alkohol. Erlaubt sind nur Kaffee und Zigaretten. Daneben hat Karl einen Job als Hilfshausmeister in einem Kinderkurheim und ist zudem verantwortlich für die Versorgung der Tiere des angeschlossenen Streichel-Zoos. Besonders demütigend ist für einen früheren Szene-Menschen wie Karl neben dem Arbeitsbeginn um 7 Uhr morgens natürlich auch, dass seine Mutter ihm den Job besorgt hat, die „ein hohes Tier beim Hamburger Senat“ ist. Als eines Tages seine früheren Kreuzberger Kumpels Ferdi und Raimund auftauchen und Karl einen Job anbieten, wagt dieser den Absprung. Doch traut Karl Schmidt sich selbst noch nicht so ganz. Die Psycho-Pillen hat er inzwischen abgesetzt, doch erlebt er immer wieder labile Schübe, die er aber einigermaßen unter Kontrolle bringen kann. Sicherheitshalber schwört er auch weiterhin auf völlige Abstinenz und ist genau dadurch der richtige Mann für Ferdi und Raimund, mit denen Karl schon um 1980 in der Berliner Avantgarde-Band „Glitterschnitter“ zusammengespielt hat (Karl Schmidt übrigens an der Bohrmaschine). Die beiden früheren Bandkollegen betreiben nämlich inzwischen das sehr erfolgreiche Techno-Label „BumBum Records“ und suchen für ihre Tournee mit mehreren DJs einen zuverlässigen Fahrer, der garantiert keine Drogen nimmt und immer nüchtern bleibt.

Als Karl nach fünfjähriger Abwesenheit ins wiedervereinigte Berlin einfährt, erkennt er es kaum wieder. Auf der Suche nach dem BumBum-Büro in der Sophien-Straße in Mitte wundert er sich zunächst darüber, dass die S-Bahn-Station nicht mehr „Marx-Engels-Forum“, sondern „Hackescher Markt“ heißt. Label-Chef Ferdi, inzwischen 50 Jahre alt, einen Joint nach dem anderen rauchend und zur Illustration seiner Popmusik-Theorien ständig auf fragwürdige Weise „Masse und Macht“ von Elias Canetti zitierend, erklärt ihm dann, dass bei ihnen mittlerweile das Geld nur so durch die Decke regne. „Der Mauerfall … das war ja überhaupt der Hammer, plötzlich machen die da neben uns eine ganz neue Stadt auf und überall die leeren Gebäude, du glaubst ja nicht, was wir da mit Partys verdient haben, da sind wir einfach rein…“ BumBum landen einen Techno-Hit nach dem anderen, die organisatorische Arbeit wird ganz überwiegend von günstigen Praktikanten erledigt. Ferdi berichtet weiter, dass sie, wo soll man mit dem ganzen Geld denn sonst hin, gleich das ganze Haus mit dem Büro in der Sophienstraße gekauft haben und das daneben gleich auch noch. (Aus heutiger Sicht betrachtet, war das, vorsichtig gesagt, keine schlechte Idee…)

Es geht also los auf die „Magic Mystery-Tour“, für 12 Tage einmal quer durch Deutschland in einem kleinen engen Bus mit 10 Personen. Besonders erfüllend ist für Karl, der alle Schwierigkeiten überwindet und als einziger statt Bier mit Koks immer eisern seine Apfelschorle trinkt, die sich anbahnende Liebe zur mitreisenden DJane Rosa. Ihre erste persönliche Begegnung verläuft allerdings denkbar ungünstig für ihn: „Was läuft denn hier für ein schrottiges Gedudel?“, fragt Karl. Und der neben Rosa stehende Ferdi antwortet: „Das ist Rosas neuer Track.“ Doch Rosa ist so ganz anders als Karls frühere Gefährtinnen und auch als die immer aufs Neue enttäuschenden Flammen des Frankie Lehmann. Rosa findet es gar nicht so schlimm, dass er „aus der Klapsmühle“ kommt, und auch nicht, dass er so fett geworden ist (denn immerhin ist er ja noch groß und stark). Sein unsicherer beruflicher Status ist für sie ebenfalls nicht abschreckend, und sie interessiert sich nicht einmal für seine Vermögensverhältnisse. Vermutlich gibt es solche Frauen nur im Roman… Am Ende der Rave trifft Karl Schmidt auf der „Springtime“ in Essen dann sogar noch seinen früheren Kreuzberger Kneipen-Chef, den „Diskurs-Gastronomen“ Erwin Kächele („Kerle, Kerle, Kerle“), den schwäbischen Millionär mit dem Lebensstil eines Sozialhilfeempfängers. Auch Frank Lehmann soll in der Nähe sein, doch der von der anstrengenden Tour völlig übermüdete Karl verpennt das geplante Treffen mit ihm.

