Tag Archives: Songwriterin

justament.de, 23.9.2023: Ganz die alte Ewigjunge

PJ Harvey auf “I Inside the Old Year Dying”

Thomas Claer

Welch eine Freude es doch ist, endlich wieder etwas Neues von PJ Harvey zu hören! Einige Jahre lang hat sie sich rar gemacht und, so heißt es, u.a. an ihrem zweiten Gedichtband gearbeitet. Genau genommen, so verrät uns Wikipedia, handelt es sich hierbei um einen Versroman im Dialekt ihrer Heimat Dorset, einer “traditionellen und zeremoniellen Grafschaft” (Wikipedia) im Südwesten Englands, die schon viele bedeutende Schriftsteller hervorgebracht hat. So wie auch die großartige Sängerin und Songwriterin PJ Harvey, deren herausragende letzte Klangwerke “Let England Shake” (2011) und “The Hope Six Demolition Project” (2016) wir noch in allerbester Erinnerung haben. Nun also ist mit “I Inside the Old Year Dying” ihr mittlerweile zehntes Studioalbum erschienen. Zählt man noch die beiden Kooperationen mit John Parish von 1996 und 2009 dazu, was man unbedingt tun sollte, denn John Parish war bei mehreren anderen PJ-Harvey-Platten ja schließlich auch mehr als nur unwesentlich beteiligt, ohne darauf eigens als Co-Hervorbringer zu firmieren, wie übrigens auch diesmal, dann ist die neue Platte bereits ihre zwölfte. Um von weiteren John-Peel-Sessions- und Raritäten-CD gar nicht erst zu reden… Kurzum, die in wenigen Tagen 54-jährige PJ kann auf eine nicht unerhebliche Anzahl an Veröffentlichungen zurückblicken und klingt dennoch auf ihrem neuen Album unverändert wie ein junges Mädchen, oder sagen wir: wie das eigensinnige und etwas kratzbürstige junge Mädchen, als das wir sie schon auf ihren ersten Platten Anfang der 90er kennengelernt haben. Und, nur ganz nebenbei: Auch optisch hat sich Polly Jean über die Jahre hinweg bemerkenswert gut gehalten. Auf dem Rückseitenfoto versprüht sie jedenfalls im engen weißen Kleid und in High Heels, dabei ihr rechtes Bein und ihren linken Unterarm entblößend, mehr Sex-Appeal als alle heutigen 21-jährigen Superstars zusammen.

Zur Musik auf “I Inside the Old Year Dying” ist zu sagen, dass sie zwar nicht ganz an die der beiden glänzenden Vorgängeralben herankommt, aber alles in allem doch wieder sehr überzeugend geraten ist. Ein paar schwächere Songs fallen wenig ins Gewicht angesichts der Vielzahl an sehr starken Titeln. Zu Beginn der Platte erinnert PJs Stimmakrobatik etwas an ihre frühere CD “White Chalk” (2007), die wir seinerzeit an dieser Stelle ebenfalls mit Lob überschüttet haben. Im weiteren Verlauf, vor allem im in der Mitte des Albums platzierten Titelstück und bei dessen Variation “I Inside the Old I Dying”, klingt es dann doch wieder ganz ähnlich wie auf den gefeierten Vorgängern: ziemlich folkig und melodisch, fast schon hymnisch und dabei doch PJ-typisch rau und ungeschliffen. Besonders hervorzuheben ist noch, dass sie mitunter auch ganz neue Wege geht – wie auf dem wahrhaft gespenstischen “All Souls”. Das Urteil lautet: gut (13 Punkte).

PJ Harvey
I Inside the Old Year Dying
Partisan Records LLC / Knitting Factory Records Inc. 2023
PTKF3032-2

justament.de, 9.8.2021: Geheimnisvoller Geheimtipp

Scheiben vor Gericht Spezial: Vor zehn Jahren starb die Berliner Songwriterin Barbara Gosza (1966-2011)

Thomas Claer

Wenn Pop-Musiker in jungen Jahren sterben, werden sie schnell zur Legende. Ein wenig ist es auch mit der Sängerin und Songwriterin Barbara Gosza so gekommen, die vor zehn Jahren, im Mai 2011, tot in ihrer Berliner Wohnung aufgefunden wurde, auf tragische Weise verstorben an den Folgen eines epileptischen Anfalls.

Ein bemerkenswertes, wenn auch relativ überschaubares Werk hat sie uns hinterlassen, aus dem vor allem das wundervolle Album „Beckett & Buddha“ aus dem Jahr 1992 hervorzuheben ist: eine in sich ruhende, melancholische, vollendet schöne Folk-Platte, produziert von Sven Regener, der Jahre später hierzu lediglich zu Protokoll gegeben hat, dass ihm diese temperamentvolle Dame als „sehr anstrengend“ in Erinnerung geblieben sei… Wohl auch zur Legendenbildung beigetragen hat offenbar der Umstand, dass Barbara Gosza zeit ihres Lebens ein Geheimtipp geblieben ist, dem zumindest ein größerer kommerzieller Durchbruch nicht vergönnt war, obwohl an schwärmerischen Bewunderern – vor allem unter den Musikkritikern – gewiss kein Mangel geherrscht hat…

Die unsichere Quellenlage bezüglich dieser semiprominenten Musikerin bringt es mit sich, dass im Netz zum Teil widersprüchliche Angaben zu ihrer Biographie kursieren. Als gesichert gelten kann, dass sie 1966 geboren wurde, als Tochter tschechischer Einwanderer zunächst in Chicago aufgewachsen ist und dann einen großen Teil ihrer Kindheit in Athen verbracht hat. Nach anderen Quellen soll sie aber auch in München aufgewachsen sein und ihr Boheme-Leben als Metro-Musikerin in Paris begonnen haben. Wiederum woanders heißt es, ihre künstlerische Sozialisation sei in den Cabarets von Berlin erfolgt.