Aber immerhin erfährt der Leser dann am Ende des Buches doch noch, wie es mit Herrn Lehmann nach der Wende weitergegangen ist: Gemeinsam mit seinem geschäftstüchtigen Chef Erwin Kächele hat er die hervorragend laufende Firma „Rave Gastro Berlin“ gegründet, die sich um die gastronomische Versorgung von Techno-Großveranstaltungen kümmert. Klar, Frank Lehmann ist, wie wir aus „Neue Vahr Süd“ wissen, gelernter Einzelhandelskaufmann. Und außerdem hatte er von seinen vielen Sonderschichten im „Einfall“, wie es in „Herr Lehmann“ hieß, „sehr viel Geld gespart“. Das wird er dann wohl als Gesellschafter in die neue Firma überführt haben. Womöglich ist damals auch die eine oder andere Mark an der Steuer vorbei geflossen, weshalb Erwin auch seinerzeit immer so panische Angst vor den „Zivilbullen“ hatte. Selbst der langweilige Informatiker Kristall-Reiner, der Frank Lehmann die schöne Köchin Katrin als Freundin ausspannte (denn Herr Lehman war in ihren Augen viel zu unambitioniert), wurde von Erwin verdächtigt, ein Spitzel zu sein. Hoffentlich hat Katrin später von Frank Lehmanns „Karriere“ erfahren und sich darob in eines ihrer hübschesten Körperteile gebissen…

Ist „Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt“ nun also ein gutes Buch, das viele Leser verdient? Ja und nein. Sicher, der Plot ist mal wieder ganz ausgezeichnet. Und gut schreiben kann Sven Regener in seiner sehr individuellen Mischung aus Einfühlsamkeit und Schnodderigkeit, aus opulentem Satzbau und Gossenslang, wenn es drauf ankommt, auch. „Das dunkle Gefühl“ der sich immer wieder anschleichenden Depression des Karl Schmidt ist glänzend geschildert, ebenso die zarte Liebesgeschichte zwischen Karl und Rosa (die ja schon rein namenstechnisch nach einer Fortsetzung in Ost-Berlin schreit). Die Dialoge zwischen den beiden sind vor allem deshalb so gelungen, weil sie in jenem frühen Stadium ihrer Beziehung zueinander noch vorsichtig miteinander umgehen und sich vor ihren Antworten noch Zeit zum Nachdenken nehmen – im Gegensatz zum hemmungslosen Draufloslabern der übrigen Romanfiguren. Ja, dieses Buch hat eigentlich nur einen einzigen gravierenden Fehler: Es ist mit über 500 Seiten um mindestens 150 Seiten zu lang! Zwar liegt der besondere Witz des Romans natürlich nicht zuletzt in den Redundanzen, die in den Gesprächen der Figuren fast schon permanent verhandelt werden, aber irgendwann, spätestens auf der nicht enden wollenden Rave-Tournee, kommt dann doch der Punkt, an dem man als Leser so langsam ein wenig genervt ist. Eine eingedampfte Version auf 300 bis 350 Seiten wäre ein richtig gutes Buch geworden.

Das ändert aber nichts daran, dass, so wie der große Walter Kempowski als Chronist des deutschen Bürgertums gilt, sich Sven Regener mittlerweile als redlicher Chronist des deutschen Szenelebens im ausgehenden 20. Jahrhundert etabliert hat. Wir verdanken Kempowski sieben Bände seiner bürgerlichen Chronik. Wenn Regener, 52, sein bisheriges Tempo durchhält und alle vier Jahre mit einem weiteren Band aufwartet, kann er bis zum Eintritt ins Rentenalter mit Kempowski gleichziehen. Wir warten auf eine Fortsetzung, bei der der Autor vielleicht einen Tick schneller als diesmal zum Punkt kommt.

Sven Regener
Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt
Verlag Galiani Berlin 2013
503 Seiten, EUR 22,99
ISBN: 978-3-86971-073-0

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