Sicher ist zumindest, dass sie dort um 1990 herum lebte, als ihre erste Platte, „Love it is“, auf dem Bremer Indie-Label „Strangeways“ erschien. Nach dem vielbeachteten – und bis heute heiß geliebten – Nachfolgewerk „Beckett & Buddha“, auf dem u.a. Christian Komorowski (Deine Lakaien, EoC-Umfeld) Geige spielte (1992), ging Barbara Gosza für einige Jahre nach Frankreich und brachte dort zwei Platten heraus: „Ceremonies“ (1995) erschien auf dem französischen Ableger von BMG/Ariola – offenbar hatte ihr also das überschwängliche Kritiker-Lob des Vorgänger-Albums einen Major-Plattenvertrag verschafft. Vier Jahre später folgte dann auf dem Naive-Label das von Carlos Peron (ex YELLO) produzierte „Purify“.

In der Zwischenzeit, d.h. in den Jahren zwischen diesen beiden Veröffentlichungen, soll sie beim Schweizer Maler HR Giger (1940-2014) Malerei studiert und außerdem mehrere Gedichts-Sammlungen herausgebracht haben (von denen sich aber keine Spuren mehr finden lassen). Zurück in Berlin produzierte sie nach langer Pause erneut mit Carlos Peron ein weiteres, ihr fünftes und letztes, Studioalbum namens „Passion Play“ für das Label Blue Note, das bei diesem allerdings nie erschienen, heute jedoch gottlob als Download sowie auf YouTube verfügbar ist, ebenso wie ein Live-Konzertmitschnitt aus Paris von 1999.

Das ist so ziemlich alles, was heute noch in Erfahrung zu bringen ist über die mysteriöse und bezaubernde Barbara Gosza, die sich leider viel zu früh in den Musiker-Himmel verabschiedet hat.

Barbara Gosza
Love it is
Strange Ways Records 1990

Barbara Gosza
Beckett & Buddha
Strange Ways Records 1992

Barbara Gosza
Ceremonies
Semantic/BMG/Ariola 1995

Barbara Gosza
Purify
Naive 1999

Barbara Gosza
Passion Play
Nur als Download 2009

Barbara Gosza
Live at Strasbourg, 23.9.1999
Nur als Download 2020

Justament April 2008: Schluss mit niedlich

Eine wenig begeisternde Suzanne Vega auf “Beauty & Crime”  

Thomas Claer

Cover VegaWer Suzanne Vega von ihren früheren Werken kennt, wird schwerlich umhinkommen, sie als charmant zu bezeichnen. Dieses Urteil trifft aber in erster Linie ihren charakteristischen Gesangsstil, denn erst dieser komplettiert ihr zartes Gitarrenspiel und ihre zerbrechliche Erscheinung auf das Vollkommenste. Beim ersten Album (1985) klampfte sie noch – allerdings viel leiser und vorsichtiger als, sagen wir, Wolf Biermann – allein auf der Gitarre. Der Nachfolger “Solitude Standing” (1987) hatte infolge schauerlicher 80er-Jahre-Keyboards und Synthesizer zwar peinliche Momente, enthielt aber dafür so großartige Songs wie “Toms Diner”, das ihr ein paar Jahre später als zweifelhafter “DNA-Remix” neue Popularität bescherte. Der künstlerische Höhepunkt war vielleicht ihr viertes Album “99.9 F” (1992), auf dem sie sehr geschmackvoll und diskret mit elektronischen Effekten experimentierte. Als erste Worte hauchte sie: “Excuse me, if I turn your attention …”. Damals war das perfektes Understatement, heute wäre eine solche Warnung schon eher angebracht. Zwar war Frau Vegas Veröffentlichungspolitik vorbildlich sparsam: “Beauty & Crime” ist erst ihr siebtes Album in 33 Jahren. Aber es ist, wenn nicht alles täuscht, ihr schwächstes. Das Positive ist schnell genannt: Ihre Stimme ist noch immer ganz wunderbar und auch das Gitarrenspielen verlernt man eben nicht so schnell. Aber mit dem kreativen Songwriting der frühen Jahre hat das leider nicht mehr viel zu tun. Das klang noch auf dem Vorgängeralbum “Songs in red and grey” ganz anders. Trug damals noch eine erkennbar gereifte Künstlerin stilsicher neue Songs vor, wirkt die neue CD seltsam ideen- und orientierungslos. Die Lieder gehen nicht ins Ohr, der Funke will einfach nicht überspringen. Nota bene: Man muss Suzanne Vega an ihrem eigenen hohen Maßstab messen. Die große Masse der heutigen Newcomer ist mangels Talent auch von einem  “Beauty & Crime” weit entfernt. Das Gesamturteil lautet: ausreichend (6 Punkte).

Suzanne Vega
Beauty & Crime
Blue Note (EMI) 2007
Ca. EUR 17,00
ASIN: B000H6SU9A